dokumentarfilm

24. Dezember 2010

Sozialdienstleister Neukölln, Bundesrepublik Deutschland: Weihnachten? Weihnachten von Stefan Hayn und Anja-Christin Remmert

Von Bert Rebhandl

Über den Berliner Bezirk Neukölln haben die Massenmedien ihr Urteil schon gesprochen. Hier ist die Republik so, wie sie nicht sein soll – hier gibt es «den höchsten Anteil an Bedarfsgemeinschaften pro 1000 Einwohner» für die Leistungen, die unter Hartz IV zusammengefasst sind, und hier gibt es «eine komplexe Zusammenballung von Migrantengruppen», wie der zuständige Bürgermeister Heinz Buschkowsky in einem knappen Problemaufriss es formuliert. Er spricht zu einer Kamera, die Stefan Hayn und Anja-Christin Remmert auf ihn gerichtet haben. Buschkowsky ist eine von zahllosen Personen, die in dem Dokumentarfilm Weihnachten? Weihnachten zu Wort kommen, und die zu einem Bild von Neukölln beitragen, vor dem das Urteil der Massenmedien keinen Bestand haben kann. Es muss aufgehoben werden, in jenem konkreten Sinn, der hier waltet.

Hayn und Remmert gehen bei ihren Beobachtungen von dem 36. Alt-Rixdorfer Weihnachtsmarkt aus. 110 Teilnehmer auf 180 Standplätzen versuchen hier im Jahr 2008, also im Jahr einer der nominell größten Wirtschaftskrisen der neueren Zeit, durch den Verkauf von allen möglichen Produkten ein wenig Geld für ihre Tätigkeiten hereinzuholen. Die Marktteilnehmer gehören überwiegend in ihrem eigentlichen Feld jenem Bereich an, in dem öffentliche Hilfe und persönliches Engagement zusammenkommen: in einem Hospiz für sterbenskranke Menschen, in einem Psychiatrischen Tageszentrum, in einer Zuverdienstwerkstatt, in der Melanchthon-Kirchengemeinde (die sich um Obdachlose kümmert), in einem Berufsbildungwerk (das die Ausbildungen gewährleistet, die von der freien Wirtschaft nicht angeboten werden), in einem Hilfswerk für Kinder in Vietnam, in einer drogentherapeutischen Wohngemeinschaft, in einem Trainingsraum in einer Schule, in dem Lehrer sich mit den Konflikten ihrer Schüler auseinandersetzen, und damit schon über den Teil ihrer Arbeit hinausgehen, der behördlich definiert und finanziert wird.

In allen diesen Stellen erweist sich die Lage als strukturell ähnlich: Der Kostenträger (also der Staat oder das Land in Gestalt der dafür geschaffenen Stellen und Behörden und Agenturen) achtet auf die Kosten, die Leute in den Einrichtungen achten auf die Bedürfnisse.

Dass Weihnachten? Weihnachten von einem Weihnachtsmarkt ausgeht, ist also mehr als nur eine geschickte dramaturgische Lösung für einen Querschnitt durch eine Gesellschaft, wie Hayn und Remmert ihn unter ausdrücklichem Bezug auf Dziga Vertov suchen. Es ist auch schon eine der wesentlichen kritischen Pointen dieses bedeutenden politischen Films: Denn die Einnahmen auf dem Alt-Rixdorfer Weihnachtsmarkt dienen auch der Kompensation des Umstands, dass die vielen «Sozialdienstleister» in Neukölln von der öffentlichen Hand zunehmend an betriebswirtschaftlichen Effizienzkriterien gemessen werden.

Man lernt viele Menschen kennen in diesem Film, meistens sprechen sie nur wenige Sätze, aus denen hinreichend hervorgeht, welches ihr persönliches Geschick ist. (Mit allen könnte man eigene Filme drehen, und würde die diachronen Achsen erforschen, die in den biographischen Andeutungen erkennbar werden: Die Vertreibungen des 20. Jahrhunderts, traumatische Republikfluchten aus der DDR, die Antipsychiatrie-Bewegung, Erschöpfungssyndrome, schwere Krankheiten, Historisches und Biographisches) Doch es geht hier um etwas anderes. Es wird klar, dass eine Gesellschaft wie die deutsche im Jahr 2008 anspruchsvolle Lebensformen hervorgebracht hat, auf die keineswegs alle in gleichem Maß vorbereitet sind. Dass das Leben sich nach Kräften selbst erhält und überschreitet (vulgär gedacht: dass prinzipiell alle irgendwie «nach oben» wollen, und nach Möglichkeit weg aus Neukölln), wird hier stärker an dem komplementären Aspekt gemessen: dass das Leben sich selbst im Weg steht, dass es eine Vielzahl von Motiven für Schwierigkeiten und Scheitern gibt.

Bürgermeister Buschkowsky, der die Sprache der Technokraten spricht, aber so, dass man heraushört, dass er sie tatsächlich ins Konkrete zu übersetzen weiß, er sagt: Man muss Leuten die Möglichkeit geben, «einen eigenen Lebensentwurf zu fertigen». Dafür muss man vor allem in die Kinder investieren, denn alles andere bringt «Reparaturkosten», die viel höher sind als die Investitionen in gelingende Ausbildung. Ein größerer Teil der Initiativen in Weihnachten? Weihnachten zählt sicher zu den Reparaturkosten. Hierin liegt ein heikler Punkt, der auch angesprochen wird: Die Regelsysteme des öffentlichen Zusammenlebens (Schule, Gesundheit, Polizei, …) werden zunehmend schlechter dotiert, stattdessen wachsen nach Erfahrungen der Sozialdienstleiter die Bereiche, in die Projektgelder fließen.

Interventionen und Unterstützungen werden dadurch weniger berechenbar und geraten stärker in den Bereich des Karitativen. Die Quintessenz aus den vielen Beobachtungen dieses Films ist allerdings recht eindeutig: Ein Gemeinwesen, dessen «Lebensentwürfe» durch Wissens- und Produktivitätszuwächse, durch Konsum- und Kulturmöglichkeiten ständig aufwändiger werden, kann diesen Prozess der Differenzierung im Bereich des Einstiegs in dasselbige nur entsprechend ausweiten und ausdifferenzieren wollen und müssen, wenn ihm denn an seinem inneren Zusammenhalt gelegen ist. (Mit Finanzierungs- und Budgetfragen halten sich Hayn und Remmert nicht auf, das wäre ja schon konkrete Politik, und der Weihnachtsmarkt gehört zur Ökonomie der Zivilgesellschaft, wenn man ihn nicht, wie es andere politische Bedrohungsszenarien nahelegen, als «weiches Ziel» für Terroristen sehen will, die ganz andere und jedenfalls keine freiheitlichen «Lebensentwürfe» vertreten.)

Das Neukölln mit Migrationshintergrund taucht in Weihnachten? Weihnachten nur an einzelnen Stellen auf, es gibt aber einen interessanten historischen Hinweis auf die von den Preußen geförderte Zuwanderung böhmischer Protestanten im 18. Jahrhundert, die anfänglich ebenfalls von kulturellen und politischen Konflikten begleitet war, und an die heute nur noch Folklore erinnert. Ob das ein konkreter Horizont für die lange Dauer der gegenwärtigen Integrationsbemühungen sein könnte, wird auch davon abhängen, wie weit in Deutschland überhaupt noch Mehrheiten für die Finanzierung eines sozialen Staats zu schaffen sind. Der Film Weihnachten? Weihnachten bringt dafür keine Argumente, aber er skizziert vorbildlich den Zusammenhang, um den es in der Politik allein gehen kann.

Weihnachten? Weihnachten von Stefan Hayn und Anja-Christin Remmert, Deutschland 2009