spielfilm

Nachkommenschaften Über zwei Hausfilme von Arnaud Desplechin

Von Daniel Eschkötter

Un Conte de Noël (2007)

© Why Not Productions / Wild Bunch

 

Olivier Assayas’ Film L’heure d’été (2008) bringt eine Familie ein letztes Mal an einen Gartentisch, an einen Tisch im Garten der Mutter, der früher dort schon genauso stand. Es geht um Perspektivisches, um den Blick auf beide Tische, den heutigen und den vergangenen; darum, wie man mit den Karten, Bildern, Dingen der Vergangenheit die Gegenwart noch begehen, bewohnen kann. Nach dem Tod der Mutter wird ausgehandelt: Was wird behalten, verteilt, versteigert, verkauft, dem Museum überlassen. Assayas zeigt das Pragmatische und das Schmerzhafte dieses Aushandelns. Am Ende ist das Landhaus ausgeräumt, wird von den jugendlichen Enkeln noch einmal mit einer Party, mit Gegenwart gefüllt – L’heure d’été ist ein lichter Film.

Die letzten Filme Arnaud Desplechins, die Dokumentation L’Aimée (2007) und der Spielfilm Un conte de Noël (2008), nehmen sich aus wie eine große Parallelaktion zu Assayas’ Film, eine Parallelaktion in zwei Büchern und mehreren Kapiteln; man findet sie jetzt, extralos, auf einer britischen DVD vereint. Es sind Filme des Nachhausekommens, Familienfilme, Erbfilme, Hausfilme.

Assayas und Desplechin, sie sind zwei cinephile Hauptakteure des französischen Gegenwartskinos, zwei Regisseure mit, gemessen an ihrem Output, einem ähnlichen Arbeitsrhythmus, europäische Produktionstaktung. Ihre Kontaktzone sind Akteure des französischen Gegenwartskinos: Schauspielergenerationen, vom unvermeidlichen Mathieu Amalric, den Desplechin eingeführt und als Großstar des französischen Kinos etabliert hat, bis zu dem jugendlichen Emile Berling, der in den jüngsten Filmen als Pierre und Paul durch die Häuser der Großmütter geht. Sie teilen sich einen Kameramann, Eric Gautier, der jeweils direkt hintereinander, als handelte es sich um ein Folgeverhältnis, Assayas’ Les destinées sentimentales und Desplechins Esther Kahn (2000), Clean und Rois et reine (2004), L’heure d’été und Un conte de Noël photographiert hat; eine Bildgestaltung teilen sie nicht. Assayas und Desplechin sind zu ungleich, auch ungleichgewichtig, um echte Antipoden zu sein, und doch durch einige Verfahrensgegensätze grob charakterisierbar: Was bei Assayas als Stilreduktion und stetige Neuerfindung, als Entfaltung begegnet, das ist bei Desplechin Mäanderung, Streuung, Überdeterminierung, was bei Assayas ins Globale tritt, ist bei Desplechin in der Dingwelt geborgen.

Eine für das französische Kino der Gegenwart sehr wichtige Produktionsfirma, geleitet von Pascal Cocheteux, heißt Why Not. Sie hat Filme von Lanzmann produziert, von Philippe Garrel, von Xavier Beauvois und anderen. Und alle Filme Desplechins. Kein französischer Gegenwartsregisseur hat diesen Namen, hat das Warum nicht?, so sehr zum Programm gemacht, keiner lässt seine Filme so kontrolliert-delirant oszillieren, wechselt die Tonarten so abrupt, so virtuos. Ein Kino der Ab- & Ausschweifung, ein großzügiges Kino. Contes, das sind Desplechins Filme alle, tragisch, komisch, aus einer um ein weniges ver-rückten Welt und doch vollkommen gegenwärtig, Geschichten von Komplikationen und Kontaminationen der Abstammung, Nachkommenschaften, verrückte Genealogien. (Als «délire généalogique» hat Emmanuel Burdeau Desplechins Kino anlässlich von Un conte de Noël charakterisiert. – «Family isn’t a word, it’s a sentence.» Das ist die Tagline eines anderen, von Desplechin verehrten und zitierten Hausfilms, Wes Andersons The Royal Tenenbaums. Um diese Syntagmatik ist es durchaus beiden zu tun.)

Genealogisches Begehren

In Un conte de Noël spielt das Blut tatsächlich verrückt. Die erste Szene ist eine Grabrede, in der, mit Worten Ralph Waldo Emersons, ein Vater, Abel Vuillard, gespielt vom kürzlich verstorbenen Jean-Paul Roussillon, seinen mit wenigen Jahren an Blutkrebs gestorbenen Sohn Joseph verabschiedet. (Abel Vuillard, so hieß auch schon Roussillons Figur in Rois et reine: Desplechins genealogisches Kino nimmt die Namen auf, verteilt sie neu.) Vor der Einblendung des Filmtitels, der «Roubaix!», den Namen der nordfranzösischen Heimatstadt Desplechins wie einen Untertitel führt, erzählen ein Scherenschnitttheater und die Stimme einer Frau, der Tochter Elisabeth, die Geschichte Josephs, des ersten Sohns, der nicht zu retten war. Später eine Familienvereinigung zu Weihnachten, dank ihrer Krankheit, so sagt es Catherine Deneuves Junon Vuillard, die Mutter, dabei gehend, die Kamera adressierend wie einen Besucher, dem sie das Haus vorstellt. Auch sie hat diese seltene Form von Leukämie. Eine Knochenmarkspende kann ihr Leben verlängern. La greffe, die Transplantation und die Möglichkeit der Produktion einer Chimäre reizen den Film in seinem mythischen und genealogischen Begehren, aber das große politische Register, etwa des inneren Feindes, wie es Jean-Luc Nancy anhand seiner Herztransplantation in L’INTRUS skizziert und wie es Claire Denis in ihrem gleichnamigen Film von 2004 ins Globale gewendet hat, das interessiert ihn nicht.

Kompatibel sind der Enkel Paul und Mathieu Amalrics Henri, der zweite Sohn, gezeugt, um Joseph am Leben zu halten. Seine Schwester Elisabeth, Pauls Mutter, hat ihn verbannt; und genauso wenig wie bei Emmanuel Devos in Rois et reine wird man ausmachen können, ob er ein Schurke, ein Teufel ist oder die Schwester etwas strapaziös. Zu Weihnachten im Haus in Roubaix, von dem ein Miniaturmodell irgendwo in einem Zimmer steht, kann fast alles passieren; und bei Desplechin ereignet sich immer viel, immer fast alles, kleine Wunder, große Gemeinheiten, Infamien. Und dazwischen Straßen von Roubaix, Stadtminiaturen.

Auch das Wie des Ereignens, seine filmische Fassung zielt auf Alles. Immer mehr werden Desplechins Filme zu Enzyklopädien dessen, was der Filmtheoretiker Christian Metz als ‹unpersönliche Enunziation› kartografierte: mit verschiedenen Modi von Adressierungen und Off-Stimmen, Inserts und Kapitelüberschriften, Spielen im Spiel. Oft nutzen sie die Irisblende, als Fokussierungs- und Blicklenkungsmittel, als Erzähleröffnungsmarker. Ihr Arrangement ist von einer maximalen Fluidität, mit avanciertesten Irritationstechniken: minimalen Jump Cuts zwischen verschiedenen Takes und viel später gedrehten Gegenschüssen, mit Überblendungen, Abblenden und einer Kamera, die immer in Bewegung scheint, eher rastlos, getrieben, denn hektisch; sie will schon wieder weiter, zur nächsten Figur, zur nächsten Geschichte. Und auch die Musik hält nicht an sich, bricht ab, setzt neu an, Modern Jazz, Rap, orchestrale Filmmusik, Angespieltes, oft integriert in das Handeln der Akteure, immer stilsicher und doch zu untermarkiert, um mit Bedeutung einzuseifen.

Die Räume sind zugestellt wie die Filme selbst, sie überführen Bild- in Innenarchitektur und vice versa. Und doch artikuliert sich in den Szenen immer mehr als die Virtuosität ihrer Arrangements und die Mannigfaltigkeit ihrer Referenzen, an deren Aufgehen die Filme ostentativ desinteressiert scheinen. (Wie bei Wes Anderson ist ihre Mythologie des Alltags eine idiosynkratische, private.) All diese Verfahren installieren Modelle verteilter Handlungsmacht; wie die Figuren und mit ihnen tragen sie aus, in wessen Geschichte, in welchem Mythos, welchem Film man sich befindet. Die damit immer in Frage stehende Erzählsouveränität ist in UN CONTE DE Noël an das Vermögen zu reparieren gekoppelt. Alles wird repariert, geheilt sein, sagt die Stimme der unversöhnlichen Schwester zum Schluss, mit einem entlegenen Zitat der Comtesse de Ségur.

Desplechin macht Gespensterfilme, von Anfang an. Sie sind meist taghell. In ihnen sprechen Figuren von jenseits des Grabes, überträgt sich ein Familiengeheimnis als Phantom, wird der Cousin der Geschwister aus der Weihnachtsgeschichte durch eine aufgegebene Liebe zum Wiedergänger. Den geliebten abwesenden Frauen gewidmet ist auch L’Aimée, ein forschender, intimer Film, aus dem Reich der Toten. In Roubaix, in einem Haus in Roubaix liegt dieses Reich. Desplechin sucht es auf, er besucht seinen Vater in einem Haus der Familie, das wie das Landhaus in Assayas’ Film nun aufgegeben, ausgeräumt wird, sich im Verlauf des Filmes leert, um in und mit Bildern momenthaft wiederzuentstehen in UN CONTE DE Noël. So wie er sich für Rois et reine großzügig beim Leben einer ehemaligen Lebensgefährtin bedient haben mag, so wie die Namen und Konstellationen durch sein Werk wandern, so hier die Bilder, die Personen, wie Roseaimée, die Lebensgefährtin der Mutter Abels, die Großtante Desplechins.

Ein Liebesdienst

Der Film bzw. Desplechin sucht das Gespräch, er befragt den Vater über dessen Mutter, Thérèse, die zwei Jahre nach der Geburt des Vaters verstarb. Meist sind beide im Bild, und auch Arnaud Desplechins Bruder Fabrice und seine Söhne kommen dazu, verabschieden sich von dem Haus. Filme werden verwoben: Desplechin liest aus dem Off Passagen vor, verfasst von seiner Großmutter in einem Arbeitstagebuch während der Ausbildung zur Krankenschwester; man sieht dazu Lillian Gish als Rachel Cooper aus Laughtons Night of the Hunter, bei ihrer Bibellesung am Sternenhimmel. Und wenn Desplechin und die Kamera (hier von Caroline Champetier) im Auto hinter dem Vater herfahren durch die Straßen von Croix, auf dem Weg zu einem anderen alten Haus der Familie, dann ist das arrangiert wie Scottie Fergusons Verfolgung Madeleines durch San Francisco in Vertigo, man hört dazu Bernard Herrmanns Thema und der Blick herauf zu einem Fenster des Hauses evoziert Scotties hoch zu Madeleine am Fenster des Hotels, aber freilich nur kurz. Mit der Erforschung und Beschreibung von Familienfotos und -portraits, mit Orten, die nachträglich als Erinnerungsstätten installiert werden, treten die Bilder, das ausgreifende Gespräch an die Stelle der Erinnerungen, die der Vater niemals hatte. L’Aimée: Desplechins Kino – ein Liebesdienst.

L’aimée (2007) und Un Conte de Noël (2008), gemeinsan erschienen auf einer DVD bei Drakes Avenue Pictures (UK)