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Amerikanisches Schrot und Korn Dem Indiewood-Problem ausweichen: Über die Filme von Debra Granik und Matthew Porterfield

Von Michael Sicinski

Winter's Bone

© Anonymous Content | Winter's Bone Productions

 

Einerseits ist es schlampiges Denken, wenn man zu viel Vertrauen in die üblichen Klischees und Topoi setzt; das gilt für die Filmkritik nicht weniger als für andere Felder. Andererseits kommt man nicht um das Faktum herum, dass Gemeinplätze oft genug wahr sind. So sind, nur zum Beispiel, die Brüder Weinstein tatsächlich seelenlose kapitalistische Bastarde, die sich einen Scheiß um die Kunst scheren. (Da passt die Aktion ins Bild, die Originalversion von The King’s Speech aus den Kinos zu nehmen und durch eine bereinigte, familienfreundliche Version ohne die Fluchwörter zu ersetzen. Jetzt sind sie also schon ihre eigene Filiale des in Utah ansässigen Cleanflix-Dienstes.) In ganz ähnlicher Weise ist etwas, worüber Kritiker öffentlich und privat klagen, seit vielen Jahren nichts als die Wahrheit: Die Gewinner des Großen Preises der Jury in Sundance sind entsetzliche Langweiler oder gleich ganz unerträglich. (Noch schlimmer ist allerdings das, was den Talent- Labs entsteigt.)

In den 90ern mag das noch etwas anders gewesen sein, in den Nullerjahren aber hat sich der Anspruch von Sundance, der legitime Repräsentant des «amerikanischen Independent-Kinos» zu sein, als schwer haltbar, wenn nicht sogar als totale Verblendung erwiesen. Wie es bei vielen Ritualen der Fall ist, hat sich das Festival zu etwas entwickelt, das man als Teil eines bestimmten Segments der Film-Community einfach nicht auslässt, den oft hoch dubiosen Resultaten zum Trotz. Klar, keines der großen Wettbewerbsfestivals (Cannes, Venedig, Berlin, Locarno) sollte einzig nach seinen Preisträgern beurteilt werden. Mit großer Verlässlichkeit finden sich die besten Filme in nebengeordneten Sektionen, und was die Jury-Entscheidungen angeht, naja, da kann – wie es so schön heißt – zwischen dem Rande der Lipp’ und des Bechers viel sich ereignen. Aber selbst im Vergleich mit Berlin hat der Sundance-Preis für den Spielfilm eine wirklich lausige Bilanz.

Auf jede Erstlings-Entdeckung zur rechten Zeit – wie etwa Shane Carruths Primer (2004) – kommen unzählige Mediokritäten, die längst zurecht vergessen sind – Girlfight (2000), Personal Velocitiy (2002), Quinceañera (2006), Padre Nuestro (2007). In dieser unwürdigen Periode waren die besten Filme gerade mal mittelmäßig bis okay, bemerkenswert vor allem wegen ihrer zuvor weithin unbekannten großartigen Darsteller/innen: Ryan Gosling in The Believer (2001), Paul Giamatti in American Splendor (2003) und Melissa Leo in Frozen River (2008). Damit bleiben nur zwei bislang nicht erwähnte Jahrgänge: 2005, mit dem Preis für Ira SachsForty Shades of Blue (eine Entscheidung, die ich respektiere, obwohl ich persönlich keinen der drei bisherigen Spielfilme von Sachs mag); und dann die Bodenlosigkeit namens Precious (2009).

Warum diese ganze Geschichte? Es scheint derzeit ein recht weitreichendes Einverständnis darüber zu geben, dass wir eine einzigartige Wiederbelebung des amerikanischen Independent-Kinos erleben, erstmals wieder seit den Hochzeiten des Sundance der späten 80er und frühen 90er. Und zugleich scheint klar: Sundance selbst, dieser schwer bewegliche Dinosaurier, hat kaum noch etwas damit zu tun. Bei aller Einigkeit hat allerdings jeder seine Vorzugsobjekte: die Post-«Mumblecore»-Gruppe (Joe Swanberg, die Brüder Safdie, Kentucker Audley, Todd Rohal, die Brüder Duplass); die «neuen Realisten» (Ramin Bahrani, Kelly Reichardt, Lance Hammer, Ryan Fleck und Anna Boden, So Yong Kim, Bradley Rust Gray), die «alten Realisten» (Sachs, Larry Fessenden, Christopher Münch). Seltsamerweise hat Sundance im vorvergangenen Jahr aber richtig gelegen. Winter’s Bone von Debra Granik ist kein perfekter Film. Anders als alle Gewinner des Großen Preises seit Primer, ist er aber relevant, setzt sich direkt mit tatsächlichen Fragen der Repräsentation im Bewegtbild auseinander und befindet sich im Dialog mit dem größeren Universum des Filmemachens. Im Grund ihres Herzens ist Granik, wie eine ganze Reihe ihrer Independent-Genossen in den USA, eine Regionalistin, allerdings nutzt sie das, um ihre beiden bisherigen Filme in den materiellen Erfahrungen der täglichen Arbeit an spezifischen Orten zu verwurzeln. Dadurch überwindet Granik gerade den Parochialismus, dem so viele ihrer weniger scharfsinnigen Kollegen erliegen.

Winter’s Bone ist eine Art Drahtseilakt, ein Film, der umso eindrucksvoller ist, als er angesichts seiner Ausgangsbedingungen auf viele verschiedene Arten ganz schrecklich hätte scheitern können. Es handelt sich um das Porträt einer bettelarmen Familie weit hinten in Missouri; die Mutter ist komplett neben der Spur, weil sie die Drogen konsumiert, die ihr Mann schon seit Jahren mit seinen Loser-Freunden zusammenkocht. Jetzt ist er verschwunden und die 17jährige Ree (Jennifer Lawrence) begibt sich als De- Facto-Familienvorstand auf die Suche nach ihm. Sonst verliert die Familie das Haus, weil der crank-kochende Herr Papa bei seiner letzten Knast-Entlassung eine Hypothek für die Kaution aufgenommen hat. Graniks Film ist zugleich Charakterstudie und Krimi, er folgt Ree bei der Suche nach ihrem Vater tiefer und tiefer in die verkrochensten Gestalten ihrer gesetzlosen, ultrabrutalen Sippe.

Sie gelangt so in die Hügel des Ozark-Gebiets, das Winter’s Bone als Amerikas ureigenes Südafghanistan schildert – einen Ort, an dem sich grauhaarige Männer mit Gewehren verschanzen und so den Autoritäten entziehen, die es nicht wagen, ihnen dorthin zu folgen, an einen Ort, an dem ein von alten Männern ausgeübtes Stammesgesetz herrscht. Aber die äußere Investigation ist zugleich natürlich auch eine proto-feministische Selbstbewusstwerdung für Ree, die in sich eine Stärke entdeckt, von deren Vorhandensein oder Notwendigkeit sie bis dahin nichts ahnte. (Diese «Verwandten» sind klarerweise genau die Leute, gegen die Ree in ihrem kurzen Leben alle Kräfte in sich versammelt hatte; und während Granik klugerweise das Schlimmste unausgesprochen lässt, ist doch offensichtlich, dass ihr, kann sie für sich und ihre Geschwister das Zuhause nicht retten, kaum etwas anderes bliebe als die Prostitution.)

Graniks erster Film, Down to the Bone, war ein eindrucksvolles Debüt, das schon die Fähigkeit dieser Auteurin bewies, sehr direkt und ohne die mindeste Herablassung auf Frauen in Krisenmomenten zu blicken. Allgemeine Aufmerksamkeit erfuhr der Film in erster Linie als Durchbruch für die Schauspielerin Vera Farmiga; es handelte sich aber ebenfalls schon um ein geschickt gemachtes Porträt einer Person, die von ihren materiellen Umständen zwar geprägt, aber nicht restlos bestimmt wird. Farmiga spielt Irene, eine drogenabhängige zweifache Mutter im Kampf mit den Ups und Downs des Entzugs. In ihrer Arbeiterklassen-Wut und -Entschlossenheit ähnelt die Figur bereits Ree; die eiskalte, tief in die Wirtschaftsdepression gesackte Wüstenei in Upstate New York erscheint als eine Welt, der zu entkommen nicht einfach ist, ohne dass deshalb schon lebenslänglich über die Existenz dort verhängt wäre. In beiden Filmen ist Graniks Umgang mit den Orten, der Gemeinschaft und sogar ihre Mise-en-scène zutiefst materialistisch im marxistischen Sinn, ohne dass sie dabei je didaktisch oder ethnografisch blasiert würde.

Bezeichnend ist die Kameraarbeit in Winter’s Bone, die den Raum und die Landschaft in mehreren nach hinten gestaffelten Ebenen organisiert und dabei beides zugleich flächig hält, so dass Rees Bewegung entlang der Z-Achse zum Maß der Tiefe wird. Dies ist, könnte man argumentieren, ein objektives Korrelat zu Graniks und Anne Rosellinis äußerst literarischem Drehbuch, das mit seinen Monologen und präzise gebauten, oft recht komplexen Satzstrukturen gerade nicht auf die knappe Einsilbigkeit setzt, die das Stereotyp als angemessen für diese geografische Region und das sozioökonomische Stratum vorsieht. Nicht zuletzt deshalb ist Winter’s Bone so ein ungewöhnliches Ereignis innerhalb des amerikanischen Independent-Kinos. Es wäre so einfach gewesen, diese Charaktere entweder zu verspotten oder sie der wohlmeinenden, aber arroganten liberalen «Sorge» zu überantworten. Stattdessen erlaubt Granik ihren Protagonisten, wie schon in Down to the Bone, ihre eigenen Schicksale zu bestimmen, auch wenn sie sich die Bedingungen, unter denen sie das tun, nicht aussuchen können. In Winter’s Bone allerdings erreicht sie dabei eine neue Stufe, bringt ein ästhetisches Formbewusstsein und eine Abstraktion ins Spiel, eine «Verfremdung», die den Figuren des Films eine tatsächliche Würde – Komplexität, Intelligenz, Ambiguität – verleiht anstelle der üblichen, fehlgeleiteten liberalen Klischees

Ob Graniks Triumph (vier Oscar-Nominierungen, allerdings kein Gewinn) dazu führt, dass die Regisseurin jetzt Richtung Indiewood entschwebt, lässt sich noch nicht sagen. In jedem Fall aber scheint mir ihr Werk als Anzeichen eines schlaueren Independent-Kinos in den USA im noch jungen Jahrzehnt zu taugen, eines Kinos, das die einfachen Kategorien und dem Marketing geschuldeten Simplifizierungen zugunsten jener Formen der Aufmerksamkeit für Form und Abstraktion, und jener materialistischen Spezifizität hinter sich lässt, die in den besten Werken des internationalen Kinos in den vergangenen zehn (und ein paar mehr) Jahren sichtbar geworden sind – jener Schwarm von Aktivitäten also, den man in Rumänien, Thailand, Malaysia, den Philippinen, Festland-China und, ja, in Deutschland erlebt. Es gibt mit Sicherheit ein paar ermutigende Zeichen auch hier in den Vereinigten Staaten, so marginal diese Filmemacherinnen und Filmemacher derzeit noch sein mögen.

 

Putty Hill

© The Cinema Guild

 

Die beiden Spielfilme, die der aus Baltimore stammende Matthew Porterfield bisher gemacht hat, sind ungewöhnlich exquisite Beispiele für einen formalistischen Regionalismus, Arbeiten, die, wie die Filme von Granik, das Leben der rasant anwachsenden Unterschichten der USA erforschen, und zwar mit einem entschlossenen Sinn für Poesie. Sein erster Film Hamilton, 2006 entstanden (und benannt nach dem Untere-Mittelschicht-Viertel in Nordost-Baltimore), ist ein in freien Formen gehaltenes Stimmungsstück, das zu gleichen Teilen von Beklemmung und natürlicher Scheu zusammengehalten wird. So etwas wie einen Plot gibt es eigentlich nicht. Stattdessen beobachten wir ein paar entscheidende Tage im Leben der gerade Mutter gewordenen 17jährigen Lena (Stephanie Vizzi) und ihrer Freundin/zukünftigen Schwägerin Candace (Sarah Siepp-Williams). Die beiden kümmern sich um das Baby, während Lena sich Sorgen macht, ob Joe (Christopher Myers), der halb-davongelaufene Kindsvater, sich seiner Verantwortung stellen wird. Im Verlauf dieser emotionalen Spannungssituation zeigt uns Porterfield die tote Zeit, die die Bemutterung eines Babys produziert, das alles in sonnenverbrannt melancholischer Atmosphäre – Kinder auf dem Spielplatz, das Mähen von Rasen, das unbehagliche Queren von Brachland zwischen Vorstadtlokalitäten. Man hat das mit den frühen Arbeiten von David Gordon Green verglichen (damals, als er noch Charles Burnett nachäffte und nicht Danny Leiner), aber Porterfields Beobachtungen des Unterschicht-Habitus sind organischer und weit weniger selbstzufrieden.

Porterfields zweiter Film Putty Hill (wiederum verweist der Titel auf einen Arbeiterschicht-Stadtteil von Baltimore) markiert ziemlich genau dieselbe Sorte Evolution im Vergleich zu Hamilton, wie sie bei Granik mit Winter’s Bone zu beobachten war. Der Regisseur hat sich den losen, poetischen Beobachtungsmodus bewahrt, zeigt Fragmente einer zum größten Teil entrechteten Gemeinschaft, ohne zu urteilen oder falsch zu romantisieren. Zugleich hebt Porterfield das aber auf eine neue Formalismus-Ebene, auf der sich eine Art Befestigungsapparatur für seine offener-Text-Erzählweise bietet. Wie in Hamilton spielen in Putty Hill fast ausschließlich Laien. Der Film ist das Porträt einer Gemeinschaft, die nach dem Drogen-Tod eines Freundes zur Totenwache zusammenkommt. Freunde erinnern sich an ihn, längst weggezogene Familienmitglieder kehren zurück in die Stadt und jene aus dem engsten Zirkel (viele haben ihn kaum noch gesehen nach seinem Knastaufenthalt) fragen sich, was der Verlust – wenn überhaupt etwas – für ihre eigenen Leben bedeutet.

Porterfields riskantester Zug besteht in der Einführung einer partiellen pseudo-dokumentarischen Struktur, in der ein Fragensteller mit den Charakteren direkt in die Kamera Interviews führt. Die Methode ist Lichtjahre entfernt von dem ganzen «Reality-TV»-Scheiß. Ja, Putty Hill ist, so weit ich denken kann, der einzige Film seit den «Counter-Cinema»-Tagen der 70er, der einen direkten Einfluss von Peter Watkins aufweist. Porterfield gelingt mit Putty Hill sogar ein höchst unwahrscheinlicher Hybrid: Watkins trifft auf den späten Van Sant. Und doch, dem klaren Bezug auf diese beiden Größen zum Trotz, gelingt ihm etwas ganz und gar Eigenes. Man kann nur hoffen, dass andere ihre eigenen idiosynkratischen Wege finden, seinem Beispiel und dem Debra Graniks zu folgen.

Übersetzung: ek