was vom jahr bleibt

3. Januar 2011

Was vom Jahr bleibt 2010

Von Michael Althen, Michael Baute, Raymond Bellour, Johannes Beringer, Ludger Blanke, Christa Blümlinger, Robin Celikates, Catherine Davies, Matthias Dell, Jan Distelmeyer, Christoph Dreher, Daniel Eschkötter, Lukas Foerster, Jakob Hesler, Dominik Kamalzadeh, Rainer Knepperges, Ryland Walker Knight, Ekkehard Knörer, Max Linz, Thomas Morsch, Cristina Nord, Kathrin Peters, Christian Petzold, Bert Rebhandl, Cord Riechelmann, Stefan Ripplinger, Simon Rothöhler, Dirk Schaefer, Michael Sicinski und Matthias Wittmann

Michael Althen

1. Marina Abramovic @ MoMA: The Artist Is Present
Saß da unbeweglich mitten im Trubel und schenkte jedem so viel Zeit, wie er beanspruchen mochte. Klingt nach wenig, vermittelte sich aber umstandslos als herzerweichende Großzügigkeit.

2. Janet Cardiff @ Biennale: The Forty Part Motet
Vierzig Lautsprecher in einem Oval in einer der Hallen des Arsenale, aus denen ein vierzigköpfiger Chor «Spem in allum nunquam habui» von Thomas Tallis singt. So wie der Ton wanderte, ging auch der Geist spazieren – eine himmlische Erfahrung.

3. Eine Mail von David Thomson @ World Cup:
«I thought Germany against Argentina was one of the great displays in modern soccer. You made them look feeble – and we know they are not. Bravo again. I hear from my son in the UK that there has never been such sentimental support for Germany since 1914 (the summer of).»

 

Michael Baute

# uhutrust.com und Goncourt's Blog

# São Paulo, Ende September, city of light rain. Jeden  
Spätnachmittag gegen ziemlich genau halb 6 tauchen plötzlich überall  
Händler auf den Straßen auf und verkaufen Regenschirme aus  
ramponierten Pappschachteln heraus und nur etwas später am  
Spätnachmittag gegen 6 beginnt ein ganz leichter, eigentlich  
angenehmer Regen für eine Stunde vielleicht oder manchmal auch länger.

# Sherwood Anderson: Winesburg, Ohio

 

Raymond Bellour

Die Installation Abat-jour von Cildo Mereles bei der Biennale von Sao Paulo: weil die Beziehung zwischen ihren beiden Elementen – oben ein Rundpanorama mit Bildern (ein Schiff aus einer anderen Zeit, ein Sklavenschiff, das ganz langsam auf der Oberfläche eines Meeres dahingleitet, in einer kaum merklichen Bewegung gegen die Strömung) und unten eine Performance in vivo (vier junge schwarze Männer mit nacktem Oberkörper, die das Rad antreiben, das den Mechanismus der Bilder in Bewegung setzt) – am treffendsten eine Beziehung zwischen Kunst und Politik zum Ausdruck bringt, die in diesem Jahr das Thema der Biennale war

Der Film Le quattro volte von Michelangelo Frammartino (in Cannes in der Quinzaine des réalisateurs), wegen der Weise, in der sein Urheber einmal mehr die nicht festlegbare Grenze zwischen dem Fiktionalen und dem Dokumentarischen hinausschiebt. Wie er ein Dorf in Kalabrien filmt, das verbindet die ethische und formale Strenge von Straub/Huillet mit einem Sinn für das Unvorhersehbare, der für das Kino von Jean-Claude Biette so kostbar war.

Die Anthologie Héros-Limite («Poésie Gallimard») des großen französisch-rumänischen Dichters Gherasim Luca, ein Autor, der für Michaux wie für Deleuze bedeutsam war. Ich habe dieses Buch das ganze Jahr hindurch gelesen und wiedergelesen. Wie Luca die Beziehungen zwischen Laut und Bedeutung sprengt und wieder zusammenbringt, wie er Worte in bebende Atome verwandelt, «aufmerkend/zweifelnd/schlingernd/leuchtend und nachsinnend», das löst ein, was Mallarmé in seinem «Coup de dés» vorgehabt hatte.

 

Johannes Beringer

An erster Stelle steht, dass Hans Hurch «Für Straschek» bei der Viennale programmiert hat: drei Abende im Stadtkino, an denen die ganze Filmemigration aus Nazideutschland (5 Teile, 287 Minuten, produziert von Dütsch/WDR 1975) gezeigt wurde. Am ersten Abend, nach Huillet-Straubs Einleitung ... zu einer Lichtspielscene, las Hans Hurch Texte aus dem Straschek-Heft der Filmkritik (etwa den Text über Onkel Rudi), aus einem Radio-Manuskript über Bibliotheken, in dem Straschek seine Jugend im Nachkriegs-Graz beschreibt und zwei Texte aus dem «Archiv eines Filmforschers» (über Fritz Lang und Douglas Sirk), die ihm Karin Rausch, die Lebensgefährtin von Straschek, gegeben hatte. 

Was für ein befreiendes Gefühl muss das für Bernhard Sallmann gewesen sein, als er endlich mit seinem Lausitz-Film herauskommen konnte – der dann mit Träume der Lausitz betitelt ins Kino kam (ich habe ihn am 16.4. in der Passage 1 in Neukölln gesehen). Jahrelange Irrungen und Wirrungen, Querelen und Stillstände waren vorausgegangen – ohne das Eingreifen von Volker Koepp wäre der Stillstand wohl komplett gewesen. Aber selbst dann noch ...

... Musik, Musik, Musik (und zwar jeden Tag / das also jetzt schon ein erwachsenes Leben lang): Enrico Rava, New York Days, The Benny Maupin Quartet, Early Reflections, Edward Simon, Unicity, Maurits Roes Trio, Essential Elements, John Lewis, Improvised Meditations & Excursions – ich picke ein paar Sachen heraus, über die ich in letzter Zeit gestolpert bin. Nein, nicht gestolpert: ich habe mich ja angeschlossen an den «Wärmestrom» der Musik, das kommt fast von allein.

 

Ludger Blanke

1.
Tahar Rahim in Un Prophete.
Nahfeld-Körpererfahrungen in Jackass 3D.
Licht und die Tiefe des Raums in Orly.
Autofahrten durch Berlin in Im Schatten.
Geräusche des Dschungels in Uncle Boonmee.
Das Meer in Ponyo.
Annika Kuhl in Glückliche Fügung.
Der Polizist in Politist, adjectiv.
Die Roboter in I'm Here.

2.
Die letzte Minute von Ghana-Uruguay während der WM in Südafrika.

3.
Wanderung über die Campi Flegrei in der Nähe Neapels im Herbst. Eingang zur Unterwelt, Station der Grand Tour. Mit der Circumvesuviana von Vico Equense am Golf entlang nach Neapel. Dann mit weiteren Vorortbahnen und dem Bus auf die andere Seite der Bucht nach Miseno. Miseno war Kriegshafen des römischen Reichs, in den eingebrochenen, vom Meer gefüllten Vulkankratern konnte man die Flotte verstecken. Vom Hügel aus beobachtete und beschrieb Plinius den grossen Ausbruch des Vesuvs. Baiae ein Badeort, an den sich die Oberschicht Roms im Sommer traf, inzwischen zum grössten Teil im Meer versunken. Kraterlandschaft, Ruinen, Pasolinivorort. Man kann dort sehr schön, wie ein Detektiv, beobachten, wie die Zeit arbeitet, die Erde sich hebt und senkt, zuweilen einen kleinen Vulkan ausspuckt. Ereignisse stattfinden und wieder verschwinden. Ein paar Spuren hinterlassen. Aus den Resten einer Wand zum Schlafzimmer des Kaisers ist die Begrenzungsmauer zum Garten eines Zweifamilienhauses geworden. An der Mauer ein paar Tags, ein Zettel mit Reklame für eine Bar. Im Garten werden Tomaten gepflanzt.

 

Christa Blümlinger

1) Zu Anfang des Jahres 2010 sehe ich endlich auf Leinwand Jean-Louis Comollis Face aux fantômes (2009). Comolli hat einen ausgeprägten Sinn nicht nur für Geschichte, sondern auch für die Arbeit der Historiker. Die «Verfilmung» von Sylvie Lindepergs außerordentlicher Studie über Resnais' Nuit et brouillard ist vor allem deshalb so gelungen, weil die Konstruktion einer Geschichte des Blicks entsprechend in Szene gesetzt wird. Hier stimmt das Verhältnis von Stimme und Körper, von Beschreiben, Analysieren und Ausstellen, von Projizieren und Betrachten. Obwohl ich Sylvie sehr gut kenne (wir betreiben zusammen mit anderen in Paris eine Forschungsgruppe), bin ich von ihrer Fähigkeit aufs Neue begeistert, Olga Wormers Geschichte zu erzählen, den richtigen Ton zu finden, um die Geschichtlichkeit des Materials aus Resnais Film über die Konzentrationslager vor Augen zu führen. Sie spricht nicht allein. Comolli weiß genau, wie und wann er seine eigenen Nachfragen und Annette Wievorkas konstruktive Einwürfe einsetzt, um Resnais' Film als «Film in der Geschichte» darzustellen. Sein wertschätzender Umgang mit einer brillianten Wissenschaftlerin erinnert an Alexanders Kluges wunderbare Fernsehgespräche mit Miriam Hansen, in denen es um den frühen Film geht.

2) Auf Apitchatpong Weerasethakuls Uncle Boonmee: A Man Who Can Recall His Past Lives (2010) habe ich richtiggehend gewartet, nachdem ich den Kurzfilm A Letter to Uncle Boonmee (2009) und die Ausstellung Primitive (2009) in Paris gesehen hatte. Die Freiheit, mit der Weerasethakul auf eine Ästhetik der Langsamkeit setzt, ist wegweisend.  Wunderbar auch die Tatsache, dass dies kein Film für Galerien, sondern für's Kino ist. Die Antithese gewissermaßen zu den Filmen seiner Künstler-Freunde von Anna Sanders Films.

3) Ich habe hier in Paris Ernst Jandl wiedergelesen, was für mich auch bedeutet: mich nach Wien versetzen. Frappiert hat mich insbesondere, mit welcher Meisterschaft Jandl, der im Gegensatz zu manchen Puristen der Wiener Gruppe in seinen Sprechgedichten niemals gänzlich auf Bedeutung verzichtete, die Abgründe des Alltags in kleinsten Sprachwendungen anzudeuten weiß.

 

Robin Celikates

12 Stunden im Bus von Medellín nach Bogotá; mit dem Schiff auf dem Bosporus und zu Fuß entlang der alten Istanbuler Stadtmauer und zum Pierre Loti Café; auf dem Fahrrad durch das verschneite Amsterdam.

Rainald Goetz’ Performance im es-Laden.
Kenny «I transcend race, hombre» Powers: «Oh, you like 3D? Well, here’s a burrito – comin’ right ’atcha!»

 

Catherine Davies

1) 6. Dezember, 11.00 Uhr, Camden Town Hall
2) Janet Malcolm, Iphigenia in Forest Hills. Anatomy of a Murder Trial. In: The New Yorker, May 3, 2010 / Kolumne und Blog (The Conscience of a Liberal) von Paul Krugman in der New York Times.
3) Simon Hopkinson, The Vegetarian Option, Quadrille Publishing 2009. 

 

Matthias Dell

1. Der Tamara-Trampe-Film Wiegenlieder in einer Berlinale-Spätnachmittagsvorführung im Colosseum und das tief empfundene Gefühl von Aufgehobensein im Dunkel des Saals mit Blick auf eine Welt, in der die schnoddrig-charmante Filmemacherin Menschen nach dem Glück fragt, bei denen es keiner suchen würde.

2. Der Matthias-Schweighöfer-Tatort Weil sie böse sind, eine epochale Folge aus Frankfurt, in der ein privatisierender Jungschnösel ein halbes Jahrtausend sozialer Ungerechtigkeit an der eigenen Familie bearbeitet und Umverteilung in aufreizend lässiger Konsequenz praktiziert: «Echt, da ist der Mike ertrunken?»

3. Selbstgebastelter Jet Set, Cash and so far oder die sanfte Verwunderung über die Vorstellbarkeit der Weltgröße, wenn das eigene Ich innerhalb von vier Tagen drei der fünf weltbesten Flughäfen durchläuft, in malaiischen Tageszeitungen Obdachlose aus San Francisco wiedererkennt und den Berlinale-Eröffnungsfilm samt Rüdiger Suchsland in Hongkong schaut.

 

Jan Distelmeyer

Fantastic Mr. Fox

Das erste Juliwochenende. Am Freitag mit meinen Liebsten am nördlichsten
Ostseestrand unter freiem Himmel übernachtet, wunderbar helle Nacht, Schiffe
auf dem Weg nach Schweden. Am nächsten Morgen mit dem Bummelzug zurück nach
Berlin zum Viertelfinale gegen Argentinien. Sandiger Rücken, Hitze und
grölende Deutschlandfans («Wir sind die Jungs von der Uckermark – ficken
oder was, ficken oder was?!»). Dann endlich das Spiel im ewigen WM-Studio in
der Tucholskystraße bei Tom und Claudia. Unvergesslich.

Meine Tochter wird am 28. August eingeschult. Der Verlust früherer
Freiheiten und Eintritt in eine neue Ordnung und Zeit-Rechnung. Geht aber
erst mal ganz gut – nur alles zu schnell.

Und schließlich: Die Gewissheit, dass sich viel ändern muss, wenn wir noch
was retten wollen. A Nous la Liberté

 

Christoph Dreher

Das Jahr eröffnende und beschließende kulturelle Ereignisse mit persönlicher Beteiligung waren im Januar das Remediate!- Symposium zum Thema «Autorenserien – Die Neuerfindung des Fernsehens» – unter anderem mit Oz-Creator Tom Fontana, The Wire–Produzentin Karen Thorson und Deadwood-Autor Ted Mann — an der Merz Akademie in Stuttgart und die dazugehörige Publikation im Dezember.

Zwei schöne Filmüberraschungen waren Martin Scorseses Shutter Island und Thomas Arslans Im Schatten. Von Ersterem hätte ich ein so virtuoses Spiel mit vielen Realitäten, darunter mehreren eingebildeten und geträumten des Protagonisten, nicht erwartet, schon gar nicht nach Departed. Shutter Island ist ein Film, der mehrmaliges Sehen nahelegt – wenn nicht erzwingt – und belohnt. Thomas Arslan, dessen frühere Filme ich auch sehr mag, gerade insofern sie keine Genre-Filme sind, überraschte mit einem auch im Sinne aller Genre-Vorbilder gelungenen, ökonomisch und straight forward erzählten Gangsterfilm, dessen wortkarge und ganz der physischen Präsenz vertrauende, glaubhafte Inszenierung und Performance seiner Hauptfigur (Mišel Matičević) eindrucksvoll sind. Interessanterweise spielte Matičević auch in der erfreulichen Serie von Dominik Graf Im Angesicht des Verbrechens eine starke Rolle. Weniger erfreulich war dann bekanntlich deren Versendung durch die ARD.

Mit Cpt. Beefheart starb dieser Tage eine der zentralen Figuren meiner musikalischen Sozialisation. Als ich 1967 die zweite Platte von Cpt. Beefheart & his Magic Band, Strictly Personal, als Abo-Geschenk der damals noch hektographierten Jazz-Zeitschrift Sounds bekam, glaubte ich an einen Scherz, so seltsam fand ich, was ich in den wenigen Sekunden hörte, bevor ich die Platte wieder vom Teller nahm. Eine Weile später machte ich einen neuen Versuch, und plötzlich war alles anders: ab dann gehörten Cpt. Beefheart & his Magic Band zu den absoluten Favoriten – von den zwei Konzerten, die ich sah, 1970 und 1980, war vor allem Ersteres das vielleicht positiv schockierendste und eindrucksvollste aller Zeiten für mich (und ich habe nicht Wenige gesehen in my time...). Nicht zuletzt von daher rührt eine Liebe für das Merkwürdige, schwer Zugängliche und Vertrackte, das oft umso länger hält.

Gleichzeitig liebe ich das (vermeintlich) Einfache aber Tiefe (mit Tiefe?), für mich besonders verkörpert durch The Stooges, die ich ebenfalls 1967 mit ihrer ersten Platte kennengelernt hatte und deren Gitarrist Ron Ashton Anfang Januar tot aufgefunden wurde – aber nicht, wie ich meinte im Januar 2010, sondern 2009! (Soviel zur Zeitwahrnehmung in fortgeschrittenem Alter.) Wer wie ich über viele Jahre verhunzte Versionen von Stücken der nur kurzlebigen Original-Stooges in diversen späteren Bands von Iggy Pop ertragen musste, versteht, warum nach Ron Ashtons Tod Iggy diesen als unersetzbar und damit The Stooges für ebenfalls gestorben erklärte – vermutlich war ihm auf der Stooges-Reunion-Tour kurz zuvor endlich gedämmert, wie sehr und wie lange er das Genie seines ältesten Musikerkollegen verkannt hatte, dem Master des nicht swingenden, unfunky-en, absolut geraden und dennoch groovenden relentlessly repetitive riffing...

Am ersten Weihnachtstag sahen wir im Kino unseren einzigen Dokumentarfilm in diesem Jahr im Kino: Nostalgia de la Luz von Patrizio Guzmán, der auf sehr anrührende Weise die Erforschung des Weltalls durch Teleskope und Antennen in der chilenischen Atacama-Wüste in Beziehung setzt mit der Suche von Müttern und Schwestern nach Überresten der Körper von Angehörigen, die von der chilenischen Militäjunta unter Pinochet entführt, in derselben Wüste interniert, gefoltert, ermordet und verscharrt wurden. Ungeachtet ihres fortgeschrittenen Alters, des Unverständnisses und der Missachtung durch die moderne chilenische Gesellschaft und der schier unendlich großen Wüste - diese Frauen geben einfach nicht auf!

Der Film lief dieses Jahr in Cannes, wo die versammelten Filmleute zunächst erfolgreich gegen die Verfolgung und Inhaftierung des sehr geschätzten Jafa Panahi durch das iranische Regime protestierten. Als am 21. Dezember die Nachricht vom Terrorurteil gegen ihn kam,
lag der Gedanke nahe, dass das Regime mit Bedacht einen Termin gewählt hatte, an dem kein Festival stattfindet und ein Großteil der westlichen Welt mit Weihnachtsvorbereitungen derart absorbiert ist, dass diesmal kein Protest laut werden würde. So ist der erste Wunsch für 2011, dass es dabei nicht bleiben und die Rechnung der iranischen Diktatoren nicht aufgehen möge.

 

Daniel Eschkötter

Nostalgia, hochgerüstet, brought to you by HTML5, Google Chrome, Earth & Streetview, Chris Milk, Arcade Fire: The Wilderness Downtown. Es geht nicht auf und auch doch. Und wenn man unsere neue Adresse eingibt, dann ist dort Berlin und grün und am Rande öffnet sich das Flugfeld und. We used to wait for it.

Begegnungen mit den 90ern: Werner Herzog sucht Film-Americana (Lynchiana, Ferraraiana, andere) wieder auf, stülpt sie, wie einen Handschuh, um. the bad lieutenant: port of call – new orleans: Ein Satyrstück. my son, my son, what have ye done: Bei uns in Kalifornien offenbart sich Gott manchmal auf einer Dose Haferflocken. Pavement, Reunion, 22. September, Central Park Summerstage, ein einziges Konzert sollte es mal sein, letztlich war’s doch eines von vielen. Entspannt, unsentimental, mit einer nunmehr milden Blasiertheit. «Good job, Pavement» sagte Stephen Malkmus zwischendurch. (Mit Recht.)

Lernen, über die medialen Verfasstheiten des Rechtsprechens, auch das Schöne im Recht nachzudenken. Bei Cornelia Vismann konnte man, durfte man das. Medien der Rechtsprechung, so heißt das Buch, das sie im Sommer noch beendet hat. Dass man weiter von ihr lernen kann, darf, das ist ein Glück.

 

Lukas Foerster

20.03.: Erste Liebe (Peter Schreiner) Graz, Schubertkino, Film und Leben, das geht
07.07.: Carles Puyol
08.10.: Utopia (Sohrab Shahid Saless) Berlin, Zeughauskino, Film und Leben, das geht nicht

 

Jakob Hesler

In diesem Jahr habe ich schließlich meine passive-aggressive Ignoranz auf- sowie dem immer artikulierter werdenden Gemurmel nachgegeben und ein paar Fernsehserien angeschaut. Breaking Bad war nicht die Beste, hat mich aber unter den diversen synthetischen TV-Drogen us-amerikanischer Herkunft ganz besonders interessiert. Nicht wegen der so unterhaltsam zerplatzenden und dann wieder agglutinierenden Mikro-Ideologismen, sondern wegen des Kernthemas ‹männlicher Autismus›. Sie macht so traurig, die tödliche Kälte des Männerherzens, die Überlappung des Syndroms Männlichkeit mit jener Krankheit, und das hat 2010 auf so vieles gepaßt.

Flankiert wurde der Regress ins Häusliche von sehr viel Tee. Eine plötzliche Obsession. Chinesische Sorten und Methoden. Oolong (Tie Guanyin) und Pu-erh (Baoyan, Bulang). Das hat meinen Alltag am meisten verändert.

Eindrücklichster Anblick: die unvermittelt klaffende Weite des Valsavarenche-Tals in den Westalpen

 

Dominik Kamalzadeh

Den ganzen Tag hatte es geregnet. Und dann blieb nur der Sturm. «We have god on our side», meinte daher Stuart Murdoch schelmisch am Konzertbeginn. Was darauf folgte, war eine Anschauung darüber, dass man keine Götter braucht, wenn man so eine Musik schon zu Lebzeiten zu hören bekommt. Der US-Tourneeauftakt von Belle and Sebastian, einem Open-Air-Gig an der Brooklyn Waterfront, war wie eine Überdosis Glück: eine gelöst spielende Band, die durch alle möglichen Genres durchswingt, politisch aufgeweckte Pausen-Einsprengsel und die vielleicht coolste Location dieses Planeten. I want the world to stop.

David Finchers The Social Network und Apichatpong Weerasethakuls Uncle Boonmee – so wie es aussieht, waren das nicht nur für mich die wichtigsten Filme des Jahres. Bei Fincher war ich erstaunt, wie düster er Harvard und Zuckerbergs Bande filmt, und wie gut das funktioniert, eine Collegekomödie (Nerds vs. Jocks!) zum Königsdrama unserer Zeit zu verdrehen. Kein anderer Film hat für mich zeitgenössischer gewirkt. Weerasethakuls Sieg in Cannes war hingegen ein rarer Triumph des Wahren über das Falsche. Der Film lässt einem auf so betörende Weise an seiner Welt und ihren Übergängen teilhaben. Er ist mit kleinen Gesten großzügig, und genau das macht ihn so schön.

David Mazzucchellis Graphic Novel Asterios Polyp hab ich in den Ferien gelesen: ein großartiges Buch über einen allzu Logik-versessenen Architekturprofessor aus New York, dessen Apartment vom Blitz getroffen wird und dem dabei selbst ein Licht aufgeht. Anspielungen auf die Odyssee sind kein Zufall, Asterios kommt nur eben nicht ganz so weit herum. Formal unterstreicht Mazzucchelli immer wieder die Tickmuster seiner Figuren – und verführt zu philosophischen Exkursen. Nächstes Jahr kommt’s auch auf Deutsch.

 

Rainer Knepperges

1.
Die drei Bücher, die von den Abenteuern der vier Musketiere erzählen, sind wie das meiste, von dem sich Kinder gut unterhalten fühlen, erstaunlich finster. Nicht gewappnet war ich darauf, wie traurig das Leben der Musketiere verläuft. Man lernt bei der Lektüre aber auch viel über Politik. Als es (in «Zwanzig Jahre nachher») einmal heißt, es sei kein Geld in den Staatskassen, da sagt d'Artagnan: «Wir werden miteinander suchen, wenn es Eure Majestät erlaubt, und gewiss welches finden.»

2.
Auf einer Zugfahrt sah ich in einem Ort namens Messel ein Schrankenwärterhäuschen (mit Schrankenwärterin). Es ist dann alles doch irgendwo noch immer da. In dem englischen Film Whirlpool, von Lewis Allen, dem schönsten Film, der in den 50er Jahren in der BRD entstanden ist, erblickt Juliet Greco auf einem sanft vorbeigleitenden Frachtschiff ein Kleinkind, das sorglos über Deck läuft, an einer aufgespannten Sicherheitsleine. Schaut man nur lange genug auf den Rhein, sieht man auch heute noch auf einem der vielen Frachter irgendwann einen Kinderkäfig.

3.
Siegfried Kracauer beschreibt in Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit (1937) wie Karneval und Cholera aufeinander trafen. Es war im März 1832, da «fühlte ein Harlekin plötzlich eine befremdende Kühle in den Beinen. Er riss sich die Maske vom Gesicht; sein Gesicht war blau wie ein Veilchen. Noch einer Reihe anderer Pierrots und Pierretten erging es ebenso. Man transportierte die Unglücklichen aus dem Tanzsaal weg ins Krankenhaus und begrub sie angeblich, der drängenden Zeit wegen, in den Faschingskostümen, die sie auf dem Leib hatten.» Der Karneval in Köln war im Jahr 2010 mal wieder sehr schön.

 

Ryland Walker Knight

1. Pressing pause

Slowing my intake of cinema and output of criticism has proven a boon. Though I wish I'd seen a few films from the rep circuit that I missed on purpose (eg, those two Oliveira films), I am confident that the choices I made those nights lead to more fulfilling engagement with this mad world we're in. Besides, it has lead to different creative writing projects -- to say nothing of the new lessons learned about living a better life, which is what we're supposed to do, I'm fairly certain. In the cinephile department, though, it also lead to fully embracing…

2. Blu-Ray discs

I'm certainly lucky to have had access to Blu-Rays for a while yet, but it wasn't until this year, and late within it, that a player entered my home. Perhaps against my better judgment, I already owned some BRs, but the new device gave me a more legitimate opportunity to buy The Red Shoes and that Brakhage set (both put out by Criterion Collection). The BR image can't quite ever be expected to approximate the flicker of celluloid, but these films have their own, new, sometimes-bizarre shimmer. The crisp lines and erupting colors make a new vision of what images are capable of, and what their purpose may be now, which I'd like to believe is closer to affect than representation, given these don't look real or hyper-real (whatever that means) but rather some fancy, new interpretation of light. There is likely an entire book of theory to be written on this new phenomenology, but I won't try any harder (get started) here. I'll just say, try to see something big and bright and colorful. Be sure to have the right HDMI cables. And let it wash your face in luster.

3. Tim & Eric

Back to lo-fi for a second. These weirdos make me laugh more than just about anybody, and they did an especially great job in 2010. Not only did they give us two shows full of goofs and spoofs only film nerd assholes in love with VHS and closed circuit cables could make, they went on tour with their brand of disorienting lunacy. They brought it to our backyards. On certain days in the second half of our late year, in fact, you could hear me tell my friends that I thought their announcement for the Tim and Eric Awesome Tour Great Job 2010 (as well as their inimitable Chrimbus Special) was the single best piece of filmmaking (and comedy) that I saw all year long. You can watch it and judge for yourself right here.

 

Ekkehard Knörer

Theater:
Nature Theater of Oklahoma – Life and Times: Episode 1. Getanzte Biografie mit schön widersinnigen Akzentuierungen: Ahs und Ohs als Höhepunkt eines telefonisch berichteten Lebens.
She She Pop – Testament. King Lear. Vater/Tochter (bzw. Vater/Sohn)-Verhältnisse in so zärtlicher wie brutaler Fassung.

Film:
Die Palme für Uncle Boonmee hat sich richtig und sogar wichtig angefühlt.
Die Viennale, weil sie keinen Stress macht und die schönsten Filme versammelt.
Godardretrospektive.

Doppelschläge:
Benoît Peeters Derrida-Biografie. Weil sie den Ton trifft und einen Mann und seine Zeit und seine Mit- und Widerstreiter im Denken präzis figuriert. Und an Peeters’ gleichzeitig erschienenen Notizen Trois ans avec Derrida mag ich die offensichtliche Begründungsunbedürftigkeit der Begleitreflexion.
Lee Child: 61 Hours, Worth Dying For
Hong Sang-Soo: Ha Ha Ha, Oki’s Movie

 

Maximilian Linz

ROHMER UND SCHLINGENSIEF TOT:
Kein Geschmack des Schönen mehr in Frankreich und kein Neuer Film in D.

JOHN BOCKS FISCHGRÄTENMELKSTAND:
Mit Ekkehards Hasstext im Ohr angespannt in eine Ausstellung, in der die Kunstwerke nicht vor den anderen Kunstwerken und die Betrachter einmal nicht voreinander weglaufen sollten - ideal. 90 Minuten anstehen, abendfüllend. Bocks Humor, verzweifelt und verschwenderisch.

BIOPOLITIK 2010:
Franzosen werden ausgebürgert und deportiert, Schweizer entscheiden völkisch, die EU jagt alle Flüchtlinge zurück an ihre Grenzen, und Guttenberg trifft Kerner in Afghanistan zu Live im Lager. War Godards FILM SOCIALISME alles, was das Kino, diese faschistoide alte Tante, dem entgegenzusetzen hatte?

 

Thomas Morsch

Das politische Ereignis – Am 3. April 2010, einem Samstag, geriet ich, gerade erst von den Philippinen zurück und über die politische Lage noch uniformiert, in Bangkok auf dem Weg zum Shoppen unverhofft mitten in das Camp der «Red Shirts», die sich an diesem Morgen vom eher peripheren Regierungsbezirk zur Ratchaprasong verlagert hatten, der als «Heart of Bangkok» vermarkteten, von zahlreichen Shopping Malls gesäumten «neuen Mitte» der Stadt. An diesem Tag war die Stimmung noch volksfesthaft-karnevalistisch, und die gut gelaunten, aus dem Isaan, der ländlich-armen Provinz im Nordosten des Landes, angereisten Protestler glaubten noch, sie würden die finanzielle Entschädigung tatsächlich bekommen, die ihnen für ihr Erscheinen in der Hauptstadt von den politischen Rädelsführern versprochen worden war. Wenig später schon konnte man beobachten, wie Protest und Ausbeutung Hand in Hand bei der Verschlechterung der konkreten Lebensbedingungen derer gehen, die sich eigentlich durch den Protest vertreten fühlen sollten: Das ebenfalls vorwiegend aus den ärmeren Provinzen stammende Verkaufspersonal des wegen der Proteste geschlossenen ZEN-Kaufhauses musste von einem Tag auf den anderen den Dienst in der Filiale im mehr als 100 Kilometer entfernten Pattaya antreten oder die fristlose Kündigung hinnehmen. Um den Schaden für alle Beteiligten möglichst groß zu halten, wurde Wochen später beim Abzug der Rothemden die Central World Shopping Mall, in der sich das ZEN-Kaufhaus befand und die mein Ziel an jenem Aprilmorgen gewesen ist, in Brand gesteckt.

Das Audiovisuelle – Weder Film noch Fernsehen haben es 2010 geschafft, mich in Begeisterung zu versetzen. Selbst das Feld der Fernsehserien hat mich in diesem Jahr eher durch die aktuellen Staffeln verlässlicher Größen der vergangenen Jahre (Breaking Bad, Mad Men, Nip/Tuck, Burn Notice, Smallville) unterhalten, als dass ich auf überraschende oder aufregende Neuentdeckungen gestoßen wäre, was aber der Tatsache geschuldet sein mag, dass ich nach wie vor mehr auf DVD-Veröffentlichungen und Rezeption en bloc  setze als auf die Downloads des gestrigen Tages, und somit viele neue Serien noch nicht wirklich zur Kenntnis genommen habe. Filmisch war eine zwar um drei Jahre verspätete, aber nichtsdestotrotz schöne Entdeckung José Luis Gueríns En la ciudad de Sylvia, aber die fand auf dem heimischen Bildschirm, nicht im Kino statt, was Einiges über den desolaten Zustand des deutschen Verleihgeschäfts, aber auch über die gewachsene Bedeutung von Filmfestivals sagt – auf diesen zirkulierte der Film international ausgiebig, während er in kaum einem Land einen Verleih gefunden hat.  Ansonsten kann in meiner Bilanz kein Film mit den  musikalischen Eckpfeilern des Jahres mithalten, auch wenn diese für mich selbst überraschend massenkompatibel daherkommen, weil ich laut meiner automatisiert von iTunes ermittelten Top 25 Playlist 2010 hauptsächlich, wie alle, David Guetta und, wie fast alle, Marina & The Diamonds gehört habe – I Am A Diamond!

Die Olfaktorik – Weder Film-, noch Literatur-, noch Theater-, noch Kunstkritiken habe ich in diesem Jahr in größerer Zahl und Intensität gelesen, wohl aber zahllose Parfumkritiken, allen voran die rund 1200 in Luca Turins und Tania Sanchez‘ Perfumes: The Guide, das Buch, das mich das gesamt Jahr über begleitet, unterhalten, aufgeregt und irritiert hat, und dem ich, ohne dass die Exegese bereits abgeschlossen wäre, bisher vor allem die Entdeckung der, sagen wir mal, ‹Autorenparfums› von Serge Lutens sowie von New York, einem etwas akademisch komponierten, aber in seiner abstrakten Komplexität hoch interessanten Duft von Patricia de Nicolaï verdanke, sowie den Hinweis darauf, dass Anaïs Anaïs und Tommy Girl exzellent als Herrendüfte funktionieren würden. Darüber wird aber 2011 noch einmal zu diskutieren sein.

 

Cristina Nord

Mai 2010, Cannes: Gegen Ende des Festivals läuft Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives von Apichatpong Weerasethakul. Der Regisseur ist trotz der Unruhen in Thailand angereist, fast hätte er es nicht zum Flughafen geschafft. Sein Film ist großartig – allein schon wegen der Selbstverständlichkeit, mit der hier ein sprachbegabtes, schwarzes Zotteltier als verlorener Sohn anerkannt wird, am Tisch Platz nimmt und sich ins Gespräch einmischt. Noch nie habe ich mich in Cannes so über eine Goldene Palme gefreut.

Juni 2010, Kunsthalle Schirn, Frankfurt. Die Ausstellung Zelluloid. Film ohne Kamera zeigt, dass es keine Kamera braucht, um zu filmen. Unter den Exponaten: Moth Light von Stan Brakhage. Brakhage klebte Motten- und Schmetterlingsflügel, Fliegenbeine, Blüten und Gräser auf Klebestreifen. Diese wiederum kopierte er auf transparenten Film. In der Projektion erhalten die toten Körper- und Pflanzenteile neues Leben: Die Flügel flattern wieder, und die Motten umschwirren, obwohl sie tot sind, das Licht.

Lieblingslektüre: 2666 von Roberto Bolaño. Ich komme ein Jahr zu spät, mehr als 1000 Seiten brauchen eben ihre Zeit. Und dann ist es tatsächlich so, wie alle Rezensenten schwärmen: ein das 20. Jahrhundert umspannender, in vielfältige Ebenen aufgesplitterter, vor Erfindungsgabe strotzender Roman, der den Katastrophen des 20. Jahrhunderts ungerührt ins Auge schaut.  

 

Kathrin Peters

– Suffragetten-Filmreihe im Zeughauskino Berlin, kuratiert von  Madeleine Bernstorff und Mariann Lewinsky. So etwas hatte ich vorher noch nicht gesehen, besonders nicht in   Filmen aus den 1910er Jahren: Männer in Frauenkleidung, die die   Polizei verprügeln; Frauen in Männerkleidung, die auf ihrer Flucht   aus der Küche alles hinter sich zusammenstürzen lassen. Ein   unglaubliches Über- und Durcheinander von Körpern und Dingen. Und das  nicht nur zum Spaß.

 – Claire Denis-Retrospektive im Arsenal Berlin, kuratiert von Birgit Kohler. Es macht natürlich nichts, wenn man von diesen Filmen einige schon   einige Mal gesehen hat. Im Gegenteil. Die Szenen fügen sich immer neu   zusammen, auch über die einzelnen Filme hinweg. U.S. Go Home war mein Liebling, schon wegen einer umwerfenden Tanzszene mit Grégoire Colin.

 – Potosí-Prinzip im Haus der Kulturen der Welt Berlin, kuratiert von Alice Creischer, Max Hinderer und Andreas Siekmann. Eine Ausstellung als unübersichtliches Terrain, weil das in Zeiten des Postkolonialismus gar nicht anders zu machen ist. Wie die sehr besonderen Gemälde des andinen Barock in heutige Fragen verwickelt, wie sie überlagert und überwuchert wurden, das hatte glücklicher Weise wenig mit einem Dialog zwischen irgendwelchen Bildern undKulturen, dafür aber viel mit Differenz zu tun.

 

Christian Petzold

Drei oder vier Dinge, die mir gefallen haben, 2010
 
Das Viertelfinale Deutschland Argentinien. Mit Diedrich und Juliane vor einem 51 cm Röhrenfernseher, draußen der Sommer und der See. Stille auf der Landstraße. Aysun war schwimmen, trotz Özil. Nachher sprangen wir ihr hinterher. Juliane zeigte ununterbrochen vier Finger und nachher die geschlossene Faust.

Nochmal Fußball. Özil, der querlegt gegen die englische Defensive, nach einem der schönsten Konter des Jahrzehnts, auf Müller. Tunnelte den Gegenspieler. Wollte das. Drehte sich ab, nach diesem Pass. Wusste, dass es ein Tor wird, weil alles richtig war.

Die Clique meines Sohnes, die zu einem selbstgebastelten Buddhismus konvertiert ist, mit Teelicht und Plastikstatue. Seitdem gibt es keine Diskussionen mehr, über Sarrazin, Koranschulen und gemobbte Deutsche.

Der frühere Bahnhofsvorsteher des Stuttgarter Hauptbahnhofes. Auf der Seite der S21 Gegner. Hinter Kursbüchern, Logistik und Modelleisenbahnen können großartige Menschen stehen. Nicht alle Primärtugenden führen nach Buchenwald.

 

Bert Rebhandl

Drei Pilgerfahrte

1 Drei Tage in Rom im Mai. Hotel im Viertel Monti; im Stadio Olimpico ein absurdes Fußballspiel zwischen Lazio Rom und Inter Mailand, das die Heimmannschaft herschenkt, um dem Lokalrivalen vom AS Rom nicht in die Karten zu spielen; schließlich der Besuch bei Marco Bellocchio, das eigentliche Ziel dieser Reise. Bellocchios Energie (Jetlag-Medikamente?), Bellocchios Hund, die Bar, in der Bellocchio Kaffee trinkt.

2 Fünf Tage mit dem Zug durch Polen im August, an einem Sonntag komme ich nach Tschenstochau, in einen katholischen Wallfahrtsort, der, bevor Deutschland Papst wurde, Weltgeltung hatte. Mit dem neuen Fotoapparat zoome ich von ganz draußen über die Menge der Gläubigen hinweg direkt auf das heilige Bild der Madonna.

3 Ein langes Wochenende in London im Oktober gibt mir die Gelegenheit, zum ersten Mal den FC Arsenal im Stadion The Emirates zu sehen. Vor diesem Höhepunkt mache ich technisch alles falsch: Ich vergesse, die Batterien der Kamera zu laden (sie geben den Geist auf, kaum dass ich drinnen bin), das Telefon hat einen neuen Code, den ich zweimal falsch eintippe, nun kann ich auch damit keine Bilder mehr machen. In mein «biographisches Sparschwein der Subjektivität“»(Diedrich Diederichsen) kommen also nur Sinneseindrücke.

 

Cord Riechelmann

Eigentlich war es ein Suhrkamp Jahr: Mit dem Umzug nach Berlin erschien Michel Foucaults letzte Vorlesung «Der Mut zur Wahrheit», die mit folgenden in seiner Traurigkeit schönen Sätzen endete: «Nun also, hören Sie, ich hatte vor Ihnen einige Dinge zum allgemeinen Rahmen dieser Analysen zu sagen. Aber jetzt ist es zu spät. Also dann, dankeschön.»

Dazu gab es dann noch bei Suhrkamps einen tragenden Band aus Giorgio Agambens Homo Sacer-Reihe erstmals auf deutsch: Herrschaft und Herrlichkeit. Eine großartige Darstellung wie es ausgerechnet und nur im christlichen Abendland zum Zeitalter der ökonomischen Vernunft kommen konnte, in dem wirklich alles, auch der letzte Winkel Timbuktus, zum betriebswirtschaftlichen Kalkül wird.

Und nicht zuletzt haben sie dann auch noch Rainald Goetz Fotoschnappschussresümee der Nuller Jahre in einem Prachtband gebracht. Elfter September 2010 erstand aus den Ruinen zum Projekt von Goetz Roman zur Theorie der Politik. Es ist einfach gelungen ud enthält auch noch den Verweis auf Suhrkamps vierten Hit im Jahr: Niklas Luhmanns Politische Soziologie.

 

Stefan Ripplinger

Sarrazin. Es fing schlimm an, wurde schlimmer und schlimmer, und am Ende des Jahres gewann ich den Eindruck, der letzte kulturrelativistische Multikulturalist des Landes zu sein.

15. und 17. 12. Es sterben mein Freund Peter O. Chotjewitz und mein Idol Captain Beefheart, zwei Gegner des Gleichklangs.

Bronk, Olson, Spicer. Nach George Oppen entdecke ich drei weitere Giganten der US-amerikanischen Dichtung, der einzigen, die mir noch etwas zu sagen hat.

 

Simon Rothöhler

Gute Sachen: The Sun Shines Bright von John Ford, USA 1953 (politischer Fortschritt im nicht-gleichmachenden Gleichschritt einer Parade; ein Film voller southern details, deren Bedeutung ich wohl eher erahne als begreife. Was ich verstehe:  «He saved us from ourselves». Es gibt immer noch einen weiteren besten Ford-Film, diesen habe ich auf der Viennale gesehen; das einzige Festival, das mir nicht nach einem Tag auf den Geist geht) # Ein Nachmittag im Lake District National Park + The Drunken Duck # Life and Times - Episode 1 von Oklahoma Nature Theatre (But she would always go home. // (pause) // So um. // You know, I have to go... // But um) # Bowls von Caribou (We need more Cowbell) # Der Podcast Football Weekly von James Richardson # Spuren. Eine Archäologie der realen Existenz von Thomas Heise (ein Nachlesebuch, das die Filme nicht nachträglich literalisiert, sondern die Geschichte in diesen Filmen noch einmal anders aufbewahrt) # Eastbound & Down, Season 2 von David Gordon Green, Jody Hill und Danny McBride, USA 2010 (die zweite Staffel steht noch einsamer in der heutigen Serienlandschaft; das liegt an Mexiko und an der sehr schönen Pendelbewegung zwischen Hill und Green, dem Harten und dem Zarten; wenn es derzeit einen besten amerikanischen Schauspieler gibt, heißt er wohl eher Danny McBride als Daniel Day-Lewis) # The New Yorker (47x im Jahr Weltklassereportagen, die man sich für nur 120 Dollar nach Berlin schicken lassen kann; keine Ahnung, wie das ökonomisch funktioniert) # Tor(und -jubel) von Arjen Robben am 7. April 2010 im Old Trafford # Wolken.Heim von Elfriede Jelinek (endlich nachgeholt, einer der besten literarischen Texte über das deutsche «Wir») # Sehr gute Sache: 6. Dezember 2010, ein Abend  ohne Wedding Crashers in Hampstead Heath, mit Pork Roast von The Ginger Pig; so hatten wir uns das vorgestellt.

 

Dirk Schaefer

1_Retrospektive VOM MEERESGRUND: Frühes Kino als Kurzfilmkino auf den Kurzfilmtagen in Oberhausen. Teils befremdende, teils betörende Bruchstücke einer untergegangenen Kultur, die nach einem Jahrhundert bereits prähistorisch anmuteten. Und von denen trotzdem so etwas wie ein Appell erging, anzuknüpfen an die vielen losen Enden, offenen Fragen, uneingelösten Versprechen der Filmgeschichte: Ein anderes Kino wäre möglich gewesen.

2_Schade, dass die Frankfurter Ausstellung Zelluloid mit der materiellen Seite des Films so gar nichts anzufangen wusste. Zu sehen gab es fast nur Digitalisate, vom Beamer projiziert, in teils grottiger Qualität. Jeder Besuch bei ubuweb.com ist ergiebiger als der einer solchen Veranstaltung, die keinen Begriff von Seltenheit mehr zu haben scheint.

3_Dagegen: Die staunende Begeisterung einer Gruppe von Berliner Teenagern, als sie im Rahmen eines Filmmusik-Workshops zum ersten Mal einem Streifen Film begegneten. Fassungsloses Anfassen. Demnächst im Manufactum-Katalog?

 

Michael Sicinski

1) A major «His and Hers» diptych from the New Greek Cinema: the world premiere of Athina Rachel Tsangari's complex, sexually muted Attenberg served to retroactively deepen and implicitly critique Yorgos Lanthimos's 2009 film Dogtooth. Both works explore the trauma of stunted adulthood, but Tsangari replaces Lanthimos's filial fascism with the more commonplace experience of the female self under scrutiny. 

2) In the midst of numerous «It Gets Better» videos, made to reassure bullied gay and lesbian youths in the U.S. (particularly following the suicide of university student Tyler Clementi), pop star Ke$ha dropped a moment of coded stillness into her latest video. Nevertheless, it was clearly legible to those in the know. Her clip for «We R Who We R» features a nighttime street rave taking over the city. But at the DJ break, Ke$ha is shown standing alone on a precipice, and she jumps. Next shot, we see that she's taken a death dive off a 15-story building. The ravers -- her people -- catch her, and the music starts again. Ke$ha is typically derided by critics and sophisticates for making dumb party-girl music (as opposed to the more «avant-garde» Lady Gaga), but directness has its place, especially in a cultural emergency.

3) What will 2011 hold for Jafar Panahi and Mohammad Rasoulof, artists and truthtellers held captive by a corrupt, illegitimate regime? To be continued....

 

Matthias Wittmann

3+1 Dinge, die mir merkenswert erscheinen:

Christian Boltanskis groß angelegte und doch angenehm un-monumental ausgefallene Erinnerungsfetzen-Installation personnes (Monumenta 2010), die im Januar/Februar in einem eiskalten Grand Palais (Paris) zu erleben war. 50 Tonnen gebrauchte Kleider, arrangiert als Restposten ausrangierter Individuen, teilweise am Boden ausgelegt, teilweise angehäuft (und somit ikonographisch aufgeladen), auf 13.500 unbeheizten Quadratmetern, dazu eine überdimensionale – an Spielautomaten erinnernde – Maschinen-Greif-Hand, abgehängt von einem 25m hohen Kran, unaufhörlich und quietschend nach Kleidungsstücken greifend, diese aufhebend und wieder fallen lassend, eine durchdrehende instrumentelle Vernunft. Das alles gerahmt von 100 Neonröhren (die nach Brüsseler Beschluss nunmehr keine Kunst mehr sein dürften), und einem wummernden Klangraum aus sich überlagernden Herzschlägen, eingespielt aus 200 Lautsprechern, ein Auszug aus Boltanskis ständig wachsendem archives du coeur. Somatisch ausgesprochen involvierend und berührend.

Benito Albino Dalsers clowneske Parodie seines Vaters Benito Mussolini gegen Ende von Marco Bellocchios Vincere, virtuos verkörpert von Filippo Timi, gesehen bei der Viennale 2010. Ein Grimassieren, das die Pathosformeln der Macht in der Parodie der eigenen Tragödie spiegelt und bricht.

Luis Urzúas Rückschau auf das Grubenunglück in der Kupfer- und Goldmine San José und auf jenen Moment, als sich nach dem Einsturz die Staubwolke gelegt hatte und er sehen konnte, dass er durch «einen riesigen Felsen im ganzen Durchgang der Strecke» gefangen war: «Das erinnerte mich an meine Kindheit, als ich biblische Filme gesehen habe.»

Jean-Michel Palmiers aufschlussreiche und akribische Zer- wie Neu-Auslegung von Benjamins Denken in Walter Benjamin. Lumpensammler, Engel, und bucklicht Männlein Ästhetik und Politik bei Walter Benjamin (aus dem Französischen von Horst Brühmann).