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State of the Arthouse (I) Ökonomie: Kleine Sprünge

Von Ekkehard Knörer

Was läuft warum in deutschen Kinos? Über Erfolgsgeheimnisse, den Wandel der Kinolandschaft und Gründe für das Scheitern von Benjamin Heisenbergs Film Der Räuber

© cargo

 

Nackte, sehr nackte Zahlen zu deutschen Flops des Jahrs 2010: Uli Edels Bushido-Film Zeiten ändern dich mit etwas mehr als 500 000 Besuchern. Das sind weniger als beim eigentlich ein paar Ligen drunter erwarteten Weissen Band, das die 600 000 überquert hat, trotz bereits erschienener DVD noch mit sehr vielen Kopien im Kino ist und möglicherweise sogar die in Sachen Haneke traditionsgemäß bislang regelmäßig in weiter Ferne liegenden Zahlen aus Frankreich übertrifft (Klavierspielerin: 263 zu 687 Tausend, Caché: 177 zu 517 Tausend). Weiter im Countdown: Der Jerry Cotton-Film der Constantin (die wirklich kein gutes Jahr hat): ca. 220 000. Detlef Bucks Same Same But Different, mit 150 000 weit unter den Erwartungen – und wohl der Strohhalm, der dem in die Insolvenz gegangenen Delphi-Verleih das Genick brach. Ein paar Zuschauer-Ligen weiter unten in der Besucherzahl-Verlierer-Liste: Lourdes von Jessica Hausner, viel gelobter Teilnehmer am Wettbewerb in Venedig 2009, der die 30 000 nicht schaffte. Und dann Der Räuber von Benjamin Heisenberg, derzeit auf dem dritten Platz im cargo-Rating des Jahres: noch unter 15 000.

Das ist eine erschreckende Zahl für einen Film, der im Berlinale-Wettbewerb lief und dabei ebenso wie beim Start wenige Wochen später äußerst positiv und groß besprochen wurde; für einen Film, den der Münchner Verleih Zorrofilm mit überdurchschnittlichem Aufwand, sogar sauteuren Fernsehspots, bewarb; einen Film, der mit seinen Action- und Genreelementen eigentlich Appeal weit über das Kunstkinopublikum hinaus haben sollte. Und der mit 34 Kopien (in Deutschland) am Startwochenende ein gutes Ausgangsplateau gehabt hätte, um in den folgenden Wochen die vom Verleih erhofften 50 bis 100 Tausend Programmkino-Besucherinnen und Besucher zu finden. Der österreichische Verleih übrigens versuchte es mit einer anderen Strategie und setzte vor allem aufs Multiplexpublikum, dabei auf die Bekanntheit der spektakulären Kriminalgeschichte, die zugrunde liegt, rechnend. Dieselbe Katastrophe, die Multiplexsäle blieben gähnend leer.

Es ist wohl kein Trost, dass auch andere hymnisch gelobte Festivalerfolge in diesem Jahr unterirdische Zahlen abliefern: Jacques Audiards Ein Prophet, in Frankreich ein Millionenrenner mit doppelt so vielen Besuchern wie Das weisse Band, kam, obwohl von Sony herausgebracht, über das untere Ende der Fahnenstange nicht hinaus und bewegt sich in unmittelbarer Nähe der Räuber-Zahlen. Alain Resnais’ Herbes Folles steuert auf denselben Bereich zu und ist bei Boxofficemojo nach drei Wochen schon aus der vierzig Filme umfassenden Liste gefallen. Werner Herzogs Bad Lieutenant hat das Licht deutscher Leinwände nur kurz erblickt, dann war er, von kaum mehr als 5 000 Besuchern gesehen, schon wieder weg. In letzterem Fall, aber wirklich nur in diesem, liegt man mit der Vermutung wohl nicht falsch, dass es sich um eine gezielte Lieblosigkeit von Verleiherseite handelte. 

Von wegen Markt

Wie erklären sich aber die Zahlen für den Räuber, für Lourdes, für die Filme von Audiard und Resnais? Oder: Wer erklärt sie mir? Am ehesten wohl die Verleiher. Also habe ich, die Räuber-Zahlen zum Leitfaden nehmend, deutsche Arthouse-Verleiher zur Situation von Festivalfilmen, Programmkinos und Arthouse-Publikum in Deutschland befragt. Björn Koll, Chef des kleinen und sehr engagierten, auf Schwul-Lesbisches konzentrierten Verleihs Salzgeber, zuckt zunächst einmal nur mit den Achseln: Flops sind die Regel, nicht die Ausnahme. Das war dann eben ein besonders schlimmer Flop. Dass der Markt grundsätzliche Probleme hat, leugnet er allerdings nicht. Eines der größten sieht jeder, der auf die wöchentlichen Startlisten blickt: Zehn neue Filme pro Woche sind längst keine Ausnahme mehr, in der ersten Juni-Startwoche waren es gar vierzehn. Und das ist, wie jeder, mit dem ich spreche, sofort einräumt, entschieden zu viel. «Wir bewegen uns da inzwischen tatsächlich auf recht dünnem Eis», meint Manuela Stehr, Chefin bei X Verleih, wo man mit dem Weissen Band von Michael Haneke gerade den größten anzunehmenden Arthouse-Glücksfall (s. oben) im Haus hat. «Dies liegt einmal an der Umrüstung auf 3D-Leinwände, wofür viele herkömmliche 2D-Leinwänden wegfallen, weiterhin die Vielzahl amerikanischer 2D-Filme und dann auch noch die Majors mit den deutschen Ko-Produktionen, und das alles bei einem generellen Leinwand-Rückgang.»

Ein Problem ist die Vielzahl der wöchentlichen Starts auch deshalb, weil eine solche Anzahl die Aufmerksamkeit massiv streut. Die Feuilletons, die oft stark an der Startaktualität hängenden Filmzeitschriften, erst recht die Stadtmagazine wie in Berlin (wo dann auch tatsächlich die meisten der Filme wirklich starten) «zitty» und «tip», sehen sich genötigt, so wenig wie möglich davon ganz unter den Tisch fallen zu lassen. So verliert noch die interessierteste Leserin den Überblick, den auch der Redakteur und die Kritikerin nicht mehr hat. Die wundersame Filmvermehrung hat mehr als einen Grund – die deutsche Filmförderung ist aber nicht der unwichtigste. Einen signifikanten Teil der Schuld trägt dabei der im Jahr 2007 von der Bundesregierung aufgelegte und unlängst um drei Jahre bis 2012 verlängerte Deutsche Filmförderfonds (DFFF). Im Prinzip eine gute Sache, da sind sich alle eigentlich einig. Der DFFF-Anteil an den geförderten Filmen macht im Schnitt 16 bis 20 Prozent der Finanzierung aus, eine willkommene Ergänzung für jedes Budget. Und im Grunde ist, auch das ist daran sehr erfreulich, alles förderbar, von ganz kleinen bis großen Filmen, Dokumentarfilme etwa ausdrücklich auch.

Ein Markt in irgendeinem ernstzunehmenden Sinn war der deutsche Filmbetrieb auch vorher schon nicht. Der größte Player im Förderzirkus war und ist die Filmförderungsanstalt (FFA), in die Produzenten, Verleiher, Kinos und Fernsehsender einzahlen – teils freiwillig, teils zwangsweise und der schon eine ganze Weile wogende Streit, der jetzt den Haushalt fürs nächste Jahr stark gefährdet, erreicht manchmal sogar die Meldungsspalten der Zeitungen. Ebenfalls von großer Bedeutung sind die dem deutschen Föderalismus gedankten Institutionen wie, um die beiden größten zu nennen, die Filmstiftung NRW und das Medienboard Berlin-Brandenburg. Sie binden die Förderung (von Drehbuch, Produktion, Verleih) nicht an nationale Produktion, sondern daran, dass für jeden Euro, den sie geben, eine größere Summe jeweils wieder im Bundesland bzw. den Bundesländern ausgegeben wird. Gezielt und ausdrücklich also sehr viel weniger Kultur- als föderale Wirtschaftsförderung, mit der es zum Beispiel auch gelang, Quentin Tarantino mit Inglorious Basterds nach Babelsberg, Lars von Trier mit Antichristin die Wälder Nordrhein-Westfalens und Olivier Assayas mit Carlos – Der Schakal ins schöne Sachsen-Anhalt zu locken.

Ein wichtiger Posten bei der FFA ist die so genannte Referenzförderung: Zuschauererfolge erhalten ab 50 000 Zuschauern eine Gratifikation, in Höhe von 50 Cent pro Besucher für die Produzenten, von 15 Cent für den Verleih. Wenn der Film, wie zum Beispiel Der Räuber, auf einem A-Festival gelaufen ist, sinkt die Schwelle auf 25 000. Denen, die Erfolg haben, wird gegeben. Während also die Constantin, der dickste Fisch im deutschen Teich, einerseits im Misserfolgsfall keine Fördergelder zurückzahlen muss, bekommt sie, wenn ein Film läuft, bergeweise Kohle obendrauf. Ein kleiner Verleih wie Salzgeber allerdings, der solche Besucherzahlen gar nicht anstrebt, geht, das liegt in der Logik der Sache, meist leer aus – obwohl er wie jeder andere in die FFA einzuzahlen verpflichtet ist.

Allmacht des Fernsehens

So hatte, um ein hier interessierendes Beispiel zu nennen, der von Salzgeber verliehene Tropical Malady von Apichatpong Weerasethakul etwas mehr als 5 000 Besucher. Weil die Weltvertriebe bei Festivalerfolgen oft völlig unrealistische Preisvorstellungen haben, erreichen Filme wie dieser die deutschen Kinos entweder nie oder oft mit großer Verspätung: Erst bei stark gesunkenen Preisen greift ein dann meist immer noch mutiger Verleih zu. Es ist kein Zufall, dass der sowohl strukturell als auch finanziell viel stärker subventionierte, nach wie vor von einer viel weiter verbreiteten Filmkultur getragene französische Markt sich da aus deutscher Sicht als besonders problematisch erweist. Dass der Kontakt zum nach wie vor bedeutendsten europäischen Filmland beinahe abgeschnitten ist, liegt nicht nur (aber auch) am deutschen Publikum, das für Benoît Jacquot wieder – und für Arnaud Desplechin oder Alain Guirau die überhaupt erst einmal zu gewinnen wäre, liegt nicht nur (aber auch) an deutschen Verleihern, die da zu wenig Leidenschaft entwickeln. Es liegt aber eben nicht zuletzt an einer Ökonomie, die für einen Markt wie den Deutschen nicht gedacht ist und auch nicht funktioniert. Der deutsche Markt nämlich ist längst in zwei Teile zerfallen: Hollywood auf der einen und der mit viel Fördergeldliebe Richtung dreißig Prozent Marktanteil gepäppelte deutsche Film auf der anderen Seite. Dazwischen ist für amerikanisches Independent- und europäisches Kunstkino immer weniger Spielraum. Der asiatische Film hat dann noch einmal ein Zusatzproblem: «Die Deutschen», sagt Prokino-Verleihchef Stephan Hutter, «sind verdeckte Rassisten. Sie schauen sich ungern Filme mit Menschen, die fremd aussehen, an. Das gilt für Schwarze genauso wie für Asiaten. Im Vergleich mit Frankreich merkt man das etwa ganz gewaltig. Selbst die asiatischen Filme von Wong Kar-Wei laufen viel schlechter hierzulande als z.B. in Italien oder Frankreich.» Und während es aus Brüssel immerhin noch Verleihförderung für europäische Filme gibt, braucht es für (echte) amerikanische Indies wie für Filme aus Asien – von Afrika ganz zu schweigen – auf Verleihseite fast schon tollkühne Überzeugungstäter. Andererseits steht Deutschland mit dieser Abschottungstendenz nicht allein da: ein Rückgang der Importe, die Fokussierung auf die national oft massiv geförderten einheimischen Produkte sind in den USAund Europa unübersehbar. In den USA beträgt der Anteil der in den Statistiken längst in einen Topf geworfenen «foreign films» gerade noch 0,75 Prozent am Gesamtmarkt. Deutsche Filme verkaufen sich allerdings noch einmal überdurchschnittlich schlecht ins Ausland. (Zusatzpointe allerdings: Hollywood ist gerade durch den Räuber auf Benjamin Heisenberg aufmerksam geworden. Nicht nur verkauft sich der Film gut ins Ausland - Heisenberg hat inzwischen auch einen amerikanischen Agenten und bekommt jede Menge Drehbücher zugeschickt.)

Für deutsche Filme kommt, diese kleine Schleife muss sein, als ziemliches Elend dazu, dass ohne Koproduktion eines deutschen Senders so gut wie kein Film mehr entsteht. Das Elend besteht dabei darin, dass die ästhetischen Vorstellungen noch der avanciertesten Fernsehredakteurinnen ihre Grenzen haben. Die Unterstützung durch die anderen Förderinstitutionen ist durchweg an die Fernsehkoproduktion gebunden, so wie umgekehrt das Fernsehen auch fast ausnahmslos keine von ihm nicht koproduzierten deutschen Filme mehr ausstrahlt. Die Preise für die wenigen anspruchsvollen nichtdeutschen Filme, die überhaupt noch angekauft werden, sind längst so weit im Keller, dass kein Verleih damit noch einen Einkauf absichern kann. Immerhin gibt es leise Anzeichen dafür, dass die massive Kritik an der Qualität der anstaltsgeförderten Kino-, Amphibien- und Fernsehhybride ein wenig Wirkung zeigt. Aktuell ist die sehr engagierte BR-Filmredakteurin Bettina Reitz als Vize-Chefin für die nicht völlig zu Unrecht als Weichspülladen verrufene, schwerreiche und sehr mächtige ARD-Filmeinkaufsorganisation DEGETO im Gespräch als qualitätsbewussteres Gegenstück zum bekennenden Populisten Jörg Klamroth. (Bleibt immer noch Reinhard Elschot beim ZDF, der sehr überzeugend den Part des Fernsehspielchefs als Filmkunstfeind gibt.)

Insgesamt ist das eine unendlich verfilzte Welt der Abhängigkeiten, in der oft genug die Qualität von Drehbüchern, das Können von Regisseurinnen und die künstlerische Ambition eines Projekts von Nachteil und nicht von Vorteil sind, eine Welt der kleinen Könige, die von Produzenten umschmeichelt werden wollen, eine Welt, in der Projekte auf lange Bänke geschoben werden und, das ist keineswegs die Ausnahme, von einer ersten Idee bis zur Fertigstellung eines Films, fünf, sechs, sieben Jahre vergehen, mit den erwartbaren Folgen für den Gegenwartsbezug der Projekte; eine Welt, in der ein wirtschaftsförderungstüchtiger Filmstiftler wie Dieter Kosslick in die Position des künstlerischen Leiters der Berlinale geschoben wird, mit den ebenfalls absehbaren Folgen. Eine Welt übrigens auch, in der Klaus Lemke, der seine Filme seit Jahren ungefördert und entsprechend extrem billig herstellt und dann, ein Wunder ist’s, ans Fernsehen verkauft, eine echte Singularität darstellt. Oder, anderes Beispiel: Jan Krüger hat seinen ziemlich tollen Rückenwind für 45 000 Euro (mit etwas Förderung vom Medienboard) gedreht, ohne Sender im Rücken. Das sind natürlich komplett andere Ökonomien, die immer auch auf Selbstausbeutung beruhen – andererseits sieht man, was im Prinzip eben doch geht.

Schleichwege zur Staatsknete

Zurück zum DFFF. Eine Förderbedingung unterscheidet ihn deutlich von allen anderen Institutionen: Geld gibt es nämlich nur, wenn der Produzent die Garantie eines Verleihers mitbringt, dass das Werk mit – im Regelfall – dreißig Kopien in deutschen Kinos gestartet wird. Das war die Reaktion auf die Tatsache, dass zuvor ein erschreckend hoher Prozentsatz der hier und da und dort geförderten Filme niemals in die Kinos (und auch nicht ins Fernsehen) kam und so als ins Leere hinein produzierter Förderabfall und Ausweis sinnlos verschwendeter Gelder in den Statistiken sehr schmerzlich und dafür nirgendwo sonst auftauchte. Weil Bürokraten aber von Statistiken mehr verstehen als von ästhetischer Qualität, wird mit dieser DFFF-Klausel nun auch diese oft minderwertige Ware Woche für Woche in die Kinos gedrückt. Es handelt sich dabei um alles andere als negigable Quantitäten. In Zahlen: Der DFFF fördert seit Bestehen im Schnitt hundert deutsche Filme im Jahr (99/99/104, um genau zu sein), macht also rund zwei pro Woche in deutschen Kinos. Auf der Website kann man das alles nachlesen und sieht, dass der DFFF seine Förderfinger in den Keinohrhasen (6,1 Mio Besucher) ebenso drin hat wie in Andreas Morells Unschuld, dessen 399 Besucher deutlich belegen, dass man auch unter der neuen Verleihklausel Filme vom Publikum weitestgehend unbemerkt entsorgen kann. (Staatsknete produziert Schleichwege, wie immer so auch hier.)

Benjamin Heisenbergs Räuber jedoch wollte niemand entsorgen. Er wurde liebevoll gefördert und produziert und verliehen, er ist ein aufregender und packender Film, was die Kritik erfreulicherweise ebenso sah; er kam also, sah – und stürzte ab. «Ich habe keine andere Erklärung: Die Leute wollten den Film einfach nicht sehen», meint Michael Seidel vom Räuber-Verleih Zorrofilm. «Ein Hauptdarsteller, mit dem der Zuschauer sich nicht identifizieren kann und der unsympathisch ist, ist ein Problem», meint Manuela Stehr vom X-Verleih. Stephan Hutter von Prokino ergänzt: «Das Label ‹Berliner Schule› hilft sicher nicht.» Die unter dem Label versammelten Filmemacherinnen und Filmemacher haben da, findet er, eine echte Gelegenheit versäumt. Es hätte durchaus gelingen können, das junge deutsche Kino in der Werbung als hippe Marke zu verkaufen, wenn man frühzeitig in die Offensive gegangen wäre (wie z.B. bei Dogma aus Dänemark).» Inzwischen gehe das aber völlig nach hinten los. «Bei ‹Berliner Schule› denken die Leute: das wird anstrengend, da bekommt man schlechte Laune», so wieder Seidel.

«Und für ‹anstrengend› gibt es kein Publikum mehr? Antonioni war doch auch kein Spaßregisseur.» Seidel: «Nein, das ist eine ganz klare Entwicklung. Eine Kinokultur, wie es sie seit den Sechzigern und Siebzigern gab, ist fast völlig verschwunden. Da wächst, wie es derzeit aussieht, auch nichts nach. Das gilt auch für die Kinobetreiber, mit ganz wenigen Ausnahmen.» Auf rund 70 Programmkinos beziffert Manuela Stehr die Zahl der für wirkliche Arthouse-Filme in Frage kommenden Spielstätten in Deutschland. Leidenschaftliche Kinomacher alter Schule, die für einen Film trommeln, die sehr gezielt und aus Überzeugung ein Publikum für das Segment heranziehen, kann Werner Fuchs von Zorrofilm fast an einer Hand abzählen. Weite Landstriche veröden völlig, nicht einmal Universitätsstädte sind mehr per se gutes Arthouse-Gebiet. Es kommt dazu, dass es in den Großstädten nicht selten Arthouse-Oligopole gibt, wie die Kinos der Weber-Brüder in Nürnberg, einer vergleichsweise sehr cinephilen Stadt, oder in Berlin die Yorck-Kinos mit rund einem Sechstel des Berliner Gesamtumsatzes: Wenn ein Film da nicht reinkommt, hat er ein großes Problem. (Was nichts daran ändert, dass es Georg Kloster und seiner Yorck-Kette schon länger alles andere als gut geht.) Stephan Hutter, zum selben Thema: «Die Jungen gehen nur noch in die Multiplexe, Programmkino erscheint ihnen eher als Seniorenveranstaltung. Was man bräuchte, wäre etwas dazwischen, Orte, an denen sich junge Leute wohlfühlen, die nicht nur die Hollywood-Blockbuster sehen wollen.»

Eine Ausnahme in mehr als einer Hinsicht war dabei ausgerechnet Alle Anderen, den Prokino mit beträchtlichem Erfolg (mehr als 170 000 Besucher) ins Kino brachte. Zum einen hat Hutter dabei ganz sicher nicht auf das «Berliner Schule»-Label gesetzt. Und während er in der Branche den Ruf eines Mannes mit hervorragendem Riecher genießt, hat er an den Erfolg von Alle Anderen zunächst nicht geglaubt: «Wir wollten mit Maren Ade arbeiten, weil uns ihr Erstling gefiel. Das Drehbuch zu Alle Anderen hat uns, das muss ich ehrlich sagen, dann aber erst einmal ratlos gemacht. Einhellige Reaktion: ‹Was haben die denn für dröge Probleme? Und muss es wirklich eine italienische Insel sein?› Wir haben aber sehr schnell gemerkt, dass der Film bei den Dreißigjährigen einschlug. Darauf haben wir die Werbung dann ausgerichtet.» Im Grunde verbirgt sich hinter dem Erfolg aber auch ein Phänomen, das in die Reihe der bisher beschriebenen Probleme passt: «Die Leute gehen fast nur noch nach Themen. Darum konnte man das als Beziehungsfilm, in dem eine Generation sich wiedererkennt, entsprechend gut verkaufen.» Es sei darum außerordentlich wichtig, so Hutter, dem Film bei der Vermittlung, und das reicht von den Presseheften bis zur Kommunikation mit Kinobetreibern, den richtigen Spin zu geben. In der vermutlich nicht allzu kruden Übersetzung heißt das: Sin Nombre als Migrationsfilm: tödlich. Bandenfilm à la City of God: Treffer.

Die Macht der Filmkritik

Und Filmkritiken, Presse? Hat das nicht einmal im Arthouse-Bereich noch Wirkungen auf die Besucherzahl? Die Antwort auf die Frage fällt etwas differenzierter aus, als man als defätistischer Kritiker manchmal denkt. Die Multiplex-Filme sind, das versteht sich von selbst, weitestgehend kritikresistent. Wenn aber, erklärt Manuela Stehr, die Kölner Zeitungen einen X-Film völlig ignorieren, dann wird es schwer. Stephan Hutter dazu: «Wie sich die Süddeutsche Zeitung verhält, das merken wir in München durchaus an den Zahlen. Die Frankfurter Allgemeine dagegen schon nicht mehr.» Und Kinomacher wie das cinephile Kollektiv vom Berliner FSK-Kinos sind auf große positive Besprechungen tatsächlich angewiesen: «Es gibt gute Filme, die noch so interessant sein können, wenn da nicht z.B. diese ganze Seite oder zwei Seiten im ‹tip› kommen, die gehen unter. Die können noch so gute Besprechungen bekommen, diese kleinen viertelseitigen, es wird nicht laufen, weil du diese zwei Seiten brauchst, den Aufmacher überall, damit die Leute überhaupt kommen.»

Und manchmal, wie beim Räuber, hilft auch das nicht. Der nämlich lief auch im FSK deutlich schlechter als erwartet, obwohl das mit seinem sehr kleinen Peripher-Verleih die Filme von Angela Schanelec oder Thomas Arslan in die Kinos bringt und also eine große Affinität zur Berliner Schule hat. Bleibt also wirklich nur die Erklärung, dass der Räuber die Leute abgeschreckt hat, bevor sie ihn sahen? Die unsympathische Hauptfigur? Die Ahnung, dass es kein Spaß- und auch kein gefälliger Arthouse-Film ist? Oder war es dann doch einfach der Starttermin, wie Stephan Hutter vermutet? Weil nämlich viele deutsche Filme mit Ambitionen sich auf die Filmpreis-Deadline Ende März konzentrieren und sich daher alles in den ersten Monaten des Jahres, erst recht nach der Berlinale ballt. «Es gibt bei der Fülle der Starts keine guten Termine mehr», stellen die Zorrofilm-Macher Seidel und Fuchs dagegen etwas resigniert fest. «Oder sollen wir während der Fußball-WM starten? Das wäre reiner Selbstmord.» Trotz des ziemlich katastrophalen Flops mit dem Räuber finden sie den Film übrigens immer noch toll. «Der ganze Entstehungsprozess, in den wir früh eingebunden waren, war die reine Freude. Das ist nicht immer so.» Ob sie noch einmal einen Film von Benjamin Heisenberg verleihen würden? «Jederzeit. Und als nächstes macht er ja eine Komödie.»