was vom jahr bleibt

30. Dezember 2019

Was vom Jahr bleibt 2019

Von Marie-Luise Angerer, Alejandro Bachmann, Michael Baute, Eva Behrendt, Johannes Bennke, Madeleine Bernstorff, Ludger Blanke, Hannes Brühwiler, Robin Celikates, Catherine Davies, Matthias Dell, Jan Distelmeyer, Monika Dommann, Julia Eckel, Daniel Eschkötter, Ralph Eue, Günter Hack, Maren Haffke, Vinzenz Hediger, Jakob Hesler, Patrick Holzapfel, Felix Hüttemann, Dominik Kamalzadeh, Niklas Kammermeier, Sarah Khan, Rainer Knepperges, Rainer Komers, Florian Krautkrämer, Max Linz, Petra Löffler, Elena Meilicke, Roland Meyer, Gregor Mirwa, Franz Müller, Cristina Nord, Michaela Ott, Johannes Paßmann, Kathrin Peters, Hannah Pilarczyk, Bert Rebhandl, Manfred Rebhandl, Simon Rothöhler, Danilo Scholz, Anke Stelling, Ursula Tax, Nicolas Wackerbarth, Carolin Weidner, Robert Weixlbaumer und Philip Widmann

Marie-Luise Angerer

Wenn nichts so ist ... just face it!

Als ich Ende Oktober nach Oslo flog, wurden wir am Ende der Gangway von zwei Grenzbeamtinnen befragt, was wir in Norwegen zu tun gedenken, und wie lange wir bleiben wollten. Auf der Fahrt in die Stadt dachte ich immer wieder an diese Szene, auch wenn an ihr  – außer border control – nichts ungewöhnlich war. Es waren die Uniformen, die mich dann in meiner Assoziationskette weiterführten – border control an der schwedisch-dänischen Grenze. Border, der Film von Ali Abasi, in der Reihe Un Certain Regard in Cannes dieses Jahr ausgezeichnet, zwingt einen zu mehrfachen Grenzübertritten. Die mich immer wieder stolpern ließen, trotz Gender, trotz Animal Studies, trotz New Materialism-Debatten, trotz oder gerade wegen entangled ontologiessignificant others – und alles, was damit zu tun hat und seit Jahren den Diskurs  beherrscht. Im Zug (wie fast  jedes Jahr zu Weihnachten und wie jedes Jahr von Simon so nett zum Cargo-Jahresendbericht eingeladen) lese ich einen Artikel in der SZ (vom 21.12.) über Schönheit und die Body-Positivity-Bewegung. Die Journalistin gesteht dort, dass sie all die dicken, unförmigen, ausgestülpten und eingedellten Körper, die sich auf Instagram und anderen Kanälen präsentieren und darum flehen, als schön durchzugehen, trotz Bemühen und beim besten Willen nicht als schön empfindet. Sie wären, schreibt sie, geradezu normal in ihrer nichtschönen Existenz. Ein wichtiger Punkt: Moralisch-politisch finden wir es völlig angebracht, für ein positives Körpergefühl einzustehen, unterstützen wir alle Bewegungen, die vermeintliche Minderheiten in ihrer je spezifischen Nichtnorm als normal zu integrieren versuchen – und möglicherweise dabei den Rest des Realen in der Realität verdrängen (müssen). Diesen ‹Rest des Realen›, wie ich es bezeichnen möchte, hat Border großartig bespielt, lust-unlustvoll, abstoßend-anziehend, befreiend-beklemmend. Die Sexszenen zwischen der Protagonist*in, Tina, und Vole, der* sie als seines*gleichen adressiert, die als animalisch beschrieben worden sind, sind weder das eine noch das andere, sie bewegen sich vielmehr in einem Zwischenraum existenzieller Verquickungen von Naturen, Kulturen, Gesten, Stimmen, einem grasping von allem und jedem. Es wäre vermessen, behaupten zu wollen, wir kämen damit alle super klar. Quentin Dupieux’ Film Rubber aus dem Jahre 2010 (gerade erst kürzlich auf DVD dank einer Review von E. Knörer (!) gesehen) ist da einfacher zu nehmen: Der mordende Autoreifen ist getarnt als Slapstick-Komödie, alles sei vielmehr Effekt purer Willkür, wie wir Zuseher*innen zu Beginn des Films belehrt werden. Dabei könnte der* Reifen im Sinne des Neuen Materialismus durchaus durchgehen: Eigenen Bewegungsgesetzen folgend, eine befremdliche Art von Begehren artikulierend (der Reifen folgt immer wieder einer jungen Frau, ihrem Auto, in ihr Motel-Zimmer), er* beginnt zu beben (geradezu zu schnauben), bevor er* jemanden oder etwas in die Luft sprengt. Rollend, tänzelnd, immer wieder umfallend, jedes Hindernis aus dem Weg blasend, rollt am Ende des Films eine Armada von Reifen gen Hollywood. Klar, es geht um Filmindustrie, um das Spiel mit dem Glauben an dem Film, um die typischen Zutaten eines Films, dem die Menschen mit ihren Ferngläsern bedingungslos folgen sollen und sich, bevor sie in der Wüste verhungern, in ihrer Gier mit Fleisch vergiften. Doch der Reifen ist letztlich ein Teil der menschlichen Welt, der sich nur selbstständig gemacht hat. In Border hat sich niemand nur davon gemacht, sondern war nie dort, wo es vermeintlich ‹richtig› ist. Auch in Heimat ist ein Raum aus Zeit von Thomas Heise gibt es keinen ‹richtigen› Ort, auch keine ‹richtige› Zeit – im politischen Sinne. Fotos, Landschafts- und  Industrieaufnahmen, endlose Rangierbahnhöfe, ein über alles trostloser deutscher Wald. Und Heises Stimme aus dem Off, die die Geschichte seiner Eltern und Großeltern erzählt, deren Überzeugungen, Erwartungen und politisches Engagement für einige Jahre richtig erschienen, um in ideologische Schockstarre zu geraten angesichts der jeweils anderen/neuen Diktion. Die Großeltern jüdisch, die Eltern kommunistisch, Kipp-Identitäten, die ‹nie-das-sind, was-ist› erleben müssen. 

Zum Abschluss jedoch noch ein kurzer Bericht eines jener wenigen ‹richtigen› Momente in all diesen vielen sich falsch anfühlenden im Laufe eines Jahres: 

Arthur Schnitzlers Reigen mit der Musikbanda Franui. Im August dieses Jahres bei den Bregenzer Festspielen. Regina Fritsch und Sven-Eric Bechtolf lesen, ja was, sie spielen, inszenieren lesend Schnitzlers Szenen. Und jedes Mal, wenn der imaginäre Raum zwischen dem zuhörenden Publikum und der eigenartig ansteigenden Spannung des Textes immer größer wird (wenn Gustav Mahler das Hausmädchen an die Hand nimmt, wenn andere Herren ihre Liebschaften umgarnen, wenn ...), setzen die Musiker*innen von Franui ein – mit Violine, Hackbrett, Trompete, ihren Stimmen, Harfe, Zither, Kontrabass und anderen Blasinstrumenten mit Satie, Cage, Verdi u.v.m. – ein Abend zwischen allen Stühlen – weder das eine noch das andere, weder Schauspiel noch Musiktheater, weder ... noch, von allem etwas, aber: es ist, was spielt.

 

Alejandro Bachmann

Am Anfang muss Ne croyez surtout pas que je hurle (2019) von Frank Beauvais stehen, weil er in der Grundform dem Was vom Jahr bleibt entspricht: Der Zeitabschnitt eines Lebens als Strom von Einstellungen aus Hunderten von Filmen, die man in diesem gesehen hat, ist völlig überfordernd, exzessiv, dazu kommen die Erzählung des Filmemachers entlang von Diskursen der Psyche und des Politischen, der Bilder und der Welt, der Stadt und des Landes. Man geht unter in all den Bildern, kann kaum folgen und sieht dennoch wiederkehrend, wie sie sich mit allem anderen verbinden. Das Eingraben in Filme ist hier so deutlich auch als eine Bewegung nach außen spürbar, nicht nur die Bilder zueinander, sondern jedes für sich im Dialog mit der Welt.

Frontal: Anfang des Jahres. Ein schwarzer Mann und eine schwarze Frau zielen in BlacKkKlansman (2018) mit ihren Waffen auf ein Wiener Publikum im Haydn Kino. Bei der Heynowski & Scheumann Retrospektive der Dokumentarfilmwoche Hamburg führt Der lachende Mann (1966) unter anderem zu der Frage, ob man das ohne vermittelnde Nachbesprechung oder gar überhaupt zeigen könne. Dann in Stockholm vom Ibiza Video (2019) erfahren: Die herausragend gute Laune aller, wirklich aller Menschen, die einem – upon returning – in Wien begegneten. Vielleicht nur Projektion. Kurzzeitig findet sich auf der facebook-Seite des Gartenbaukinos die Ankündigung, das Video werde ungekürzt im Kino gezeigt: 20 Stunden lang Der lachende Mann. Erst gegen Ende des Jahres im Gartenbaukino, ca. ein Uhr morgens: Bacurau (2019) und die wirkliche, authentische, aus dem Bauch heraus gefühlte Freude über den Gegenschlag (tatsächlich das Bedürfnis, noch eine Backpfeife schallen zu hören) am Ende, im Film ist es denkbar (auch bei Tarantino), Kino als Ventil, durch das sich Dinge entladen: Der Griff zur Axt in Bernd Schochs Olanda (2019), die Rede zu Beginn von Oray (2019), das Programm Es hat mich sehr gefreut von Heide Schlüpmann und Karola Gramann im Rahmen der Retrospektive der Diagonale.

Auf Umwegen: Immer mehr Bilder von immer mehr Orten aus immer mehr Zeitschichten überlagern sich in Zustand und Gelände, die analoge Kamerakonstruktion von Philipp Fleischmann vermisst den Austrian Pavillion als filmische Lichtspur, die Malerei-artige Kamera und Licht-Arbeit von Fincher in einigen Folgen der zweiten Staffel von Mindhunter vermessen die Räume, in denen man dem Wahnsinn beikommen möchte. Nigeria und Österreich rücken in Bewegungen eines nahen Bergs über Bilder der Arbeit und Bilder der Landschaft näher zueinander, in sicherer pop-postkolonialer Coolness denkt Bertrand Bonello in Zombi Child über Frankreich nach. Bilder eines Popstars, eingeklebt in das Heft eines Teenagers als Ausgangspunkt einer Auseinandersetzung mit Pop an sich und sich selbst in Shayne (2019), Bilder, die zur Schrift werden müssen, um etwas von Ralfs Kern sichtbar zu machen in Ralfs Farben (2019).

Am Körper: Der verätzte Joaquin Phoenix in Sisters Brothers (weil – so einfach ist das - die Gier zu groß ist), die Muskeln und Sehnen, die Haare und die Haut, die Art sich am Bauernhof zu bewegen (z.B. auf der Jagd nach Schmeißfliegen) und gemeinsam am Tisch zu sitzen in Fleischwochen von Joachim Iseni, der Gang von De Niro, a bit too big and bulky. Eigentlich ist The Irishman (2019) ein Film über und für den Kleinen – Joe Pesci – der schauspielerisch überragend geheimnisvoll und düster seinen Bildern aus den anderen Scorsese Filmen entrinnt.

 

Michael Baute

Diclofenac Finalgon Ibuprofen • Driving as Metaphor (Rachel Cusk, 2019) • Finanzamt Friedrichshain-Kreuzberg • Hermeneutik des Subjekts. Vorlesungen am Collège de France 1981/82 (Michel Foucault) • Ich war zuhause, aber … (Angela Schanelec, 105 Min., 2019) • Olanda (Bernd Schoch, 160 Min., 2019) • Only Angels Have Wings (Howard Hawks, 121 Min., 1939) • The Penguin Exercise to Improve Posture and Decompress Nerves (Lawrence van Lingen, 2017) • Purple Mountains (Purple Mountains, 2019) • Wilhelm, der Schäfer (Josie Rücker, 26 Min., 2004) • Der Zweifel Cézannes (Maurice Merleau-Ponty, 1945)

 

Eva Behrendt

Yport, die letzte Short Story in Lauren Groffs sehr tollem Erzählungsband Florida, trifft meinen Nerv. Die Ich-Erzählerin, leicht als Groff herself identifizierbar, macht mit ihren beiden kleinen Söhnen in Nordfrankreich Urlaub und gleichzeitig eine Art Forschungsreise zu biografischen Stationen des Schriftstellers Guy de Maupassant. Die Story folgt dem Ferienalltag mit feiner Antenne für widersprüchliche Stimmungslagen: die überwältigende Liebe zu den Kindern und der gleichzeitige Wunsch, für sich zu sein, lesen und schreiben zu können, die langsam einsickernde Erkenntnis, dass der lange verehrte Maupassant ein misogyner Unsympath war, überhaupt jede Menge Frankreichdesillusionierungen und verzweifelt-komische Versuche, die alte Liebe mit buttrigen Croissants und vielen Flaschen Rotwein zu retten. Dazu, als dräuende Hintergrundmusik der einstürzenden Gewissheiten, der Klimawandel, denn Groff ist mit ihren Söhnen auch vor dem höllischen Juli zuhause in Florida geflüchtet.

Überhaupt, düstere Lektüren, vielleicht zu viele. In Rachel Kushners ganz und gar illusionslosem Knastroman The Mars Room gelingt der Ich-Erzählerin halb zufällig ein Ausbruch aus der Vollzugsanstalt. Doch das Außen des immerhin durch die Wärme seiner Insassinnen vitalen Knasts ist nur ein weiteres Gefängnis: endlose kalifornische Mandelplantagen, wie mit dem Lineal gezogen. Den Ausbruch aus einem anderen Unterdrückungssystem diskutiert eine Gruppe Menonitinnen in Miriam Toews Die Aussprache: Wählen sie den vertrauten Missbrauch oder den Bruch mit der eigenen Identität? In Sibylle Bergs Englandroman GRM lassen sich digital sedierte Zuwendungsempfänger nach dem Brexit von gierigen Eliten arm und krank verwalten. Lichtblicke: Lola Randls trocken-komische Einblicke ins privilegierte Landkommunenleben in Der große Garten und David Wagners feines Buch über das Abschiednehmen, Der vergessliche Riese. Abschied vom Gedächtnis des Vaters, von der Alten Bundesrepublik, von der Welt, wie wir sie kannten. Aber weiter geht es immer.

Von der dräuenden Hintergrundmusik zur Sinfonie des Schreckens auf allen Kanälen: Erderwärmung. Sowohl auf meiner Bücherliste als auch in meinen Social Media Feeds, wo sie den Sog einer apokalyptischen Serie entwickelt, in der sich die Bösewichter und Schurken stetig vermehren. Nachts liege ich wach und frage mich, ab wann die Sommer in unserer Wohnung endgültig unerträglich werden. Das Prepper-Ego schmiedet Survivalpläne, das ethisches Gewissen findet, dass Alleingänge nicht in Frage kommen. Ein Alleingang bleibt das Projekt Veganismus in den letzten drei Monaten des Jahres, E. und J. essen zwar meine vegane Lasagne mit, am nächsten Morgen hauen sie sich ein paar Eier in die Pfanne. Ich bin eine lahme Botschafterin meiner Überzeugungen; mein tierliebender Sohn hingegen versucht hartnäckig, mich fürs Tierprodukt zurückzugewinnen.

Aber was ist schon vernünftig? Für die Revolution kämpfen, oder mit der Geliebten im Bett liegen? Sich um die Zukunft sorgen, oder die Gegenwart mit offenen Sinnen erleben? Anlässlich eines Gastspiels von Christopher Rüpings Trommeln in der Nacht Flug nach Beijing, jaha, Kulturaustausch und Völkerverständigung entschuldigen einiges. Im Zug von Bejing nach Shanghai durch großteils ausgebeutete, versiegelte, verdreckte Landschaften im Grauschleier: der Preis der rasenden Modernisierung, so selbstverständlich bezahlt, dass ihn wahrscheinlich viele, wie meine gesprächige Sitznachbarin, gar nicht wahrnehmen – oder finden, er war es wert. «Work hard, try harder», steht auf ihrer Handyhülle. Zuhause ist die Luft so sauber, weil sie hier so dirty ist. Von Spaziergängen an der unfrischen Luft erholt man sich in klimatisierten Shoppingmalls mit Restaurants rund um die Kinderspielplatz-Piazza und Wasserfall. Ein Zukunftsalptraum, aber auch eine Traumdiktatur: Die «Kommunistische» Partei setzt mitunter sehr effektive Umweltschutzmaßnahmen durch, und zwar gleich für 1,3 Milliarden, etwa Mülltrennungssysteme oder Emissionsstrafen für Unternehmen.

In Lear/Die Politiker am Deutschen Theater, Shakespeare plus Wolfram Lotz in der Regie von Sebastian Hartmann hat meine Angst es (endlich) auf die Bühne geschafft. Nicht nur im «Lear»-Teil, wo wütende Töchter auf den Betten seniler Greise herumspringen, sondern auch im angehängten Lotz: In einer endlosen rhythmischen Litanei zitiert Cordelia Wege «Die Politiker» herbei, also die, die es doch eigentlich richten sollten, und zeichnet zwischen all den Kalauern das Selbstporträt des Dichters, der es einfach nicht hinterm Schreibtisch hervor schafft. Und einige Wochen später der ultimative Dämpfer: Es ist zu spät, erklärt Arne Vogelgesang (internil) beim Monologfestival im Theaterdiscounter in einem inszenierten YouTube-Clip-Dreh; auch die meisten reflexiven Techniken – Theater, Kunst, Schreiben, Denken – halten uns davon ab, aus dem siedenden Wasser zu hüpfen.

Zum Jahresende Besuch in einem vierwöchigen Utopia. «Ferment:Mutterkorn» von Stefanie Wenner und Torsten Eibeler empfängt als prächtig anheimelnde Wunderkammer im Heizhaus den Berliner Uferstudios mit einer Indoor-Jurte und Handbibliothek, Erdhügel und Tapeziertischen, auf denen selbstgebackenes Sauerteigbrot, Einmachgläser mit bunt fermentiertem Gemüse und Ampullen mit seltsamen Tinkturen stehen. Im Durchführen nachhaltiger Transformationsprozesse und Kreisläufe, etwa der Milchsäuregärung oder der Destillation von Kräuteressenzen, versuchen Wenner und Eibeler die Kontemplation über Kunst und Theorie in konkrete Techniken und Handlungen zu übersetzen und nebenbei die alte, fatale Vernunftordnung der Dinge ein bisschen durcheinander zu bringen. Dazu dreschen sie, als Pilze verkleidet, zu «Highway to hell» fröhlich mit Reisig aufeinander ein. Vermutlich gehört ihnen, den Pilzen, die Zukunft.

 

Johannes Bennke

Das Vergessen nicht vergessen

2019 steht für mich dem Vergessen näher als dem Erinnern. Vom Bauhaus-Jahr blieb mir neben den Erinnerungen an begehbare Vitrinen in Weimar und Dessau eine kleine Postkarte aus dem Museumsshop mit dem Motiv des «Vergesslichen Engel» von Paul Klee aus dessen letzten Lebensjahren. Mir schien, dass das Vergessen hier ein Gutes und nichts Schlechtes sei, denn niemand hat wirklich etwas von der Musealisierung einer Revolution des Alltags, gerade dann, wenn es um dringendere Fragen des Wohnens und Miteinanders geht. Natürlich ist das Vergessen alltäglich, aber ihm wird immer wieder etwas entrissen, und darum scheint es zu gehen: Tatsächlich hatte ich das Schicksal einer befreundeten Performance-Tänzerin fast vergessen, die mittlerweile seit Jahren an Multipler Sklerose erkrankt ist, und sich gegen und gemeinsam mit ihrem Körper auf der Bühne der Sophiensäle in Berlin aufbäumte und einen Weg fand, nicht den Raum zu beschreiten, sondern ihn in sich aufzunehmen, sich damit zu verhüllen und neu einzukleiden. Das hatte etwas Metamorphisches. Die Bühne als Medizin der Sichtbarmachung, unvergesslich.

Die profanste Erinnerung dagegen: 40ml japanischen Whiskey für 30 Franken in einer Bar in Zürich. Er schmeckte moosig, und dass später ein zahlungsstarker Begleiter die Zeche übernahm, tröstete nicht über das schlechte Gewissen (was hätten 30 Franken anderswo bewirken können!) und die Enttäuschung über den bitteren Geschmack hinweg.

Dass das Erinnern eine Last sein kann, erfuhr ich auf einer Recherchereise, als ich die Handschriften des französischen Philosophen Emmanuel Levinas in den Händen hielt, die mir dann mit der Bitte um Rücksendung mitgegeben wurden (Was für eine Verantwortung! Diese Last im Gepäck! Bloß nicht vergessen, verlieren, verlegen, verletzen! Ich hätte lieber abgelehnt und alles Nötige vor Ort erledigt, nur es war keine Zeit. Erleichterung als ich erfuhr, dass die Handschriften nach meiner postalischen Rücksendung wohlbehalten im Archiv wieder angekommen waren.) Völlig übermüdet und unfähig zu schlafen in einem Hotelzimmer in Nizza beim durchzappen Valeska Grisebachs Western (2017) gesehen. Mit ethnologischem Interesse wird nicht nur der amerikanische Mythos in der bulgarischen Provinz neu aufgerollt, sondern auch die Fremdenfeindlichkeit der Deutschen in der Fremde und archetypische Männerbilder (einfühlen vs. erobern). Hier lebt in der Schattenseite dieser Robinsonade das nationalistische Gebaren gestrandeter, weißer Männer weiter, die den Boden vermessen und zu dem ihren abstecken. Über der nicht vergessenen Heimat in der Ferne, wird die lokale und personale Nähe ausgeblendet, ignoriert, vergessen.

Überhaupt zeigen sich die Fratzen der Fremdenfeindlichkeit 2019 besonders deutlich, mal in Form der Intellektuellenfeindlichkeit (im September 2019 beschloss die brasilianische Regierung von Jair Bolsonaro massive Kürzungen (42-50%) in Bildung und Forschung und fror fast 6000 Forschungsstipendium ein – auch das eines brasilianischen Freundes, der gerade Vater geworden war), mal in Form des Antisemitismus (der Anschlag in Halle am 9. Oktober, der einen befreundeten Israeli nicht davon abhielt, weiterhin in Deutschland zu leben), mal in der besonders perfiden Form links-intellektueller Voreingenommenheit (dass Satire dort versagt, wo man nicht nur seine Zugehörigkeit zum Establishment vergisst, sondern auch die Benachteiligten, die unter dem eigentlichen Gegenstand leiden, den die Satire treffen soll, kann man an der Late Show mit Steven Colbert beobachten – trotz eines demokratischen Patriotismus und teils hellsichtiger Verdichtungen, ergötzt man sich am Spektakel der Lügen, Boshaftigkeiten und irrelevanten Äußerlichkeiten, während zugleich eine alternate history und damit ein Ende der Regierung Trump herbeiimaginiert wird, als ob man die Gegenwart lieber vergessen würde und ein regime change bereits geschehen sei. 2020 wird es zeigen.). Aus Perspektive der Lektüre werfen die Komplementärbücher The Line becomes a River von Francisco Cantú und James Sallis´ Willnot ein Schlaglicht auf das US-amerikanisch-mexikanische Grenzgebiet – eine Lebensader der Trump-Administration –, wobei die im Titel von Willnot angedeutete Widerständigkeit die Identität im Kern selbst betrifft: sie lässt sich nicht ruhigstellen. Wo ausgegrenzt wird und die Unbilden der Wüstennatur als natürliche Verbündete in Sachen Grenzschutz vereinnahmt werden, hilft nur die äußerst lückenhafte forensische Spurensuche gegen ein Vergessen, das in Nummern überführt wird. Identitätswahrung im Wüstengebiet produziert Vergessen.

Das Nicht-Vergessen beginnt mit den Toten und so möchte ich an dieser Stelle an den jüngst plötzlich verstorbenen Thomas Elsaesser erinnern, dem Vinzenz Hediger hier einen Nachruf gewidmet hat.

 

Madeleine Bernstorff

Die sommerliche Sichtung einer schon ziemlich weiten Schnittfassung von BECOMING BLACK und unser langes Gespräch im Anschluss mit der Regisseurin Ines Johnson-Spain, mit der Editorin, der Sounddesignerin, der Produzentin und mehreren Filmfreund*innen. «She tracks the astonishing strategies of denial her parents and those around them came up with. In what’s both an intimate portrayal and a critical exploration, she brings together painful and confusing childhood memories with matter-of-fact accounts that testify to a culture of rejection and tight-lipped denial», sagt der Text des IDFA, wo der Film im November seine Weltpremiere hatte: Auch eine afrodeutsche DDR-Geschichte. Familien als komplizierte Abschottungsmaschinen oder offene Gebilde. 

In der kleinen Schirn in Frankfurt Hannah Ryggens Weberei-Collagenkunst, die sie in den 30er bis 60er Jahren an ihrem selbstgebauten Webstuhl auf einer Insel bei Trondheim nach Zeitungsfotos und Radioberichten hergestellt hat: Störrischer, einsam wirkender und ebenso vielfältiger Widerstand. Protest gegen Mussolinis Bombardierungen in Abessinien. In der Weltausstellung 1937 in Paris gleichzeitig mit Picassos Guernica ausgestellt, mußte der Teil des Wandteppichs mit dem speerdurchbohrten Vierkantkopf von Mussolini aus Rücksicht auf die Italienallianz weggeklappt werden. Der Teppich Wir leben auf einem Stern überlebte die Breivik-Attacke im Osloer Regierungsgebäude mit einer Beschädigung. Ein Wandbehang für Lilo Herrmann, die KPD-Aktivistin, die im Frühjahr 1933 den Aufruf zur Verteidigung demokratischer Rechte und Freiheiten an der Berliner Universität unterzeichnet hatte. Die trotz europaweiter Protestkampagne im Juni 1938 in Plötzensee hingerichtet wurde. Hamsun, Hitler mit Giftwolken aus dem Hintern und Quisling als fette Gans fliegen in fahlem Braun-grau-schwarz. Ein später Teppich zum Vietnamkrieg mit hellgiftroten Agent Orange Streifen, die sich rasterartig ins Grün fressen, eine Granatenborte und die Präsidentenfratze mit purpurfarbenem Cowboyhut. 

Unsere Filmreihe zu Ella Bergmann-Michel im Zeughauskino, die weite Kontexte aufmachte und umkreiste: die technische Erfindung der Handkamera, die Gefährdung avantgardistischer Filmarbeit am Übergang zur NS-Diktatur, Bergmann-Michels Filmclubarbeit in der frühen Bundesrepublik und die Rezeption der frühen dreißiger Jahre in den Siebzigern und Achtzigern. Herr Meier, der in zwei großen Taschen seine Sammlung der Zeitschrift das neue frankfurt und der AIZ Arbeiter-Illustierte-Zeitung mitbrachte und auf der Bühne vor der Leinwand (fast) alle Jahrgänge auslegte. Die große Emanuel-Goldberg-Wandtafel von René Patzwaldt und Sascha Herrmann im Foyer des Zeughauskinos. Bärbel Freund, die uns zum Abschluß einen Holzbobby mit aufgerollten 25 Metern 35mm-Film schenkte, soviel wie in die Kinamo-Kamera passt.

Und schließlich die Entdeckung von FRÜHJAHR 1933, des ersten und einzigen Films des Produzenten und Freunds von Ella Bergmann-Michel, Paul Seligman (1903-1985), der Deutschland 1937 verließ. Die Projektion im Zeughauskino am 24.09. war die Welturaufführung. Im Juli 2018 hatte mich die VHS-Kopie aus den 1980er Jahren des 16mm-Materials erreicht. Die Rollen lagern in den Canada Archives, Ottawa, das eine neue Abtastung besorgte. Zugleich stellte Jutta Hercher die 1976 im Rahmen eines Dokumentarfilms entstandenen und bisher unveröffentlichten Bild- und Tonbänder eines Interviews mit Seligman zur Verfügung. Beides in Verbindung gebracht und von Boris Schafgans arrangiert, in Anwesenheit von Ben Seligman, dem Sohn Paul Seligmans, der aus Kanada nach Berlin gekommen war.

 

Ludger Blanke

Vollendete Schönheit macht mich unglücklich. Einem von jungen, talentierten Streichern vorgetragenen späten Beethoven-Quartett höre ich lieber zu als der Aufführung der 9ten des selben Komponisten als Sylvester-Konzert der Berliner Philharmoniker. Mit Michelangelo kann ich nichts anfangen, in der Sixtinischen Kapelle bekomme ich Platzangst – aber nicht wegen der vielen Touristen, das Gewusel lindert die durch das unfassbare Gepinsel oben an der Decke hervorgerufene Atemnot und macht mich fast wieder froh. Die Versklavung, der Raum scheint mir das Problem zu sein, den der total(itär)e Anspruch des Meisterwerks dem Betrachter (nicht) lässt. 

Vielleicht ist meine Abneigung dagegen einer der Gründe (es gibt auch noch ein paar andere, plausiblere) warum ich mit Scorseses Irishman überhaupt nichts anfangen konnte. Habe dann irgendwann abgebrochen, weil ich dachte, wenn es noch weitergeht, werde ich nie wieder einen seiner frühen Filme sehen können… aber da war es schon zu spät, in meinem Herzen ist nun gerade noch Platz für King of Comedy

Aber man muss dort ja auch ab und zu aufräumen und Platz schaffen. 

Das meiste Vergnügen im Kino dieses Jahr machten mir unrunde (beinahe hätte ich geschrieben «brutalistische») Filme mit tollen Titeln wie zB Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen von Radu Jude oder auch Angela Schanelecs Ich war zuhause, aber… Oder das abenteuerliche Wochenende, das ich mit La Flor von Mariano Llinas im Arsenal verbrachte. Oder auch der als Fernsehspiel verkleidete Das freiwillige Jahr von Henner Winckler und Ulrich Köhler, den ich sogar nur in einer noch nicht abgemischten Fassung am Schneidetisch zu sehen bekam. 

Bin ich ein Snob, wenn ich die festliche Premiere verschmähe und den ersten Durchlauf bevorzuge, am liebsten noch mit gelegentlichen Unterbrechungen und Korrekturen vom Regietisch in der Mitte des Zuschauerraums aus? Vielleicht.

Vielleicht auch nicht, denn dieses Jahr habe ich zum Beispiel meine Haltung revidiert, mit der ich, als junger Mensch binge-reader beinahe ausschliesslich amerikanischer Crime-Literatur, Simenon und besonders die Maigrets abgesnobt habe. Nix für mich, zu staubig und pernod-selig gemütlich war immer mein (Nicht-)Argument den Freunden gegenüber, wenn sie mir mit Simenon kamen. 

Wie sehr falsch ich da lag, wurde mir klar, nachdem ich im Sommer auf dem Flohmarkt ein paar Maigrets in der neuen Kampa-Ausgabe zum Spottpreis angedreht bekam und dann zu Hause, während ich darauf wartete, daß die Spaghetti gar wurden, das oberste der Bücher vom Stapel aufschlug und innerhalb von ein paar Sätzen in der ersten Geschichte drin war. Es ging um eine Frauenleiche, die im Umkleideraum des Personals eines grossen Pariser Hotels gefunden worden war. Zuerst beeindruckte mich die Eleganz der Erzählung, die vollständige Abwesenheit alles Schmückenden, jeder Girlande, nicht nur was die berühmten Adjektive betraf: ein idealer Lese-Flow, dann, schon längst im zweiten oder dritten Band, begriff ich, wie dieser durch Abwesenheit freigehaltene Platz genau den Raum schafft, in dem ich als Leser glücklich werden konnte. Ich las abends die Maigrets schon bald als Therapie gegen die Erregungen und den gewaltigen Unsinn, mit dem ich mich als Netz- und News-Junkie in diesem in Wirklichkeit auf der Stelle tretenden, relativ undramatischen und ereignislosen Jahr täglich konfrontierte. Mit «Psychologie» ist, wie ich finde, diese Sache trotzdem falsch beschrieben, und wenn, dann allenfalls mit Simenon als klassischem Analytiker, der sich im Halbdunkel der Erzählung des Analysanden auf der Couch lauschend nur gelegentlich durch ein Brummen als aufmerksam und wach zu verstehen gibt. 

«Meisterwerke» im Sinne des oben Umschriebenen sind diese Maigrets trotzdem nicht, sie sind schöner und kluger «Pulp». Man bemerkt, daß sie nicht komponiert, sondern schnell geschrieben sind und Simenon wenig Lust hatte, redigierend noch einmal darüberzugehen – und nicht selten zaubert er den Täter zum Schluss aus dem Hut.

Sonst noch gut dieses Jahr: die israelische Serie Our Boys, das Album Purple Mountains von David Berman (Silver Jews), David Shields The Trouble with Men – Reflections on Sex, Love, Marriage, Porn, and Power und die Athener Vorortinsel Ägina und vieles andere.

 

Hannes Brühwiler

Filmkritik als Frontbericht: Das Jahr begann mit The Earth Dies Streaming von A.S. Hamrah, einer Sammlung von Aufsätzen und Kurztexten des Filmkritikers von n+1. Besonders schön ist dabei Hamrahs Betonung der Umstände, unter denen er die Filme sieht (oder eben auch mal nicht). Der Aufsatz über den Moment, als er von Abbas Kiarostamis Tod erfährt, während er im Foyer eines Multiplex steht, um sich dort The Purge anzuschauen, hallt noch lange nach. Es war überhaupt ein sehr leseintensives Jahr: Die Erfindung des Westens von Ulf Erdmann Ziegler zum Beispiel oder Trick Mirror von Jia Tolentino und diverses von und über John Berger.

Ende Mai: Das Konzert von FKA Twigs im Admiralspalast. Unglaublich.

Immer wieder Trump, immer wieder Weinstein und dann das Impeachment-Verfahren: Gegen Ende des Jahres mehrere Bücher und Bilder, die sich im Rückblick zu einem großen Gemenge über politisches, soziales und künstlerisches Unrecht vermischten, ergänzten und kommentierten: Jill Lepores Geschichte der USA These Truths und die Watchmen-Serie; Jodi Kantor und Megan Twoheys erschütternder Reportagebericht She Said über Weinstein und Emily Nussbaums Aufsatz Confessions of a Human Shield, in dem sich die Fernsehkritikerin des New Yorkers die Frage stellt: «What should we do with the art of terrible men?».

Ja, Filme gab es auch: Ich blicke zurück auf Ash Is the Purest White (Jia Zhang-ke), Fourteen (Dan Sallitt), Heimat ist ein Raum aus Zeit (Thomas Heise), The Bravados (Henry King) und ein Film, mit dem ich nicht mehr gerechnet habe: The Irishman. Die lange Szene, in der Frank Sheeran/Robert De Niro unter dem anklagenden Blick seiner Tochter Peggy/Anna Paquin, die um seine Schandtaten weiss, gefeiert wird, ist überwältigend. Mit meinem fünfjährigen Sohn wollte ich zum Jahresende hin ins Kino gehen, zur Eisprinzessin, doch er weigerte sich. Widerwillig erklärt er sich bereit zu Hause Mein Nachbar Totoro zu schauen. Sein Staunen und seine Freude über diesen Film, das wird bleiben.

 

Robin Celikates

Das Jahr war dreigeteilt: Winter und Frühjahr an der US-amerikanischen Ostküste mit anständigem Schnee, in einem Park voller Rehe und Kinder mit angeschlossenem Forschungsinstitut; die Rückkehr nach Amsterdam in einen kurzen, intensiven Sommer, in dem wir – wieder einmal – realisieren mussten, dass wir viel zu viele Dinge, natürlich auch und vor allem Bücher, angesammelt hatten; der Umzug nach Berlin im Herbst, zwischen Rückkehr und Neuanfang … mittendrin A., die inzwischen in drei Sprachen viel mehr spricht, als sie sagen kann; dazwischen viel anderes, vor allem: ein paar magische Tage in New Orleans Anfang Juni, mit schweißtreibenden Temperaturen schon auf den frühmorgendlichen Spaziergängen durch den Garden District, Marigny und Bywater; im Spätherbst dann ein grandioser Nachmittag und Abend in Fiesole mit anschließendem Agriturismo-Aufenthalt samt übereifrigem Hahn und morgendlichem Besuch bei den Kühen, die A. seitdem regelmäßig auf dem Telefon sehen will.

Ebenfalls zwischendurch: Stranger (der koreanische Originaltitel hätte wahlweise als Secret Forest oder Forest of Secrets übersetzt werden können – beides passender für dieses fesselnde Anti-Korruptionsepos); Chernobyl (mit vagen Kindheitserinnerungen an ökologische Katastrophendiskurse); Killing Eve 2Stranger Things 3Criminal (UK).

Im Jahr III von Trumps Präsidentschaft und anhaltendem AfD- und anderem Nazi-Terror: fünf Bücher über Migration und Flucht: Ocean Vuong: On Earth We‘re Briefly Gorgeous; Behrouz Boochani: No Friend But the Mountains; Violaine Schwartz: Papiers; Valeria Luiselli: Lost Children Archive; Min Jin Lee: Pachinko … to leave is to die a little/to arrive is never to arrive.

Kleine politische Lichtblicke: Greta, FFF, XR (und die intellektuelle Armut der Verteidiger des Status quo, die aber trotzdem alles zugrunde zu richten drohen); AOC & the Squad, vielleicht Chile, vielleicht Libanon?

 

Catherine Davies

Zwei Lektüren, die mich das ganze Jahr hindurch begleitet haben, waren Bücher zur Wirtschafts- und Agrargeschichte der frühen Neuzeit: A Century of Revolution des britischen Historikers Christopher Hill, und Grundzüge der Agrargeschichte: vom Spätmittelalter bis zum Dreißigjährigen Krieg von Kießling, Konersmann, Roßbach und Rippmann – Bücher, die ich las, wenn der Arbeitstag zu Ende war und mir für Romane die Muße fehlte, was dieses Jahr oft der Fall war. Am eindrücklichsten an Hills Geschichte Englands im siebzehnten Jahrhunderts fand ich, wie der Marxist Hill das wirtschaftliche Wachstum und die abnehmende Armut dieser Zeit als beabsichtigtes Ergebnis einer Politik beschreibt, die Monopole und Privilegien zugunsten von Marktwirtschaft beseitigte. Die These der Zwangsläufigkeit, die man in dieser Darstellung erkennen kann, ist dabei eher implizit als ausdrücklich argumentiert. Das Buch von Konersmann et al. las ich – umgeben von Nachrichten vom stetig wachsenden Ressourcenverbrauch und der nur schwer beherrschbaren Erderwärmung – gewissermaßen komplementär dazu, denn in ihr erfährt man unter anderem, dass Bodenerosion schon vor Jahrhunderten ein Thema war, vom übermäßigen Holzverbrauch zu schweigen. Gleichzeitig enthält das Buch einige schöne Passagen, die ich als fast tröstlich empfand: so die Beschreibungen der Gärten, die Bürgerinnen und Bürger im süddeutschen Raum im ausgehenden Mittelalter anzulegen begannen, inspiriert von italienischen und römischen Vorbildern. Deren liebevolle Beschreibung, die Aufzählung der Früchte und Blumen, haftete etwas Rührendes an. Wenn ich noch einmal studieren könnte, würde ich jedenfalls Seminare zur Agrargeschichte belegen.

 

Matthias Dell

München im September. Aus dem so schön prozessiösen Ende von Anta Helena Reckes unglaublich komprimierten Kränkungen der Menschheit, einem Triptychon in motion, das in drei verschiedenen Registern die Abschaffung des Zentrums durchspielt, beim Rauskommen aus den Kammerspielen auf der Falckenbergstraße von einem merkwürdigen Sog, der die wandelnden Bewegungen aus dem Stück in die Realität verlängert, in Richtung Maximilianstraße gezogen, weil dort Leute scheinbar ohne Grund herumstehen. Auf dem Weg vor einer Galerie singt jemand italienische Arien. Und in das rätselhafte Warten vor Polizeimotorrädern und schwerem Fahrgerät tritt Barack Obama aus dem Hotel, grüßt kurz in die cheerende Menge und verschwindet hinter verdunkelten Scheiben. So was passt doch in keine Theaterkritik.

Der alte Westen im August/Berlin im Dezember. Radtour mit B&T vom Wendland nach Kiel. Der tolle, intensive Abend bei der so wundervoll formulierenden Frau S., Gorleben, Abbaden in der Ostsee in Timmendorfer Strand, die «Reifezeugnis»-Schule in Eutin. Und: Mölln, das Haus der Familie Arslan, auf das 1992 der Brandanschlag verübt wurde, bei dem drei Menschen sterben. Das Haus steht mitten in der Altstadt, dahinter ein Fluss und ein friedlicher Park, die Gasse dahin heißt heute nach der ermordeten Großmutter: Bahide-Arslan-Gang. Und im Dezember im bi'bak in Berlin, wiederum mit B&T, die Präsentation von Die Angehörigen, einem Foto-Geschichten-Band von Jasper Kettner und Ibrahim Arslan über die Hinterbliebenen von Opfern rechter Gewalt. Erst an dem Abend verstanden, was das für eine Pionierarbeit ist angesichts des praktisch kaum existenten deutschen Rechtsextremismusdiskurses.

Berlin im Mai. Im Relegationsrückspiel gegen Stuttgart kriegt Union in der 78. Minute einen Freistoß, und die alte Försterei singt auf die Melodie von Can't take my eyes off of you den alten Zweitliga-Klassiker: «Torsten Mattuschka, du bist der beste Mann/Torsten Mattuschka, du kannst, was keiner kann/Torsten Mattuschka, hau ihn rein für den Verein», dabei spielt Tusche, wie ihn seine Fans liebevoll nennen, gar nicht mehr für Eisernen. Aus der Reminiszenz an die Vergangenheit spricht das Wissen, dass der Aufstieg glücken wird. Danach: take the long way home.

 

Jan Distelmeyer

Viel zuhause gewesen. Immer wieder auf der Schreibtischlangstrecke mit (nicht immer in dieser Reihenfolge) Versprechen (von Fragen, Gefundenem und Konzepten), Glücksmomenten (könnte klappen!) und Zweifeln (geht überhaupt nicht!). Mein enger Blick auf dieses Jahr fällt aus dieser Perspektive auf Naheliegendes, und mein Verdacht ist, dass eine Kleine Anfrage der AfD an die Brandenburgische Landesregierung aus dem Frühjahr ein gerüttelt Maß dazu beigetragen hat.

Darin fragte im April Andreas Kalbitz, der Landes- und Fraktionsvorsitzendeder AfD Brandenburg mit der öffentlichkeitswirksam eingeräumten Neonazi-Demo-Vergangenheit, inwiefern an «den Hochschulen des Landes […] Lehrveranstaltungen zum Thema ‹Gender› durchgeführt werden». Mit Angaben zu Fakultäten, Studiengängen, «Professoren (aufgeschlüsselt nach Geschlecht)» und «wissenschaftlichen Mitarbeitern (aufgeschlüsselt nach Geschlecht)». Neben der grundsätzlichen Aushöhlungsstrategie der Kleinen Anfragen dieser Fraktion diente die Begründung diesmal zugleich der Annahme, dass mit solchen anführungszeichendemarkierten Lehr- und Forschungsfragen bei der Regierungsübernahme («Wir wollen kein Stück vom Kuchen, wir wollen die Bäckerei!») mal zackig Feierabend wäre: «Die ‹Gender-Wissenschaften› sind jedoch umstritten. Gerade Biologen setzen sie mit der Theorie des Kreationismus als unwissenschaftlich gleich. Dementsprechend sollte festgestellt werden, inwiefern an staatlichen Einrichtungen die Forschung und Lehre dieser Thematik gewidmet ist und finanziell durch Steuermittel unterstützt wird.»

Im selben Monat, in dem mein Arbeitsalltag diesen schlechtinformierten Supervisionsbesuch bekam, lief Ali Abbasis Gräns in Deutschland an. Schönes Zusammentreffen und super Kino-Antwort, mit so viel Bewegung zwischen Körper, Geschlecht, Geschichte, Land und (so vielen) Grenzen, dass ich immer mal wieder Angst vor der befürchtet nächstliegenden Ausfahrt bekam und dann überrascht war, wie (und wohin) der Film die Kurven kriegt.

Meine führten 2019 immer wieder nach Deutschland:

Zur Entdeckung extrem aktueller Nazipropaganda inklusive Verachtungsgags gegen Parlament und Lügenpresse (Veit Harlans Mein Sohn, der Herr Minister mit Hans Moser von 1937). 

Zur Weiterentdeckung der DEFA mit ihren so besonderen und mit sich und dem (Beziehungs-)System ringenden Paar- und Rollenvorstellungen (z.B. Frank Beyers Das Versteck von 1978) und irre gescheiterten Quasi-Alternativen (z.B. Roland Oehmes Meine Frau Inge und meine Frau Schmidt von 1985). 

In die zweite Liga zum ersten kompletten Glücksjahr mit Arminia seit Ewigkeiten (dank Fabian Klos, Samir Arabi, Uwe Neuhaus und Tante Käthe).

Zu den Sätzen des Vorsitzenden des Bundestags-Rechtsausschusses Stefan Brandner (AfD) nach seinem Retweet einen Tag nach dem antisemitischen Anschlag und Doppelmord von Halle («Kapier ich sowieso nicht: Die Opfer des Amokläufers von Halle waren – Jana, eine Deutsche, die gern Volksmusik hörte – Kevin S., ein Biodeutscher. Warum lungern Politiker mit Kerzen in Moscheen und Synagogen rum?»), mit denen er sich am 17. Oktober im Bundestag nicht dafür entschuldigte, sondern für die Kritik daran: «Deshalb möchte ich hier klarstellen, dass das, was inhaltlich im Retweet stand, nicht ansatzweise von mir geteilt wird und auch nie geteilt wurde, und dass ich es bedauer’, dass es so aufgefasst wurde, und ich mich dafür entschuldige, wenn sich Leute durch den Retweet von mir, dass sich Menschen dadurch angegriffen oder schlecht behandelt gefühlt hätten.»

Zu Jörg-Uwe Albigs rechtzeitigem Roman Zornfried, in dem das Gedicht «Grenze und Gänze» des neurechten Lyrikers Storm Linné ziemlich viel von dem sagt, was mir beim Superschurken-Arthouse-Abiturienten Joker so hochgekommen ist:

Barbaren sind wir roh von fleisch und seele 

Zersotten nicht in süßem sud noch seim 

Versklavt nicht von der heuchler feiger zunge 

Gelähmt nicht von des mitleids zähem leim 

Wir greifen an. Und wenn die welt in flammen 

Und morsche mauern rauchen schwarz im land 

Dann lassen wir die fackel nicht verglimmen 

Und setzen singend eignen leib in brand.

 

Monika Dommann

2019 von A bis Z (unvollständig, wie all die Listen, die ich mir in diesem Jahr vorgenommen habe) 

wie African Mirror, von Mischa Hedinger, Schweiz 2019. Dder längst fällige Film zur postkolonialen Schweiz, der bedingungslos dem Stillmittel der Montage vertraut. 

wie Bon Joon-Ho, Parasite. Südkorea 2019. Kino aus dem Basement, bester Film von 2019.

wie Chavín – Eine Synästhetische Uroper, von Michael Flury im Museum Rietberg  in Zürich. Michael Flury, sowieso der beste Posaunist, hat die Meeresschnecke aus der Versenkung gezaubert, vielleicht das älteste aller kultischen Blasinstrumente.

wie Delphine Seyrig und Carole Roussopoulo. Delphine et Carole, insoumuses, von Callisto McNulty, Frankreich, Schweiz 2019. McNulty erinnert uns daran, wie medienaffin der Feminismus in den 1970er Jahren war. Beispielsweise Sois belle et tais-toi! von Delphine Seyrig, Frankreich 1976. Seyrig befragte in Hollywood Schauspielerinnen über Sexismus. Dieses Video, in dem u.a. auch Maria Schneider vor der Kamera aussagt, hätte schon damals zum Metoo-Momentum werden müssen. Da wurde ein halbes Jahrhundert vergeudet. 

wie Annie Ernaux, Der Platz, 2019 in deutscher Übersetzung bei Suhrkamp erschienen.In einem Zug nach Ostern auf einer langen stürmischen Zürichsee-Schifffahrt gelesen, während der Kapitän eine Gruppe von Seglern, die im Frühlingssturm gekentert waren, gerettet hat. 

wie der Frauenstreik, am 14. Juni 2019. Zuerst nahmen wir uns um Mitternacht auf unserem Traktor in einem lauten und schrillen Corso die Langstrasse – und ein paar Stunden später die ganze Schweiz!

wie Häuser. Welcome to this Housevon Barbara Hammer, USA 2015, über die Häuser der Dichterin und Trinkerin Elizabeth Bishop.

I

wie Imago Meret Oppenheim, von Pamela Robertson-Pearce und Anselm Spoerri, Schweiz 1988. Nach dem Tod des Kameramannes Pio Corradi im Xenix gezeigt, mit bezaubernden Bildern von Meret Oppenheims Tessiner Haus in Carona.

J

wie Jan Böhmermann, Licht an! Licht an!  Die Antwort von Böhmermann auf die ominöse F.A.Z Geburtstagsparty. Der beste Protestsong von 2019.

wie Klimastreik. Wir, die Alten, waren bloß noch Mitläuferinnen am ersten schweizweiten Klimastreik im Januar 2019. Unvergesslich, das Niederknien auf dem Central, wo es ganz ruhig wurde am Samstagnachmittag, und zur Zeit der Kulmination des Shoppingtreibens der Verkehr plötzlich stillstand.

wie La Chaux-de-Fonds, fast 1000 Meter über Meer. Im August, während der Uhrmacherferien, findet das Strassenkunstfestival La Plage des Six Pompes statt.

Mitgeschleppt von Claudia und Schah habe ich den Cirque Kadavresky entdeckt. Nie war Skiakrobatik poetischer.

wie Stefan Moses. Ausstellung von Pressefotografien und Porträts des Fotoreporters Stefan Moses im Deutschen Historischen Museum in Berlin Das exotische Land. Moses porträtierte u.a. jüdische Rückkehrer nach Deutschland, gierige Empfänge in Bayreuth und einfache Menschen bei der Arbeit.

wie Palace, St. Gallen. Mitgeschleppt von Anna und Kaspar an die Plattentaufe von Stahlberger von Dini zwei WändUnd dann in der Osternacht mit einer Flasche Rotwein im Nachtzug zurück in die kleine große Stadt Zürich.

wie Nick Srincek. Plattform-Kapitalismus, in der deutschen Übersetzung 2015 bei der Hamburger Edition erschienen. Ein Crashkurs in die New Economy.

wie Kate Tempest, The Books Of Traps And Lessons, im Salzhaus in Winterthur. Düster, düsterer, schöner, am schönsten.

V

wie Vitalina Varelavon Pedro Costa, Portugal 2019. Barfuß über das Rollfeld kommt der Protagonistin in der dunklen Nacht die Flugzeug-Putzbrigade entgegen. Wie Vitalina Varela aus Cabo Verde, gestrandet in Lisboa. Der Wettbewerbsgewinner von Locarno. Hoffentlich kommt dieser Film auch ins Kino!

Z

wie Nathalie Zemon Davis. Mit den Geschichtsstudierenden des ersten Jahres The Return of Martin Guerre, 1983 erschienen, wieder gelesen. Zusammen mit dem Interview, das Ed Benson mit Nathalie Zemon Davis geführt hat: Martin Guerre, the Historian and the Filmmakers: An Interview with Natalie Zemon Davies, in: Film & History: An Interdisciplinary Journal of Film and Television Studies, 13, 3 (September 1983), S. 49–65. Ich hoffe, ich konnte wenigstens einige davon überzeugen, dass das gute Geschichtswissenschaft ist, obwohl es sich verdammt gut liest.

 

Julia Eckel

2019 endet für mich mit einem musikalischen Zufallsfund, der der ideale Soundtrack zu sein scheint für den Übergang von 9 zu 0, für das Ende nicht nur eines Jahres, sondern eines Jahrzehnts. Am 30. Dezember 2009 veröffentlicht die texanische Teenager-Band Robert Jones ihr erstes und bis heute einziges Album Men and Their Horses auf Bandcamp und MySpace – zumindest sind das die Plattformen, auf denen das Material heute noch zu finden ist. Sänger und Schlagzeuger ist der damals gerade 20 gewordene Caleb Landry Jones aus dem Dallas-Vorort Richardson. Bekannt wird er im Laufe der nächsten zehn Jahre als einer der markantesten Supporting Actors des semi-independent US-Kinos; mit Three Billboards Outside Ebbing Missouri, The Florida Project und Get Out hat er jedenfalls an drei Produktionen mitgewirkt, die mir aus diesem Jahrzehnt sehr nachdrücklich im Gedächtnis geblieben sind. ‹Indie› ist auch die Musikrichtung des Albums; psychedelischer Folk/Punk/Rock gepaart mit bluesiger Südstaatlichkeit – obwohl ich von solchen Zuschreibungen nicht viel halte. Die Platte klingt schlicht wie etwas, das man nachts in der Wüste hören müsste. Die reibeisig-schräpige Stimme von Jones, gerahmt von einem umtriebigen Schlagzeug-Gitarre-Bass-Teppich, gespielt von Vorstadt-Jungs im Übergang vom Teen zum Twen, denen man anhört, dass sie die letzten Monate und Jahre ihres jungen / Jungen-Lebens obsessiv mit ihren Instrumenten verbracht haben, wie es einem in dieser zeitlichen Intensität vermutlich nur in der Phase zwischen 10 und 20 gelingt, weil man schlichtweg noch nichts anderes zu tun hat... 

Das war zumindest vor zehn Jahren noch so. Eine Dekade später schwänzt die Jugend die Schule für Klimaproteste auf der Straße und nicht mehr (nur) für Musik-Experimente im Proberaumkeller. Der Wüstensound von Robert Jones paart sich Ende 2019 nach Jahrhundertsommern und im Klimawandel zudem mit der Ahnung, dass die Wüste gar nicht mehr so weit weg ist – zumindest wenn der Protest und das Zwei-Grad-Ziel scheitert. Und was bleibt noch an Erkenntnis? Dass Myspace zwar tot ist, aber das Musik-Streaming lebendiger als je zuvor? Dass musikalische ‹Jugendsünden› nicht immer vergessen werden sollten? Das 5 USD damals wie heute ein echt fairer Preis sind für ein ganzes Album? Dass «men and their horses» schon immer ein Problem waren? Und dass wir für die Twen-Jahre des zweiten Jahrtausends unseren inneren Teenager wiederentdecken sollten; mit allem jugendlichen Enthusiasmus und naivem Idealismus, kreativem Aktivismus und rebellischer Rotzigkeit.

 

Daniel Eschkötter

classical period (2018, Ted Fendt, Unknown Pleasures im WOLF), hanne (2018, Dominik Graf, ARTE), high flying bird (2019, Steven Soderbergh, Netflix), Lil Rel Howery: live in crenshaw (2019, HBO), my favorite shapes by Julio Torres (2019, HBO), roubaix, une lumière (2019, Arnaud Desplechin, Screener) & roubaix, commissariat central. affaires courantes (2002, Mosco Boucault, TV-Rip France 3), shayne (2019, Stephan Geene, Forum Expanded); barry, Season 2, Episode 5: «ronny/lily» (2019, Bill Hader, HBO), deadwood – the movie (2019, Daniel Minahan, David Milch, HBO), documentary now!, Season 3, Episode 3: «Original Cast Album: Co-Op» (2019, John Mulaney, Seth Meyers, IFC), lodge 49, Season 2 (2019, Jim Gavin, AMC), watchmen, Episode 6: «This Extraordinary Being» (2019, Damon Lindelof, HBO); Mark Suciu – verso (2019, Justin Albert, YouTube), Joshua Weissman: the ultimate sourdough starter guide (2018, YouTube), Bon Appétit: making perfect,Season 1: Pizza (2019, YouTube), deadline: white house, with Nicolle Wallace (MSNBC, YouTube), Impeachment Hearings, Fiona Hill (21. November, C-SPAN); The Comet Is Coming (18. November, Heimathafen Neukölln), Rina Mushonga: In a Galaxy (2019, [pias]), Miles Okazaki: WORK. The Complete Compositions of Thelonious Monk (2018, bandcamp), Matana Roberts: Coin Coin Chapter Four: Memphis (2019, Constellation), Vampire Weekend: Father of the Bride (2019, Sony Music) WHY?: AOKOHIO (2019, Joyful Noise Recordings); Heimito von Doderer: Die Merowinger, gelesen von Bernd Jeschek (2006 Hörsturz/2019 Audioverlag), Lucy Ellman: Ducks, Newburyport (2019, Galley Beggar Press), William H. Gass: The Tunnel, read by the author (2006, Dalkey Archive Press), Scott Herring: The Hoarders: Material Deviance in Modern American Culture (2014, University of Chicago Press), Samin Nosrat: Salt, Fat, Acid, Heat: Mastering the Elements of Good Cooking (2017, Simon & Schuster), Jason Pine: The Alchemy of Meth. A Decomposition (2019, Minnesota UP), Hugh Raffles: Insektopädie (2013, Matthes & Seitz), René Redzepi, David Zilber: Foundations of Flavor: The Noma Guide to Fermentation (2018, Workman), Toni Tipton-Martin: Jubilee: Recipes from Two Centuries of African American Cooking (2019, Clarkson Potter), David Foster Wallace: The Pale King, narrated by Robert Petkoff (2011, Hachette Audio). 

 

Ralph Eue

18.01.2019, Berlin: Mitteilung einer gesetzlichen Krankenkasse (GKV), dass ich als «Rückkehrer aus der privaten Krankenversicherung (PKV)» aufgenommen bin. An diesem Januartag, das Gefühl, ich sei aus jahrelanger – leider irgendwann selbstgewählter - PKV-Sklaverei entlassen worden. Tatsächlich war NIRGENDS eine verlässliche Auskunft zu bekommen, dass ein solcher Wechsel für mich überhaupt noch eine Option sein könnte. Der einheitliche Tenor eines jeden Fachberaters (gleiches gilt für die einschlägigen Seiten im Internetz) war, dass mir diese Option SOWIESO UND GAR NICHT MEHR offenstehen würde: «Der Zug ist für Sie vor 12 Jahren zum letzten Mal abgefahren.» Ein einziger netter Beamter, bei der Deutschen Rentenversicherung Bund, wies in einem Nebensatz auf einen kleinen Schleichpfad hin, der sogar legal aber beschwerlich und auf jeden Fall langwierig sein würde. Es braucht dazu eigentlich nur einen zuverlässigen «Fluchthelfer» in einem anderen EU-Land (ohne PKV-System). Die EU ist in ihrer Uneinheitlichkeit der Rechtslagen an vielen Stellen wirklich ein wunderbares Gebilde! (To whom it may concern: Ich gebe gern weitere Auskunft.)  

Im Januar, Berlin: Schönes Buch von Iso Camartin: Die Kunst des Lobens Zur Rhetorik der Lobrede. Darin in einer Laudatio auf Adolf Muschg der Satz: «Erwachsen ist eigentlich erst, wer eine Reise absagt, um dafür ein Buch zu lesen oder die Wohnung aufzuräumen.»

Einige Wochen zu Beginn des Jahres, Berlin: Großes Reinemachen in der Wohnung. Vereinbarung mit der Frau, dass für jedes neue Ding ein anderes der gleichen Art, was aber schon da ist, weichen muss: Also Buch gegen Buch. DVD gegen DVD. Schuhe gegen Schuhe. Mantel gegen Mantel. Das Prinzip, so hoffe ich insgeheim (die Frau vielleicht auch),  wird sich übers Jahr schon wieder hinreichend abnutzen, denn es ist halt wie mit dem Brecht‘schen Plan, den man macht, gefolgt von einem anderen Plan, bloß «gehn tun se beide nicht». Aber erst mal überhaupt wieder Sichtachsen und Durchgänge, Stell- und Liegeplätze schaffen is schon nicht schlecht! Interessant nach einer ersten Runde, dass die ältesten Sachen am nachhaltigsten und vor allem selbstverständlichsten ihren Platz behaupten. Um von den Büchern zu sprechen: Bei SEHR wenigen der Neuerscheinungen, die im Moment noch bleiben dürfen, bin ich mir sicher, dass sie die nächste großen Aufräumrunde (Januar 2020?) überstehen werden. Absolute Gewissheit eigentlich nur bei dreien: Am liebsten hätten sie veganes Theater von Peter Laudenbach und Frank Castorf, The Journalist and the Murderer von Janet Malcolm (schon älter, aber frisch gekauft),  Meine Nächte mit den Linken. Texte 1964-1975 von Harun Farocki. Außerdem, beim Aufräumen wieder gefunden: Wiglaf Drostes Sprichst du noch oder kommunizierst du schon? (2012). Darin, ausgeschnitten, eine Besprechung von Gustav Seibt aus der Süddeutschen. Darin die folgende Empfehlung: «Eine Gesellschaft, die gegen Fluglärm protestiert, es aber mehrheitlich verlernt hat, leise zu sprechen, braucht dieses Buch.»

Kollateraleffekt des Aufräumens: In einem DVD-Stapel ein paar Sautet- und Pialat-Filme. Lust sie wieder zu sehen. Danach der Eindruck, dass sie hilfreich sein könnten, der allgemein vorherrschenden Ambiguitätsintoleranz vorzubeugen. Erwachsene Filme. Wunderbar zwischen den Stühlen, will sagen: Klassisch, ohne schon wirklich Klassiker zu sein.

Frühjahr, Paris: In der Libération wird auf JLGs Histoire(s) du Cinéma zurückgeblickt:   

Qu'est ce que le cinéma?

Rien

Que veut il?

Tout

Que peut il?

Quelque chose

Also: Was ist das Kino? Nichts. Was will es? Alles. Was kann es? Etwas.

Sommer, Berlin: Manchmal, während einer U-Bahnfahrt (zwischen Gesundbrunnen und Hermannplatz) erhält man über die Beobachtung anderer Fahrgäste völlig unerwartet Antworten auf Fragen, die man sich eigentlich schon lange nicht mehr so richtig direkt gestellt hat: Was darf ich eigentlich von der Frau, mit der ich mein Leben verbringe erwarten bzw. was darf ich erwarten, dass sie es unterlässt? Beispiel: Ein blutjunges Paar mir gegenüber. Das Mädchen sagt zu ihrem Freund: «Du Schahatz, du hast da einen Mitesser auf der Nase», und ohne seinen Kommentar abzuwarten, macht sie sich mit zwei langen Daumennägeln an dem schwarzen Punkt zu schaffen. Der Freund lässt es geschehen… Dankbarkeit steigt auf, dass mir solches noch nie am eigenen Leib widerfahren ist. 

Sommer (zwischen München und Berlin): Im ICE. Durchsage. «Sehr verehrte Damen und Herren, wir haben heute den Douglas Bjudi Service an Bord. Kommen Sie in den Wagen acht und lassen Sie sich kostenlos verwöhnen. Ende der Durchsage.»

Frühherbst in Peking: Workshop im Kinosaal des Goethe Instituts in Beijing. Vorführung und Diskussion über OM von John Smith. OM ist nur vier Minuten lang. Der Film ist auch im Internetz zu sehen (in China allerdings nicht ohne Weiteres. Zumindest nicht ohne VPN).

OM ist ein selbstbewusster Film – womit gesagt sein soll, es ist ein Film, der sich seiner Selbst und der Verfahren, die er anwendet, bewusst ist und der diese Bewusstheit ausstellt. Es ist auch eine Art filmisch praktizierte Erkenntnistheorie, insofern als man beständig auf sich selbst zurück geworfen und mit der Frage konfrontiert wird: Wie verlässlich sind eigentlich die Zuschreibungen und Hypothesen, die man sich beim Sehen eines Films permanent zurechtlegt – Lehrreiche Erfahrung in diesem Zusammenhang, ich dachte, dass wir über die Ikonografie von Skinheads, Hooligans und Neonazis reden würden. Termini oder Phänomene, die den gut 20 Teilnehmern aber gar nicht geläufig waren. Stattdessen im Zentrum: Tibet und Mönchstum.

Back to de Saussure: Arbitrarität der Zeichen. Und: im Vorgang des Betrachtens von Filmen schauen diese auf uns zurück, veranlassen uns im Idealfall dazu, dass wir in einen Prozess des Facing the Beast eintreten – wobei das sogenannte Beast wir selber sind.

Frühherbst in Taipei: In einer Pitching-Veranstaltung «aller Chinas» darf ich einen DOK Leipzig-Award vergeben. Der Preisverleihung geht ein mehrtägiges Training durch Produzenten und Sales-Agents, Fernsehredakteure und Festival-Programmer voraus, sowie eine öffentliche Präsentation von 20 Projekten. Die Präsentation scheint mir von der Einigkeit der Mit-Experten bestimmt, dass eines der Projekte (Conch Shell/Schneckengehäuse) sicher KEINEN Preis bekommen soll: das Vorhaben eines absoluten Anfängers Hu Tiangshingsha. Eine sehr private tagebuchartige Annäherung an das Nicht-Klarkommen mit sich selber und allem, was ihn umgibt. Eine Éducation sentimentale zwischen kanadischem Austauschschüler-Luxus und Askese-Übungen in der Mongolei. Das Material: roh, naiv, irgendwie auch impertinent. Der Filmemacher als Person: einerseits schüchtern und höflich aber auch ostentativ Formbarkeit verweigernd. Als er am Ende gar Werner Herzog für seine Arbeit reklamiert (Was ich bin, sind meine Filme), wird ihm das als anmaßende Arroganz ausgelegt. Mir erscheint dagegen sowohl der Filmemacher wie das Material von eigenartigem Zauber. Sanft und verletzlich.

Ich vermag im Nachhinein gar nicht sagen, was es dann genau war, das mich genau Conch Shell für den DOK Leipzig-Award auswählen ließ, vielleicht ein nicht restlos zu steuernder vitaler Impuls, sich einfach auf die Seite der Ausgepfiffenen zu stellen. (Ein paar Wochen später präsentiert Hu Tiangshingsha, eine neue Fassung seines Vorhabens beim Co-Produktionstreffen in Leipzig, von dort fährt er mit drei weiteren Markteinladungen und dem First Look Deal eines Weltvertriebs nach China zurück.)

Adventszeit, Valencia: Kaufte nach langer Abstinenz mal wieder eine ZEIT. Alice Schwarzer antwortet auf (ein anscheinend immer gleiches Set von) Fragen der Redaktion. Stelle fest, dass ich bereit bin, ihr bei vielen Antworten zu folgen - was mich selber erstaunt. Mit respektabler Gelassenheit absolviert sie das Verhör:

ZEIT: Bitte auf einer Skala von eins bis zehn: wie verrückt ist die Welt gerade? Und wie verrückt sind Sie?

Schwarzer: Ist die Welt wirklich verrückter als früher? Oder erfahren wir nur mehr über den Wahnsinn dank der modernen Medien? Ich habe in den Sechzigerjahren hochintelligente Linke erlebt, die allen Ernstes die Mao-Bibel zum Maß aller Dinge erklärt haben und nicht mehr von Kilometern, sondern in dem chinesischen Längenmaß Li sprachen. Also die Welt heute: fünf. Und ich? Vermutlich auch fünf

 

Günter Hack

Ein einziges Mal schaffe ich es 2019 ins Kino, aber auch eher aus sozialem Anlass als wegen des Medienkonsums an sich. Gegeben wird ein Tarantino, irgendwas mit Polanski, Sektenkillern, Hippies und Miniröcken, unterhaltsam, okay, aber während ich für diesen Text daran zurückdenke, rekonstruiert sich in der Nachschau nun eher der Blick auf eine Art Disneyland, das aus einer Sondermülldeponie aus Wahnsinn und sexuellem Missbrauch emporgewuchert ist; vorgestern noch diese Bilder von Harvey Weinstein in einem Gehapparat, dessen Stahlfüße in aufgeschnittenen gelben Tennisbällen steckten, vorvorgestern Proteste gegen Polanski, der bei einem Polanskifestival oder einer Polanskipreisverleihung auftreten sollte. «Toxisch» ist das Wort des Jahrzehnts.

Dem ist auch deshalb so, weil jedes Medienobjekt, sei es auch noch so mächtig, umfangreich und/oder clever, sofort in die wahre Supererzählung der sozialen Medienstreams eingebettet und von ihr mitgerissen und reinterpretiert wird. Wir leben in einem automatischen Meta-Roman, in dem sich jede Figur selbst schreibt und nach Kräften fiktionalisiert, sich den verschiedensten Erzählsträngen zuordnen kann - und zuordnen lassen muss. Das einzelne Werk funktioniert dort zuallerst als Kommentar über seine Macher, die auch nur Profilbildchen auf Twitter oder Instagram sind, so wie der US-Präsident oder die Schwägerin meines Nachbarn. Das Profilbildchen kann nicht mehr allein im Wald stehen und Pilze suchen, es wird in einer NoSQL-Datenbank geparkt und aktualisiert und verknüpft und immer wieder gewogen und geprüft, wie im ägyptischen Totenbuch, nur nicht mehr bloß einmal. Er ist ein Hund, der Anubis.

Die schwachen Spuren nicht hundertprozentig marktkonformer Arbeit dürfen existieren, werden aber von den lauteren und besser vernetzten Fandoms verdrängt. Wenigstens sind sie - auch dank der bösen Suchmaschinen - überhaupt aufzufinden, und zwar wesentlich schneller und bequemer als zu analogen Zeiten. Das Netz vernichtet die Kultur keineswegs, es schafft ständig neue und verlangt nach neuen Formen der Denk- und Schreibdisziplin; die Grenzen zwischen Kunst und Unterhaltungsprodukten mit medikamentös/gastronomischem Charakter werden wieder schärfer. Dass es nicht mehr so einfach ist, ex cathedra Status und Bedeutung eines Werks festzulegen, mögen viele, die hart an ihrer Position im Betrieb gearbeitet haben, als schweren Machtverlust empfinden. Alle anderen freuen sich darüber, ihre Produktion einem interessierten Publikum vorstellen und ihre schwachen, aber vielleicht doch beständigen Netzwerke knüpfen zu können. Der Weg in die Resilienz ist unprofitabel, aber ehrenhafter als der so ermüdend oft praktizierte Schwenk hin zum Autoritarismus. Man muss sich halt entscheiden, ob man Mitdenker haben will oder Follower.

 

Maren Haffke

2019 verlor ich an allem das Interesse, was nicht im Internet stattfand, und auch da an vielem. Berufliche Verpflichtungen ausgeschlossen war ich fünfmal im Kino: UsSpiderman 2 – Far from HomeAvengers: Endgame, Claire Denis’ High Life und Godzilla – King of the Monsters. Die Reihenfolge der Aufzählung entspricht meinem Ranking der Filme. Für einen kurzen Moment dachte ich darüber nach, mich deswegen schuldig zu fühlen, als Martin Scorsese (of all people) in einem etwas unvermittelten Get-of-my-Lawn-Moment gegen die ästhetischen Folgen der Blockbusterisierung von Filmkunst unter dem Disney-Monopol polemisierte. Aber was soll ich sagen: das Genre «US-amerikanische Teenager auf Klassenfahrt in Europa» gehört zu meinen Favouriten (Busfahrt-Montagen; Life-Lessons auf Landmarks), Endgame interessierte mich als logistische Herausforderung, und High Life war nicht so doll. Best not to dwell on it. 

Es sei ohne Überleitung erwähnt, dass die politische Situation 2019 beunruhigend war. Der Moment, als der Begriff «concentration camp» aus gegebenem Anlass bei Twitter trendete, ist vielleicht nur als non sequitur verständlich. Christchurch. El Paso. Halle. Erwachsene Männer wünschten einem 16-jährigen Mädchen öffentlich den Tod durch Ertrinken, weil sie sich aus ihrer Sicht zu laut gegen den Klimawandel aussprach. «I want nothing» lasen wir in zentimetergroßen Filzstift-Buchstaben auf Notizzetteln Donald Trumps. Vor der zukunftsentscheidenden General Election zeigte die BBC, wie Boris Johnson sich ein Toastbrot schmiert. Es kostete Kraft, an den unablässig eintreffenden schlechten Nachrichten nicht ihre vermeintliche Absurdität zu priorisieren, sich nicht faszinieren und ermüden zu lassen vom Spektakel der tweets. Ernst zu nehmen, was sich darin aussprach: die politische Situation. Das galt auch für die wenigen Momente, in denen man sich erleichtert fühlen wollte, weil etwas entlarvt schien (Strache auf Ibiza zwischen Red Bull, Kippen und Wodka). Aber was gab es wirklich zu entlarven? Wenn nicht alles offen lag, so doch genug. 

Die in diversen Aufsätzen des Jahres thematisierte Reevaluation einer Ästhetik nihilistischer Edginess als Erbe der Nullerjahre – humoristische und künstlerische Sensibilität der Kinder von VICE und Jackass – fand ich befreiend. Isaac Chotiners vernichtendes Interview mit Bret Easton Ellis las ich mit Zufriedenheit, einer Art Pfefferminztee-Version des klassischen Bier-und-Schrotflinten-Get-of-my-Lawn-Momentes: Thanks for having left my lawn Bret I’m going back in now. In Wahrheit gingen die Edgelords auch 2019 nirgendwo hin. Die Strategien zum Umgang mit ihren Claims auf transgressiven Glamour wurden gleichwohl routinierter und zielsicherer. Todd Phillips’ etwas alberne Behauptung, die Humorlosigkeit verklemmter Millenials hätte ihn dazu gezwungen Joker zu drehen wurde weitgehend als das erkannt, was es war: ein Versuch, Outrage-Memetik zu Marketingzwecken zu instrumentalisieren. Die tiefe Langeweile, mit der ich auf die Debatte reagierte, fühlte sich neu und subversiv an. Alles, was ich über Joker wissen musste, entnahm ich Jenny Nicholsons Youtube-Video Well, I didn’t like Joker, das neben ihrer gewohnt großartigen Deadpan-Delivery den Geniestreich einer Montage von Bildmaterial des Abba-Filmmusicals Mamma Mia zur Tonspur des Joker-Trailers umfasste: der passgenaue Schnitt einer Arschbombe ins Mittelmeer zum pathetischen Paukenschlag des Soundtrackinfernos sagte alles, was zum Thema gesagt werden musste. 

Überhaupt blieb Youtube das eigentlich Streaming-Medium meiner Wahl – lustvolles Anarchiv für eine verletzlichere, weniger bedrohliche Form des Absurden: ich lachte über Brian David Gilberts Calculate your Pet´s HP, über Chris Flemings DePiglio, über Nat Puffs How to make a Tyler the Creator Song. Müde scrollte ich mich indessen durch die abonnierten Dienste, deren algorithmische Kuration zielsicher an mir vorbei warf. Berufliche Verpflichtungen ausgeschlossen guckte ich mir auf Netflix vier Serien an. Pose, weiterhin gut und wichtig, weil es existiert, Dragon Prince (love it, sorry not sorry), The Witcher (bescheuert, aber auch Henry Cavills beste Rolle), und Dark Crystal, das mir sehr gefiel. Grotesk abstoßende Antagonist*innen auszubuhen, deren Triebschicksale als selbstzerstörerische Schwächen dargestellt werden, erwies sich 2019 als wohltuend. Es war kein Jahr, in dem ich dramaturgische Faszination für die Motive gequälter Strippenzieher-Villains teilen wollte. Sonst nutzte ich Netflix praktisch ausschließlich, um mir alte Deep Space Nine Folgen anzusehen. Die, in der Sisko, Dax und Bashir in das San Francisco des Jahres 2024 zurückreisen, wo Armut und Krankheit kriminalisiert sind, während eine Tech-Elite Feste feiert. Die, in der Ferengi Rom eine Gewerkschaft gründet.

Nachdem im Sommer jemand erst meinen privaten Mailaccount und dann meinen Amazon-Account hackte, um ein 500€ teures Kameraobjektiv an meine Adresse zu bestellen (was fehlschlug und auch sonst nicht als perfektes Verbrechen durchgeht), ließ ich mein Prime-Abo auslaufen und vergaß es sofort. Erst ein Foto, das Patrick Stewart auf einem Messe-Event mit Jeff Bezos zeigte, erinnerte mich daran. Es führte zu der Frage, ob ich den Account reaktivieren muss, wenn dort im Frühjahr Star Trek Picard erscheint. Es führte außerdem zu der Feststellung, dass es sehr ‹2019› ist, eine Serie über eine postmonetäre Sozialutopie von einem Tech-Billionär endorsen zu lassen. Dessen unermesslicher Reichtum war in diesem Jahr Anlass für eine der unterhaltsamsten und instruktivsten Anwendungen des Meme-Formats: Bezos-Wealth-Skalierungsmemes, die spielerische Erprobung verschiedener medialer Strategien, um irgendwie verständlich zu machen, wieviel Geld das wirklich ist. Neben diversen in der Vertikale raumsprengenden Infographiken blieb vor allem der Versuch einiger Ökonom*innen im Gedächtnis, legendäre fiktionale Vermögen mathematisch mit dem Kapital von Silicon Valley Miliardär*innen abzugleichen. Dass sich dabei herausstellte, dass Jeff Bezos mehr als doppelt so reich ist wie Smaug der Drache fand ich intuitiv richtiger und hilfreicher als viele mir bekannte Statistiken. 

Berufliche Verpflichtungen ausgeschlossen las ich 2019 drei Werke der Belletristik, darunter zwei Bahnhofbuchhandlungskäufe in Antizipation schlechten W-Lans, die weiter nicht der Rede wert sind.  Sie waren für die neue Pendelstrecke, Nord-Süd-Achse, und erfüllten ihren Zweck. Anke Stellings Schäfchen im Trockenen las ich auf dem Sofa, in meiner neuen Genossenschaftswohnung im Ökohaus; so war es auch vorgesehen, glaube ich. Ich schwöre trotzdem: ich war nicht gemeint. Kunst sah ich viel, im Internet und außerhalb. Henrike Naumans Ostalgie bei KOW bleibt in Erinnerung, New Scenarios Whiteout im NRW-Forum, Wieland Schönfelders Why are we mad in der Galerie Ashley und Billy Bultheels When doves cry im Rahmen von Disappearing Berlin. Ich hörte mir die ganze wichtige neue Musik an. Viel davon war gut. Caterina Barbieri – Ecstatic Computation; FKA twigs – MAGDALENE; Klein – Lifetime; Bobby Would — Baby; Kali Malone – The Sacrificial Code; Kim Gordon – No Home Record; Eartheater – Trinity. Simon Reynolds oft geteilter Aufsatz «The Rise of Conceptronica - Why so much electronic music this decade felt like it belonged in a museum instead of a club» löste auch deshalb ein Gefühl in mir aus, für dessen umgehende memeförmige Benennung ich sehr dankbar war: OK, Boomer. Bei allem Respekt für das Format der Langkritik: Holly Herndon mit  kaum verhohlenem Ressentiment als ‹Elisabeth Warren des Electronica› zu bezeichnen, dabei wenig über die veränderten Produktions- und Distributionsbedingungen von Popmusik zu sagen zu haben und gleichzeitig Nostalgie für eine mythische Vergangenheit auszudrücken, in der Musiker*innen noch feierten, Porno-Witze machten (?) und nicht so viel Theorie lasen ist… one way to see it, I guess. Best not to dwell on it. 

In der Klosterruine in Berlin Mitte sah ich Bendik Giske live, das war das schönste Konzert des Jahres. Es war oft schön, privat. Unser Umzug nach Wedding wurde vom Time Out Magazine korrekterweise sofort mit der Kür des Kiezes zum viertcoolsten Bezirk der Welt quittiert. Wir hatten eine gute Zeit hier, am Plötzensee, an vielen Tischtennisplatten, im Silent Green; aber auch in Köln, in Bochum und in Bayreuth. Berufliche Verpflichtungen ausgeschlossen hörte ich 2019 vor allem einen Song: Left at Londons «Revolution Lover». Bei Treffen mit Freund*innen machte ich ihn irgendwann immer an, bewegt von der plötzlich sehr akut erscheinenden Direktheit des Gefühls. Ich werde ihn mitnehmen in das neue Jahr, in das neue Jahrzehnt. Wenn ich am 31.12.2019 um genau 23:59:22h auf Play drücke, kann ich 2020 mit seinem trotzigen Refrain eröffnen: «And we’ll be alright.»

 

Vinzenz Hediger

Parasite: Bong Joon-ho hat den Gelbwesten-Film gedreht, den in Frankreich im Moment niemand auf die Reihe bekommt, weil die gesamte Pariser Kinoprominenz in Olivier Assayas Künstler-WG festsitzt und jemand den Schlüssel weggeworfen hat. Godard, in sicherem Abstand am Genfer See, arbeitet dem Vernehmen nach auch an einem Gelbwesten-Film. Er wird in Korea keine 12 Millionen Zuschauer*innen ins Kino locken und in Frankreich keine 1.6 Millionen. Trotzdem darf man auf die Gelbwesten aus Rolle gespannt sein.

Le Livre d'Image als Installation: Wo wir gerade bei Godard sind: Sein bislang letzter Film war eigentlich als Installation fürs Wohnzimmer konzipiert. Davon hat die Fondazione Prada erfahren und das Werk für die eigene Sammlung akquiriert. Godard, der bald seinen 90. feiert, hat die Gunst der Stunde genutzt und der Fondazione gleich seine gesamte Wohnzimmereinrichtung verkauft: Hausräumung als Kunstprojekt. Godards Wohnzimmer, zusammen mit dem Film, kann jetzt in Mailand besichtigt werden. Zur Einrichtung gehören auch die drei großen Festivalpreise Godards, der Goldene Löwe von Venedig, die Ehrenpalme und der Regiepreis von Cannes, den er eben für Livre d'Image bekommen hat. In Cannes lief der Film im Übrigen nur, weil Thierry Frémaux, der Direktor von Cannes, Godard die nötigen Mittel für die Postproduktion des Films zusichern konnte. Um diese hatte man sich ohne Erfolg auch bei der Filmförderung in der Schweiz bemüht, unter anderem in einem Nachwuchsförder-Programm der Migros, der Supermarkt-Kette, die einen Teil ihrer Erlöse in Kulturförderung umleitet. Es sei ein wenig gewesen, als würde Federer beim Juniorenturnier antreten und Startgeld einfordern, so einer der Juroren. Dabei liegt der Charme der Sache doch gerade darin, dass der Jahrhundertregisseur sich noch einmal beim Nachwuchs anstellt. Beim Bundesamt für Kultur wurde der Antrag mit derselben Begründung abgelehnt, mit der Godard zwei Jahre zuvor von derselben Behörde der Schweizer Filmpreis fürs Lebenswerk zugesprochen wurde: Er erzähle keine Geschichte. Als Installation zum Beispiel in einem Theaterraum ist der Film allerdings am richtigen Ort. Im Oktober konnte man sich im Mounsonturm in Frankfurt davon überzeugen.

African Mirror von Mischa Hedinger: Ein found footage-Film, basierend auf dem Archiv des Berner Reiseschrifstellers, Hobby-Ethnologen und Filmregisseurs René Gardi. Zeigt, dass man keine Kolonien gehabt zu haben braucht, um wie Kolonialbeamte denken zu können. Bei der Afrika-Premiere in Lagos im Oktober zitierte ein Kritiker Chinua Achebes Kommentar zu Joseph Conrads Heart of Darkness: «great story; your problem, not ours.» Das kann man, angesichts der Bezugnahmen, als Kompliment lesen. Hat das Zeug zu einem Referenzwerk seiner Gattung.

Jeanne Dielman, 23 rue du commerce, 1080 Bruxelles: Wieder gesehen im Rahmen der Frankfurter Reihe «Die Erfinderin der Formen: Das Kino von Chantal Akerman», dort vorgestellt von Eva Kuhn (eine Aufzeichnung des Vortrags findet sich auf der Webseite). Im Studium habe ich gelernt, dass es das Wort «Meistwerk» zu meiden gilt, weil es einem hierarchischen Wettbewerbsdenken den Weg ebnet, bei dem das Nachdenken über die filmische Form sich auf das Sammeln von Gründen reduziert, mit denen sich die eigenen Vorlieben gegenüber denen der anderen in Vorteil setzen lassen. Dieser Vorbehalt soll weiter gelten. Trotzdem: Akermans Film ist unter Berücksichtigung aller Sparten eines der großen Kunstwerke der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 

Annie Ernaux: Dass Annie Ernaux Pflichtlektüre für medienhistorisch interessierte Menschen ist, hat unter anderem Hanna Engelmeier in verschiedenen Texten dargelegt. Gallimard macht Späteinsteigern das Lesen leicht, in dem es zum Sonderpreis von € 26,– (fast) das Gesamtwerk plus hundert Seiten Fotos und Tagebucheinträge in der Taschenbuch-Dünndruckausgabe verfügbar macht. Vor allem Die Jahre gehört in den medienwissenschaftlichen Kanon. Man könnte von einer Mediengeschichte des Anthrophozän am Beispiel Frankreichs in der Form der auto-fiction sprechen, ohne das Literarische an dem Buch unter Begriffen zu beerdigen. Umnutzungen von Literatur sind auch eine Form von Wissenschaft.

Narendra Modi macht einen Ausflug in die Natur: Bear Grylls ist der Sohn eines britischen Tory-Politikers, ehemaliger Elite-Soldat und Star einer Abenteuer-Tier-Doku-Serie auf Discovery Channel, in der er sich vollmundig das Ausmaß der jeweiligen Gefahr beschwörend Gefahren aussetzt. 2019 hat sich Grylls einen besonderen Startgast in die Show geholt: Den Premierminister der «größten Demokratie der Welt» und ehemaligen britischen Kronkolonie Indien, Narendra Modi. Aus welchem Holz der damalige «First Minister» des indischen Bundesstaates Gujarat und heutige Premierminister Indiens geschnitzt ist, wussten früher als die meisten anderen im sogenannten Westen alle, die 2004 im Forum der Berlinale Rakesh Sharmas fast vierstündigen Dokumentarfilm Final Solution gesehen hatten. Modi ließ die Täter der anti-muslimischen Pogrome von Ghodar im Jahr 2002, bei denen 2000 Menschen starben und 200.000 weitere vertrieben wurden, nicht nur laufen. Er machte die vermeintliche Schuld der Muslime an ihrem eigenen Unglück zum zentralen Thema seines nächsten Wahlkampfs, sicherte sich damit die absolute Mehrheit im Parlament von Gujarat und begann damit seinen Aufstieg zur nationale Figur, zum Führer der Hindu-nationalistischen Bharatya Janata Party und zum Premierminister Indiens. Nach seiner Wiederwahl mit gewachsener Mehrheit aller Hemmungen ledig und der Duldung durch westliche Regierungen sicher, die Zugang zum wachsenden indischen Markt suchen, nimmt Modi nun die säkulare Verfassung Indiens ins Visier. Erst kam die Abschaffung des Teilautonomiestatuts des Bundesstaates und ehemaligen Königreichs Jammu und Kashmir – des einzigen indischen Bundesstaates mit einer muslimischen Bevölkerungsmehrheit, der zudem aus freien Stücken 1947 nicht Pakistan, sondern Indien beigetreten war. Nun folgte ein Bürgerschaftsgesetz, das Staatsbürgerschaft nach Religionszugehörigkeit stuft und die immerhin 201 Millionen Muslime, die Indien zum zweigrößten muslimischen Land der Welt nach Indonesien machen, faktisch aus der Gesellschaft ausschließen will. Dass der Hinduismus in der homogenen Form, in der ihn Modi und seine Anhänger zum Kern indischer Identität erklären, eine Erfindung der britischen Kolonialverwaltung ist, verleiht seinem Auftritt in der TV-Show des Eton-Absolventen Bear Grylls seinen besonderen Reiz. Wer über den Zustand Großbritanniens im Brexit-Zeitalter etwas lernen will, kann auf den nächsten Ken Loach warten, oder Bear Grylls Modi-Episode schauen. Wer Rakesh Sharmas Final Solution nachsichten will, wird unter anderem auf youtube fündig.

Thomas Elsaessers letzte Keynote: Gehalten am 28. November 2019 in der Aula der Städelschule in Frankfurt. Er wird sehr fehlen.

 

Jakob Hesler

Ein Unbild des Jahres – Trump als Thanos. Hoffentlich kann ich dieses holprige, offiziöse und durch und durch böse Meme eines schöneren Tages wieder vergessen, in dem der Fatzke-in-chief im Körper des massenmörderischen Marvel-Superschurken mit einem Fingerschnippen Pelosi & Co umbringt. Die Dummheit, den amerikanischen Terrorclown in die Gestalt eines Leinwandbösewichts zu verpflanzen, der in der Folge unweigerlich besiegt wird. Die Niedertracht dieses – bewußten oder unbewußten – Bekenntnisses zur Amoral. Das alberne Feixen des Trump-Kopfes dabei, der einmal mehr dem historischen Gewicht eines Augenblicks nicht gerecht wird und die Belange der Menschheit mit einer pubertären Grimasse abtut, inevitable. Ganz zu schweigen von der Sterilität, mit der Unterhaltungs- und Streaming-Kartelle das Kino zu einem Simulacrum zweiter Ordnung verwandeln. Oder so. Die Sache mit den bunten Plastik-Edelsteinen ist sowieso dermaßen läppisch, wie eine Horde Grundschüler, die unbedingt ihre Sammlung von McDonald‘s Happy Meal Dreingaben komplettieren wollen. 

Wiederentdeckung – Tim und Struppi, die Imaginationswelt meiner Kindheit, deren über weite Strecken sehr filmische Inszenierung mir nun viel später ins Auge gesprungen ist. Das ist einfach eine ganz banale Tatsache über die Comic-Kunst, wurde mir dann klar, daß sie schon immer mit extrem dynamischen, filmreifen Storyboards arbeitet. Bei Tim und Struppi kann man es selbst in den früheren Bänden finden, wenn auch nicht so ausgefeilt wie dann durch den späteren Studio-Schliff. Und das alles merke ich jetzt erst.

Ein Bild des Jahres – Blick ins Unendliche III von Ferdinand Hodler, denn die Hoffnung stirbt wirklich zuletzt. Und lächelt dabei über sich selbst, wie die prosaische Durchzählung wiederholter Blicke ins Unendliche anzudeuten scheint.

 

Patrick Holzapfel

Predrag Matvejević und sein Mediteranski brevijar

«Das Meer ist eine uralte Sprache, die ich nicht enträtseln kann.» (Jorge Luis Borges)

Worte für einen ungeschriebenen Satz: absinthblau, fahl, Schwaden, unstet, flackern

Juan José Saer

Die Betonung von Glück ist vielleicht nur dann nötig, wenn allgemeine Harmonie fehlt.

FilmeTenryu-ku Okuryoke Osawa (Hori Teiichi), A Place Of Work (Margaret Tait), Le Voyage à Vezelay (Pierre Creton), Hitori musuko (Yasujirō Ozu), L'albero degli zoccoli (Ermanno Olmi), Domenica sera (Franco Piavoli), The Great White Silence (Herbert Ponting), La morte rouge (Victor Erice).

Reiseziel (und Reiseglück): Friedhof von Sinera (St. Peterinsel im Bielersee) (mehr Orte suchen, die es nur wahrscheinlich gibt)

Musik zur Errettung einer Welt: Yazz Ahmed

Tier zur Errettung der Welt: Biber (je mehr Biber einen Bau errichten, desto besser hält er)

Tennisbild: Daniil Medvedev mit seinen Händen auf die zerbrechlichen Knie gestützt bei den US Open. Er kommt ins Finale, obwohl er kaum mehr stehen kann.

 

Felix Hüttemann

«And I remember she used to look so good in this dress…» Das Jahr fing an mit einem Konzertbesuch: Ein nicht mehr ganz junger Mann in enger Jeansjacke, bei dem sich, wie auch bei mir dieses Jahr voller Eitelkeit bemerkt, die ersten, zweiten und dritten grauen Haare zeigten. Mein einstiges musikalisches Vorbild Brian Fallon spielte ein Akustikkonzert in der Bochumer Christuskirche. Der «Ex-Punk» sang von Frauen, verlorener Liebe, Kränkungen und vom Unverstanden-Sein. Keine Politik, keine Revolte mehr, nur noch Rückzug in die Mikropolitik der Privatbeziehungen. Oder doch nicht? War es retrospektiv eher eine Aufblende zu weiteren Ereignissen des Jahres?

«And though if I saw you I'd pretend not to know…»

In Politisch-Gesellschaftlichem wie in den gesehenen Filmen: Angefangen beim Ted Bundy-Biopic extremely wicked, shockingly evil and vile über John Wick 3Vice, joker und the irishman in den Serien the loudest voice oder babylon berlin, in der gehörten Musik: Nick Cave, Mark Lanegan und eben Brian Fallon, (aber auch Ausnahmen von der anzudeutenden Regel: Warpaint und Billie Eilish), und in der gelesenen und wieder gelesenen Literatur diesen Jahres: Überall scheint es, ging es um gekränkte Männer.

Dies mag keine Spezifik speziell diesen Jahres sein, doch vermittelt über eine beruflich aufgenommene recht breite Relektüre von Ernst Jünger, Christian Kracht, Charles Baudelaire und anderen ist für mich diese Topik aus Kränkung, Männlichkeit und Gefährlichkeit auf eine besonders herausfordernde Art und Weise durch das ganze Jahr geschlichen. 

«I already live with too many ghosts…»

Um den Film Joker und um die Serie the loudest voice entspann sich mit Vielen in meinem Umfeld die Diskussion über Bilder gefährlicher Männlichkeit und ihres Gewaltpotenziales. Schnell gingen die Diskussionen über zu Diskursen um Neue Rechte, Amokläufe, Attentate, Incels und die Notwendigkeit der Positionierung dazu. Es wurde zu einem Jahr der Feinjustierung der eigenen Position sowohl fachlich, ästhetisch als auch persönlich. Als passende Kontingenz erschien kurz vor Weihnachten die Neuauflage Klaus Theweleits Männerphantasien, ein auch dieses Jahr von mir viel zu rate gezogenes Buch,  welches sich als mehr oder weniger gekonnte Pointe auch prompt für mich nochmals unter den Gaben des familiären Weihnachtsbaumes wiederfand. 

Es war ein Jahr der Relektüre, der Feinjustierung und Neuausrichtung, die sich fortsetzen wird. Denn wie sang Brian Fallon im Frühjahr in Bochum: «Take it easy Baby it aint over yet.» 

 

Dominik Kamalzadeh

Das Jahr der schamlosen Verschacherei aus österreichisch-zentristischer Sicht. Die Unverfrorenheit der FPÖ, die sich im Schatten des Regierungspartners nur ausschnitthaft, als ungustiöses Detail gezeigt hatte, wurde mit dem Ibiza-Video mit einem Mal zur Gänze kenntlich gemacht: So nackt wirken sie zugleich vulgär, lächerlich und erbärmlich. Ich erfuhr ausgerechnet in Cannes von der Affäre, das Line-up des Weltkinos wurde kurz zur Nebensache. In den Apartments wurden die Laptops aufgeklappt. Live-Stream statt Kino, denn kein Film konnte mit diesem Szenario mithalten. Gerade das Fingierte an dem Treffen, der perfekt eingefädelte Pseudo-Deal brachte die Wahrheit ans Licht. Die reguläre Öffentlichkeit wurde im Umkehrschluss gleich mit entlarvt. Ohne Zuschauer gab’s endlich richtige Versprechungen. Auch medienbezüglich gibt mir diese Art der politischen Intervention weiterhin zu denken. Die etablierte Presse wirkt auf mich in diesem System nur noch wie ein Verstärker: seriöse Begutachter und Überbringer der explosiven Nachricht. Zurück blieb ein bestärkendes Gefühl. Es findet sich jederzeit ein Mittel, etwas am Status quo zu ändern, auch wenn es am Ende nicht ganz anders wird. Das war vielleicht schon die beste Lehre von 2019.

«Lies travel faster than the truth», sang ein paar Wochen davor Neneh Cherry in Budapest auf dem A38 Schiff, das fest in der Donau ankert. Broken Politics war eines meiner Lieblingsalben von 2018. Cherry gab ein großartiges, intimes Konzert vor einer Crowd, die sich bald als verschworene Gruppe auf tanzenden Wellen begriff. Dass Orban in der Stadt zur selben Zeit seine Plakate gegen Soros und Juncker anbringen ließ, ist einer der vielen Widersprüche von «illiberalen» Ländern. Dass sich das alles ausgeht, wie man in Wien sagt, ist in Budapest gar keine Frage, sondern das Ergebnis einer Wirklichkeit, die vieles nebeneinander zulässt.

Angela Schanelec, zuerst mit Ich war zuhause, aber in Berlin, dann im Herbst mit dem Gesamtwerk in Wien. Ihr neuer Film bleibt für mich über das Jahr hinweg unübertroffen. Damit meine ich vor allem dieses Glücksgefühl, sich im Kino ganz überschwemmt zu fühlen, obwohl oder gerade weil es ein Film über fragile Einheiten ist; einer, der auch durch seine Befremdung (und das Befremdetwerden der Figuren) betört. In Wien sehe ich dann Mein langsames Leben, wo ich zuerst sicher bin, dass ich ihn kenne. Je länger ich zusehe, desto weniger spielt das dann eine Rolle. Denn der Film spielt ständig Vergangenheiten neu durch, bringt die Zeiten zueinander in ein verschobenes Verhältnis. «Verschiedene Momente der Zeit hängen wie Leintücher in der Luft», lese ich später bei Olga Tokarczuk.

Natalia Ginzburg habe ich erst dieses Jahr entdeckt. Angefixt durch den hübschen «blurb» von Maggie Nelson («A punch-you-in-the-stomach-with-grief-and-beauty-masterpiece»), hab ich in London die englische Ausgabe ihrer Essays gekauft. Wie recht sie hat. The Little Virtues (Die kleinen Tugenden) ist ein gewaltiger Text über das herausfordernde Verhältnis von Eltern zu Kindern, Human Relationships ein schonungslos aufrichtiger über unsere Defizite, Nähe zuzulassen.

Und ein letztes Highlight, das schon von 1978 stammt: Abdullah Samis Spiritual-Jazz-Juwel Pieces of Time.

 

Niklas Kammermeier

Während der 8. Klasse an einem niederbayerischen Gymnasium, am Abend vor einer anstehenden Schulaufgabe, schrieb ich zu Hause zu Übungszwecken eine ‹dialektische Erörterung› zum Thema: «Sollte ich einen eigenen Fernseher besitzen?» Ich kann mich nicht mehr gut an die einzelnen Argumente erinnern. Die zwei Contra-Argumente hatten irgendetwas mit Mediensucht, die drei Pro-Argumente irgendetwas mit Kulturfernsehen und selbstbestimmter Medienbildung zu tun. An was ich mich gut erinnere war mein Stolz auf die wasserfeste Konklusion: ein Fernsehgerät in meinem Zimmer ist eine begründbar sinnvolle und angemessene Sache. Leider bedarf elterliche Autorität selten argumentativer Grundlagen. Lakonisch erhielt ich den Aufsatz zurück: «Guter Text, aber: Nein.» 

2019 war mein erstes Jahr mit einem eigenen Fernseher. Ende 2018 hatte ich mir einen smarten Sony Bravia LCD Flachbildschirm als Ausstellungsstück gekauft. Wie das Gerät unterscheidet sich das Fernsehen heute freilich sehr von meiner Schulzeit. Statt Satelliten-Kanäle sind es YouTube, Mediatheken-Apps, Netflix und Amazon Prime, die mir das Angebot liefern. Entgegen meiner kindlichen Prognose war 2019 allerdings nicht das Jahr des Kulturfernsehens. Mit Abstand am meisten schaute ich The Walking Dead, genauer: 8 ½ Staffeln, 125 Folgen, oder: 5375 Minuten [Stand: kurz nach Weihnachten]. Die Zombie-Show stammt zwar nicht aus meiner Kindheit, ist mit Erstausstrahlung 2010 jedoch ein Phänomen des linearen Fernsehens, und damit gewissermaßen genau das, was meine Eltern nicht in meinem Kinderzimmer wollten.

Tatsächlich war The Walking Dead auf dem schicken Bildschirm zunächst irgendwie aufregend. In Atlanta ist die Zombi-Apokalypse ausgebrochen, eine heterogene (aber anfangs unheimlich weiße) Gruppe muss in improvisierten und häufig wechselnden Behausungen ums Überleben kämpfen. Die Wiedergänger («Walker») sehen toll aus, immer wieder herrlich überhöhte Splatter-Szenen. Wirklich scary: Auf der Autobahn aus der Stadt geraten die Fliehenden mit ihren Fahrzeugen in einen Stau aus verlassenen Autos und werden von einer Zombie-Herde aus zwischen den Leitplanken gefangenen (ehemaligen) Autofahrern überfallen [Anfang Staffel 2].

Ich weiß nicht genau wann es anfing. Die anfängliche Suspense-Ökonomie aus Hide and Seek mit gelegentlichen Zombie-Einbrüchen wich immer kurzatmigeren Eskalationsrhythmen. Wiedergänger- und Cliff-Hanger-Prinzip verdichteten sich zu in Serie geschalteten (meist unangenehm von textlastigem Pathos plausibilisierten) Gewaltausbrüchen. Ab etwa der 4. Staffel verlor ich mehr und mehr aus den Augen, in welcher Staffel, geschweige denn welcher Folge ich mich befand. Die Folgen begannen sich immer automatisierter aneinanderzureihen, beschleunigt von der «Überspringen»-Funktion, mit der ich Intro und Abspann reflexartig skipte. Ähnlich dem Prinzip der Wisch-Geste bei Facebook-Video, die den rhythmisierten dumpfen Kitzel, den Strom aus Auto- Haushalts- und Challenge-Unfällen nicht abreißen lassen will, drückte ich immer wieder auf «weitere Folge». Immer wieder Zombies in unterschiedlichen Verwesungszuständen, immer wieder fliehen, angreifen, Zombies töten, Menschen töten, Fleischwunden und Schüsse, immer wieder knapp davonkommen, dann doch gefressen werden, weinen, Reden halten, Rache schwören, abhauen, wiederkommen … 

Irgendwann dann der letzte Abstieg. Unter den Argusaugen des elterlichen Über-Ichs ließ ich The Walking Dead einfach weiterlaufen, auch wenn ich nur noch mit halber Aufmerksamkeit hinsah. Die Serie wurde zum apokalyptischen Hintergrundrauschen von Kochen, Essen, Zähneputzen, Zeitunglesen und der Raucherpause auf dem Balkon. Daraus ließen sich einige nette medienwissenschaftliche Thesen zu neuem und altem Fernsehen generieren. Zunächst beschließe ich aber 2019 mit der ganz persönlichen, medien-apokalyptischen Erkenntnis: Davor also wollten mich meine Eltern immer bewahren!

 

Sarah Khan

Ich kann mich nicht mehr erinnern, was ich gestern auf Netflix gesehen habe, aber eine Frau hatte lustige Socken an. Weil das Streamen/Netflixen ohne erinnerungswürdige Begleitumstände passiert, es keine Verabredungen, U-Bahnfahrten, kein Wetter, keine Schlangen, kein teures Eis etc. gibt, vergesse ich schnell, was ich gesehen habe. Geht es euch auch so? Oder liegt es am Kiffen? Zu dem Netflix-Lifestyle gehört neben dem großen Vergessen auch die große Wolke. Betrügen wir uns so um die Revolution?

Meine Lieblingsfilme 2019 waren Sandy Wexler (Adam Sandler in einer Art Jerry-Lewis-Aschenblödel-Adaption bei Netflix) und im Kino Gräns/Die Grenze nach meiner Lieblingskurzgeschichte von einem meiner Lieblingsautoren John Ajvide Lindqvist, den ich an dieser Stelle schon gelobt habe, als ihr, liebe Cargo-Freunde, Trolle nur aus den sozialen Medien kanntet. 

Apropos Trolle. 2019 war ein frugales Jahr in meinem Brandenburger Garten, keinerlei Kernobst wuchs, die Kräuter litten, das Laub der Bäume wurden schon im Sommer gelb. Ich werde mir überlegen müssen, wie ich den Garten für die Klimaveränderung fit machen kann, ohne ständig gießen zu müssen – und den Boden weiter auszutrocknen, da ich Gießwasser aus einem Gartenbrunnen nehme. In der Prignitz gab es früher - fürs Mittelalter nachgewiesen - sogenannte Wölbäcker, die leicht hügelig angelegt waren, abwechselnd mit Aufschüttungen und Tiefen, damit ein Acker sowohl feuchtere Schatten- als auch Sonnenplätze bieten konnte. So wurde einem Ernteausfall vorgebeugt – irgendeine Lage war immer günstiger, die hohe oder die tiefe. Ich werde also Hügel anlegen! Das mit den Wölbäckern habe ich in einer archäologischen Zeitschrift gelesen, dem Düppeler Journal, das der experimentellen Archäologie und dem Museumsdorf Düppel gewidmet ist. Ich interessiere mich, seitdem ich viel in Brandenburg bin, für die Zeit der slawischen Siedlung in Berlin/Brandenburg vor Albrecht dem Bären, also vor dem 12.Jahrhundert, als das alles noch relativ autarke Stammesgebiete waren und noch keine «Mark» existierte (was nichts anderes als Gemarkung heißt, also jemand erhebt auf eine bestimmte Fläche seinen Besitzanspruch), als Kirche und Adelshäuser aus dem Süden und Westen die Gegend noch mieden bzw. damit scheiterten, sie zu unterwerfen. 

Seit dem Sommer 2019 habe ich endlich richtig Internet da draußen im Dorf, sogar schnelleres als in Berlin, mit dem congstar Homespot. Die Teenager wollen trotzdem nicht mehr so gerne mit ihren Eltern rausfahren.

Ein großer persönlicher Erfolg für mich: Trotz der immer ärger werdenden Handwerkerkrise gelang es mir 2019 eine Firma zu finden, die unsere olle Altbauküche renovierte und die gruseligen, gelben 70er Jahre Schränke entsorgte. Juhu. Das war eine echte Befreiung. Ich verbrachte dann unendlich viel Zeit mit der Bestellung einer Ikeaküche bei Ikea Spandau, und hatte auch ganz schlimme Nervosität, weil ich mir das alles nicht so richtig vorstellen konnte. Am Ende war ich wirklich zufrieden. Ich kann das matte grau sehr empfehlen. 

Was die Kulinarik angeht, ist Schwarzkohl (italiensicher Palmkohl) in der Gastronomie zwar schon länger ein Trend, aber er hat es nun auch in meine Küche geschafft, gerne in einer One-Pan-Pasta mit Fagioli (weißen Bohnen) und frischem Knoblauch. Ich war sehr lange skeptisch, was den Biosupermarkt LPG angeht, der nun auch unseren Stadtteil ziert. Aber nun bin ich doch Mitglied geworden, schlag mich, und gehe viel seltener zu Penny und Rewe. Wirklich vorbildlich an der LPG ist, dass Wurst, Fleisch und Käse an der Theke in dünnes Papier eingewickelt werden, nicht mehr in Plastik. 

Highlights meiner Lektüre 2019: Fran Ross: Oreo. Roman.

Ta-Nehisi Coates: We Were Eight Years In Power. Eine amerikanische Tragödie. 

Emil Ferris: Am liebsten mag ich Monster. 

Richard Corben: Schatten auf dem Grab.

 

Rainer Knepperges

Wir haben die Welt nur von den Nazis geliehen. 

Das war mein wiederkehrender Gedanke in diesem manchmal fiesen Jahr 2019. 

Lieblingsfilme wiederzusehen schien mir wichtiger als in anderen Jahren, bedeutungsvoller. Als sei die Freude daran nicht nur kostbar, sondern überlebensnotwendig.

In Oberhausen sah ich OSS OSS WEE OSS (1953), in Bologna sah ich WAIT TILL THE SUN SHINES, NELLIE (1952), in Heidelberg sah ich WURSTPOESIE (2008), in München sah ich THE NIGHT OF THE HUNTER (1955), in Köln sah ich TALENTPROBE (1980), in Köln-Kalk sah ich DIE SWEETHARTS (1977).

Die größten Entdeckungen waren: THE DEVILS TOY (1966 Claude Jutra), THE ELEPHANT WILL NEVER FORGET (1953 John Krish), THE FINISHING LINE (1977 John Krish), LEUCHTTURM DES CHAOS (1983 Wolf-Eckart Bühler), MARITO E MOGLIE (1952 Eduardo de Filippo), DRIFTWOOD (1947 Allan Dwan).

Beste Ausstellungen: H.C. Westermann in Madrid, und Saul Leiter in München.

Beste Bücher: Irmgard Keuns Ferdinand (1950), und Mary Shelleys Frankenstein (1818).

Am Rande einer Dorfkirmes fragte ein Kind seine Eltern: «Kann ich mein Einhorn jetzt essen?»

 

Ekkehard Knörer

2019 war das Jahr, in dem manche Konturen deutlicher, vielleicht auch nur die Positionierungen stumpfer und repetitivier wurden. Die Konturen und Positionierungen eines Liberalismus zum Beispiel, als den sich eine «Das wird man doch noch kunsten dürfen»-Werte-Union begreift, die nicht verstehen will, was die Leute (Frauen, PoCs und so weiter) eigentlich haben. Die NZZ, Welt, Zeit haben die Hettches und Rauterbergs und wie sie nur heißen vollgeschrieben mit ihren Projektionen, die ihren Mangel an Lust am Zuhören und Nachfragen und an Neugier und Offenheit und Selbstkritikfähigkeit als Verteidigung des Abendlands gegen die Moralbarbaren verkaufen. Handke, der alte Zausel mit dem sehr weichen Hirn, war dann der endgültige Testfall, bei dem einem unbelehrbare Fans einem noch das dümmste und hochfahrendste Geraune des Meisters als Ambivalenzfähigkeit andrehen wollten. Entgegen aller anderslautenden Behauptungen fand diese stumpfe verfolgende Unschuld in Feuilletons sehr viel häufiger Unterstützung als etwa auf Twitter. Vielmehr war bei allen teils gemeingefährlichen Volliditionen, die dort auch ihr Unwesen treiben, Twitter, und mehr als die Mehrzahl der Zeitungen sogar Facebook, ein Ort, an dem Diskussionen möglich blieben.

Mehr Zeit mit Minecraft verbracht als mit Romanliteratur, das bereue ich selbstredend nicht. Als Hörbuch Saša Stanišićs Herkunft, Virginie Despentes' Vernon Subutex (in Erinnerung bleibt mir, wie ich das grandios-irrwitzige Ende des dritten Bands bei einer langen Erkundung der Reinickendorfer Nachbarschaft hörte, das passte sehr gut). Marlene Streeruwitz (Flammenwand) und Ali Smith (Herbst), die sehr überzeugend vorführten, dass man über die Rechte schreiben kann, ohne sich von der Politik dabei irgendwas in die Literatur diktieren zu lassen.

Im Kino: Angela Schanelec mit ihrem bislang kühnsten und bewegendsten Film, Céline Sciamma, die die Geschichte einer Liebe zeigt, als ließe sich das Kino neu erfinden. 6 Underground von Michael Bay betreibt, am ganz anderen Ende, die Totalmobilmachung des Bewegtbilds als Kunst, die auch den Trumps dieser Welt sicher gefällt - was so grandios wie schlimm ist (und die Unterschiede ums Ganze, die einen linksliberalen Action-Helden wie Reacher ausmachen, werden auch evident: Blue Moon war wieder ganz prima). Völlig ratlos war ich, was nicht alle Welt, aber doch auch manche unter den engsten Kino-Vertrauten an Joker und The Irishman fanden, zwei Filmen, die toxische Männlichkeit für ein Faszinosum halten, ohne Schlüssiges dazu zu sagen zu haben. Bei mir nur komplettes Desinteresse an beiden Filmen von Anfang bis Ende. Viel einleuchtender schien mir, was die Serie Unbelievable tat: Sie interessiert sich für die Opfer toxischer Männer, zwei tolle Ermittlerinnen und die Freundschaft, die zwischen ihnen entsteht - sowie durchaus komplexe Fragen tragischer Mitschuld. Wobei Succession zum Schreien komisch vorführte, dass man toxische Männlichkeit (und Weiblichkeit) auch als Große Antipathie-Oper zur Aufführung bringen kann. Extradryer Brit-Humor plus Medien-Mogul-Soap: Hätte geschworen, dass das schief gehen muss. Aber so geht es, und wie.

Im Theater viel Ödes gesehen, herausragend der Lear, den Sebastian Hartmann und Ensemble mit integrierter Wolfram-Lotz-Uraufführung am DT zeigten. Super auch (nach der Enttäuschung beim letzten Mal) die neue, die Idee des getanzten Musicals in diverse Absurditäten treibende Produktion No President des Nature Theater of Oklahoma. In der Volksbühne nur Schreckliches, Arnarssons Odyssee als Tiefpunkt, aber auch David Martons Howl hat aufs Denken lieber verzichtet. Der Kanon von She She Pop: Nett, aber zünden wollte das nicht so recht. Selten hat mich etwas so gnadenlos runtergezogen wie die Performance von Internil (hier nur: Arne Vogelgesang) mit Es ist zu spät beim Monolog Festival: Hier ist Gefahr, aber es wächst nichts Rettendes mehr. Chinchilla Arschloch, waswas von Rimini Protokoll balancierte beeindruckend sicher, und lustig, auf eigentlich sehr schmalem Grat. Sehr schön auch Yung Faust von Leonie Böhm an den Kammerspielen in München. Viel Wasser, wenig Goethe, sehr wenig Goethe sogar, sehr viel Wasser sogar. Klingt nach Quatsch, hat mich aber berührt. 

Orte, aber nur als private Kürzel für mich: Brodowin. Paris. Hrensko. Montalivet. Florenz. Brodowin. 

 

Rainer Komers

Andy Smetanka ist ein Animationsfilmer aus Missoula, Montana. In meinem Big Sky-Festivalbericht (cargo 42) habe ich ein paar Zeilen über ihn, seine Arbeit und seine Situation abseits der Metropolen geschrieben. 

Im Februar 2008 war ich das erste Mal beim Big Sky-Dokumentarfilmfestival. Als ich danach noch ein paar Tage in Missoula blieb, um das weitere Umland zu erkunden, fuhr mich Andy in seinem Dodge durch die Flathead Reservation zum Flathead Lake und anschließend an grasenden Büffeln vorbei bis nach Hot Springs. Dort zeigte er mir das neben der heißen Quelle gelegene Symes Hotel, in dem er und seine Frau Joanna geheiratet hatten. Schon im Oktober saß ich wieder in seinem Dodge. Ich bereitete den Film Milltown, Montana vor, und Andy half mir als Location Scout. Wir fuhren über Lincoln (wo der Unabomber Ted Kaczynski bis zu seiner Verhaftung in einer Waldhütte gelebt hatte) nordwärts zur Blackfeet Reserveration, um in East Glacier den Schriftsteller Woody Kipp zu besuchen. Von dort wieder südwärts über den Highway 93 («Pray for me, I drive Hwy 93») ins Bitterroot Valley und von Missoula früh morgens ostwärts nach Butte, die durch Filme (Wim Wenders), Fotos (Robert Frank) und Romane (Dashiell Hammett) berühmt-berüchtigte ehemalige Bergbaustadt. Auf der fast leeren I-90, es war noch stockdunkel, passierten wir Deer Lodge Prison. Dort bedrucken Gefangene Autoschilder mit dem Slogan «Big Sky Country» (benannt nach dem Howard Hawks-Western The Big Sky). Ich stellte sie mir vor: gefangen hinter vergitterten Fensten, davor und für sie unerreichbar der weite Himmel über dem Clark Fork River und den Bergen der Flint Creek Range.

Wir erreichten Butte im Morgengrauen und aßen Eier mit Speck in der legendären M&M Bar. Außer uns: nur der Barmann und ein übernächtigtes Gothic-Pärchen ganz in Schwarz. Hoch über den Dächern der Stadt, mit Blick auf den ausgeraubten Berkeley Pit und die Türme stillgelegter Zechen, machte Andy halt an einer rot-weiß gepflasterten Gedenkstätte, die an das Granite Mountain/Speculator Mine Desaster vom 8. Juni 1917 erinnert. Die USA waren am 6. April 1917 in den «Großen Krieg» (Great War) eingetreten. Die zur Anaconda Company gehörige Speculator Mine arbeitete auf Hochtouren, um das zur Munitionsherstellung benötigte Kupfererz zu fördern. Als ein Vorarbeiter im Lichtschein seiner Karbidlampe ein Elektrokabel im Schacht inspizieren wollte, setzte er versehentlich die ölgetränkte Stoffisolierung in Brand. Die hölzernen Ausbaustreben fingen Feuer, und der Schacht verwandelte sich in einen lichterloh brennenden Kamin. Dadurch verbrauchte sich unter Tage der Sauerstoff, und 168 Bergleute erstickten. Wir waren die einzigen Besucher auf der rot-weißen Plattform an diesem kühlen Oktobermorgen – und plötzlich fing Andy an zu weinen.

Vier Jahre später schickt er mir einen Link zu seinem Great War-Projekt zusammen mit einer Synopsis:

«And We Were Young» is a stop-motion, silhouette-animation oral history of American soldiers, Doughboys, in the last months of the Great War. During a two-month period, over 25 000 Americans were killed in action in the Meuse-Argonne Campaign. Missoula, Montana animator Andy Smetanka cut thousands of paper figures and colored backgrounds and filmed them one frame at a time, on a Soviet-era Super 8 camera, over the course of three years to produce a brutal, hauntingly beautiful, and thoroughly original vision of America's war, narrated entirely in the words of the ones who were there.» 

«I felt like I had the general World War I sort of mood. I felt like I had good things, bad things, beauty, drunkenness, whatever there is to the human experience. I wanted the mood to be equally unpunishing, brutal, with an unflinching intensity, all made on paper. I didn’t want it to be half of an experience for anybody. I take all of the credit and all of the blame. I did my best. I have no regrets just kind of dropping out of life for three years to do it. It was a wonderful freedom.» Andy Smetanka

Das bei uns noch unbekannte Meisterwerk And We Were Young wartet auf seine deutsche Premiere (Cantigny – eine herausgenommene Szene)

 

Florian Krautkrämer

Es war ein gutes Zombie-Jahr, trotz des Schwachsinns von The Walking Dead und Zombieland 2

Wir waren anlässlich der Präsentation der serbischen Übersetzung unseres Zombiefilmbuches auf das Filmfestival in Belgrad eingeladen und hatten Glück, denn dort prämierte die serbokroatische Koproduktion The Last Serb in Croatia, eine durchaus kluge Zombiekomödie: Eine Weltverschwörung (United Water!) setzt in Kroatien einen Zombievirus frei, um an das besonders saubere Grundwasser des Landes zu kommen. Allerdings sind Angehörige der Serbischen Minderheit immun gegen das Virus. Aus ihrem Blut (!!) kann ein Heilmittel gewonnen werden, wodurch die Zombies wieder zu Menschen werden, die in der Folge dann allerdings zu schlimmen Nationalisten mutieren (!!!): Neo-Serben, die wieder eine rein Serbische Nation errichten wollen... Wir haben den Film im voll besetzten Kino gesehen, dem anhaltenden Gelächter des Publikums nach zu urteilen, haben wir aber nur gut ein Drittel der (politischen) Anspielungen verstanden.

Dass später im Jahr zwei Zombiefilme in Cannes liefen, ist ein gutes Zeichen für Cannes, ob das Genre allerdings die Weihen der Autorenfilmer nötig hat, bezweifle ich. 

Meine Zombie-Top-8: Us, The Last Serb in Croatia, Zombi Child, Chernobyl, The Dead don‘t Die, Doctor Sleep, Es 2, One Cut of the Dead

 

Max Linz

DIE KINDER DER TOTEN bei BAFICI in Buenos Aires, irrer Spaß in der diskreten Pressevorstellung, A RUSSIAN YOUTH und BAIT im Wettbewerb von Nowe Horyzonty in Wroclaw: Filme aus dem Programm des Forums, die ich während der Berlinale nicht hatte sehen können, auf anderen Festivals nachzuholen, war generell eine gute Idee.

Bei BAFICI haben mich außerdem die retrospektiven Wiederentdeckungen von Paulo Rocha (O RIO DO OURO) und Muriel Box (29, ACACIA AVENUE) begeistert, vorgeführt in der Sala Lugones, im zehnten Stockwerk des Teatro San Martín, einem Gebäude, das die von Bauhaus inspirierten modernistischen Funktionalismen grandios auf das Format von Buenos Aires hochskaliert. Draußen vor der Fensterfront fließt das Nachtleben durch die Straßenschlucht der Avenida Corrientes. 

In Berlin haben mich immer wieder die Werbekampagnen des Militärs behelligt, beschäftigt und nervös gemacht. Die Tram im Flecktarn, Doppeldeckerbusse mit strammstehendem Soldaten, dazu die fürchterlichen Plakatkampagnen – was ist eigentlich aus Adbusting geworden? Aus dem Interview zu WEITERMACHEN SANSSOUCI mit der Hochschulzeitschrift Forschung&Lehre wird mein Hinweis auf steigende Rüstungsausgaben jedenfalls nach der Freigabe gestrichen. Vorübergehende Zufluchtsorte waren die Bücher von Irmtraud Morgner, Ronald Schernikau und Christa Wolf, von deren letztem Roman Stadt der Engel viele Verbindungslinien führten zum schlussendlich im Kreuzberger Regenbogenkino noch gesehenen Forums-Beitrag HEIMAT IST EIN RAUM AUS ZEIT.

 

Petra Löffler

Schwarze Löcher. Andere Räume

In diesem Jahr bin ich kaum im Kino gewesen, das doch ein anderer Raum, Ort einer unmöglichen Erfahrung sein soll...  

Ein Raumschiff mit Kurs auf ein schwarzes Loch. Das Schiff, ein massiver Block, ein scheinbar bewegungsloser Fremdkörper in einen leeren Raum gesetzt. Drinnen lange Gänge und sterile Räume, keine avancierte Raumfahrttechnologie, stattdessen fast altertümlich anmutende Rohre und Leitungen und ein einziger Computer, um Nachrichten an eine ferne Kommandozentrale abzusetzen. Infrastrukturen im wahrsten Sinn von substratum: Zwischenräume, die zum Raum der Handlung werden. Das Raumschiff als Relikt seiner selbst, einer technologischen Utopie und des Versprechen auf eine bessere Zukunft anderswo. In Claire Denis’ Science Fiction-Film High Life werden Räume und Zeiten gedehnt und gestaucht, gequert (durch Montage), invertiert (durch Rückblenden) und doch auch in den Zyklus von Leben und Tod eingetragen. Jugendliche Schwerstverbrecher bekommen vermeintlich eine zweite Chance, können das eine Gefängnis gegen ein anderes vertauschen. Sie werden als Körper gebraucht für das brutale Experiment einer geschlechtlichen Reproduktion unter Weltraumbedingungen. Körper sind verwundbar und Körperflüssigkeiten manipulierbar. Eine diabolische Zeugungsmacht, verkörpert von der als Hexe gezeichneten, gleichermaßen unerbittlichen wie zärtlichen Ärztin der Mission und Mörderin ihrer eigenen Familie, beherrscht die Körper und ihre Regungen. Auch der Garten im Bauch des Raumschiffs ist kein Paradies, kein Ort der Unschuld, auch wenn dort Gemüse wächst und es glückliche Momente gibt. Das Außen und das Innen sind austauschbar, menschliche Körper genauso durchlässig und opak wie das All. Auch Geschlecht ist eine Gegend, ein anderer Raum, anziehend und unvermeidlich zugleich. In Denis’ Vision einer umfassend dystopischen Welt, die ihre Zukünfte in fast jeder Hinsicht verspielt hat, sind schwarze Löcher vielleicht die einzige reale Utopie. «Willow, are we rushing forward, are we standing still?»

Gesehen habe ich High Life Anfang Juni, gleich nachdem der Film in deutsche Kinos kam. Ein paar Wochen später bin ich nach Algier geflogen, um zusammen mit V. und C. das Buch vorzustellen, das mich nicht nur mit einer Zeit und einem Ort verbunden hat, sondern auch die Einlösung eines Versprechens bedeutete. Figurationen der Solidarität ist Geschichte und Aktualität des politischen Kinos in Algerien gewidmet, seinem Kampf gegen die Kolonialmacht Frankreich, seinen Verflechtungen mit der Black Panther-Bewegung und seiner geopolitischen Situiertheit im Norden Afrikas. Die tagespolitische Gegenwart im Juni 2019 war geprägt von wöchentlichen Demonstrationen im Stadtzentrum von Algier gegen das korrupte Regime unter Abd al-Aziz Bouteflika und seine erneute Kandidatur um das Präsidentenamt. Auf zentralen Plätzen war die Präsenz von Polizei und Militär unübersehbar und ein Putsch mehr als nur denkbar. Hubschrauber kreisten an den Tagen der friedlichen Demonstrationen bedrohlich über der Stadt, die besonders abends, wenn die Luft kühler wurde, zu Betriebsamkeit erwachte. Vom Dach unserer Unterkunft aus konnten wir über die Dächer der Häuser bis zum Meer sehen. Die Nacht kam schnell und die Stadt lag friedlich in der Dunkelheit. Auch das Haus in Blida, in dem Frantz Fanon in den fünfziger Jahren gelebt hatte, befindet sich im Dornröschenschlaf. Das Haus steht leer und der Garten ist verwildert. Hühner können dort immer noch frei herumlaufen. Deshalb ist es kein Wunder, dass ich im Gras ein Ei entdeckt habe. Monate später hat mich eine Freundin, der ich davon erzählte, auf eine wunderbare Erzählung von Hélène Cixous hingewiesen, die in Oran im Westen Algeriens aufgewachsen ist. Darin geht es um einen Garten, der zunächst als Paradies erscheint, sich dann aber zur Hölle des Krieges wandelt und kunstvoll Ich- und Welterfahrung überblendet. Der Blackout nach einer Detonation ist auch eine Art schwarzes Loch.

Die Bühne ist über zwanzig Meter tief, hat eine kundige Freundin mir gesagt, und zumindest in meiner Erinnerung nachtdunkel. Aus ihr tritt deklamierend und humpelnd der Held des Abends hervor. Ich sitze im Friedrichstadtpalast, glücklich zwei Karten für eine der zusätzlich ins Programm aufgenommenen Vorstellungen von Glauben an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der Welt ergattert zu haben, die sich René Pollesch ausgedacht hat. Die Inszenierung ist spielerisch chaosmotisch, improvisierend und virtuos, voller Lachen und Weltschmerz zugleich. Ein Abgesang auf das westliche, postmoderne Individuum – zunächst. Dann passiert jedoch etwas, womit zumindest ich nicht gerechnet hätte: Die sonst stummen Tänzerinnen und Tänzer des Friedrichstadtpalastballetts, die in Produktionen des Hauses gern als uniform angezogenes ‹Massenornament› inszeniert werden, erheben ihre Stimmen, wirbeln umher, ziehen den humpelnden Fabian Hinrichs mit sich, werden ein streitbares und doch solidarisches en-semble. Ein Glücksmoment im dunklen Berliner November.

 

Roland Meyer

2019 war unter anderem das Jahr, in dem ich entdeckte, dass das wohl beste Kino der Stadt, das Wolf nämlich, neben seinen beiden Kinosälen noch über einen weiteren Raum verfügt, den ich bislang übersehen hatte, obwohl er eigentlich von der Straße aus gut sichtbar ist. Hier, im sogenannten Studio, fand an einem Abend im April ein Screening der Geschichten vom Kübelkind (1970) statt, und das war einer der Kinoabende, die mir im Gedächtnis bleiben sollten. Ula Stöckl und Edgar Reitz hatten die Kübelkind-Filme als Experiment angelegt, nicht allein in formaler, sondern auch in distributiver Hinsicht. Für die insgesamt 22 Filme (64 hätten es werden können, wenn das Geld denn gereicht hätte), jeder davon zwischen einer und rund 20 Minuten lang, suchten sie bewusst keinen Verleih – aufgeführt wurden sie vielmehr täglich außer montags nach 23 Uhr in einer Schwabinger Kleinkunstbühne, in der Stöckl und Reitz ein «Kneipenkino» eingerichtet hatten. Und eben dieses Kneipenkino spielten wir fast 50 Jahre später nach, hier in Neukölln und etwas früher am Abend, und natürlich mit Digitalprojektion. 

Im minimal umgebauten ehemaligen Ladenlokal waren Stühle und Tischchen arrangiert, offene Weinflaschen zur Selbstbedienung standen in der Ecke, dazu Selbstgebackenes, und wie damals bekamen wir eine «Speisekarte», auf der die einzelnen Filme mit Nummer und Titel verzeichnet waren. Immer, wenn ein Film aus war, wurde spontan, auf Zuruf und quasi basisdemokratisch bestimmt, wie es weitergehen sollte – und das klappte erstaunlich gut, nicht zuletzt deshalb, weil der Abend so lang wurde, dass wir dann doch fast alle Filme zu sehen bekamen: Von «Kübelkinds Kindheit», die damit beginnt, dass Frau Dr. Wohlfahrt von der Fürsorge das zumindest äußerlich bereits völlig erwachsene «Kind» in einer Krankenhausmülltonne entdeckt und beschließt, dass es dringend eine ordentliche Familie braucht, über diverse weitere Begegnungen mit selbsternannten Erziehungsberechtigen und anderen Monstern, bis hin zu wilden Gangster- und Vampirfilmpersiflagen. Jeglicher Naturalismus ist dabei von Anfang an suspendiert: Im stets gleichen knallroten Kleid, mit ebensolchen Strumpfhosen und Cleopatra-Perücke, verkörpert Kristine de Loup das Kübelkind weniger als psychologische Figur denn als lebendigen Widerspruch zu all jenen patriarchalen Disziplinarregimen, die zwar vorgeben, es zur verantwortungsvollen Erwachsenen erziehen zu wollen, es in Wahrheit jedoch in ewiger Unmündigkeit halten. Der Widerspruch schafft es jedoch nie, die Verhältnisse auf Dauer zu erschüttern, und deren Agenten üben stets aufs Neue Rache am ungehörigen «Kind». In fast allen Filmen ist das Kübelkind am Ende tot ­– um doch im nächsten umso lebendiger wiederaufzuerstehen. Die Geschichte seiner eigentlichen Emanzipation, ja vielleicht sogar seines Triumphs, wäre wohl den ungedrehten Filmen 26 bis 64 vorbehalten gewesen. Über die verriet die Speisekarte nur so viel: «Geschichten und Finanzierungsvorschläge bitte an der Kinokasse hinterlegen.» Dafür war es nun, im April 2019, zu spät – das Experiment einer anderen Form der kollektiven Filmrezeption blieb letztlich folgenloses Reenactment, der anarchische Befreiungsversuch Fragment.

An die Geschichten vom Kübelkind musste ich bei anderen Filmen des Jahres immer wieder denken, nicht zuletzt natürlich bei Susanne Heinrichs tollem Film Das melancholische Mädchen, der mit seiner Episodenstruktur, seiner ausgestellten Künstlichkeit und seiner Liebe zum Genre-Pastiche ebenso wie Weitermachen Sanssouci von Max Linz vielleicht für die Renaissance einer Experimentierlust stehen kann, die an die Zeit um 1970 anknüpft, wenn nicht in distributiver, so doch zumindest in formaler Hinsicht. Doch was diesem Kino (noch) abzugehen scheint, ist, was einem aus jeder Szene des «Kübelkinds» bis heute entgegenschreit: die Wut auf die Verhältnisse, nicht allein jene der Geschlechter, ebenso wie der unbändige Wille, diese radikal anders zu denken. Diese produktive Wut ist zumindest im Kino selten geworden und scheint eher einer melancholischen bis depressiven Resignation Platz gemacht zu haben. Andernorts dagegen wird sie umso hörbarer: How dare you!

 

Elena Meilicke

2019 bin ich nicht viel im Kino gewesen, das Leben fand anderswo statt; auch das, was ich zu Hause im Netz gesehen habe, war oft hektisch ausgewählt, wurde mit Unterbrechungen und nicht immer zu Ende geschaut. The Assassination of Gianni Versace – American Crime Story war ein Highlight, Unbelievable mochte ich vor allem wegen der sanftmütigen Kommissarin, gespielt von Merritt Weaver – die auch einen schönen, leider kurzen Auftritt in Marriage Story von Noah Baumbach hat, mit dem ich ansonsten nicht so viel anfangen konnte, fand ihn gediegen und retroselig. 

Die Bilder waren dieses Jahr, für mich, eher draußen, in der Stadt. Bewegt waren sie, weil ich an ihnen vorbeiging, manchmal auch bewegend. Ich bin viel und regelmäßig spazierengegangen, wenn auch nicht sehr weit: immer rund ums Hallesche Tor. Eine zugige und unwirtliche Gegend, vielleicht weil ich zu einem gewissen Grad an ihr leide, versuche ich sie zu verstehen. Ich besorge mir Bücher über die IBA 1984/87 und über den Architekten und Stadtplaner Werner Düttmann, der die Häuser am Mehringplatz und St. Agnes um die Ecke gebaut hat, studiere alte Fotos. Es hilft, ein bisschen; hier stand mal eine Markthalle und dort eine Sternwarte, aha. 

Eine weitere Runde der Stadtentwicklung und -verdichtung kann ich derweil live miterleben, gegenüber vom Jüdischen Museum, beim alten Blumengroßmarkt, entsteht ein neues «Kreativquartier», das ich für Berliner Verhältnisse ziemlich gelungen finde. Erstaunlich aber ist vor allem, dass, kaum stehen die neuen Gebäude, ich beim besten Willen nicht mehr weiß, wie es an ihrem Platz vorher aussah. Hatte ich nie richtig hingeschaut, sind Brachflächen schwer zu erinnern? 

Was mir hingegen auffällt, zwischen Baustellen und Verkehrsbrausen, sind bunte Poster an Altkleider-Containern und Elektrokästen, die für kein Produkt und keine Veranstaltung werben, sondern «Circlusion» erläutern und «Tschüss, White Feminism» verkünden – feministische Posterkunst von Bini Adamczak, Peaches et al. Irgendwann im November sehe ich dann postkartengroße, laminierte Bildchen am Gitterzaun eines Spielplatzes und an Brüstungen des Landwehrkanals hängen – jedes mit dem Foto und Namen einer YPG-Kämpferin, die während der türkischen Offensive in Nordsyrien getötet wurde. 

 

Gregor Mirwa

Das
Jahr beginnt mit Gedächtnis weg, Verlust der Festplatte. Zum Glück temporär. Wird fast alles wieder hergezaubert, nur ein Muskel von neun Tagen bleibt verschollen. Ähnlich hört das Jahr auf: dasitzen und sich fragen wowannwas.

Neun
in 2019, dem Jahr der Retrospektiven. Minus 50- im El Quixote hocken Janis Joplin, Jimi Hendrix und Jefferson Airplane hinter Bergen mit Shrimps und scharfer grüner Soße und warten auf die Wiese bei Woodstock. Minus 80- nach einer Reihe von tatsächlichen und fingierten Angriffen im Grenzgebiet zu Polen lässt Hitler verlauten: wird jetzt zurückgeschossen. Minus 30- wie Schabowski mit einem Zettel aus Versehen die DDR auflöst. Minus 200- Fontane, dessen Notizbücher gerade editiert werden... zwischen dem kleinen und großen Tornowsee: Glimmersand, der so fest liegt, das man Namen darin einschreiben kann.

Gretas
Klima, ein Feuer an der Ostküste Australiens, das sich nicht löschen lässt.  Noch macht es einen Bogen um den Freund, der nur um das Leben seiner schwer kranken Frau bangt.

Vor
Himmelfahrt die erste lange Tour zu Fuß, von Hřensko durchs Prebischtor zur Balzhütte Na Tokáni. Das Knie schmerzt rechts, aber zu dritt glücklich angekommen. Echtes Losament in der Baude und dahinter. Viel dunkles Holz, die Küche räuchert sich aus bis in unser Zimmer neben der Treppe. In dem steht ein Metallbett aus Ikea. Wir können den Wald in seinen Einzelheiten hören.

Staunenswerte
Bilder, davon nur eines: Ray lebt längst allein, immer noch in der Nähe seiner slightly-better-off-Ex Liz, die ihn bei jedem ihrer Kurzbesuche ausnimmt. Was er zulässt als Berührung. Ray wird von einem Nachbarn beliefert. Eine Zweiliterplastikflasche bis zum Verschluss voll mit brown ale. Er trinkt das wie Wasser. Ray starrt in seinem Zimmer auf den Radiator. Die Heizstäbe glühen rot, die einzige wärmende Stelle in dieser kleinen engen Wohnung irgendwo in den Midlands. Wie er schaut. Und sich sein Leben auf diesem Gesicht abzeichnet. Es sind nur ein paar Bewegungen der Kaumuskulatur, von Augenbrauen, Nasenflügel. Die Haut strafft sich. Wird alt. Schluckt.

Einen
Moment lang sind wir vier zum ersten Mal an verschiedenen Orten außerhalb Berlins. Eine Woche im Sommer. Kroatien, schwäbische Alb, sächsische Schweiz, Mark Brandenburg. Das Herz stockt kurz, dann schlägt es weiter.

Noch
mal die neun. Eine Freundin schreibt: Dieses Jahr ist für dich ein besonderes. Tarotkarte 9, der Einsiedler. Das eigene innere Licht finden und sich davon führen lassen. Die Schatten sind Hinweise und Lehrmeister.

So
schwirrt das Jahr. Die Entscheidungen, die Krisen, Bilder und Reime, Katastrophen und fast ein Ringtausch zwischen A$AP Rocky und Julian Assange. Marko gestorben. Patti Smith gelesen. Martin kennengelernt. Lucia Berlin verschenkt. Handkes Preis, Stanišić’ Herkunft. Wer darf was? Muss alles? Eine Koppel voll mit Mustangs und Modalverben. Herrliche Tiere, die das System der Erinnerungen durcheinander bringen. Wild, zerbissen, hungrig, mit weit aufgerissenen Augen, glänzendem Fell, zeigen sie Zähne, senken den Hals, preschen los, ruhen sich aus, springen in die dünne Luft aus dem Stand, flüstern. Mögen. Müssen. Dürfen. Sollen. Können. Wollen. Bildet sich das Neue, der neue Mensch zwischen all dem? In einer fusionierenden Gruppe können sich Mitteilungen, Ideen, Handlungsimpulse rascher ausbreiten als herkömmliche Kommunikations- oder Verkehrsmittel. Dieser besondere Körper, eine Art Riesenbaby, wie lässt er sich über die Zeit retten, fragt Rosa Luxemburg. Stickstoff macht sich breit unter der Pferdedecke der alten Märchenordnung und gärt. Krieg, Revolution, Untergang, Weiterso, Weiteranders. Immer mehr machen Urlaub in Reichweite. Einige im Haus nehmen sich Gläser und Büchsen mit in die Packtaschen. Nach der Arbeit auffüllen mit Nudeln und Reis im Laden für Alles und Nichts. Wir machen eine Liste mit Waren, die wir alle benötigen. Eine Palette Klopapier liefern sie ohne Plastikverpackung. Irgendein Verlust wird schon sein. Allein die Berechnung von Bilanzen verbraucht. Serverräume sind die Radiatoren von heute. Sauerstoffreduzierte Atmosphären.

 

Franz Müller

in dieser Reihenfolge:

A Bread Factory von Patrick Wang

Das leise Prinzessin-Mononoke-Klimpern von gefrorenem Schilfgras im Winterwind am Wannsee

Souvenir von Joanna Hogg

Variety von Bette Gordon

Ossenni Marathon von Georgij Danelija

Nie wieder schlafen von Pia Frankenberg

Dreißig von Simona Kostova

Die Beunruhigung von Lothar Warneke und Helga Schubert

ein Gespräch mit Peter Streusl im Metzer Eck

eine Nacht am polnischen Ostseestrand

Musik von Kourosh Yaghmaei

der Rückweg von einem Dorffest über hügelige, brandenburgische Stoppelfelder in gelb-rot-graues Abendlicht getaucht, mit fünf Fahrrädern, von denen drei kein Licht hatten, also eins vorn, eins hinten, und nach einer Weile fühlte es sich an wie ein Organismus, und so (auf diese Art) warme nach Kräutern riechende Senken und kühles Grün zu durchfahren, und am Ende ein schier endloser Anstieg auf schwarzem Asphalt, den der neue Organismus mühelos überwand und dann im allerletzten Licht am Bahnhof eingetroffen - eigentlich unbeschreiblich.

Du schreibst mir Briefe von Titus Probst

Der Mietendeckel. Ein Gesetz, das so viele Menschen auf einmal existentiell entlastet und nur wenige belastet, von denen niemand deshalb um seine Existenz wird fürchten müssen. Wann hat es das zuletzt gegeben? 1976? Gefühlt.

Le meraviglie von Alice Rohrwacher zum zweiten Mal

Play That Silicon Waltz Again von Rainer Knepperges

 

Cristina Nord

Das Video entstand im April, in einem Hotel am Rand von Manaus. Wegen der Zeitverschiebung war ich um fünf Uhr morgens schon wach, nahm das Telefon und probierte, wie lange ich die Hand stillhalten kann und wie gut das Gerät die Geräusche aufzeichnet. Ein paar Stunden später gingen wir an Bord eines kleinen Bootes und fuhren von Manaus aus mehrere Tage den Rio Negro flussaufwärts, bis zu einem Archipel namens Anavilhanas, einem Insellabyrinth mitten im Fluss. Die Wälder standen halb unter Wasser, die Regenzeit hatte gerade eingesetzt. Ich konnte nicht genug von der Landschaft und vom Fluss bekommen, alles war betörend: die Schlingpflanzen, die Stechpalmen und die Baumriesen, die Kaimane und die Schlangen und die Zikaden, die Faultiere und die Flussdelphine, die Piranhas und die Aras, die Spinnen und die Äffchen, die Ameisen und die Uhus, die Tukane und die Gürteltiere und all die Früchte, deren Namen mir inzwischen entfallen sind.

Eine großartige, grüne Fülle. Je mehr ich auf Details zu achten lernte, umso stärker wurde ich mir des Reichtums und der Vielfalt bewusst. Umgekehrt wirkte die grüne Fläche des Waldes, vom Boot aus betrachtet, nach zwei, drei Tagen fast eintönig: interessanter Umschlag von Fülle in Monotonie und zurück.

Meine grenzenlose Begeisterung wird von einer rohen Wirklichkeit überholt, als ein paar Wochen später große Teile des Amazonasgebiets in Flammen stehen.

 

Michaela Ott

Ein Forschungsaufenthalt in zwei ugandischen Refugee-Settlements, um herauszufinden, welche Art dokumentarisch-essayistischer Filmarbeit dort realisiert werden könnte. Bezahlt von der Bosch-Stiftung, die filmische Forschung insbesondere in Afrika befördern will.

Die Wahl fiel auf Uganda, nicht nur weil eine Studentin von dort gerade ihren Wissenschafts-Kunst-Master bei mir gemacht hatte und wir damit eine lokale Ansprechpartnerin hatten. Sondern eher, weil das Land, klein und zentral gelegen, als Herz Afrikas gilt und mehr als zwanzig Flüchtlingsansiedlungen entlang seiner Grenzen kennt. Nicht nur bietet es sich geographisch als Aufnahmeland für die vor den politischen Konflikten im Südsudan und Kongo, in Burundi und Ruanda, in Somalia, Eritrea und Äthiopien Flüchtenden an; sein Regierungschef ist offensichtlich an den UN-Geldern interessiert, die für derartige Ansiedlungsprojekte ausgeschüttet werden und die neu besiedelten Regionen wirtschaftlich beleben. Zu Protokoll wird gegeben, dass Uganda aufgrund seiner eigenen langjährigen Bürgerkriegserfahrung eine besondere Willkommenskultur ausgebildet habe, von der Personen mit Flüchtlingsstatus profitieren.

Wir suchten uns ein seit 1958 bestehendes Refugee-Settlement im Süden nahe der Grenze zu Tansania und ein gerade erst errichtetes im Norden aus, um deren unterschiedliche Struktur zu erkunden und miteinander zu vergleichen. Im Gegensatz zu dem Vorzeige-Settlement Bidi Bidi nahe der südsudanesischen Grenze, 2016 gegründet und von der UNHCR und ihren ca. 50 Hilfsorganisationen weitläufig angelegt und generalstabsmäßig organisiert, wirkt die alte Ansiedlung Nakivale im Süden, wo sich Geflüchtete vor allem aus Ruanda, Burundi und dem Kongo einfinden, kleinstädtisch eng, improvisiert und hoffnungslos überbelegt. Vom Refugee-Welcome-Center am Ortseingang, wo Schlangen von wartenden Frauen und tobenden Kindern jene 85% der Settlement-Bevölkerung ankündigen, deren Männer und Väter eher draußen das Geld zu verdienen suchen, ziehen ausgespülte und gewundene Sandstraßen vorbei an Holzbuden und geziegelten Häusern, an Läden für digitales Zubehör, für Avocados, Bananen und selbst angebautes Gemüse. Die Familien können sich auf dem entsprechend ihrer Größe zugewiesenen Flecken Land eine Behausung errichten, wobei die sanitären Anlagen und überhaupt die Wasserversorgung hoffnungslos defizient sind, Problem Nummer eins, wird gesagt. Selbst in der Regenzeit falle zu wenig Wasser; kaum kündigt sich eine dunkle Wolke an, wachsen bunte Plastikschüsseln aus allen Häusern heraus. Später werden wir beobachten, wie die World-Food-Organisation Reis an wartende Frauengruppen vergibt, gespendet von ‹The people of Japan›.

Die vom lokalen ‹Office of the Prime Minister› verwalteten Ansiedlungen wollen heute jede Lager-Assoziation vermeiden: Sie sind nicht durch Zäune abgegrenzt, sondern binden in fließendem Übergang an die umgebenden Dörfer an, deren Bevölkerung ebenfalls im Hinblick auf Hebung des Lebensstandards gefördert wird. Ethnische Differenzen werden gering veranschlagt, stattdessen wird die Gemeinsamkeit der Kultur diesseits und jenseits der Grenze etwa zum Süd-Sudan betont. Mit leicht spitzem Unterton bemerkt der Commander, dass erst die Berliner Konferenz von 1884 künstliche Trennlinien ins afrikanische Territorium eingezogen hat; im Prinzip gäbe es keine kulturellen Unterschiede zwischen den tribes. Und der Konflikt zwischen Dinka und Nuer? Hat er nicht die Fluchtbewegung aus dem Süd-Sudan ausgelöst? Das sei kein politischer Konflikt, gibt der Commander zu verstehen, sondern ein rein ökonomischer Zwist um Grund und Boden. Angesiedelt werde nicht nach community-Zugehörigkeit, sondern absichtlich durchmischt. Aufgrund der über 60 lokalen Sprachen werde in den Schulen auf Englisch unterrichtet; education sei auf der Agenda ganz oben, Deutschland habe sehr viel Geld dafür bezahlt, wofür man ihm dankbar sei. Neuerdings wird sogar architektonisch behauptet, dass die Herbeigeströmten keine ‹anderen› sind; der dominierende Haustyp in Bidi Bidi ist jener der Dörfer ringsum.

‹Peace-making› gilt als oberstes Ziel und hat seinen Preis: Im Hinblick darauf bestehen Kirchen und Moscheen unangefochten nebeneinander, der Friedhof ist ein gemeinsamer; alle Anzeichen von Witchcraft werden dagegen mit drastischen Mitteln verfolgt. Sie komme aus Somalia, betont eine auf ihre Stammeszugehörigkeit befragte Frau, aus Somalia! Und LGBT-Konflikte? Solche können sich nur die Europäer leisten, gibt der Commander entschieden zurück, wo «alle Probleme gelöst» sind; er habe im übrigen noch nie von der Diskriminierung einer homosexuellen Person in den Settlements gehört.

Dank gezielter Nachfrage stoßen wir in Nakivale bald auf das opportunitee-Center, eine Anlage mit mehreren Räumen, in denen junge Frauen und Männer, quasi dort geboren, an Computern arbeiten, Start-Up-Projekte vorstellen und uns von ihren Filmvorhaben berichten. Zu den Start-Up-Projekten gehört ebenso das Abfassen englischer Schulbücher für die mehreren hundert Schulklassen im Settlement wie ein lokales Ein-Mann-Radio oder Hilfe bei ökologischem Gemüseanbau. Die Filmvorhaben: narrative Rekonstruktionen der Flucht- und Settlement-Erfahrung, gepaart mit dem Wunsch nach Traumabewältigung und positiven Zukunftsentwürfen. Ein Geflüchteter aus dem Kongo betreibt hier eine Filmwerkstatt mit einer einzelnen Kamera, einem Stativ und einem Computer; wie alle ist er Feuer und Flamme für die auch von jungen Frauen initiierten Projekte und hofft auf weitere finanzielle Förderung durch donors aus dem globalen Norden.

Diese künstlerisch-karitativen Unternehmungen, so die offiziellen Kommentare, seien unschätzbar im Hinblick auf community-building und peace-making, würden hier doch Erfahrungen geteilt und für wechselseitigen Beistand fruchtbar gemacht. In ihrem überschäumenden Enthusiasmus stecken die Beteiligten auch uns Besucher*innen an. Der Funke springt insbesondere über in einer analogen Initiative in Bidi Bidi namens CTEN, die als ‹Technology-Empowerment-Network› filmische ‹success stories› produzieren will und mit stolz auf ihr Equipment verweist. In ihr werden Hundert junge Geflüchtete, weiblich wie männlich, in medialen Kompetenzen ausgebildet: in Web Design, Videographie, film editing and production. Unser Interesse, mit ihnen einen Film entlang ihrer Erfahrungen zu entwickeln, wird beklatscht. Anlässlich einer Videoaufnahme in einem der Frauenzentren werden wir dann allerdings doch gefragt, wohin denn die aufgenommenen Bilder nun gehen. Nach Erläuterung unseres Forschungsinteresses erklären sich auch diese Frauen zur Mitarbeit an einem Filmprojekt bereit.

Letztlich veranstalten die Filmemacherin und die Produzentin unseres Teams einen Workshop mit den Filmhungrigen und bestärken sie darin, ein Filmarchiv anzulegen mit eigenen und fremden Arbeiten und sich weniger am Hollywoodkino und an Action-Movies zu orientieren. Kleine eigene Formate zu entwickeln und sich in Richtung Essayfilm zu bewegen, wäre leichter bewältigbar und tendenziell dekolonial. Ich nehme mir vor, bei einem der nächsten Besuche ein Seminar zur afrikanischen Filmgeschichte vorzuschlagen, da Filme aus Afrika gänzlich unbekannt sind.

Das Programm des peace-making, trotz seiner neokolonialen Tendenzen überzeugt es und berührt: Angesichts der wiederholt überquerten Nebenarme des Nils und der frei laufenden Elefanten, der geschmeidigen Hügelketten am Horizont und einander freundlich zugewandten Rundhütten, vor allem aber der von ihrer Mission überzeugten und sich enthusiastisch in die Zukunft entwerfenden Personen glauben wir uns zwischendurch eher in einer Variante des Paradieses angekommen als auf einem fluchtgebeutelten und leidgetränkten Territorium. 

 

Johannes Paßmann

Mitte Juli, von einem Tag auf den anderen, waren die Social-Media-Timelines und Messenger-Gruppen voll von Opi- und Omi-Fotos; irgendjemand hatte Face-App wiederentdeckt, eine Software, mit der man Gesichtsfotos künstlich altern lassen kann oder verjüngen, lächeln lassen und vieles mehr, aber eben vor allem altern lassen, denn diese Funktion war atemberaubend gut geworden. Als die App 2017 von der russischen Firma Wireless Lab veröffentlicht wurde, war sie eine ganz nette Spielerei, genau dies konnte man den Bildern aber ansehen: Sie waren verschwommen, ihre Omi-Bilder sahen nicht aus wie echte Omis. Sie stellten ihr Gemacht-Sein unfreiwillig aus, weil die KI, auf die diese Firma des ehemaligen Microsoft-Mitarbeiters Yaroslav Goncharov zurückgriff, eben noch nicht so weit entwickelt war.

Jetzt aber war es anders: Ich zoomte Bilder der faltendurchfurchten Gesichter meiner Freunde ran und zurück und bemerkte, wie sie meine Gedanken verwickelten, über den Charakter dieser Menschen, wie das Alter sie ändern würde, wie in dieser verschrumpelten Zukunft ja doch noch so viel ihrer liebenswürdigen Gegenwart liegt und dass sie doch sehr, sehr schöne Rentnerinnen und Rentner abgeben würden. Aber wie ich wohl aussähe? Nein, auf keinen Fall lade ich mir diese Russen-App runter, wer weiß, was mit meinen Daten... ach scheiß drauf, WOW, das könnte ich sein? Zoom in, netter alter Johannes, das könnte ich sein! Aber werde ich überhaupt so alt? Ich könnte sterben, mit 40, mit 50, mit 36.

Zum Jahresende schaue ich mir die Bilder noch einmal an, das war eine schöne kurze Epoche, nur die Babybilder sahen grässlich aus, Gesichter wie gegrillte Bockwürste. Kurz war sie, weil schon am Tag, nach dem ich schwach geworden war, und meine vielleicht nie eintretende Zukunft heran- und herausgezoomt hatte, ein Artikel nach dem anderen erschien, der vor dieser App warnte. Der Russe nimmt unsere Bilder und macht damit... ja was? So recht konnte das niemand sagen, zumindest würde er damit nicht mehr tun können als Facebook mit all den Insta- und WhatsApp-Bildern und seiner im sehr großen Stil entwickelten Gesichtserkennungstechnologie. Chuck Schumer hatte dann auch offiziell das FBI befragt, was er denn mit unseren Fotos tun könnte, der Russe, weil er sie ja auf seinen Servern bearbeitete – Amazon-Servern, wie sich später herausstellte. Mehr als allgemeine Feststellungen über Datensicherheit konnte das FBI allerdings nicht machen. Die SZ und t3n kommentierten dann schließlich auch, wichtiger als Russen-Verdächtigungen sei die allgemeine Debatte über Gesichtserkennung.

Was vom Jahr bleibt, ist nun eine veritable Sammlung potenzieller physiognomischer Zukünfte meiner Freundinnen und Freunde. Vor allem bleibt aber die Frage: Wer von ihnen wird dieses Alter erreichen? Ich sterbe bestimmt als erster. Umso schöner, mich trotzdem als Opi gesehen zu haben. Danke, Russe!

 

Kathrin Peters

Im Bauhausjubiläumsjahr bestand die wohl beste Variante, an das Bauhaus zu erinnern, darin, es zu provinzialisieren. «Bauhaus imaginista» im Haus der Kulturen der Welt hat vorgeführt, wie das geht: Die Unterschiedlichkeit von Bauhaus-Akteur*innen samt der Frage, wer überhaupt dazuzuzählen wäre, in den Raum stellen, dafür das Ordnungsprinzips der immer selben Direktorennamen und Grundkursleiter fallen lassen. Globale Verflechtungen und Zeitgenossenschaften nachzeichnen, anstatt Narrativen von Vorläuferschaft und Einfluss nachzuhängen. Keinen Stilmythos pflegen, sondern Auseinandersetzungen zeigen. Marion von Osten und Grant Watson, die Kurator*innen, haben das Bauhaus tatsächlich noch mal neu lesbar gemacht. Mein Liebling: Der Campus der Obafemi Awolowo University in Nigeria, den Arieh Sharon, ein später Student von Hannes Meyer (der mit allem Recht von der Ausstellung gefeatured wurde), unter Hinzunahme lokaler Formen in den 1960er entworfen hat. Nicht leicht zu sagen, in welcher Weise das postkolonial ist. (Nachzulesen in diesem sehr guten Online-Journal)

Ein paar Bücher und Filme haben mich beschäftigt und das ist vielleicht deswegen hier erwähnenswert, weil deren Motive, wie mir erst im Rückblick auffällt, sich überlagern. Diese thematischen Verdichtungen haben mit persönlichen Vorlieben aber eben auch mit gemeinsamer Gegenwart zu tun. Ocean Vuongs On Earth We’re Briefly Gorgeous ist ein ergreifend körperlicher Text über Schmerzen, die immer auch Berührungen sind, über Toxisches, das die Körper nicht mehr verlässt – Napalm, Formaldehyd, Opiate. Der Form nach ein Brief an die Mutter verbindet sich Vuong mit Roland Barthes’ späten Texten und deren Fragen nach Trauer, Sprache, dem Nichtsprechenkönnen. Auch Maggie Nelsons Argonauts, das ich erst jetzt gelesen habe, kommt immer wieder auf Barthes zu sprechen, wenn es um Affektivität, Zuneigung, eigentlich Hingabe geht – um Liebe, wenn das so einfach zu sagen wäre. Beide Bücher teilen mit Sharon Hayes’ Ricerche One die Beschäftigung mit Familie und queeren Beziehungen. Die Videoinstallation war im Sommer bei Tanya Leighton zu sehen. Hayes setzt ihr schon vor ein paar Jahren begonnenes Projekt im Gedenken an Pasolinis Comizi d’amore fort und hat dieses Mal Kinder und Jugendliche aus queeren Familien zu ihrer Geschichte oder zu ihrer Zeugung befragt. Das geht nicht ohne Imaginationen. Das muss erst erzählt werden. Aber wie? Und wohin das führt? 

 

Hannah Pilarczyk

p. 28

 

Bert Rebhandl

30. Oktober, halbzwölf Uhr vormittags. Im Österreichischen Filmmuseum ist der Saal nahezu voll. Wir sehen Le quattro giornate di Napoli (Italien 1962, Nanni Loy) im Rahmen der großartigen Retrospektive O partigiano!. Eine Filmerzählung von den vier Tagen im Jahr 1943, in denen das neapolitanische Volk, das es auch bequemer hätte haben können, indem es sich einfach von den bereits nahen Amerikanern befreien hätte lassen, die Nazis mit einem waschechten Volksaufstand vertrieb. Nanni Loy erzählt das im besten Sinn populistisch, er lässt Chaos und Absicht durcheinander laufen, die Darsteller – nur wenige sind Stars – sind schön in dem Sinn, in dem das Kino in seinen besten Momenten auch schwache Helden nobilitiert. Ich bilde mir ein, gespürt zu haben, dass das Publikum in diesen zwei Stunden Teil dieses (und damit des eigenen) historischen Moments wurde - durch «Teilnehmung dem Wunsche» nach, wie das bei Kant heißt.

Nicht nur bei dieser Vorführung habe ich in diesem Jahr das Kino wiederentdeckt. In Berlin auch durch das Privileg, dass die beiden einschlägigen Institutionen, das Arsenal und das Zeughaus, keine Sommerpause machen. So ergab es sich einmal, dass nach der Vorführung des Musicals Die oder keine (Carl Froelich, 1932, ausgesucht und eingeführt von Lukas Förster) im Zeughauskino in dem Programm Das Lied ist nicht aus danach eine Gruppe von fast 30 untereinander allenfalls lose bekannten Leuten gemeinsam ein Lokal aufsuchte. Im Arsenal wurde die 70mm-Reihe zu einem Ritual (KLK an PTX – Die rote Kapelle, Horst E. Brandt, DDR 1971), und auch meine filmhistorische Entdeckung des Jahres habe ich dort gesehen: The Passionate Stranger (GB 1957, Muriel Box).

 

Manfred Rebhandl

Es war nicht alles schlecht. Den Rasen im voralpinen Elternhaus habe ich im Frühjahr zur Wiese wachsen lassen mit richtigen Blumen drauf, im Sommer dann im Liegestuhl inmitten der wilden Natur gelegen und nach Jahren, Jahrzehnten, wieder Schmetterlinge gesehen, weiße, gelbe, braune, braunorange, richtig viele. Und Libellen, grüne, blaue, rote. Und Hüpfer, grüne und braune. Es war wie der Umstieg auf Farbfernsehen.

Den ganzen Tag über war sie hibbelig und hat geredet und geredet, am Abend saß ich dann an ihrem Bett, und sie redete noch immer. Bis ich sie fragte, ob sie vielleicht verliebt wäre, weil sie gar so hibbelig ist. Meine 13jährige setzte sich auf, atmete ein paar Mal tief durch, und dann sagte sie, dass er abstehende Segelohren hat. Ich fragte, ob sie schon mit ihm geredet hätte, und sie fragte entsetzt zurück: «Worüber???» Ich hatte Tränen in den Augen, es war der 12. Oktober.

Dazu passt die späte Serienfreude, nachdem ich das ganze Jahr über auf den ganzen, mit immer absurderen Dramaturgien glänzenden Schwachsinn mehr oder weniger verzichtet hatte: Sex education. Gillian Anderson erinnert mich auf verblüffende Weise an meine Tante Maria in jungen Jahren, an die ich passend zum Thema der Serie als Pupertierender manch feuchten Gedanken verschwendete. Alle übrigen Schauspieler begeistern mich schlichtweg. Und vor allem: Wales, wo die Serie gedreht wurde. Nur in meinem Garten ist es schöner, wenn mich dort die Schmetterlinge umfliegen.

 

Simon Rothöhler

Some people

Das Jahr über sind wir viel an der frischen Schweizer Bergluft gewesen: in Mürren, Rosenlaui, Sils & Soglio. Sehr angenehm das. Dann Arbeitssommer in Zürich, das Flussspaßbad Untere Letten fußläufig. Ein Theorieeinführungsbuch für Junius zu Ende geschrieben, dazwischen David Wallace-Wells’ The Uninhabitable Earth: Life After Warming gelesen. Nicht alarmistisch & nicht schön, wie hier das eindrucksvolle How dare you entlang plausibler Klimamodelle szenisch konkret in die doch recht nahe Zukunft projiziert wird. Klar, der Baustellen & Gegner sind nach wie vor viele, da helfen auch Streikfreitage, der Brexit-Sarkasmus von Ian Dunt und ein Bella Ciao für (gegen) Salvini letztlich wenig – aber manchmal, Lob der Digression, reichen mir Aufmunterungsfeeds wie Composers Doing Normal Shit oder Out Of Context Football. Speaking of: Mein Liverpooler Lieblingsspieler Trent Alexander-Arnold mit der Körpertäuschung des Jahres (abgesehen davon immer noch sehr froh, dass wir die Gebrüder Kovac endlich los sind und der sanfte Hansi den Stern des Südens übernommen hat). Auch gut war die Weinbegleitung: ein Gamperbarabend mit Laherte Frères vertikal; der Juraherbst zu Hause; Hyperdecanting mit SUCCESSION und dem fast schon vergessenen (ich jedenfalls) Alan Ruck. Und als Zwangsanglophiler bin ich auch nach Matt Smiths Demission weiterhin Pro Prince Philip (der lässig indignierte Tobias Menzies | kalauernd: the real one). Sonst noch: Immer wieder die ultrapräzise Sandra Hüller am Bochumer Schauspielhaus (in Berlin dagegen kaum noch ins Theater gegangen); Bernd Schochs experimentalethnografische Pilzpsychedelik in OLANDA; der kantige und politisch glasklare FOS-SUR-MER (1972) von Peter Nestler auf der wiederum sehr lohnenswerten Duisburger Filmwoche; Joe Pesci in Scorseses souverän altersironischer Metamobsterkomödie THE IRISHMAN (Russell Bufalino: Listen, some people, not me, but some people, they’re a little concerned. Some people, not me, they think that you might be demonstrating a failure to show appreciation || Jimmy Hoffa: I’m not showing appreciation? || Russell Bufalino: According to, you know, some people. It’s not me. According to some people); sowie: Alexandria Ocasio-Cortez filetiert Zuckerberg; der Plot Drive in Ronan Farrows Catch and Kill – und verteilt übers Jahr: Effingers und die brillanten, von der Weimarer Republik bis zum Hamburger Prozess gegen Veit Harlan reichenden Gerichtsreportagen von Gabriele Tergit.  

 

Danilo Scholz

Das wird man doch noch sagen dürfen: Wer sich vom populistischen Fieber im brasilianischen Western Bacurau – ein blutiger Freudenrausch der kollektiven Selbstverteidigung – nicht anstecken lässt, aus dem wird nie ein leidenschaftlicher Demokrat.

Get Brexit done! Dass die Doktorarbeit noch vor dem Ausstieg Großbritanniens aus der EU fertig wird, damit hätte ich selbst vielleicht am wenigsten gerechnet. Im April war es in Paris soweit, groß war die Angst vor der Disputation, die in Frankreich gern mal vier Stunden und länger dauert. Danach wird Essen und Trinken für Jury und Betreuer aufgetischt, kein Sekt oder Schnittchen, sondern süße und herzhafte Petits Fours und Champagner, das sagt einem so zwar keiner, aber wer sich an diese ungeschriebenen Regeln nicht hält, steht bei seinen Versuchen, in das französische Universitätssystem einzubrechen, noch einsamer da, als er ohnehin schon ist. Ohne Birthe wäre es nicht gegangen; ich werde nie vergessen, wie sie zwei Buffetplatten im Taxi jonglierte und unversehrt an ihrem Bestimmungsort in der Hochschule brachte. Absurde Szene, anschließend wochenlange Euphorie.

Schönster Essaytitel 2019: Songs of My Self-Care (Jacqueline Rose über Jia Tolentino in der New York Review of Books.)

Ich heirate meine Familie. Ein bizarres Sehnsuchtsgefühl machte sich breit, als ich Raoul Pecks französische Miniserie L’École du pouvoir (2009) sah. Vordergründig diente der Fernsehabend allerdings Recherchezwecken: Anlass war ein Artikel über die französische École nationale d’administration, den ich Patrick Bahners schon vor Ewigkeiten zugesagt hatte. Diese Kaderschmiede, die nach wie vor einen beträchtlichen Teil der politischen Elite des Landes ausbildet, ist für Filmemacher ein ideales Sujet, um Schönheit und Perversion der französischen Bourgeoisie in Augenschein zu nehmen. Pecks fünf Hauptfiguren gehören dem Abschlussjahrgang 1980 an, der sich den Namen Voltaire gab, und zu dessen Absolventen im sogenannten wirklichen Leben Ségolène Royal und ein gewisser François Hollande zählten. Selbstverständlich befindet sich unter dem Quintett in der Serie auch ein Sprössling des französischen Staatsadels, der Liebesaffären standesgemäß zu beenden weiß, sobald es ernst wird mit dem Erwachsensein: «Je vais me marier avec ma cousine.» 

Droge des Jahres: Kokettamin.

Altert nicht: die analogen Synthesizer von DJ Rex the Dog, der weiß wann – selten – und wie – passgenau und ungerührt – er die Gesangsspuren von Raveklassikern in seine Sets einzubauen hat. 

Was aus dem Ruder lief: die therapeutischen Exzesse der sechsten Staffel von Bojack Horseman. Mensch und Pferd durch Behandlung zurechtzubiegen, ist selbst eine Wahnvorstellung. Die Macher der Netflix-Serie sind zu klug, um das nicht zu wissen, thematisieren das Problem auch, doch gelingt es ihnen nur mit Mühe, sich aus den Schlingen dieser kurativen Logik zu befreien. Die Alternative, die sich vor Beginn der letzten Folge abzeichnet, ist allerdings genauso unbefriedigend: Dem Karma entkommt am Ende keiner. 

Demut: stellt sich beim Japanischlernen ganz von selbst ein. Spracherwerb ohne Treppengeländer: keine Etymologie, an der man sich festhalten könnte, kein vertrautes Alphabet, das ein Mindestmaß an Orientierung schaffen könnte, Sätze, deren Wohlklang spurlos durchs Gehirn zu rauschen scheint. Es ist wie Grundschule. Nur die Einstellung zum Nichtwissen hat sich gewandelt. Wo Neugier war, gedeiht nun Angst, dumm dazustehen – ein unschöner Nährboden für die eigene Idiotie. 

Transatlantisches Auseinanderdriften. Was heißt «cunt»? Welchem schottischen Fußballverein sollten die Herzen zufliegen: den Hearts oder den Hibs? Dass sich Briten und US-Amerikaner in der HBO-Produktion Succession vor allem fremd gegenüberstehen – dieser Vermutung gewinnt Serienmacher Jesse Armstrong mit verstörender Leichtigkeit immer wieder hochkomische Szenen ab. Verbale Attacken sind das einigende Band in Armstrongs Werk: Während der zwielichtige politische Berater Malcolm Tucker aus In the Loop (2009)  im Auftrag der britischen Regierung fluchend durch Washington DC zog, sind in Succession nun die Amerikaner am Zug und lassen keine Gelegenheit aus, sich abfällig über die Gepflogenheiten auf den britischen Inseln zu äußern. Der Ausstoß an wüsten Beschimpfungen bleibt bewundernswert hoch. 

Gelingt vielleicht nächstes Jahr: ein Böllerverbot im eigenen Kopf durchzusetzen. 

 

Anke Stelling

Mehrfach habe ich mich dieses Jahr sagen hören, ich hätte noch nie so viel gearbeitet wie dieses Jahr. Was Quatsch ist, ich hab vor zehn Jahren, als ich auf der Baustelle war und gleichzeitig Gilbert gestillt habe, wahrscheinlich genauso viel gearbeitet, es hat sich nur nicht so angefühlt. Weil ich Care-Arbeit und Bau-Arbeit nicht zu meinem Beruf zähle, was ein Problem ist und Teil der Care- und Wohnbaukrise. Aber das ist ein anderes Thema.

Ich hätte sagen sollen, ich bin noch nie so viel Bahn gefahren und hab noch nie so viele Bücher und Nebenrechte verkauft und bin noch nie vor so vielen Leuten aufgetreten und hab noch nie so viel öffentlichen Zuspruch und Aufmerksamkeit bekommen. Und dadurch auch Geld. Ich hätte sagen sollen, ich hab noch nie so viel umgesetzt.

Lesereisen sind eine einsame Angelegenheit. Zum Glück kann man ein Buch dabeihaben als Gefährten. Zum Beispiel Fliegen von Albrecht Selge, in dem eine Frau statt einer Wohnung eine Bahncard 100 hat. In Männer in meiner Lage von Per Petterson fährt Arvid ebenfalls unentwegt durch die Gegend. Das ist ein bisschen mühsam zu verfolgen; wer kennt sich schon aus im Umland von Oslo? Der Verlag hat diesmal eine Karte in den Umschlag gedruckt. Elvira aus Hippocampus von Gertraud Klemm fährt in einem VW-Bus durch Österreich, um ihre tote Schriftstellerinnenfreundin zu rächen. Sie hat einen dreißig Jahre jüngeren Assistenten dabei, und das ist dann ja auch 2019: Dass es diese Jüngeren gibt, die rufen, sie seien hier und seien laut, weil man ihnen die Zukunft klaut. Jaha, denke ich, willkommen im Club. Und lese Die letzten Kinder von Schewenborn von Gudrun Pausewang, um mich an das Gefühl zu erinnern, das ich hatte, als ich es mit zwölf zum ersten Mal gelesen hab. Report der Magd von Margaret Atwood ist auch wieder äußerst aktuell, und es nützt weder, was zu schreiben, noch nützt es was, nichts mehr zu schreiben.

Ins Kino komme ich so gut wie gar nicht.

Als ich dann doch mal hinkomme und Border von Ali Abbasi sehe, denke ich: Es nützt doch. Und dass ich froh sein kann, dass andere sich die Mühe machen. Und dass ich auch immer weitermachen will.

Ich treffe so viele tolle Kolleginnen.

Lola Randl, Isabelle Lehn, Gertraud Klemm, Heike Geißler, Dilek Güngör, Katja Kullmann, Maxi Obexer, Alexandra Maxeiner, Jacinta Nandi, Kathrin Gerlof (um nur einige von ihnen zu nennen).

Dass ich die alle live und persönlich und innerhalb eines Jahres treffe, mit ihnen reden und mich für ihre Texte bedanken kann, überlegen, was man noch alles schreiben und machen könnte, nein, müsste… Unbedingt will ich mich umgehend mit jeder einzelnen von ihnen zusammentun.

Peinlich ist das. Ich hab nie genug.

Als letzte treffe ich wie jedes Jahr Katja Oskamp: am Pyramiden-Treff auf dem Weihnachtsmarkt am Alex. Da stehen wir und trinken Glühwein; früher gab’s alle Viertelstunde Spülmittelschaumschnee, den gibt’s jetzt nicht mehr. Dafür können wir uns dieses Jahr erzählen, wie wir von außen miteinander in Beziehung gesetzt werden – Marzahn mon amour gilt als Gegenbuch zu Schäfchen im Trockenen. Kann man lustig finden, ich find’s eher lästig. Wir stoßen an auf Schwarzweiß und Ostwest und die groß gewordenen Töchter mit all ihren Vorwürfen.

Ich nehme mir vor, noch mal Mildred Pierce von Todd Haynes zu gucken, weil es da, so erinnere ich mich zumindest, am Ende eine Szene gibt, in der Mildred sich mit ihrem geschiedenen Mann gegen die skrupellose Tochter verbündet.

Ich nehme mir vor, den Generationenbruch nicht nur als Tochter, sondern auch als Mutter hochzuhalten.

Ich habe Angst, krank zu werden und zu sterben.

Dann stellen wir fest (also: Katja und ich) dass wir beide angefangen haben, Schernikau zu lesen. Sex und Kommunismus, sagt Katja zufrieden, und ich sage: Nur noch Ronald M. zitieren in Podiums- und Publikumsdiskussionen – und dann mal sehen, wer noch dagegenhält.

Ich will gewinnen, dabei hab ich doch gewonnen.

Auf einem dieser vielen Podien sitze ich mit Isabell Lorey, und sie redet über die verschuldete Persönlichkeit und wie sie dem Kapitalismus dient. Kein Wunder muss ich mehr denn je arbeiten und mehr denn je betonen, wie fleißig ich doch bin. Damit ich’s verdient habe!, servile Selbstausbeutung ganz nach Isabell Lorey – es ist doch kein anderes Thema, es ist das Thema schlechthin.

Das Buch von Isabell Lorey kommt erst kommenden Herbst, meins hingegen kommt schon im Frühjahr. Ich überhole mich selbst.

Ich sage weiterhin Ich – Ich – Ich, genau wie Witold Gombrowicz, der sich das 1953 schon erlaubt hat. Lebenslange Unreife als Abwehr gegen die sogenannten reifen Formen des Lebens und der Kunst – lies nach bei Wikipedia, hör nach bei Dirk von Lowtzows Im Zweifel für den Zweifel.

Mit dreißig zu sterben ist nicht mehr drin; ich versuche, aufs Verstandenwerden zu verzichten, doch das ist auch nicht drin. Leider.

Madonna sagt, man kann in ausverkauften Stadien vor fünfzigtausend kreischender Fans auftreten und sich trotzdem noch über den einen miesen Kritiker aus Ohio das Gehirn zermartern. Ohio? Arizona. Was auch immer das abgehängte Hinterland der Vereinigten Staaten von Amerika ist, ich werde mich hüten, Bezirksnamen zu nennen, Perspektiven einzunehmen, mich auf Podien zu setzen, Behauptungen rauszuhauen, ich bin müde. Das Jahr ist zu Ende.

Doch es war ein gutes Jahr. Klar war es das! Ein sehr gutes!

Generationsgenoss*innen gibt es viele, und alle feiern ihre Midlifecrisis: She She Pop mit Kanon, Karyn Kusama mit Destroyer, James Gray mit Ad Astra – allein bin ich jedenfalls nicht.

 

Ursula Tax

Jahresrückblick aus dem Buchladen Pro qm in Berlin, meinem Arbeitsplatz seit vielen Jahren, wo es im Jahr 2019 einiges zu räumen gab:

1. Eine neuer Platz und eine neue Sektion mussten her für die ganze Literatur zu Trump, Neue Rechte (auf Englisch gerne «new fascism»), neuem Antisemitismus, 4chan und Populismus. Politik im eigentlichen Sinne hatten wir nie, Bücher dieses Fachs fanden bisher Platz unter «Ökonomiekritik», «Philosophie», oder «Postkolonial/Migration/Grenze».  Das war mit der neuen Literatur nicht mehr möglich. Und so gingen wir unsere Regalbeschriftungen durch, fanden Inspiration in «Katastrophe/Trauma (im städtebaulichen Kontext)», fusionierten diese Sektion mit «Globalisierungstheorie» (längst überholt vom «Planetarischen», siehe unten) und «Kontrolle & Sicherheit» (hier haben wir unsere «drone studies»), und nannten das ganze «Emergency». Eine Verlegenheit, doch den Kundinnen entlockt es ein Lächeln, wenn wir sie auf Anfragen nach Trump etc. dorthin verweisen, und so blieb es bestehen. 

2. Die Medienwissenschaft, lange Regalstiefkind in einem dunklen Winkel der Designabteilung, holten wir endlich nach vorne, sie residiert jetzt prominent an einem Fensterplatz. Das war, Stichwort digital turn, natürlich schon lange überfällig. Doch bis vor Kurzem ging es irgendwie noch: Die Neue Rechte hatte sich auf der Auslagefläche des Philosophietischs noch nicht so breit gemacht, Drohnen u.Ä. kamen zu «Kontrolle/Sicherheit» (später «Emergency»), die affektiven Konsequenzen von «social media» fanden Platz in unserer «Körper und Gefühle»-Sektion, und das Interessanteste zur Algorithmisierung und Robotik landete in unserem «Episteme»-Regal.  

3. Besagte «Episteme» (grob: Wissenschaftsgeschichte) wurde dann aber zum größten Problem. Von Beginn an war das Regal Auffangbecken für alle möglichen neuesten kulturtheoretischen Strömungen. Dieses Jahr ist es allerdings endgültig über- und ausgeschwappt. Schuld daran sind Donna Haraway, der Posthumanismus, und das aus allen Löchern pfeifende Anthropo-/Kapitalozän. Unbedingt empfehlenswert in diesem Zusammenhang das Posthuman Glossary, herausgegeben von Braidotti und Hlavajova, aber Vorsicht: es macht schwindlig! Hier wird wirklich alles, vom kleinsten Partikel und Organismus bis hin zum Größten (Menschheit/Erdsystem/geologische Zeit) behandelt, die Sprünge und Perspektivverschiebungen sind gewaltig. Eigentlich soll es ein Aufruf zu einer neuen Bescheidenheit sein. Die Menschen? – nicht mehr als bedürftige, heterogen zusammengesetzte Teilchen des welt(/all)umspannenden Abhängigkeitsverbunds von Materie und Techno(öko)logien; oder, betrachtet aus der Perspektive des Alls (das ist die Blickumkehr des «Planetarischen»), eine zerstörerische Horde von «smart bacteria». Aber handelt es sich nicht auch ein wenig um diskursiven Einholungs- und Größenwahn? Ein Wahnsinn auch der Wechsel von Katastrophe/Zerstörung/Kollaps hier, und Euphorie ob eines neuen menschlich-nichtmenschlichen Miteinanders und resilienter Wunder der Natur dort. Das Vokabular ist gewöhnungsbedürftig (eine neue Sprache, ja, tatsächlich!), bietet viel Stoff für Polarisierung, aber mit ihm wird gerechnet werden müssen das nächste Jahrzehnt, denn unaufhaltsam breitet es sich aus quer durch alle Disziplinen. (Und generiert auch viel Spannendes wie beispielsweise künstlerisch-forschende Erkundungen des Ozeans und des Winds, Architektur- und Designführer des Mondes, Reflektionen über das Ansichtigwerden des schwarzen Lochs…)

Die Episteme jetzt also auf verdoppelter Auslagefläche. Das reicht aber immer noch nicht, weshalb manches (wie oben erwähnter Ziegel von Glossary) auch im Philosophieregal landet (wir bei Pro qm sind zum Glück alle nicht so streng). Denn der neue Wind bläst kräftig und hinterlässt hier seine Schneisen. Viele ehemalige Philosophiegestirne haben an Glanz verloren (die Mode ist hart!), drehen sich kaum oder gar nicht mehr, mit Ausnahme derer, die Hannah Arendt (seit 2015 ungebrochen nachgefragt) im Regal flankieren und dem kleinen Format folgen. Letzteres, zwischen Reclam und Suhrkamp, mal mehr in die Breite, mal mehr in die Höhe, aber bitte nicht dicker als ein Smartphone!, feierte dieses Jahr seinen endgültigen Durchbruch. 

Wer zahlte bei all den Umräumaktionen dieses Jahres drauf? Leider die, die dem Auge noch etwas Schönes zu bieten hatten, die Mode und die Kunstmonographien. Beides interessierte zu wenig, und beim Geschäft zählt leider jeder Quadratzentimeter. Aber die Mode ist bei uns eh der Diskurs, und die Kunstwelt schreibt und liest jetzt Autofiktion (dazu gibt es ein sehr interessantes Heft von Texte zur Kunst, Nr. 115). 

Die schönste Erinnerung? 

Der Sommer, als unser Philosophietisch voll war von Feminismus und Fred Moten; kein Sammelband mit hanebüchenem Geschlechterproporz weit und breit zu sehen war (auf den Auslageflächen); und mir von den Tischen aller Abteilungen Namen auf und innerhalb der Buchdeckeln entgegenblickten, die auszusprechen ich erst einmal lernen muss. Da geht was vorwärts! 

 

Nicolas Wackerbarth

NE CROYEZ SURTOUT PAS QUE JE HURLE – Ein Traum wird wahr: Gemeinsam aufs Land ziehen, sich weit weg vom überteuerten, gentrifizierten Paris ein neues Leben aufbauen. Doch auf einmal hockst du alleine da. Auf einmal bist du nur noch der einsame Schwule, der pédé, der den abfälligen Blicken der Dorfbewohner ausgesetzt ist. Frank Beauvais reagiert in dieser Lebenssituation konsequent, schließt sich ein und schaut Filme. Viele Filme, mindestens fünf am Tag. Aus den Erinnerungen an diesen Ausnahmezustand montiert er später ein eigenes Werk. Er schreibt einen langen persönlichen Brief und lässt diesen an kurzen Ausschnitten aus Giallo-, Bresson- und Schanelec- Filmen, die nie ein Gesicht, aber viele stumme Gesten zeigen, entzünden. Obwohl es keine formale Parallele gibt, gleicht die Strategie dieses Found Footage-Essays der von Fassbinders Episode aus Deutschland im Herbst. Der eigene Körper wird politisiert, das Ringen mit den inneren Widersprüchen wird durch Hysterie überhöht und die beschämenden Weltnachrichten hämmern permanent an die Haustür. Ein Film, der zeigt, dass Dialektik und Sinnlichkeit keinen Widerspruch darstellen.

PRESENT PERFECT – Wozu sollten Filmemacher*innen überhaupt noch neue Bilder produzieren, wenn riesige Bildvorräte in Archiven liegen oder große Teile der Bevölkerung ihr selbstgedrehtes Material der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen? Die chinesische Filmemacherin Shenzge Zhu lebte eine Zeit lang in Chicago und nahm achtzig Stunden Livestreaming aus ihrer Heimat auf. Dort lassen sogenannte Hosts andere an ihrem Alltagsleben teilhaben. Eine schwere Behinderung (deformierte Füße, Verbrennungen im Gesicht, eine gestörte sexuelle Entwicklung) kann dabei von großem Vorteil sein. Sie beschert dem jeweiligen Host erhöhte Aufmerksamkeit, die mit digitalen Tigercoins entlohnt wird. Die Beliebtheit des Livestreamings ist in der chinesischen Bevölkerung enorm groß. Die voyeuristische Gier der Zuschauer*innen treibt Millionen vor die Bildschirme. Shengze Zhu montiert aus diesem Filmmaterial aber keine Freakshow, sondern reiht auf umsichtige Weise intime Porträts von Menschen aneinander, die am Rand der Gesellschaft leben. Es sind Menschen, denen das Internet eine soziale Interaktion ermöglicht, die ihnen wohl sonst verwehrt bleiben würde. Durch den großen Zuspruch seiner Follower findet ein Host den Mut, sein Leben zu ändern. Er wagt sich aus der sozialen Isolation in die Arbeitswelt und findet dort neue Freunde. Zum Streamen hat er dann kaum noch Zeit.

RUSSIA TODAY – Rauchschwaden liegen in der Luft, die heldenhaften Demonstrant*innen in Hong Kong tragen Gasmasken und schützen sich mit Regenschirmen. Einige von ihnen schießen mit Bögen Pfeile auf die andere Seite der Straßenbarrikade, die in der Nacht kaum zu sehen ist. Ein Molotowcocktail wird entzündet und geworfen. Doch die Flasche mit Benzin zerschellt an einer nahgelegenen Häuserwand. In diesem Moment läuft eine Person aus einem Hauseingang auf die Straße und wird von den Flammen des Molotowcocktails erfasst. Der brennende Mensch läuft weiter. Sie oder er verschwindet in der Menschenmenge der Demonstrant*innen. Die Kamera verliert die brennende Gestalt. Selbst wenn es gelingen sollte, das Feuer zu ersticken, wären noch unfassbar schwere Verletzungen die Folge. Die Demo nimmt weiter ihren Lauf, als ob nichts Einschneidendes stattgefunden hätte. Ich halte den Stream des einstündigen Videos an, spule zurück und schaue mir die Stelle nochmal an. Ich recherchiere im Netz und finde einige Unfälle mit Brandsätzen, bei denen Journalist*innen und Demonstrant*innen leicht verletzt wurden. Aber kein Vorfall entspricht dem, was ich hier sehe. Fotos und Videos haben im digitalen Zeitalter ihre Beweiskraft verloren. Heute ist einem Foto der Zweifel und das Misstrauen eingeschrieben, so Hito Steyerl bei einer öffentlichen Diskussion im Berliner Futurium. Ist dieser Unfall vielleicht ein Fake? Steckt dahinter eine Propagandaaktion mit dem Ziel, die Demonstrant*innen, die selbstlos für Menschenrechte und Meinungsfreiheit eintreten, zu diskreditieren? Technisch wäre das leicht machbar. In den Kommentarspalten von RUSSIA TODAY wird die blinde Zerstörungswut der «Chaoten» ausführlich kritisiert. Jedoch wird dieser Vorfall in keinem Artikel erwähnt oder gar für niedere politischen Zwecke ausgeschlachtet. So sitze ich ratlos zuhause in Berlin vor meinem Laptop. Verstört schaue ich mir immer wieder den Wurf des Brandsatzes und den brennenden Menschen an, der davonläuft und in der Menschenmenge verschwindet.

 

Carolin Weidner

Zehn wichtige Lieder aus Filmen (und einer Serie) 2019

1) The Rhythm of the Night - Corona (aus BEAU TRAVAIL von Claire Denis) Werkschau Claire Denis, Filmmuseum Frankfurt
2) Mamy Blue - Ricky Shayne (aus SHAYNE von Stephan Greene) Berlinale Forum Expanded
3) Some Velvet Morning - Nancy Sinatra, Lee Hazlewood (aus MORVERN CALLAR von Lynne Ramsay) Werkschau Lynne Ramsay, Arsenal Berlin
4) Inspiration - The Creatures (aus JOCKS von Riccardo Sesani) Terza Visione, Frankfurt
5) 5000 Miles - Lui Hill (aus ZDF-Serie DRUCK) Sofa, Offenbach
6) Chinese Choppers - Pray for Rain (aus SID AND NANCY von Alex Cox) Punk Cinema, METRO Wien
7) Put Your Love in Me - Tindersticks (aus LES SALAUDS von Claire Denis) Werkschau Claire Denis, Filmmuseum Frankfurt
8) Kiss from a Rose - Seal (aus MID90s von Jonah Hill), Mal Seh'n Frankfurt
9) Opening Title – Alain Pierre (aus DES MORTS von Thierry Zeno), Pupille Frankfurt
10) Amm ya gammal - altes Zâr-Lied (aus WHERE DID RAMSES GO von Amr Bayoumi) Ismailia, Ägypten

Spotify Playlist

 

Robert Weixlbaumer

Zürichbesuch im April bei Karola, mit Ausflug zum Burghölzli, wo Bleuler schon 1896 Freud und Breuers Schriften für sich entdeckte. Es gibt kein Museum, die Klinik ist in Normalbetrieb. Eine Sekretärin in der Aufnahme fand eine Broschüre zu einer ein paar Jahre zurückliegenden Ausstellung, die die Geschichte der Klinik resümiert hatte, und gab sie uns. Im Patientencafé entdeckte ich Aktuelleres, passend zu den Feiertagen: eine Tageszeitung mit Abbildungen von fabelhaft gewalttätigen, mittelalterlichen Osterhasen-Inkunablen. Hasen mit Schwertern und Henkersbeilen, die Ritter meucheln. Zufällige Vorwegnahme einer Bibliotheksexpedition, die erst ein Dreivierteljahr später begann: Archetypen mit Hasenohren.

Am selben Nachmittag besuchten wir die Villa von C.G. Jung in Küsnacht am Ufer des Zürichsees, die Luxuslage finanzierte seinerzeit seine Frau mit ihrem Industriellen-Familien-Erbe. Neugierde, bei inhaltlicher Distanz. Im ersten Stock finden sich zwei Bibliotheksräume mit Psychologie, Alchemie, Literaturgeschichte der Welt. Jung nutzte die Räume auch für seine Therapiegespräche. Im zweiten, einem Kabuff mit ovalem Sprossenfensterchen und graulackierten Regalen, in dem er auch schrieb, musste ich über die so mutwillige Verdichtung staunen. Nach dem Rundgang durch die offenen Räume des Hauses, frage ich unsere Führerin, ob ich ihren Namen recht verstanden hätte. Eine Jung-Urenkelin, die nach Vorabanmeldung das Haus öffnet, um es damit für die Familie und für die Stiftung zu erhalten. Die sparsamen Kommentare über die zentralen Frauen in Jungs Leben, die sie zuvor gegeben hatte, bekamen im Nachhinein noch einmal eine neue Tönung, aber alles immer noch sehr kontrolliert. Als David Cronenberg für A Dangerous Method anfragte, ob er in Küsnacht drehen könnte, sagte die Familie nein.

Kontrastprogramm: Im Juni noch einmal, im Vorbeigehen, vor Sandor Ferenczis Villa in Budapest, einen Tag nach dem „Soap & Skin“-Psycholog*innen-Ausflug ins Konzertschiff auf der Donau. Hörendes Herantasten an die Bedeutung von „rätselhaften Botschaften“, und vergnügte Regressionen. Überhaupt: Weiter flussaufwärts gab es in meinem 2019 auch die Entdeckung des „Donau-Festivals“ in Krems. Die A.I.-Chöre von Holly Herndon und die verästelten Maskenspiele von Eartheater liefen danach auch im Kopfhörer in der Berliner S-Bahn.

Das Totenschiff im Arsenale-Becken. Es passt nicht in die Erinnerung an den gehetzten Biennale-Rundgang.

Meinen ältesten Film, tausendneunhundertvierzig Jahre alt, fand ich am Vesuv. Das fünfzehn Meter lange Fresko in der Villa dei Misteri in Pompeij erzählt eine geheimnisvolle, irrwitzige Bildergeschichte, die wahrscheinlich eine Initiation in einen dionysischen Kult darstellt und so merkwürdig modern – bis hin zu Blicken der Figuren, die den Betrachter direkt adressieren  – anmutet, dass sich die Phantasie in meinen Kopf schlich, die ersten Restauratoren der 1930 Jahre hätten ihren Zeitstil mit hinein gemalt (oder das Ganze gefälscht).

2019 hat sich so merkwürdig in die Länge und Breite gezogen, dass ich nicht genau weiß, wo das Jahr anfing, und wo es endete. Daten helfen nicht wirklich weiter. Ich habe im Sommer alle Schanelec-Filme mit immer weiter wachsender Begeisterung im Zulaufen auf Ich war zuhause, aber noch einmal gesehen, soviel weiß ich noch. Ich habe eine Erinnerung an Mein langsames Leben (2001) korrigiert, und dann erneut mit Friedas Umzug nach Wien überblendet. Ich erinnere, dass im Literaturseminar im Psychoanalyse-Institut Freuds Idee der „Nachträglichkeit“ eine Hauptrolle spielte. Bei Grabungen im Gedächtnis dürfen wir keine historische Wahrheit erwarten, sondern eine Zeichenkette, die sich stetig und auch mit unserem Nachdenken und Erinnern verändert, und auch immer wieder Verdrängung neu produziert.

Ich habe G. W. Sebalds Austerlitz im Bahnhof von Antwerpen-Centraal weitergelesen, eine Pilgerfahrt. Etwas schwingt nach, wie die Spitzen der Minutenzeiger im Bahnhofsrestaurant an der Großen Halle, wenn sie sich einen Schritt weiter bewegen.

 

Philip Widmann

Yukihiro Takahashis Flashback scheint aus einer Zeit zu kommen, in der sich aus obszönem Überfluss Schönheit gewinnen ließ, und trägt mich durch zwei Monate Residenz in einer als Kulturzentrum herausgeputzten ehemaligen Tabakfabrik im Baskenland. Man weist mir eine von mehreren Holzhütten zu, die die industriellen Dimensionen des Stockwerks in menschliches Maß abteilen sollen. Bezahlte Regression: ich breite dort meine Schätze aus, wie ich das als Kind in aus Tischen und Decken selbstgebauten, nur von mir kriechend zu betretenden Höhlen im Haus der Großeltern gemacht habe. Draußen regnet es meistens, im Kino der Tabakfabrik laufen abwechselnd Claire Denis und Agnès Varda. Denis’ Telefilm U.S. Go Home schließt mich mit den Geheimnissen der Erwachsenenwelt aus der Perspektive des Teenagers kurz.

Je stofflicher die flashbacks, desto phantasmagorischer wirkt dieses Jahr der flash der Beinahe-Echtzeit: am 15. März laufen in einem Café in Baalbek auf einem Fernseher die Bilder der Anschläge von Christchurch, und ich verstehe erst nicht, was da gezeigt wird, bis mir jemand den arabischen Kommentar übersetzt. Am 1. Juli sitze ich stundenlang gebannt vor parallel laufenden live streams, die die Erstürmung des Legislative Council Complex in Hong Kong aus neun (oder waren es zwölf?) verschiedenen Perspektiven zeigen. Nach dem Beginn der Proteste im Libanon am 17. Oktober landen immer neue Bilder von Graffiti aus Beirut auf meinem Telefon. «Down with contemporary art» – mein Favorit – scheint der Ahnung vorzugreifen, dass die politische Bewegung baldmöglichst in Biennalepositionen sublimiert werden wird.

Beim Image Forum Festival in Tokyo kapert Takahiko Iimura seine eigene Retrospektive und stellt die Programmierung auf strikte Chronologie um, was sein forderndes Werk wirklich unerträglich macht. Als Gegenprogramm private Fortbildung zum Kino Okinawas im Tokyoter Büro des Yamagata International Documentary Film Festival. Unverhofft kommt die Einladung, im Archiv des Kawasaki Museum einen Teil des Papierarchivs von Ogawa Pro anzusehen. Keine vier Wochen später setzt der Taifun Hagibis das Museum unter Wasser. Was sich von der großen Sammlung unabhängiger Filmarbeit in Japan, die im Keller des Museums lagert, retten lässt, ist noch unbekannt.

Zurück in Deutschland hinterlassen mehrere Veranstaltungen mit bekannten Namen aus der eigenen Elterngeneration den Eindruck, deren Selbstgewissheit, immer schon auf der richtigen Seite gestanden und die Zeichen der Zeit erkannt zu haben, erfordere dringend eine aktive Moderation, die sie am größeren Maßstab wieder zurechtschlumpft. Dagegen ist das Maß an Übereinkunft zwischen Apparat und Körper, Material und Gegenstand, den Dimensionen von Raum und Projektionsfläche, sowie dem Verhältnis von Vorführ- und Gesprächszeit, wie es Helga Fanderl bei der Abschiedswoche für ihren Raum für Film zelebriert, selten und kostbar. Apropos Dimension: Mir ist nicht klar geworden, in welcher Größe und aus welcher Distanz Vitalina Varela idealerweise zu betrachten wäre. Dass diese Bilder einen definierten Abschluss brauchen allerdings schon; auch im digitalen Kino sollte sich jemand die Mühe machen den Kasch zu fahren. Schließlich kommt das Friedl-Arbeitsbuch heraus. Bei den Vorführungen zur Veröffentlichung im Arsenal haftet seinen Filmen so etwas wie Nostalgie an, als ob darin eine Heimeligkeit versteckt sei, die ich erst jetzt erkenne.

Erinnernswert und ungeordnet: Die Tiefe der Fläche in der Serie Untitled Records des Fotografen Keizō Kitajima. Die anhaltende Aktualität von Ilja Ehrenburgs Das Leben der Autos. Kenah Cusanits Babel. Leo Satos The Kamagasaki Cauldron Wars. Das Label EM Records.

 

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