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Episode Derrick, Folge 30: Yellow He

Von Dominik Graf

Maria Schell und Horst Tappert

© ZDF

 

Ein Derrick-Episoden-Film von 1976, so toll und so überraschend wie sein Titel: Yellow He. «Yellow He» ist ein Mädchen in einer Disco, Tänzerin. Zu «Bei mir bist du schön» hat sie einen überraschenden Soloauftritt, den der Discjockey emphatisch ansagt. Der Song läuft dann die ganze Folge lang fast unentwegt wie eine Folter. Wie «Lili Marleen» bei Fassbinder. Solange bis die anfängliche Charleston-Sinnlichkeit des Lieds zur Automatenpuppen-Mechanik wird. Volker Eckstein als Zeremonienmeister, der in einer Disco (im reichen Münchner Vorort Pullach) das Mädchen «Yellow He» (ausgesprochen He – mit deutschem e) dem stotternden Millionenerben Martin Semmelrogge zuführt wie ein diabolischer Zuhälter. Semmelrogge, völlig benebelt von Helgas Sex, merkt von den wahren Intrigen dahinter nichts. Die beiden tanzen, knutschen öffentlich, sie nimmt ihn mit zu sich nach Hause, sie «kommen eine Woche lang nicht aus der Kiste», sagt er später. In dieser einen Woche wird zunächst Semmelrogges Onkel erschossen, der nach dem todkranken Patriarch als erster Sohn die Firma übernommen hätte. Und der zweite Sohn, der jetzt dran ist, das ist Semmelrogges Vater, der wird gespielt von Karl Lieffen. Ein unterschätzter Sohn ist er, bislang klein gehalten vom Übervater, und er annektiert jetzt vor Derricks Augen stolz das Chefbüro. Ein seltsamer schlauchartiger Raum mit 00er-Jahren Grafikstrukturen als Tapeten. Toll wie Lieffen diese lang ersehnte Landnahme des väterlichen Throns spielt.

Das Mädchen Helga fragt Semmelrogge, ob er schon immer gestottert hat. Er antwortet: «Ich find’s gut, da hab ich mehr Zeit zum Nachdenken.» Zusammen gehen sie zum todkranken Patriarchen auf seinem Sterbebett in der Intensivstation. Sie haben Sprechverbot. Semmelrogge zeigt dem alten Mann seine neue Flamme, deutet pantomimisch an, dass sie heiraten wollen. Der alte Mann nickt unmerklich. «Yellow He» ist damit sozusagen ok, sie ist vom Alten abgenickt.

Sie ist aber doch nicht ok. Wenige Tage später wird auch Lieffen, der Vater Semmelrogges, vor den Augen seiner Schwägerin (Maria Schell) erschossen. Inzwischen hat Semmelrogge seine «Yellow He» blitz-geheiratet. Pullacher reiche Erben-Hochzeit wie in den 70ern üblich, nächtliche Isarfeier. Eckstein als Trauzeuge. Man weiß es jetzt so gut wie sicher: Eckstein und das unbedarfte, fröhliche Mädchen Helga sind das Gangsterpärchen des Films. Als der Weg zum großen Erbe nun also fast frei ist, als zwei Morde begangen sind, und als der junge Semmelrogge kurz davor steht, die Firma übernehmen zu können, zu müssen, zu wollen – da überführt Derrick das Mörderpärchen. Eckstein wird verhaftet.

Die Geschichte wirkt wie nicht ganz zu Ende erzählt. Man sieht nicht, wie Semmelrogge auf die Verhaftung seiner jungen Frau reagiert. Man sieht auch nicht, wie die wundervolle, reife, souverän melancholische Maria Schell reagieren wird. Einmal bei einem Fast-Verhör in ihrer Villa kommt Derrick ihr ganz nah: «Ich fühle mich übrigens gar nicht unwohl», sagt er in dem Moment zu ihr.

Man kann es ja gar nicht fassen, dass deutsche Hauptabend-Serienfilme mal solche Titel tragen durften: Yellow He! Wahnsinn.

 

Susanne Beck (Yellow He) und Martin Semmelrogge

© ZDF

 

Am aller-irrsten war Zbynek Brynych, der tschechische Regisseur, fünf bis sechs Jahre zuvor bei seinem ersten Auftritt im deutschen Fernsehen, bei den vier schwarz-weißen Kommissar-Folgen von 1969/70, in denen er fast jede Szene in einer Einstellung drehte, in einem Taumel aus Schwenks, Zooms und Fahrten. Brynych – ein fröhliches, unbekanntes Genie, einstmals eine «Prager Frühlings»-Regiehoffnung, neben Miloš Forman und all den anderen. Sein Auftritt in Cannes 1965 war ein grandioser, überraschender Film aus der Nazi-Besatzungszeit: Der 5. Reiter ist die Angst.

Nach dem Einmarsch der Russen in der CSSR verschlägt es Brynych nach München. Er dreht beim großartigen Helmut Ringelmann die vier Folgen von DER Kommissar und andere längere Filme (Engel, die ihre Flügel verbrennen z.B., 1970), dann muss er zurück in die CSSR und darf bis 1974 nicht mehr ausreisen. Als er wieder nach München kommt, macht Ringelmann ein großes Willkommensfest für ihn: alle Schauspieler, alle Mitarbeiter sind da. «Ich habe geheult wie ein Hund», sagt er in seinem einzigen langen Interview aus den 90ern. Er gab es Rainer Knepperges und Stefan Ertl für die Zeitschrift Filmwärts. Knepperges und Ertl hatten seine KoMmissar-Filme wiederentdeckt und in ihrer eigenen Zeitung Gdinetmao erstmals gebührend gefeiert. Es muss für Brynych ein Glück gewesen sein, nochmal wiederentdeckt zu werden. Vielleicht ist er vor lauter Freude dann so früh mit nur 68 Jahren gestorben.

Die Choreografien bei Brynych: meist übertriebene Nähe. Gestaffelte Gesichter im Bild, manchmal Nase an Nase wie bei einem Tango-Tanz, dahinter andere Leute im Raum. Volker Ecksteins zufriedenes Grinsen, wie ein kleiner Vorstadt-Jago schwebt er feist und unscharf in der Mitte zwischen dem sich liebend anstarrenden, verschwitzten jungen Pärchen in der Disco. Es gibt permanent Dialogpartner, die mit rasanter Schärfenverlagerung plötzlich ins Bild gesetzt werden. Die Einstellungen sind manchmal so voll mit Gesichtern, dass vom Raum nichts mehr zu sehen ist. (Wenn R.W.F. in den Jahren danach seine Raum- und Menschenpyramiden baute, dann winkten nicht gerade von ferne Brynychs Inszenierungen – aber sie sehen bei R.W.F. so viel erzwungener aus, weil sie dort unglücklicherweise halt immer viel mehr bedeuten sollen als nur – wie hier – lockere Genre-Spannung.) Entfernungen überbrückt Brynych mit Zooms. Ran an die Figuren. Sekunden später reißt er manchmal den Zoom wieder in eine Totale auf. Er überdramatisiert Situationen lustvoll mit den Konstellationen im Raum, den Positionen, die er ständig wechseln lässt. Er sprudelt 1975/76 immer noch vor Regie-Ideen.

Die deutschen Vorgesetzten-Väter waren in Wirklichkeit damals nie so entspannt wie bei Brynych. Wie Tappert mit Fritz Wepper umgeht – vor allem wie auch Erik Ode zuvor mit seiner Jungschar Fritz Wepper, Schramm, Glemnitz spielt. Mit Ode gehen sie immer zusammen saufen, meistens, um den Fall zu lösen. Am schönsten vielleicht in Parkplatzhyänen von 1970. Die geheime, die verborgen gebliebene Schwarzmarkt- und später Wirtschaftswunder-Erotik à la Nitribitt hinter den Kulissen hat sich bei Brynych in den jungen deutschen Frauen der 70er noch erhalten wie ein genetisches Wissen. Bei den jüngeren Männern hat man dagegen damals schon das Gefühl, dass sie etwas gezwungen die Sau rauslassen. Alle wollen sie feiern, auf Teufel komm raus, genauso wie nach der deutschen Wende zwanzig Jahre später. Aber man ahnt: Sie werden es auf die Dauer schwer haben, in diesem Land die gute Laune zu behalten. Mit sich selbst, ihren Eltern-Psychosen vor allem, werden sie es schwer haben. Aber dafür ist ja Herbert Reinecker da, der mit jeder seiner Serien-Geschichten ungerade Bleistiftlinien mitten ins dunkle Herz der Bundesrepublik zieht – Linien, die Brynych dann wie ein Irrwisch umspielen kann. Ohne dabei deren Härte abzumildern.

Orte bei Brynych: Mit seinem exorbitanten Raumgefühl, mit seinen oft endlosen Einstellungen hat er ein München archäologisiert, das noch ganz Nachkriegsstadt war. Das München der 70er im böhmischen Becherovka-Rhythmus («ein hervorragender Kräuterschnaps, nicht wahr?» Brynych im Interview.) Nur in Sekunden ahnt man bereits die kapitalistische Hochglanz-Metropole der nahenden 80er. München wird in den Derricks endgültig seine Stadt: Brynych Village sozusagen. Im Nachhinein, beim Heute-Anschauen, umgibt die Stadt fast ein Geheimnis, das sie vielleicht niemals hatte. Das ihr aber sehr gut stand.

Ein stiller, absurder Geheimdienstkrieg, beginnend mit einem Mord im TEE 91 (grandioses Buch von Reinecker!), ungewohnt kühl serviert von Brynych. Eine der Öffentlichkeit verschwiegene Millionärs-Entführung, bei der italienische Großgangster als Handlanger ein paar junge Schwabinger Musiker in Geldnot benutzten (Tod des Trompeters) – um sie dann zu töten. Eine Konzertagentur und eine Tanzschule in Haidhausen fungieren als Prostituierten-Ausbilder und -Vermittler (Peckomit Harald Juhnke). – War das alles vielleicht wahr? Oder war es nur ein Traum von München? Waren das sozusagen die geheimen Abendzeitungs-Überschriften, aber eben geschrieben von Herbert Reinecker? Die Stadtteile: Biotope. Haidhausen, altes Gemäuer, Hinterhöfe. Das Armeemuseum (das später zur Staatskanzlei wurde). Schwabinger Jazz-Tanz-Kneipen. Die Lieder: «Ohne dich wird es Nacht ohne dich …» (Sabine von Maydell in Tod des Trompeters), «La Bamba» und wieder «Bei mir bist du schön …»

Organisierte Unordentlichkeit: manches wird hastig, scheinbar lieblos erzählt, manche Schnitte scheinen überflüssig oder forciert. Aber hier regiert halt nicht die geschmackliche Ordentlichkeit des sonstigen deutschen Films. Die Stories von Reinecker sind wie Stämme, die auch die entlegensten Früchte noch tragen. Der Plot wird oft sekundär. Nichts ist perfektionistisch durchgeformt, in Stromlinie gebracht – und die Exkurse, die schauspielerischen Eskapaden, Übertriebenheiten sind Zeichen eines Reichtums. Die charmante, beharrliche Leck-mich-am-Arsch-Haltung von Brynych ist sozusagen von heute aus gesehen tiefschichtig, kreativ, provokativ.

Mit den Augen von Brynych hätte der deutsche Film damals auf sich selbst schauen können. Aber wir wissen ja, die Unordentlichkeit, die Schmuddligkeit, das Vulgäre, die Lust, die Lebensfreude – das kann alles an Filmhochschulen nicht gelehrt werden, sondern dort gibt’s nur konsensuelle künstlerische Filmgestaltung. Ausmalen nach Zahlen sozusagen. Hoch leben heute noch Klaus Lemke und Wolfgang Büld, die letzten Mohikaner.

Der deutsche Film war immer nur an seinen dunkelsten Orten wirklich. Dort, wo das Licht der Filmhistoriker und der sterbenslangweiligen Kanon-Vorbeter von Metropolis bis zum Autorenfilm gar nicht hinleuchten will – da, wo die Übereinkünfte der Akademien enden, da ist noch Leben in der Bude. War immer so. Oft nur in Fragmenten, in kleinen Serien-Episoden – aber dort ist das deutsche Kino sozusagen sich und seinen öden Qualitäts-Erwartungen an sich selbst entronnen. Seinen Über-Ichs von Kunstwillen, Literatur-Verfilmungen, Oscar-Rattenrennen glücklich enthoben, breiten diese kleinen Geheimnisse und diese großen Figuren im alten TV ihre Flügel aus und erzählen in manchmal genialen nur fünf Minuten Film so viel mehr als ein ganzer deutscher Festival-Jahrgang auf der Berlinale.

Der deutsche Film hat das Geschenk von Leuten wie Brynych, Sam Fuller, oder auch Peckinpah mit seinen tollen deutschen Schauspielern in Steiner niemals angenommen. Er hat es gar nicht als solches identifizieren können. Denn er musste ja ab den 90ern Weltgeltung wiedergewinnen. Und damit alles, was je an ihm spannend war, wieder verlieren.

Derrick, Folge 30, «Yellow He» (Erstausstrahlung 23. Januar 1977, ZDF)