was vom jahr bleibt

29. Dezember 2012

Was vom Jahr bleibt 2012

Von Michael Baute, Sven Beckstette, Raymond Bellour, Johannes Beringer, Ludger Blanke, Christa Blümlinger, Robin Celikates, Catherine Davies, Matthias Dell, Jan Distelmeyer, Daniel Eschkötter, Lotte Everts, Lukas Foerster, Günter Hack, Stephan Herczeg, Jakob Hesler, Tom Holert, Ute Holl, Rembert Hüser, Dominik Kamalzadeh, Sarah Khan, Rainer Knepperges, Ryland Walker Knight, Ekkehard Knörer, Gertrud Koch, Detlef Kuhlbrodt, Max Linz, Cristina Nord, Bert Rebhandl, Cord Riechelmann, Simon Rothöhler, David Wagner, Alexis Waltz, Robert Weixlbaumer und Matthias Wittmann

Michael Baute

Als ich nach Weihnachten wiederkam aus Ostwestfalen, war hier um die Ecke die Bäckereifiliale leergeräumt, wo ich immer die Spreekruste gekauft habe; es wird wohl ein neues Geschäft da aufgemacht werden, es standen schon Männer mit Hipsterbärten drin im Raum und nahmen Maß. Hier ändert sich gerade ständig etwas, nichts bleibt, wie es ist, und ich muss mir überlegen, wo ich von nun an mein Brot kaufe.

Toll ist gewesen, im Mai nach London zu fliegen zu Kevin Rowlands Dexys. Sie spielten ihre neue Platte szenisch vor, danach eine Pause, dann die Zugaben aus der Bandgeschichte neu arrangiert konzertant. Zuletzt «What She's Like». Da musste ich doch schluchzen.

Gehört aber habe ich dieses Jahr vor allem die alten Platten von Phil Cohran, der in den 50ern bei Sun Ra mitspielte und dann in Chicago hängengeblieben ist. Ich wusste von seinen vielen Söhnen, die das Hypnotic Brass Ensemble sind, dieses Jahr haben sie eine Platte mit ihm herausgebracht. Danach habe ich alles von ihm rauf- und runtergehört.

 

Sven Beckstette

Drei Themen, über die ich 2012 leider aus Zeitmangel nicht schreiben konnte:

Chics «At Last I Am Free» im Abspann von Christian Petzolds Barbara

Christian Petzolds Film Barbara ließ mich einigermaßen ratlos im Sessel des Kreuzberger Yorck-Kinos zurück: Opferte sich hier eine Frau für ein junges Mädchen wie in einem Lars-von-Trier-Film, weil sie weiß, dass sie stärker ist und aufgrund ihrer Westkontakte noch eine weitere Chance zur Flucht bekommen wird? Oder ahnte sie, dass das Leben jenseits der Mauer vor allem für eine berufstätige Frau vielleicht doch nicht so rosig ist, wie die Szene im Hotel mit ihrem Liebhaber von drüben andeutete? Kehrte sie aus emotionalen Gründen zurück, weil sie sich in den neuen Kollegen verliebt hat, das private Glück also über dem Politischen stehen kann? Oder wurde ihr klar, dass Freiheit allein Ausdruck einer inneren Haltung ist, ganz egal, wo man wohnt, so dass ein richtiges Leben im Falschen allen Repressalien zum Trotz durchaus möglich ist? Vor den Entwicklungen zu einer neoliberalen, durchökonomisierten Gesellschaft überzeugte mich keine dieser Antworten so richtig, zumal zum Zeitpunkt des Filmstarts auch Joachim Gaucks emphatisches Freiheitsverständnis zu Recht in der öffentlichen Diskussion stand.

Das Wort «Freiheit» kommt bei Petzold eigentlich nur im Abspann vor, nämlich im Titel des Liedes At Last I Am Free der Disco-Funk-Combo Chic. Durch die Wahl dieses Stücks eröffnet sich eine neue Perspektive auf den Film. Denn zwar prägten Nile Rodgers und Bernard Edwards mit ihren eingänigen und polierten Hits die Disco- und Popmusik der späten 1970er und frühen 1980er Jahre. Rodgers Wurzeln liegen jedoch zugleich in der Black Panther-Bewegungen, was in der Anfangszeit der Band zu regelmäßigen Auseinandersetzungen mit seinem Partner über das Verhältnis von Politik und Kunst führte. So gesehen, lässt sich Barbara auch als eine Reflexion der eigenen Position zwischen diesen Polen verstehen, ein Aspekt, der im problematischen «Geschichtsversöhnungskino» (Matthias Dell in diesem Magazin) sonst kaum berücksichtigt wird.

Jay-Z im Barclays Center, Brooklyn, New York, 1. Oktober 2012

Zur Eröffnung des neugebauten Barclays Centers an der Atlantic Avenue im Herzen Brooklyns, dem Heimatstadion des Basketballteams Brooklyn Nets, ließ es sich Hip-Hop-Star Jay-Z nicht nehmen, die Halle, an dessen Mannschaft er selbst finanziell beteiligt ist, persönlich mit acht Konzerten einzuweihen. Auch wenn lange im voraus ausverkauft, konnte ich bei einem Besuch in New York noch kurzfristig Karten im Internet bekommen: Jay-Z alleine auf der Bühne, eine wahnsinnige Lichtshow, vor allem jedoch das Publikum, das schon beim Programm des Warm-Up-DJs selbstständige ganze Rapstücke von Anfang bis Ende a cappella intonierte, konnten die mäßige Soundqualität vergessen machen, die wie bei Veranstaltungen dieser Größenordnung fast schon üblich schiere Lautstärke mit musikalischer Überwältigung zu verwechseln schien.

Bad 25 von Spike Lee

Zum fünfundzwanzigjährigen Erscheinungsjubiläum von Michael Jacksons Album Bad erschien nicht nur eine CD/DVD-Sonderedition der Platte, sondern auch ein Dokumentarfilm von Spike Lee, der zu Thanksgiving auf Abc ausgestrahlt wurde. Lee, der mit Jackson 1995 für das Musikvideo von They Don't Care About Us zusammengearbeitet hat, hat aus Archivmaterial, neuen Interviews mit ehemaligen Beteiligten und Gesprächen mit Musikern nachfolgender Generationen einen Beitrag geschnitten, der mehr ist als das Portrait eines der größten Entertainer, der jemals eine Bühne betreten hat: In seinen besten Momenten zeichnet Bad 25 das Bild einer Ära, als sich die Popmusikbranche auf ihrem absoluten ökonomischen wie kreativen Höhepunkt befand und in anderen Dimensionen gedacht wurde. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Zeit tatsächlich vielleicht nur mit dem klassischen Hollywoodkino der 1940/50er Jahre vergleichen, eine Anlehnungen, die in den Visionen der Musiker, Regisseure und Choreographen immer wieder selbst vorgenommen wird. Das Video zu Smooth Criminal etwa ist eine Hommage an Fred Astaire und vor allem dessen Film The Band Wagon (1953).

 

Raymond Bellour

Avoir vu enfin (au Festival de La Rochelle) Model Shop de Jacques Demy, saisi par l'enchantement des acteurs comme par l'enchantement des plans, et l'appel inoui d'identification qu'ainsi le film induit, au gré d'une semi-nostalgie du cinéma classique que le décor américain redouble. Ce que retrouve aujourd'hui un film comme Tabu de Miguel Gomes, remontant jusqu'au temps du muet à proportion du temps passé depuis.

Je découvre à Berkeley en 2011, grâce à Toni Kaes, le livre de l'historien de l'art anglais T. J. Clark, The Sight of Death (2006). Je passe une partie de l'année suivante à le lire, émerveillé que cette évocation descriptive, savante et si personnelle, de deux tableaux de Poussin exposés quelques mois ensemble au Getty, semble fournir à ce point un modèle de ce que devrait être plus souvent l'approche analytique des films.

La première rétrospective exhaustive des fims du catalan Jose-Luis Guerin (cet automne au Centre Pompidou) trouble par la capacité qui s'y révèle qu'aucun de ses films n'y ressemble à l'autre, chacun optant pour un programme d'écriture et de mise en scène d'une intraitable radicalité. Surprise de deux films parents qui s'emboîtent pour multiplier leurs effets déjà si singuliers: Dans la ville de Sylvia, errance colorée en quête d'une femme devenue une image; Des photos dans la ville de Sylvia, multipliant à l'infini cette quête en une infinité d'images noires et blanches, fixes, sans musique ni son.

 

Johannes Beringer

Was für eine Wohltat Alfred Grosser zuzuhören – ich habe zufällig in die Sendung des Hessischen Rundfunks reingeschaltet: «Wieviel Kritik an Israel darf sein?» (Horizonte, Samstagnachmittag, 10.3.2012.) Es hatte da ein palästinensischer Christ und Pfarrer (gut deutsch sprechend) in der Westbank gewagt, Kritik an Israel zu üben – und nun sass also, in der aufgeregten Moderation von Meinhard Schmidt-Degenhard, ein Hinnerk Münnich vom Deutschen Koordinationsrat der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit (!) dem unaufgeregten und gestochen scharf formulierenden, 87jährigen Alfred Grosser gegenüber. Jener Mensch (mit dem ausgesprochen altdeutschen Namen), ein Philosemit reinsten Wassers, versuchte nun Grosser unter anderem vorzuhalten, was für ein feiner demokratischer Staat Israel doch sei – wurde jedoch souverän gekontert mit dem Argument, dass dann ja auch europäische Wertestandards anwendbar sein müssten und die Demokratie Israels nur für einen Teil der Gesellschaft gelte. Grosser war nämlich der einzige, der wirklich über die Unterdrückung der Palästinenser durch die Israelis redete und im übrigen Israel nicht mit dem Judentum verwechselt haben wollte. Von Hinnerk M., den man anderntags in der Tagesschau die Buber-Rosenzweig-Medaille an irgendeinen deutschen Popen verleihen sah (!!), nur heisse Luft.   

Als ich erfahre (lese), dass der von mir geschätzte und hochgehaltene Paul Motian («american jazz drummer, percussionist and composer») tot ist, ist bereits ein halbes Jahr ins Land gegangen ... (er ist achtzigjährig, am 22. November 2011, in New York gestorben; 1931 in Philadelphia, Pennsylvania geboren; sein Nachname verweist auf armenischen Ursprung). Ich konnte sozusagen in den frühen und den letzten Jahren auf ihn zählen: die famose Platte Sunday at the Village Vanguard (1961) mit dem Bill Evans-Trio habe ich ungezählte Male abgespielt, Gloria’s Step zum Beispiel, ein Stück von Scott LaFaro, bereicherte meine eigene Stimmungs- und Seelenlage ungemein (ich vermeinte in den ersten Tönen das lustige Getrappel eines Kindes zu hören, etwas Helles, Lebenszugewandtes, Unmittelbares) – und wenn ich jetzt auch Anhänger der Piano-Trios von Russ Lossing und Frank Kimbrough bin, so habe ich das ebenfalls Motian zu verdanken. Ganz einfach: ich habe seinen Namen auf den CD’s dieser mir Unbekannten gesehen, sie gekauft und war gleich angetan. (Was sicher damit zu tun hat, dass er ein „melodic drummer“ war, wie Keith Jarrett sagt, und ein «musician’s drummer».) Dann das ganze Kapitel Paul Bley ...! Wenn ich Radio machen könnte und freie Hand hätte, würde ich einfach alles, was es von ihm auf Tonträgern gibt, von vorne bis hinten und wieder zurück abgespielt haben. (Samt den weniger guten Sachen, die es über eine Zeitstrecke von fast sechzig Jahren auch gibt.) «Würde ... haben»: conditionalis irrealis.(Vielleicht macht sich mal einer auf zu erforschen, was der armenische Beitrag zum amerikanischen Jazz war – von George Avakian, Schallplattenproduzent bei Columbia und anderen Firmen, bis zu Armen Donelian, Piano, und Arto Tunçboyaciyan, Perkussion und Stimme.) 

Vor kurzem ist erschienen: Manfred Bauschulte, Über das Ende der neolithischen Revolution. Gespräche und Versuche mit Klaus Heinrich, Wien (Klever) 2012. 

 

Ludger Blanke

1

Philip Scheffner Revision

Hong-jin Na The Yellow Sea (Hwanghae)

Ibsen/Müller/Vinge John Gabriel Borkman am 19. Januar im Prater 

Lee Friedlander In the Picture - Self Portraits 1958 - 2011 (Yale University Press) 

Saint Etienne – Words and Music by Saint Etienne

Gabriel Orozco – Asterisms

Los Angeles

2

Personalversammlung im Hauptstadtstudio des ZDF: Die schockierende Gran-Canaria-Bräune der Herren Winter (Personalchef) und Bereczky (Produktionsdirektor) aus Mainz bei der Verkündigung, dass es uns, dem haus-internen Prekariat, in diesem Jahr an den Kragen geht.

3

Morgens mit der S-Bahn von Mitte hinaus nach Bernau, dann an dem kleinen Fluss Panke entlang zu Fuss zurück nach Berlin. In der Nacht hatte es Schnee gegeben, das gab einen tollen Sound bei jedem Schritt und das Gefühl den Weg auf ein weißes Blatt Papier zu schreiben. Die erste Stunde ohne einem anderen Menschen zu begegnen. Ein paar Kilometer vorbei an Feldern, dann die ersten Vororte, gnädig mit Puderzucker überzogen.  Durch Parks von nicht mehr existierenden Schlössern, unter Autobahnbrücken hindurch und über Industriekanäle. Rieselfelder, Vogelschutzgebiete, die ersten Mietskasernen in Pankow. Im Wedding schliesslich vorbei am Käfig, in dem die Boatengs das Fussballspielen gelernt haben und mäandernd in der Dämmerung durch ein verwunschenes Industriegebiet aus dem 19. Jahrhundert, vorbei am Invalidenfriedhof zum Hamburger Bahnhof.

Übers Internet für eine Woche ein kleines Haus ausserhalb von Rom an der Via Appia Antica gemietet. Das sich dann als der aufwendig in ein Gästehaus verwandelte Hühnerstall der Villa Capucci entpuppte. Der Besitzer der Villa, Fabrizio Capucci, war einer der Paparazzi in La Dolce Vita und wurde dann selbst Objekt der Yellow Press, nachdem er Catherine Spaak geheiratet hatte, Tochter des belgischen Vizepremiers, Sexsymbol und inzwischen vergessener Star der frühen 60er Jahre des italienischen Kinos (ein gemeinsamer Film heisst La Calda Vita). Dann produzierte er Werbefilme in Cinecitta, unter anderen mit Fellini einen wenig spektakulären Nudelspot für Barilla, den er uns stolz zeigte. Jetzt gerade zog er sich zurück («Cinecitta wird zu einer Shopping Mall») und, auch aus Geldmangel, vermietete die Villa und den schönen Park für Betriebs- und Familienfeiern. Das Gästehaus an Touristen wie uns. Am ersten Morgen in der warmen Herbstsonne zu Fuss die 15 Kilometer über die alte Strasse in die Innenstadt Roms. Ziegenherden, herumliegendes antikes Gerümpel, Grabmäler, Pinienwälder, Statuen mit abgeschlagenen Köpfen und Armen, Hintergründe für Tischbein-Gemälde. Aquaedukte, von den Goten zerstört, Hochspannungsleitungen, summend. Kleine Kapellen mit Fussabdrücken Jesu, Fussball spielende Popen. In jedem Kaninchenloch glaubten wir den Aushub der Kreuze zu erkennen, an die die besiegten Spartakisten genagelt worden waren. 

 

Christa Blümlinger

Im Dezember habe ich Les éclats (ma gueule, ma révolte, mon nom) von Sylvain George in einem kleinen Kino in St. Michel gesehen. Meine Erstbegegnung mit dem Filmemacher – eine Projektion von dokumentarischen Rohmaterialien zu diversen Verhältnissen des «Unvernehmens»  (neudeutsch mit Rancière) – hatte keineswegs rückhaltlose Begeisterung in mir geweckt. Das änderte sich angesichts des montierten Ergebnisses seiner Langzeitstudie über das nackte Leben illegaler Migranten, Gestrandete aus Asien und Afrika, die im Brachland bei Calais einen Schlepper Richtung England suchen. Wenn schließlich ein junger afghanischer Flüchtling seine luzide Stimme erhebt, eingebettet in die Aufzeichnung seines randständigen Alltags, dann ist klar: hier ist eine Methode am Werk, die man in der Soziologie «teilnehmende Beobachtung» nennt.

Ein Film, den ich fast verpasst hätte, weil allein sein Titel mir allzu Banales, rentrée-Verdächtiges ankündigte, ist Noémie Lvovskys Camille redouble: eine Traumerzählung, in der die Protagonistin in ihre Jugend zurückkehrt und versucht, die Weichen ihres Lebens anders zu stellen. Lvovsky schafft als Hauptdarstellerin die Gratwanderung, eine Jugendliche im Körper einer Endvierzigerin zu mimen. Und sie schafft es, mit einem ausgeklügelten Drehbuch die Glaubwürdigkeit dieser Fantasie zu erhöhen.

Ich nannte ihn Krawatte von Milena Michiko Flasar. Eine Freundin brachte mir diesen 2012 erschienenen Roman nach Paris mit. Die Präzision des schnörkellosen Stils verleiht den japanischen Wörtern im deutschen Text Körper: Hikikomori (ein gängiger Begriff für meist junge Menschen, die den gesellschaftlichen Rückzug antreten und sich zuhause einschließen) oder auch Karōshi (Tod durch Überarbeiten).

 

Robin Celikates

– Jahresanfang und Jahresende mit L in Berlin

– ein Erdbeben der Stärke 6,5 in Viña del Mar, das alle Chilenen kalt lies und nur bei mir Panik auslöste («Todos vamos a morir!»), als Lektion in sozialer Konstruktion

– Rabih Mroués verstörende Lecture-Performance The Inhabitants of Images

– das weinselige Abendessen mit Simon und Georg im ICE zurück nach Berlin, nach einem Tag auf der Documenta

 

Catherine Davies

1. Robert B. Caro, The Years of Lyndon Johnson. The Path to Power: Im ersten Band dieses Monumentalwerks schildert Caro auf eindrückliche Weise den späteren Präsidenten und Architekten der Great Society als einen machtsüchtigen, von einem unbedingten Aufstiegswillen getriebenen jungen Mann, dessen Eintreten für den New Deal nicht politischen Idealen oder der eigenen Erfahrung bitterer Armut, sondern schlichtem Opportunismus geschuldet war.

2. The Morgan Library: Mitten in Manhattan liegt dieses kleine, vornehme Museum, das die zu Beginn des 20. Jahrhunderts angelegte Sammlung des John Pierpont Morgan beherbergt – in vieler Hinsicht ein ziemliches Sammelsurium von (u.a.) alten Meistern und Schmuck aus der Zeit der Völkerwanderung, das aber gerade deswegen von einer idiosynkratischen, fast rührenden Leidenschaft für Gegenstände zeugt.

3. Margaret: ein wunderschöner New-York-Film von Kenneth Lonergan.

 

Matthias Dell

1. Die Erfahrung, warum man so was wie Kunst braucht. Nach einem absurden Tag mit bezahlten Koch-Bros.-Doorknockern in der sengenden Hitze von Milwaukees Suburbia, einen Tag vor dem schließlich erfolglosen Recall des republikanischen, Tea Party supporteten Gouverneurs von Wisconsin, das unbedingte, tatsächlich körperliche Bedürfnis nach einer Art Reinigung vom psychotischen Geschwätz über «Obama's Communism»: Fahrt zu Calatravas Art Museum. Schauen, rumstehen. Peace.

2. Fabian Hinrichs. Man weiß noch nicht, wofür es gut ist, aber für etwas ist es gut: Die Größe, also die tiefe Traurigkeit, von Polleschs Kill your Darlings! Streets of Berladelphia erst beim zweiten Sehen begriffen. Die Nonstop-Nonsense-Eigenproduktion Die Zeit schlägt dich tot für Foreign Affairs und HAU («Günter Pfitzmann, genannt Pfitze!»), der vielleicht etwas Reibung an was anderem als Hinrichs fehlte, und schließlich, vermutlich das Verblüffendste, die Verlängerung von Hinrichs selbstzweifelnder Deklamatorik in den letzten Tatort des Jahres: «Ich hab' hinterm Schrank geguckt, ich bin relativ genau.»

3. Dazulernen. Warum man, bei allem, was man dagegen haben kann, Gewerkschaften braucht. Wie schnell man seine eigene Prinzipien unterläuft und Journalistenbilder prägt, mit denen man im richtigen Leben nichts zu tun haben möchte beziehungsweise die naive Vorstellung, einem Regisseur die Kritik an seinem Film in ein Streitgespräch überführen zu können samt anschließender Blödheit, eine Rezensionsanfrage zu diesem Film nicht abzusagen. Und: Dass die späte DDR viel präsenter ist, als etwa die Turm-Verfilmung glauben machen will.

PS. Omas Tod; der Verlust der Verbindung zu 1914 in meinem Leben und einer schönen, weil nie eifernden Vorstellung von Frömmigkeit, von Aufgehobensein in Kirche und Glauben.

 

Jan Distelmeyer

Zwei Abende allein mit der Serie Rubicon von 2010, die in dem Versuch, ein Bild des Netzes und der Verbindungen zu entwickeln, Computer fast völlig unterschlägt – ein Sakrileg in dem, was das digitale Zeitalter sein soll,und zugleich komplett konsequent, weil genau so die Verschwörungstheorie sichtbar wird, die wir von den Maschinen erwarten und an denen die Analysten irre werden müssen. Schön außerdem, wie wenig dabei auf Plot (das zu Tode gepriesene Alleinstellungsmerkmal des neuen/ehemaligen Qualitätsfernsehens-ohne-Fernsehen) gesetzt wird, weil die Erzählung nicht hilft.

Viele Abende gemeinsam im ewigen Fußballstudio in der Tucholskystraße.

Der Schrecken der neu restaurierten medizinischen Filme der Kompilationen La neuropatologia (1906-1908) und Film medici di Vincenzo Neri / The Vincenzo Neri Medical Collection (1908-1928). Die Zurichtung des Menschenunter den Bedingungen des Labors, das der Film ist. Benjamins Idee, dass die Kamera testet, wird anders zum Schlimmsten gewendet. Herrschaftlich sollendie Machtverhältnisse hier in das Innere der Körper hinein, und wenn der Film läuft, sehen wir sie bei der unbezahlten Arbeit.

Ein Jahr voll Schmerz, Verletzung, Abschied, einzigartigem Wiederbegegnen, sehr viel Liebe und dem späten Wunder, wie zwei Menschen noch einmal ihre gemeinsame und auf einander angewiesene Unabhängigkeit gegen das Schicksalverteidigt haben.

Both Sides Now von Joni Mitchell.

 

Daniel Eschkötter

CAN, Lost Tapes (still waiting for the streetcar) | Doderers Dicke Damen aka Dämonen: ein Jenseits im Diesseits im August | Holtrop und das Warten darauf (mehr Goetz/Goetz & Diederichsen: «mehr») | holy motors: 11x Lavant, und noch unterhalten sich die Maschinen nicht nur selbst| Hong: Pomp & Circumstance des ungloriosen Lebens | Kaffee, Mühle, Handfilter | Landebahnmanuals und andere alte Bewegungsabläufe: Sommer, Flugfeld, Dämmerung | Lange Zeit, wie üblich, spät schlafen gegangen. Davor, dazu immer wieder ein Netzradiosender, der, so scheint es mir, sein Programm aus vielleicht vierzig, fünfzig Stand-up-Alben zusammenstellt, mehr können es nicht sein. Kriterien für die Auswahl, die Abfolge sind nicht zu erkennen; ein  Shuffle-Algorithmus waltet; Kontext gibt es nicht; fast alles, was wohl wichtig, interessant, nachholenswert wäre, fehlt; aus den Sechzigern und Siebzigern ist kaum etwas dabei; vieles ist unerträglich, vieles auch egal, vieles vertraut, manches lässt mich nachts, kurz vor dem Schlaf, noch lachen. Mitch Hedberg habe ich dort erstmals gehört, und jetzt höre ich ihn immer wieder, sehe ihn mir an in der YouTube, die ja wie gemacht ist für Stand-up-bits und -pieces. Mitch Hedberg-Videos könnten auch nur wenige Sekunden lang sein, er ist ein Ein- und Zwei-Satz-Comedian, non sequiturs, Übergangs- und Anschlusslosigkeit, Umschläge auf engstem Raum, Kalauer, «I used to do drugs. I still do, but I used to, too». In angespanntestem Vortrag, abrupt, Flow & Stockung zugleich, lieferte sich da jemand der Welt vollkommen aus. | Louie 3.2, Telling Jokes: «Who didn’t let the gorilla into the ballet?» «Who?» «Just the people who are in charge of that decision.» | Masters of Melancholy: Wes Anderson, moonrise kingdom (Melancholie, Musik, Metalepsis); Miguel Gomes, tabu (Krokodile, Schlager, traurige Tropen); Whit Stillman, damsells in distress (whimsy, woe, operator moves) | Rap: Danny Brown, E-LP, Frank Ocean mit André 3000, Ghostpoet, Jeremiah Jae, Shabazz Palaces | Suhrkamps, nein, Urs Engelers Erben: Engeler macht jetzt Mütze (Abonnentenwettlauf: 1. Platz) | auch für 2013: «There’s always money in the Banana Stand» (arrested developement, 2003–2006, 2013)

 

Lotte Everts

Fünf Übernachtungen in einem Stockholmer Kellerloch bei gefalteten Unterhemden, fliehenden Eisschollen und beißendem Wind, alles wie einmal in Prag. Tagsüber Bullerbü, stundenlanges Gewunkenkriegen von einer quergelegten Tanne aus Eija-Liisa Ahtilas großem Kino.

Fünf Übernachtungen im Kassler Dachgeschoss, stumme, luftlos heiße Tage, frische Erinnerungen nur an Javier Téllez' Grotte mit ihren seriösen Wahnsinnigen, umgetan mit sachlicher Absurdität. Am vierten Tag kam Alice und redete bis alles groß angelegt und mit Weitblick aufbereitet schien, Omer Fasts Continuity hatte mit all dem nichts zu tun, blieb aber wegen des ekligen Gefühls da die Eltern ihren Soldatensohn derart begehren.

Unter zahllosen Filmen in Berlin mit Lynne Ramsays We Need To Talk About Kevin nur einer, auch weil er ähnlich wie Låt den rätte komma Horror mit Sozialdrama mischt und, als Horrorfilm, fantastisch ist.

Immer noch kein Pollesch-Stück gesehen, Joseph und seine Brüder nicht fertig gelesen, die Bellour-Übersetzung nicht bekommen, kein erstes Kapitel geschrieben.

 

Lukas Foerster

Gerne wäre ich: ein Stummfilmpianist (18.2., Berlinale, Retrospektive, Ums tägliche Brot von Phil Jutzi, die Pianistin meint, auf ihr enthusiastisches Spiel angesprochen: «I’m a socialist at heart».)

Niemals möchte ich werden: ein Branchenvertreter (19.10., Diskussionsveranstaltung – stimmt nicht – mit dem Titel «Wir müssen reden» – stimmt erst recht nicht – im FluxBau an der Spree, die Filmakademie prügelt erst zweieinhalb Stunden lang auf drei geladene Filmkritiker ein und reicht anschließend Schnittchen; vielleicht hätte ich das Medizinstudium doch nicht abbrechen sollen, damals.)

Und, ich kann mir nicht helfen, gut dass es ihn gibt: Mario Balotelli (28.6., ich bin in Bologna, Il Cinema Ritrovato, die zweite Halbzeit verbringe ich in einem nicht allzu interessanten Stummfilm und überlege verzweifelt, ob der ausbleibende Jubel von den Straßen her einer deutschen Aufholjagd oder doch nur der guten Isolierung des Kinos zuzurechnen ist.)

 

Günter Hack

1. 
Februar. Wir stehen frierend auf dem Stephansplatz in Wien, hinter uns die grauen Formen des himmelwärts strebenden Doms, vor uns eine Masse von Menschen, viele von ihnen tragen Guy-Fawkes-Masken, dazwischen bekannte Gesichter von Internetaktivisten, die nur noch staunen, wie viele da auf einmal sind und mit ihnen gegen ein obskures Handelsabkommen namens ACTA demonstrieren, das jahrelang von EU, USA und anderen hinter verschlossenen Türen ausgehandelt wurde und kurz vor dem Abschluss stand. Schon vorher hatten Aktivisten und Internetindustrie in den Vereinigten Staaten die Gesetzesentwürfe SOPA und PIPA erfolgreich bekämpft, die – ähnlich wie ACTA – im Namen des Schutzes «geistigen Eigentums» einen Satz repressiver Maßnahmen gegen die Informationsfreiheit im Netz gesetzt hätten. Das EU-Parlament, das selbst bei den ACTA-Verhandlungen von Kommission und Rat systematisch übergangen worden war, stellte sich mehrheitlich auf die Seite der Bürger und stimmte ACTA nieder. 2012 ist es der Netzzivilgesellschaft zum ersten Mal gelungen, die bürgerrechtsfeindlichen Strategien eines rücksichtslosen Teils der Medienindustrie erfolgreich abzuwehren. Ein Wendepunkt in der Geschichte, vielleicht.

2. 
Juni. Ich stehe auf einem Hügel, umschwirrt von Bienenfressern. Es stürmt, die Vögel spielen mit dem Wind, lassen sich treiben, verfolgen einander, schnappen Insekten aus der Luft. Sie waren hier schon ausgestorben, jetzt sind sie wieder da und brüten, eine ganze Kolonie. Warum? Verändertes Klima? Freundliche Thermik? Zufall? Ich ducke mich ins Gebüsch, sie sehen mich trotzdem, tun aber so, als wäre ich nicht da. 

3. 
September. Ich rücke meinen Hintern auf einem abschüssigen Klappsessel im Cine-Teatro António Pinheiro in Tavira zurecht. Vor uns steht ein dünner Mann mit Bart, der mit ironischem Unterton die Produktionszahlen der US-Filmindustrie mit jenen der europäischen vergleicht. Der Mann wirkt erschöpft und traurig. Als er fertig ist, können wir uns dank des MEDIA-Förderprogramms des EU-Parlaments O Cavalo de Turim von Béla Tarr ansehen, im ungarischen Original, mit portugiesischen Untertiteln, die niemand der Anwesenden braucht, weil Tarr seine Kunst beherrscht. Ich drehe mich um. Vielleicht zehn Leute sitzen hinter uns im Dunkel des riesigen Raums, wahrscheinlich alle Mitglieder des Cineclube de Tavira, der seit Jahren mit geringen Mitteln ein kleines Filmfestival in der Stadt organisiert, Reihen von Monoblockstühlen vor einer Leinwand im Freien, im Krisenjahr 2012 muss es ausfallen, es gibt kein Geld mehr, überhaupt keins, die Reihe ist unterbrochen. In 14 Tagen zeigen sie Spiderman Teil X. 

 

Stephan Herczeg

1.
Gustav Mahler gegen Paris eingetauscht. Aber eigentlich bin ich mir sicher, dass es sich bei Paris nur um den festen Aggregatszustand aller Mahler-Sinfonien handelt. Im Sommer, nach fünfzehn Jahren zum ersten Mal wieder hingefahren, als Urlaubs-Notlösung, etwas lustlos und im Glauben, dort alles schnöselig, touristisch und doof zu finden. Mich sofort und rasend in alles und jeden verliebt. Ich war sprachlos, überwältigt, gerührt, begeistert und also wohl doch noch nicht tot. Im Herbst hingezogen. Leider nicht für immer. Ich gehe durch die Straßen und bin glücklich.

2.
In der Pariser Ausstellung The Museum of Everything die Plastiken von A.C.M. gesehen und direkt ein bisschen weinen müssen. Über A.C.M. ist wenig bekannt, die Abkürzung steht für Alfred Corinne Marié. Er führt ein abgeschottetes Leben irgendwo in Frankreich, seine Frau Corinne hält für ihn den Kontakt zur Außenwelt. Aus minikleinen Bauteilen, die er Schreibmaschinen, Transistorradios, Weckern oder Motherboards entnimmt, klebt, lötet und setzt er Objekte zusammen, deren Fertigstellung Hunderte von Stunden in Anspruch genommen haben muss. Man muss sein Leben sehr lieben und gleichzeitg davon wahnsinnig enttäuscht sein, um so etwas zu machen. Unter «Profession/Occupation» gibt er in Fragebogen «None» an. Dafür liebe ich ihn auch.

3.
[Pop] Rihanna: We are beautiful like diamonds in the sky. [Film] Andrea Arnold: Wuthering Heights. [Buch] Doug Sanders: Arrival City. [Youtube] Mosse-Lecture mit Rainald Goetz & Diedrich Diederichsen: Mehr. [Klassik] Anton Bruckner: 9. Sinfonie, 2. Satz.

 

Jakob Hesler

1. Drive – das guilty pleasure des jahres (jahrzehnts?)
2. Mon oncle – der meistgesehene film (mit meiner tochter)
3. Broadway by light – der erhellendste (das sehen des sehens)

 

Tom Holert

Miss Bala von Gerardo Naranjo im Central. Begeistert von den mikroskopisch präzise die Welt des Metalls klappernder, knirschender, quietschender Autos und automatischer Waffen ausbuchstabierenden Soundscapes des ausweglosen Trips einer Schönheitskönigin in die Narco-Gewaltwelten Mexikos. Wenige Tage später dann die Schlagzeile «Mexican beauty queen killed in drugs shootout» anlässlich des Todes von Maria Susana Flores Gamez, der amtierenden «Woman of Sinaloa 2012», deren kurze Lebensgeschichte sich noch viel irrer liest als das Schicksal der «Miss Baja California» im oben genannten Film. 

Im Frühjahr im MACBA in Barcelona entdecke ich, obwohl ich hätte wetten können, sie längst zu kennen, die Audio- und Videotapes von Vito Acconci aus den 1970er Jahren. Immer noch höchst beunruhigend, Acconcis Projekt der latenten und offenen Gewaltandrohung im White Cube, der totalen Objektwerdung des Performers in Experimentalanordnungen, die an die übelsten behavioristischen Testreihen erinnern, und dabei etwas Fesselndes haben, im mehrfachen Wortsinn. Medienperformance als Psycho-Powerplay, als Untersuchung von Machtverhältnissen in der Kunstwelt, als bisweilen ungebrochen chauvinistischer Quatsch auch, getragen von einer Stimme, die in vielen besten Momenten den Gesang von Grindcore- und Death Metal-Bands vorwegnimmt.  

Meine Eltern berichten ganz begeistert von Barbara. Sie wären noch Minuten nach Ende des Films im Kino sitzengeblieben. Wir sprechen lange am Telefon über Christians Film, so lange wie wohl noch nie über einen Film.   

Im Metropolitan Museum of Art in New York gerate ich eher zufällig in die Matisse-Ausstellung In Search of True Painting. Der Titel erschließt sich mir vollends in dem Raum, in dem Teile einer historischen Ausstellung rekonstruiert wurden. Im Dezember 1945, wenige Monate nach Kriegsende, eröffnete die Galerie Maeght in Paris mit sechs neuen Gemälden von Matisse (in New York waren jetzt davon drei zu sehen). Matisse hatte bereits in den 1930er Jahren angefangen, seinen Sammlern fotografische Dokumentationen des Entstehungsprozesses seiner Werke zur Verfügung zu stellen. Eine didaktische Maßnahme, zugleich ein Marketinginstrument. Bei Maeght 1945 präsentierte Matisse seine Bilder nun zusammen mit aufwendig vergrößerten, gerahmten und auf den Tag datierten Fotografien ihrer Produktionsstadien. Der Effekt ist seltsam. Einerseits lässt sich der Entstehungsprozess des finalen Bildes, das jeweils im Zentrum der Assemblage hängt, ‹filmisch› nachvollziehen, andererseits wird (vermeintlich) jedes Geheimnis des kreativen Akts preisgegeben, macht sich der Maler selbst zum Gegenstand einer Untersuchung, wird das Atelier zum ästhetisch-anthropologischen Labor. So, als systematisch forschenden Künstler, habe ich Matisse noch nicht gesehen. 

Filme des abgelaufenen Jahres, auf die ich noch warte, weil ich sie bisher verpasst habe: The Last Time I Saw Macao (João Pedro Rodrigues und João Rui Guerra da Mata), In Another Country (Hong Sang-soo), No (Pablo Larraín), Neighboring Sounds (Kleber Mendonça Filho),  The Gatekeepers (Dror Moreh), The Unspeakable Act (Dan Sallitt), A perdre la raison (Joachim Lafosse), Almayer’s Folly (Chantal Akerman)

 

Ute Holl

Cargo Confessions 2012: Leaning, leaning ... Das europäische Kino erinnert an eine alte Dame, die sich an ihre kolonialen Vergangenheit erinnert und an einen nicht mal wirklich guten Schlagzeuger. Prätentiös, unpolitisch, falsches Melodram. Im Januar, als eine ältlich Zollbeamtin durch den Zug geht, plötzlich der Wunsch nach einem bewaffneten Job.

Stattdessen: Radio Exkursion mit Studierenden nach Soweto und Johannesburg. Twin Cities 8 Millionen ohne öffentliche Verkehrsmittel. Wir benutzen Sammeltaxen, lernen die Handzeichen, die das Ziel angeben. «So you’re using our taxis now?» Doing the wrong thing. Zur Vorbereitung wieder Nutall/Mbembe (eds.) Johannesburg. The Elusive Metropolis. Stadt, die nicht zu fassen ist. Unsere Interviews mit Radioleuten: Geschichten von Menschen und Geistern, im Studio vereint. Ein Mann, der im Dunkel des Archivs zu uns spricht, blind merken wir erst später, kennt alle Sportsendungen des SABC. Sein Kollege von Jozi FM hat uns beim Orlando Pirates Spiel gesehen. Bleichgesichter. Nach Alex FM eine Führung durchs Township. «South African sunshine, see how the guns shine». Die Studierenden rebellieren, wollen keinen Slumtourismus. Verantwortung. Mache mir Sorgen. Gehe zu Fuß. Hilft 2012 öfter.

Im April überraschend Einladung in die anderen Twin Cities, Minneapolis, St. Paul, Trance Workshop. Rembert Hüsers Stadtführung, zu den Stromschnellen des Mississippi, fehlende Indianer, «safe and secure from all alarm». Dank der klugen Fragen der Doktoranden verstehe ich meine Thesen besser.

Mitte des Jahres: Bologna. Raoul Walsh, Pursued. Modell für Night of the Hunter, mit vertauschten Rollen: Robert Mitchum ist das Kind, das verfolgt wird und von Ma Callum mit einer Flinte verteidigt, wie später die Kinder von Rachel Cooper. «What have I to dread, what have I to fear ....», wie auch bei True Grit, Iris Dement, fällt mir ein. Zu spät.

Das wichtigste 2012: das Kino ist aus dem alten Dispositiv entlassen, Dank an Koch/Panthenburg/Rothöhler und Screen Dynamics, die das für die deutsche Diskussion auf Englisch durchdenken. Daher die Fragen nach einer Metaphorologie des Schirms, der Leinwand und dem konstitutiv instabilen Ort der Kinobilder. Kinobilder streunen nicht erst seit 2012. Entdeckung dazu die Screen-Studies beyond the movie theatre von Haidee Wasson und Charles R. Acland, die Kinoformen von Anfang an neben dem alten aufstöbern: Ein mobiles 16mm Kofferkino der vierziger, das an kleine und grosse Säle adaptiert werden kann. Lars Henrik Gass schaltet sich mit Film und Kunst nach dem Kino ein und verlangt nicht das alte Kino, sondern neue Intensität des Kinodenkens. Grundlegende Perspektive dagegen das Kino-Lebens-Buch von Miriam Bratu Hansen, Cinema and  Experience, das uns erinnert: nicht Spur, Index, Abzug, sondern Krisis, Negativität, Differenz. Und: «There is no way of second-guessing how Kracauer would have responded to the changes, though his appreciation of the survival of film by way of television, like his repeated references to computers in History, suggest that he would have explored the expanded possibilities of cinema and film viewing with curiosity and lack of alarm.»

Alle Credits für 2012 den Film-Veranstaltungen: Katharina Niemeyer für Flashbacks 2012: About Nostalgia in Genf, Karola Gramann und Heide Schlüpmann für A.L.I.C.E. G.U.Y. Erste unter Gleichen und ExtraTrouble. Jack Smith in Frankfurt, Werner Ruzicka für die Duisburger Filmwoche mit Diskussionen. Und dann vor allem den kühnen Kairoern der Galerie Beirut, The City’s New Art Space: Sarah Rifky, Jens Maier-Rothe, Antonia Alampi. In Kairo keine Lust mehr auf Bewaffnung. Öffentlicher Leseraum im ersten Stock, unten mit einer wackligen Leiter den Beamer angebracht. Parallel zu den Demonstrationen: Filmfragen. Das neue Kino wird Delta, nicht nur am Nil.

 

Rembert Hüser

R.I.P. Mike Kelley

Filme: El Velador, MEX 2011, Natalia Almada; Parabeton, D 2012, Heinz Emigholz; Gegenwart, D 2012, Thomas Heise.

Bücher: Bernadette Meyer: Memory, North Atlantic Books 1975; Heinrich Bosse/Nacim Ghanbari: Bildungsrevolution 1770-1830, Winter 2012; Vladimir Jankélévitch: Music and the Ineffable [1961], Princeton UP 2003.

Fussball: Borussia Dortmund – Schalke 04: 1:2; Arsenal London -–Schalke 04: 0:2, Preussen Münster – Arminia Bielefeld 4:0

Konzert: Mount Eerie, CO Exhibitions, Mpls., 5.9.2012.

 

Dominik Kamalzadeh

1. Zwei Filme, an die ich in diesem Jahr immer wieder (zurück-)denken musste, spielten in Stretch-Limousinen: Leos Carax' HOLY MOTORS und David Cronenbergs COSMOPOLIS. In beiden Filmen werden das Kino und seine Fähigkeit, auf die Außenwelt zu reagieren, zum Thema. Man spürt das Ringen um eine Form, die all dem gerecht wird, was sich verändert, auch technologisch. Cronenberg verlangsamt, zerdehnt und seziert den Übergang, Carax entwirft eine Revue rund um das Verschwinden liebgewonnener Illusionen.
Im August habe ich Denis Lavant, den Carax-Darsteller, den das Wort fantastisch am besten trifft, dann in Jean Nouvels Sofitel am Donaukanal zum Gespräch getroffen. Ganz hoch über Wien erzählte er mir von burlesken Körpern und der Sprache der Bewegung. Mit seinem Hoodie sah er aus wie ein Wesen aus einem Märchen.

2. Teju Coles OPEN CITY war das Buch, das ich in diesem Jahr mit dem größten Vergnügen gelesen habe. Die Bewegungen des US-nigerianischen Erzählers, der in Brüssel und New York mit seiner kosmopolitischen Weltsicht auf Erinnerungen und andere gedankliche Herausforderungen trifft, in denen sich dann Verwerfungen von weit größerem Ausmaß spiegeln, sind so offen, dass man sie selbst fortsetzen kann. Der Autor twittert übrigens erfundene Anekdoten, die sich wie verlorengegangene Zeitungsmeldungen anhören.

3. Aufstieg zum Großen Priel, den höchsten Berg Oberösterreichs. Durchquerung des Toten Gebirges, eine Landschaft, deren felsige Leere mit dem Kopf etwas macht. 2012 war das Jahr, in dem ich den Berg wiederentdeckte.

 

Sarah Khan

1. Der Film Oh Boy von Jan-Ole Gerster thematisiert in einer sehr überraschenden Sequenz, wie man heute auf keinen Fall mehr vom Dritten Reich erzählen sollte, und eine weitere Sequenz, die zeigt, wie es doch gehen kann. Der junge Held, gespielt von Tom Schilling, besucht einen befreundeten Schauspieler, der auf einem Filmset einen NS-Offizier gibt. Dieser Typ, in adretter Uniform und mit perfekt sitzender Nazifrisur, erklärt Schilling in einer Drehpause, wie seine Rolle angelegt ist: Rettung einer jüdischen Frau, Flucht vor den Alliierten, Herzschmerz vor brennender Kulisse. Anschließend sehen wir ihn in der Filmszene agieren. Als ich den Film in den Hackeschen Höfen sah, entschied sich das überwiegend studentische Publikum im ausverkauften Kinosaal dafür, schallend darüber zu lachen. Man lachte über den Status Quo des sowohl deutschen als auch amerikanischen Nazi-Historien-Melodrams: Eitler Kitsch. Darsteller Schilling lacht in der gesamten Szene übrigens gar nicht, er verlässt gemessenen Schrittes den Set und holt sich bei einem Nazi-Statisten und einem Juden-Statisten, die friedlich beieinander stehen, Feuer für seine Zigarette. Allein die Existenz dieser ganzen Sequenz als auch die begeisterte Reaktion des Publikums sind für mich ein Hinweis darauf, dass es einen Wahrnehmungswandel gibt, mit dem sich die Filmemacher, die heute von der Nazizeit erzählen wollen, dringend auseinandersetzen müssen. Dass nämlich die Filmbilder, die eine historische Rekonstruktion auf der Grundlage historischer Kostüme, Frisuren und Kulissen versuchen, keine Kraft mehr haben, außer dass sie unfreiwillig auf die Gegenwart verweisen, aus der heraus sie entstanden sind. Wir sehen nicht mehr nur die verkörperten Rollen und Sachverhalte, sondern wir teilen – da der Wiederholungseffekt und die Langeweile uns unendlichen Raum geben – alles in Segmente: Frisuren, Uniformen, Schauspieler, Dialoge. So entsteht Ironie als Zerfallsprodukt. Oh Boy zeigt aber auch, wie es anders geht: In einer Schlussszene sitzt der junge Held in einer Bar, da berichtet ihm ein alter Mann (gespielt von Michael Gwisedek) plötzlich, wie er als Kind mitansah, wie sein eigener Vater diesen Raum, in dem einst ein Laden war, verwüstete. Dass alles voller Scherben lag und die Luft nach Feuer roch. Der alte Mann ist verzweifelt und erschüttert, als er seine kindliche Reaktion schildert: Er habe nur daran denken können, dass er wegen der vielen Scherben auf der Straße nicht Fahrrad fahren könne. Das Publikum hielt die Luft an! Hier fiel nicht einmal das Wort Hitler, Juden, Pogrom oder Kristallnacht. Doch alle wussten, was gemeint ist, welch Geschichte sich da verbirgt. Der Zuschauer wurde als wissendes wie mitleidendes Wesen angesprochen. Der Schmerz, die weitere Geschichte zu kennen, bekam einen Moment in der Gemeinschaft des Filmes mit seinem Publikum zugebilligt. Das war ein lehrreicher, nicht zu unterschätzender Moment, nicht nur für den deutschen Film, auch für alle Vorleser, Walkürenreiter und sonstigen Nazi-Tratschi-Kitsch-Ausbeuter.

2. In dem großartigen Horrorroman Menschenhafen lässt der schwedische Autor John Ajvide Lindqvists in einem Nebenstrang zwei jugendliche Zombies auftreten – traurige Nerds, die nie ein Mädchen abgekriegt haben – die auf ihrem Rachefeldzug über einer kleinen, verfluchten schwedischen Insel in The-Smiths-Zitaten sprechen: Disco abfackeln, DJ hängen. Die Smiths-Zitate sind in der deutschen Fassung natürlich eingedeutscht, was zu dem Gruseleffekt nicht unwesentlich beiträgt. Der Held gewinnt lebensrettenden Handlungsspielraum, als er beginnt, den Zombies in Smiths-Zitaten zu antworten. Etwas Peilung in popkulturellen Fragen macht eben doch lebenstüchtig.

3. Die TV-Serie Dr. House wurde 2012 nach 8 Jahren Laufzeit beendet, und ich entdeckte für mich überraschend, während der Arbeit an meinem Dr. House-booklet, dass diese Serie gar keine Krankenhaus-Serie ist. Eine Indiz dafür war: Krankenschwestern sagen hier bei Todesstrafe keinen Pieps. Ich fand dann raus, dass House auf der Philosophie von Charles Sanders Peirce (1839-1914) beruht, und es eigentlich um Eliten-Ausbildung geht, tüchtiges Denken und Problemlöserei, ohne Rücksicht auf Moral und Konvention. Dass dies auf die Zuschauer, die das nicht ansatzweise ahnten, viele Jahre eine euphorisierende Wirkung hatte, ist ein Grund, an das Gute im Amerikaner zu glauben. Dass die geradezu pädagogische Message in House einen medizinisch-kriminalistischen Diskurs als Vehikel nutzte, muss man wohl zeittypisch nennen. Dr. House gab den Amerikanern die Lust am Amerikanischen Pragmatismus und dem Motto «erst Nachdenken, dann Handeln» zurück, was schließlich in die Wiederwahl von Barack Obama mündete. Ich wette, dass ein zukünftiger Präsident der USA dem Ärzteteam von Dr. House entspringen wird, in vielleicht schon zwölf Jahren könnte es soweit sein. Dieser Mann heißt Kal Penn, er spielte auch den Kumar in Harold & Kumar: Escape from Guantanamo Bay und arbeitet seit einigen Jahren als Berater für Obama im Oval Office. Dafür musste er bei Dr. House allerdings Selbstmord begehen.

 

Rainer Knepperges

Die Konzerte des Jahres: Im Mai Dirty Horse, im September Das weiße Pferd. Beide Bands im King Georg in Köln.

Im Kino: Großes Wiedersehen mit (35mm-Filmkopien von) vier amerikanischen Klassikern meiner Jugendzeit: JACKSON COUNTY JAIL (1976 Michael Miller), FALLING IN LOVE (1984 Ulu Grosbard), HALLOWEEN (1978 John Carpenter) und SITTING DUCKS (1980 Henry Jaglom)!

Die Ausstellung des Jahres läuft noch ein paar Tage: Die mechanischen Dioramen in St. Mariä Himmelfahrt, unweit vom Kölner Hauptbahnhof, zeigen zum Beispiel den heiligen Josef in seiner Werkstatt bei der Arbeit. Und in der einbrechenden Nacht erscheint im ersten Stock des Hauses, vor einer Küstenlandschaft mit bewegten Meereswogen, dem Zimmermann im Traum ein Engel. Mit ihren dramatischen Lichtwechseln sind die perspektivisch fliehenden Miniaturlandschaften die italienische Frühform von monumentalem Kino. Antike Puppenkiste im Stil DeMilles. In Kinderaugenhöhe kann man durch einen Gewölbegang die drei heiligen Könige vor dem Kölner Dom sehen, auf den – in täuschender Gestalt tausend kleiner weißer Lichtpunkte – Schnee herabrieselt. Trickreiche Non-Stop-Kunst, gebastelte Magie.

 

Ryland Walker Knight

1. Making my first short narrative film, HEADLANDS, which we shot in the Spring and finished in the Fall because day jobs take time away from everybody. Don't want to spoil things but, for all the deficiencies I see, I learned a whole lot about a whole lot of things and it definitely shifted my perspective on moviemaking from both a critical perspective and a practical one. I'm planning to shoot another soonish in the hopes or learning even more lessons. Truth is: it just seems like the logical extension of my interest in cinema, as many young turks have felt before me, and I'd argue I've already learned more in the last year than I did any of the years prior when it comes to this art I hold so dear to my heart and brain.

2. You Ain't Seen Nothing Yet, by Alain Resnais, moved me more than any other film this year, and I saw Abel Gance's Napoleon twice back in the Spring. If I ever get to make anything as rich as the former, which is about 1/5 the size of the latter, it presupposes I will not only keep making movies but keep making movies until I reach my 90th year on this big blue ball of nonsense. Here's hoping both those can become realities in time.

3. Watching Lebron James play basketball in 2012. I tried to vote for his Eastern Conference Finals Game 6 performance against the Celtics in the Indiewire poll but was shot down. What's fascinating about that game is that it was the least joyful I've ever seen Lebron play a game. But his play inspires such joy, in equal parts awe and giddiness, that I have to say he was my favorite performer of the year. He's the post-human we've wanted, but few want to admit it because, he's all too human in kind: he's a dad, he rides his bike to work, and he loves the trappings of fame as much as any American would. But his art stretches the imagination in empirical ways. I just don't believe he can move that fast, or jump that high, or make certain passes, but then he does, time and again, proving a certain kind of maximalism nobody else will ever match for the simple fact that every man is a singular being never to be repeated again. After all, that's why all this «Next Jordan» talk has always been so bogus. Besides, who wants Jordan, now, now that we have Lebron?

 

Ekkehard Knörer

Im neuen Leben mit Arbeitsmonaten und Urlaubswochen Lektüren am Pool und im Garten. Von den amerikanischen Romanen, die ich auf Gran Canaria las, gefiel mir Teju Coles Open City am besten. An Jeffrey Eugenides The Marriage Plot mochte ich die langen Depressionspassagen; da war es, als hätte er sein Plotten und Metaplotten wirklich vergessen. Chad Harbachs Art of Fielding las sich gut weg. In Paris endlich meinen ersten Wilhelm Raabe zu Ende gelesen, sein letztes, das „Altershausen“-Fragment: gerührt, genervt in gleichen Maßen davon. Außerdem Zolas immersiver Ventre de Paris und vor allem, in der Bretagne dann, Hilary Mantes kunstvolle Neuerfindung des Historienromans Wolf Hall: sehr klug und schön.

So richtig erwischt wird man meist vom Unerwarteten: eine Studentin, die in Hildesheim den Lohndrücker eigenhändig gestemmt hat. Was immer an der Performance unfertig sein mochte: alles Wesentliche an Mut und Können war da.

Filme: Holy Motors hätte ich gerne mehr gemocht als ich ihn mochte. Magic Mike hat mich dagegen ziemlich umgehauen, begreife einer Soderbergh. Insgesamt aber kein Kinojahr für mich. (Und im Theater: Die Kombination Pollesch/Hinrichs war ziemlich unschlagbar. Meine Ausstellung des Jahres: Hammershoi in München, kein Wort zuviel in diesen Bildern und keins zuwenig. Musik: Jedes Jahr mit einem neuen Scott-Walker-Album ist ein Jubeljahr.)

 

Gertrud Koch

In letzter Sekunde zu später Stunde dem Schlaf entkommen und vor dem TV gelandet – kurz vor dem Ende von Sergio Leones Once Upon a Time in America – und dann ist es auch schon um den Schlaf geschehen. Eine Schlußeinstellung, die einen ebenso euphorisch wie ratlos zurück lässt. Hinter einem Schleier die Großaufnahme de Niros als Noodles, über dessen Gesicht sich ein glückliches Lächeln ausbreitet, das aufbricht wie in den Gesichtern der Stummfilme.

Das Turiner Tuch, das Schweißtuch der Veronica: der Schleier mit dem Christuskopf wird im Katholizismus zwar nicht mehr als Reliquie aber doch  als Ikone verehrt, die als Medium der Spiritualität zwischen Gläubigem und Herrn fungieren kann. Es steht für die Erlösung durch Christi und schließt insofern an das Erlösungsmotiv an.

Was nun haben diese bildhistorischen und –theoretischen Anmerkungen mit dem glücklichen Lächeln von Noodles in der Schlußeinstellung in Leones Film zu tun?

In meiner Lesart erscheint diese Einstellung als eine Figur der Erlösung, die sich sowohl inner-narrativ, immanent als die Befreiung/Erlösung von der Schuld am vermeintlichen Tod des Freundes Max verstehen lässt, wie auch transzendental im Sinne der Sündenprophetie. Noodles, der den Freund retten wollte, hätte damit genau jene Tat vollbracht, die ihm als Umkehr vom schlechten Leben zum guten Leben gebracht hat. Das Glück, das hinter dem Schleier, der über es gelegt ist, aufscheint, ist das des guten Lebens im schlechten, das Noodles genau da geführt hat, als er den Freund vor sich selbst zu retten versucht hat im Bewusstsein, dass ihn das den Freund kosten wird. Das Verschwinden von Max im Nichts, wenn nicht sogar im Höllensturz in das Mahlwerk des Müllwagens, ist das Verschwinden aus der Repräsentation, während Noodles am Ende jener Ikone sich angleicht, die in der christlichen Ikonographie für die Erlösung steht: dem Antlitz Jesu. Der Bilddiskurs, der in dieser Schlußsequenz geführt wird, ist der des Bildes als einer positiven Macht zur Affirmation und nicht der vom Bild als Raub, Schein oder Trug. Das Bild ist das Erscheinen einer transzendenten Wahrheit, die ihm den Stellenwert einer Ikone sichert. Die Schlußeinstellung hat eine starke bildtheoretische Pointe: Dass sich im Schleier der Leinwand  das Bild des guten Lebens abzeichnet – und darin gerade ein an der Oberfläche ethisch unzuverlässiges Genre wie das des Mafiafilms mit seinen großen Gesten von Freundschaft und Verrat, Verbrechen und Tod sich als ikonentauglich erweist.

Spät in der Nacht erinnert mich die Schlußeinstellung des Films an die ganze Reihe von Filmen, die sich wieder an die Ästhetik des Stummfilms und seiner radikalen Trennung von Bild und Ton angleichen  - allen voran der fantastische Tabu von Gomes, der auf ähnliche Weise Expressivität und Ambiguität vermischt und dabei zu jenem ethischen Halbdunkel führt, in dem seine Figuren eine irritierende und reflexionsstimulierende Existenz führen, die bei Gomes statt in die individuierte Erlösung in den Tod und die externe Revolte führen.

 

Detlef Kuhlbrodt

Am besten gefiel mir: die Antrittsvorlesung zur Heiner-Müller-Gastprofessur, die Rainald Goetz am 10. Mai im Hörsaal 2 der Freien Universität Berlin hielt. Thema: «Lesen und Schreiben – der Existenzauftrag der Schrift». Man fühlte sich tatsächlich ermutigt danach und der ganze Tag war überhaupt super gewesen. Sehr schön fand ich auch die Demonstration mexikanischer Aktivisten der Organisation SOY132 am 12.10.12 vor der mexikanischen Botschaft gegen den mexikanischen Präsidenten Enrique Peña Nieto, gegen Wahlbetrug, Stimmenkauf usw. Das Theatralische gefiel mir bei dieser Demo sehr gut, dass die Protestierenden – vor allem in Berlin lebende mexikanische Studenten – so eine fröhliche Ausstrahlung hatten, dass sie sich zum Gruppenfoto hinstellten, dass jemand Gummibärchen verteilt hatte. (Deutsche Demonstrationen haben ja sonst oft immer so etwas schlecht Gelauntes und Rechthaberisches.) (Link

Mit wachsender Begeisterung hatte ich auch das kleine Büchlein Pferde (Verlag Peter Engstler) von Helmut Höge auf einer Fahrt von Berlin nach Lübeck gelesen. Es erzählt unter Verwendung alter Aufzeichnungen von langen Wanderungen, die der taz-Autor und -Aushilfshausmeister im Deutschen Herbst zusammen mit einem Pferd unternommen hatte.

Überhaupt gefiel mir 2012 eigentlich sehr gut.

 

Maximilian Linz

Berlin-München-Berlin, 28.02.-29.02.2012

 Vor dem Abflug im Deutschlandfunk: «Hören Sie nun das Kalenderblatt: Der alte Film ist tot. Vor 50 Jahren veröffentlichten junge Filmemacher das Oberhausener Manifest.»

Am Lufthansa-Gate ist die Süddeutsche der rote Rand des aufgebotenen Zeitungs-Spektrums. Die Kundschaft dieses werktäglichen Inlandsflugs favorisiert aber die Kombinationen Bild / Tagesspiegel oder Bild / FAZ. Im Shuttle-Bus am Flughafen München FRANZ JOSEF STRAUSS treffe ich Jutta Brückner, im Taxi auf dem Flyover in die Innenstadt sprechen wir über die Situation an der DFFB, über Macht, die nicht durch Verfahren legitimiert wird, keine Begriffe mehr zu bilden braucht zu ihrer Rechtfertigung, keine Ideen ausgibt, höchstens Geld. Mittäglicher Spaziergang zur Hochschule für Film und Fernsehen an der Gabelsberger Straße, heute BERND-EICHINGER-PLATZ 1, ein in seiner prätentiösen Sachlichkeit grotesk raumgreifender Neubau, die Fassade ein steinerner Facelift einer überlebten Idee, innen Einschüchterung, als Ganzes ein Denkmal der Gedankenlosigkeit an einer der eigentlich schönsten, erhebensten Ecken überhaupt.

Bei der abendlichen Podiumsdiskussion im von der Cinemaxx-Kette gebrandmarkten AudimaxX der HFF meldet sich schon nach knapp dreissig Minuten der notorische Verrückte, um Romuald Karmakar und die Unterhaltung insgesamt per Zwischenruf zu unterbrechen: «Alles eine Soße da unten!» Wie mir später erklärt wird, handelt es sich um einen Funktionär des Bayrischen Rundfunks, der auch die Drehbuch-Abteilung der HFF leitet. BRAUCHEN WIR EIN NEUES MANIFEST?

Viele herzhafte Boshaftigkeiten waren zwischen Podium und Publikum ausgetauscht worden – München halt. So fanden die in den Freistaat eingereisten Diskutanten anderntags wieder im Shuttle-Bus zusammen für den Rückflug in die neuere Heimat (Edgar Reitz war dageblieben), umgeben von Anzugsmenschen, die in der in Bürotürmen erlernten sozio-neglecten Attitüde den freibleibenden Mittelplatz mit mitgebrachten Dokumenten, Charts, Datentext belegten, um sich dann genüsslich über Seite 1 her- und die Beine breit zu machen. «Schnellstmöglich» würde man sich eine Wohnung in der Hauptstadt «zulegen». Aus dem Süden kommend aber lag Berlin noch dunkler da, als von der Erinnerung des gestrigen Morgens abgespeichert. Am Abend machte Kulturzeit aus dem Grau in mir ein Schwarz, als gossipgeiles Leute-Heute-Format für alle, die nur Kunst noch mehr verachten als sich selbst. Aus der von uns auf dem Podium geäußerten Kritik an der gegenwärtigen Filmpolitik leiteten die Hersteller des 3sat-Beitrags die irre Analyse ab, dass das Manifest «gescheitert» sei. Aber nicht das Manifest war gescheitert, eventuell nur wieder einmal der Versuch, ein paar Messages rüberzubringen. Da kann man wohl nichts machen. Dank an Lars Henrik Gass, für die Einladung, an Rüdiger Suchsland, für die Moderation, und an alle anderen fürs Dabeisein. See you in 2062.

 

Cristina Nord

März, Marburg

Fremdenlegionäre am Horn von Afrika, in gleißendem Licht, in der Wüste, am Strand. Sie treiben Sport, bauen eine Straße, die kurzen Hosen spannen über den Schenkeln, manchmal kämpfen sie, und es sieht aus, als würden sie tanzen, die Kamera tanzt dann in ihrer Mitte. Der Film, Beau Travail, wäre ohne die Arbeit der Kamerafrau Agnès Godard nur halb so betörend. Im März erhält sie den Marburger Kamerapreis. Werkstattgespräche und Filmvorführungen flankieren die Verleihung, in einem längeren Interview reden wir über ihre Zusammenarbeit mit Claire Denis, die Wichtigkeit des Zweifels und die Oberarmmuskulatur, die sie sich im Verlauf der Dreharbeiten zu Beau Travail antrainiert hat. Und darüber, dass das Verschwinden von 35mm nicht das Ende des Kinos bedeutet.

Juli, Guxhagen-Breitenau

15 Kilometer im Süden von Kassel liegt der Ort, in dem ich groß geworden bin, und noch einmal drei Kilometer weiter südlich liegt Guxhagen-Breitenau, der Ort, in dessen Freibad ich viele Nachmittage verbrachte. Die Documenta XIII macht ihn zu einer ihrer Außenstellen, genauer: Sie kooperiert mit der Gedenkstätte, die im ehemaligen Benediktinerkloster am Ufer der Fulda untergebracht ist. Die idyllisch gelegene Anlage wurde vom 19. Jahrhundert bis in die frühen 70er Jahre des 20. Jahrhunderts als Arbeitshaus, Anstalt, Gefängnis, KZ, Straflager und Heim für so genannte schwer erziehbare Mädchen genutzt, 1933 und 1934 wurden hier Sozialisten, Sozialdemokraten und Kommunisten aus der Region eingesperrt, bevor man sie in größere Konzentrationslager deportierte. 1940 verwandelte die Gestapo den Komplex in ein Straflager für Zwangsarbeiter. Ende der 60er recherchierte Ulrike Meinhof hier für ihr Feature über Heimerziehung. Das alles und noch viel mehr erschließt die Führung von Gunnar Richter, dem Leiter der Gedenkstätte. Mir bleibt die Frage, warum ich, obwohl ich im Nachbarort groß geworden bin, erst in den 90er Jahren von dem Lager erfuhr.

Oktober, Rio de Janeiro

Die Stadt mit ihren Hügeln, Buchten, Stränden, Wellen und ihrem Licht schlägt mich vom ersten Augenblick in ihren Bann. Ich staune noch immer über so viel Schönheit.

November, Duisburg

 Ein Hoch auf die gute alte analoge Öffentlichkeit. Während der Duisburger Filmwoche, zu deren Auswahlkommission ich seit diesem Jahr gehöre, wird im Anschluss an jede Vorführung etwa eine Stunde lang diskutiert, im besten Fall werden daraus intensive Werkstattgespräche, bei denen ein neugieriges und kundiges Publikum auf eine/n Filmemacher/in trifft, der/die gerne und ausführlich seine/ ihre Entscheidungen erläulert. Philip Scheffner etwa spricht darüber, warum man in Revision so viele Windräder sieht; sie sind Statthalter für die Epitaphe, die auf dem Feld, auf dem die beiden Roma erschossen wurden, fehlen. Manchmal kommen dabei aber auch Dinge zutage, die nachhaltig verwirren: Etwa dass ein Dokumentarist wie Nikolaus Geyrhalter einer im Bildhintergrund auftretenden Person digital ein neues Gesicht anfertigen lässt, wenn diese Person ihr Einverständnis, im Film zu erscheinen, verweigert. Früher bekam sie einen schwarzen Balken verpasst, heute eine neue Nase und eine neue Augenpartie, und niemand merkt’s.

 

Bert Rebhandl

Clemens Meyers Text In den Strömen (aus dem Band Gewalten) habe ich zu einer Zeit gelesen, als mich Holy Motors von Leos Carax gerade sehr beschäftigte. Ich habe in der literarischen Beschreibung einer Flussfahrt in Lepizig wie in dem Episodenfilm etwas wahrgenommen, was tief in die Rätsel der Referenz führt: ein Erzählen ohne Bezugsgrund, Fiktionalität im leeren Raum, oder genauer, in einem unterbestimmten Raum, im dem mich außer dem konkreten Werk, mit dem ich es gerade zu tun habe, nichts hält.

Das Filmfestival in Toronto (TIFF) ist kommerziell bis ins Mark, und doch habe ich in diesem Jahr in den knapp zehn Tagen dort auf eine unvermutete Weise das Kino wiederentdeckt, jenseits der Schwelle vom Analogen zum Digitalen: die äußerst licht- und datenstarken Projektionen ergaben mit der Zeit einen Effekt, der über die einzelnen Vorstellungen hinausging und mich, ich bilde mir das nicht ein, körperlich veränderte. Fast bin ich versucht, von einer Kur zu sprechen, von Bädern in einer Anstalt, die alle meine Fakultäten auf das Intensivste beanspruchte und stimulierte. Eine Apparaterfahrung, die in neuen Filmen von Omirbajew, Kiarostami, Bahrani kulminierte.

Bei meiner Fahrt zum EM-Spiel zwischen Deutschland und Portugal in Lwiw musste ich auf dem letzten Streckenteil improvisieren. So ergab es sich, dass ich die Grenze zwischen Polen und Ukraine in einem ukrainischen Taxi und in Gesellschaft zweier junger deutscher Fans überquerte und zum ersten Mal auf das Territorium der ehemaligen Sowjetunion kam. Die gut 100 Kilometer, die wir dann aus neu ausgebauter Straße in das ehemalige Lemberg fuhren, waren großartig: der große Himmel, das mächtige Gewitter, die im Vergleich zu Polen merkbar veränderte Kulturlandschaft, die notdürftige Verständigung mit dem Fahrer, der schließlich sichtlich stolz war, uns sicher ans Ziel gebracht zu haben - all das steht par excellence für das, was ich auf Reisen suche.

 

Cord Riechelmann

Februar

Der Ausstellung You Killed Me First in den Berliner Kunstwerken gelang etwas sehr seltenes. Obwohl sie sich auf die Arbeiten einer kleinen Gruppierung des New Yorker Undergrounds der 80er Jahre konzentrierte, bekam sie sehr schnell eine unaufdringliche Aktualität. Die 18 Filme von Künstlern des Cinema of Transgression um die Regisseure Nick Zedd, Richard Kern und  David Wojnarowicz, fast immer in Zusammenarbeit mit Musikern wie Sonic Youth oder Lydia Lunch entstanden, schafften es, die Feier der Körper in den Ruinenvierteln des damaligen New York in der «intensiven Unseriösität» zu zeigen, die Jean Francois Lyotard zum Markenzeichen der Kunst-Politiken der 80er Jahre erklärt hatte.

Juni-Juli

Es war in der 14. und 41. Minute des EM-Finales zwischen Spanien und Italien als zwei Pässe, der erste von Iniesta, der zweite von Xavi, den Worten von «der Tiefe des Raumes», die Karl Heinz Bohrer einst für Günter Netzer erfunden hatte, ihre wirkliche Bedeutung gaben. Man saß vor dem Bildschirm und konnte es erst nicht glauben: So kann Fußball gehen? Unfassbar. Man freute sich dann nur noch, aufgelöst und weich wie einst im Herbst in der Jugend nach der Psylocibin-Pilz Ernte von vertrockneten Kuhfladen und nahm nicht mal mehr den deutschen Sportjournalisten und ihren angeschlossenen Intellektuellen ihre Bullshittexte zum wiedermal schon vergebenen Titel an die Deutschen übel. Die Wahrheit stand ja im Finale auf dem Platz: die beste Nationalmannschaft aller Zeiten, gegen die selbst Netzers 1972-Europameister nur als drittklassige Gurkentruppe anzusehen sind. Fußball ist nicht mehr das einfache Spiel, bei dem am Ende immer die Deutschen gewinnen.

November

Das Interessanteste an der Wiederwahl Barack Obamas waren seine Wählerinnen und Wähler: gebildete Frauen, Hispanics, Afro-Amerikaner, Schwule, Lesben, Transvestiten. und wie man aus New York hörte: auch Video- und Internetkünstler. Das sind genau die, die Deleuze, Guattari und Lyotard in den 80ern als Minoritäten ausgemacht hatten, als die Ränder, an denen die Bewegung stattfinden sollte. Wenn diese Ränder jetzt aber das Zentrum stützen und stabilisieren, was heißt das dann, diesseits des bescheuerten Zeit-Titels vom Untergang des weißen Mannes? Hallo Paris, bitte melde Dich!

 

Simon Rothöhler

Gute Sachen: Wie Johann Holtrop ab dem Dirlmeier-Kapitel dann doch noch in die richtige Richtung richtig abgeht # George Bellows in der National Gallery of Art in Washington (It's not about men boxing: Zeitrafferbilder zum Bau der Penn Station, Agitpropbilder gegen Nazi-Deutschland) # Die Stephen Colbert Show am Tag nach der ersten Debate # Händels Il Trionfo del Tempo e del Disinganno an der Staatsoper Berlin – die geniale allegorische Architektur dieses «Oratoriums» (weil die Gattung «Oper» 1707 in Rom mit einem Verbot belegt war) kann auch durch Flimms witzlose Nachtschwärmer-Inszenierung nicht irritiert werden # Katarakt/Brief an Deutschland von Patrick Wengenroth im HAU # Movies that Matter: The Bay (Barry Levinson), Leviathan (Lucien Castaing-Taylor & Verena Paravel), Margaret (Kenneth Lonergan), The Mattei Affair (Francesco Rosi), The Queen of Versailles (Lauren Greenfield), Call Her Savage (John Francis Dillon), The Last Days of Disco (Whit Stillman) # Barcelonas linke Seite im Jahr 2015: David Alaba & Raheem Sterling # Debut Issue von Peter W. Kaplans Magazin M # ACME / New York # Vor allem: to absent friends

 

David Wagner

1 Angebermoment: High Table in Magdalene College, Cambridge, bei Kerzenschein, Anfang Februar. Später wurden mir Pepys Tagebücher gezeigt

2 Privater und cineastischer Moment: Oh Boy, mit J. im Delphi, im November.

3 Ernüchterungsmoment: Vor ein paar Tagen, in unserer Küche, ich über den Fahnen des Buches, an dem ich die letzten sechs Jahre gearbeitet habe, T. (12 Jahre alt) sitzt gegenüber und zeichnet letzte Weihnachtsgeschenke. Sie hört mich murmelnd mir selbst die Korrekturen vorlesen und sagt: Papa, meinst du wirklich dieses langweilige Zeug will einer lesen?

 

Alexis Waltz

Januar Are You There Chelsea? Season 1 (NBC) Whitney Season 1 (NBC) 2 Broke Girls Season 1 (CBS) Girls Season 1 (HBO) Revenge Season 1 (ABC) The Burrell Brothers – The Nu Groove Years (Rush Hour) Februar Das Oberhauser Gefühl – Eine Depresentation in zehn Folgen (Maximilian Linz) Paziraie Sadeh (Mani Haghighi) Haywire (Steven Soderbergh) Tabu (Miguel Gomes) Voice From The Lake – Voice From The Lake (Prologue) Moneyball (Bennett Miller) März Grimes – Visions (4AD) Mad Men Season 5 (AMC) Maya Jane Coles – DJ-Kicks (!K7) April Pacific Standard Time: Kunst in Los Angeles 1950-1980 (Martin-Gropius-Bau, Berlin) Traxman – The Mind Of Traxman (Planet Mu) Anna Blessmann & Peter Saville: Swing Project 2 (MD72, Berin) Bicep - $tripper (Love Fever) Actress – R.I.P. (Honest Jons) Death Grips – The Money Store (Epic) Dntel – Aimlessness (Pampa) Mai Diedrich Diederichsen & Rainald Goetz – Mehr (Mosse Lectures Berlin) fuckyeahbrutalism.tumblr.com Marvel´s The Avengers (Joss Whedon) Community Season 3 (NBC) Cosima von Bonin's Cut! Cut! Cut! For Museum Ludwig's Sloth Section, Loop # 04 of the Lazy Susan Series, A Rotating Exhibition 2010–2012 (Museum Ludwig) Lykke Li – I Follow Rivers (The Magician Remix) Moonrise Kingdom (Wes Anderson) Laurel Halo – Quarantine (Hyperdub) Juni J. Hoberman – The Single Antidote to Thoughts of Suicide: Fassbinder’s American Reception & Manfred Hermes: Gravity Beyond Its Cinematographic Mass (10.6. Hands on Fassbinder Berlin) Isabel Marant printemps-été 2012 Blawan - 6 To 6 Lick (Black Sun) Ty Segall Band – Slaughterhouse (In The Red) Matthias Lilienthal – Unendlicher Spass - 24 Stunden Utopischer Westen (HAU) Psy – Gangam Style (YG) Magic Mike (Steven Soderbergh) Pretty Little Liars Season 3 (ABC) Juli Locussolus–- Berghain (International Feel) Breaking Bad Seaon 5 (AMC) August Wishmountain – Tesco (Accidental) Mr. G – State Of Flux (Rekids) Holy Motors (Leos Carax) Crystal Castles – III (Polydor) Robert Hood – Motor: Nighttime World 3 (Music Man) Andrés - New For U (La Vida) Documenta 13 Ariel Pink's Haunted Graffiti – Mature Themes lesbian4lana.tumblr.com September Saturday Night Live Season 38 (NBC) Revolution Season 1 (NBC) The New Normal (NBC) Ricardo Villalobos – Dependent And Happy (Perlon) Kenzo – Watermarked (DIS) HIMYM Season 8 (CBS) TBBT Season 6 (CBS) Dexter Season 7 (Showtime) The XX - Coexist (Young Turks) Dieter Roth – Murmel Murmel (Herbert Fritsch, Volksbühne Berlin) Rainald Goetz liest aus Johann Holtrop (26.09. Deutsches Theater Berlin) Oktober Green Velvet (Skype Interview) Mark Fell – Sentielle Objectif Actualité (Mego) Yotam Ottolenghi & Sami Tamimi – Jerusalem (Ebury) Grizzly Bear (31.10. Astra Berlin) November Ben Klock – Fabric 66 (Fabric) Nashville Season 1 (ABC) Die erste halbe Stunde von Looper (Rian Johnson) Kendrick Lamar: good kid, m.A.A.d city (Interscope) Andy Stott – Luxury Problems (Modern Love) Dezember Killing Them Softly (Andrew Dominik) Tiga – Non Stop (Different) Rodney Graham – Canadian Humourist (Johnen Galerie Berlin) Dupa dealuri (Cristian Mungiu) Dave Eggers – A Hologram for the King (McSweeney's).

Das ganze Jahre über: Drexciya – Journey Of The Deep See Dweller I-III (Clone), Late Show with David Letterman (CBS), Chelsey Lately (E!), The Colbert Report (Comedy Central).

 

Robert Weixlbaumer

Schneeschmelze an der Elbquelle. Bergwandern auf wegfließendem Grund. Osterlicht. Tschechischer Wahnsinn. Anthony Mann. Cop-Movie. Rübezahl.

Sommerausflug an den Lido. Zwei Monate vor dem Festival, leicht bizarr (aber anders als ausgemalt), Zeitreise ins Universum der Familienurlaube der 70er Jahre. Frieda interessierte sich mehr für ihre Glee-DVDs als für Fahrrad, Venedig und Sonne. Im kleinen Lido-Kino, zwischen Lagune und Elisabetta, haben wir beide dann doch gemeinsam das schwarze Federkleid von Charlize Theron in Snow White and the Huntsman bewundert und die zerbrechlichen, kristallinen Ungeheuer des Films, die uns wie ein Echo erschienen auf die MTV-Werbung mit den tanzenden, avantgardistischen Quader-Metamorphosen aus dem Kino-Café 15 Minuten davor. Überall Splitter der Kunst.

Das Dunkel des Bode-Saals im Grand City-Hotel in Kassel. Ich hätte die Installation von Tino Sehgal beinahe ganz übersehen, wenn mich nicht ein Freund am ersten Abend darauf noch hingewiesen hätte – im documenta-Begleitbuch fehlen konzeptgerecht die beiden Seiten. Ich blieb dann wohl zwei Stunden im auf und ab der Popgesang/Zartlaut /Distanzüberschreitungsspiele mit den zwölf Tänzerinnen und Tänzern, restlos verzaubert. Wispern und Zungenschnalzen, Immersion, Regression, Erhöhung der inneren Sinne. Als die Tänzer für eine Zäsur alle Besucher sanft aus dem Raum gedrängt hatten, habe ich mich schnell selbst fotografiert. Man erkennt die Empfindung nicht.

 

Matthias Wittmann

1) Verlorene und andere Paradiese:

 Miguel Gomes’ Tabu, vor allem: der zweite Teil (‚Paradies‘), nicht ton-, aber stimmlos, ein Versuch über die Erinnerung > Erinnerung, sprich(t), hier eben nicht, oder doch, alles spricht: der berührende Erzähltext des alten Mannes, ein prose poem für sich, und dann, gerade dank der Dialoglosigkeit: der unfassbare Überschuss an imaginierbaren, investierbaren Stimm(-ung-)en, an ironischen, melodramatischen, politischen, cinephilen Zwischen-, Unter- und Obertönen > da fällt mir ein: als ich Be my Baby hörte, musste ich an Dirty Dancing denken, und bin erschrocken // Rudolf Thomes Ins Blaue, ein weiteres, moralisch sehr entspanntes Paradies, dabei völlig frei von platten Vitalismen // und dann: all die herausragenden Paradiese (wie Höllen), die sozialen Hetero-, Dysto- und Utopien im Nachtclub-, Revue und Bordellkontext, die in diesem Jahr auffallend geballt zu sehen waren: Soderberghs Magic Mike (ein Freund und ich, in der ersten Reihe eines Wiener Kinos, sonst nur weibliches Publikum, manche davon sahen den Film nicht zum ersten Mal, wie mitzukriegen war – gibt es doch noch, doch wieder Hoffnung für das Kino?), Bonellos L’Apollonide (jedes Detail zählt; unfassbare Präzision am Werk) und dann, der Höhepunkt: Go Go Tales, im Pariser Marais nachgeholt > Abel Ferrara (immer mehr Festivals,  auch die Viennale, blenden ihn aus) ist doch eigentlich in Höchstform > bei seiner Vice-Mini-Serie Pizza Connection – ein 7minütiger Espresso zum Frühstück  – geht trotzdem nichts weiter // Ulrich Seidls Paradiese kenne ich noch nicht.

2) Letzte und andere Perspektiven:

 Documenta (13). Nach Hrabi Mrouès Dokumentation über syrische Handyvideos von Regimegegnern, die auf tödliche Gegenschüsse trafen, subjektive Einstellungen der anderen, nicht weniger beklemmenden Art, installiert von Sam Durant im Kassler Barockpark: Ein Gerüst, das aussah wie ein Kletter- und Spielgerüst, entpuppte sich bei näherem Hinsehen/Erklettern als Installation nachgebauter und ineinandergeschobener Galgen (Scaffold). Es waren letzte POVs in Richtung Schlosspark, Blicke auf letzte Dinge, visuelle Fluchtlinien, die Sam Durant auf diese Weise nahe legte, bahnte, ja ‚durchspielen‘ ließ, vor allem auch: Erinnerungen an andere Filme/Hinrichtungsszenen/Perspektiven. Eine Lebensbilderschau aus Filmerinnerungen begann sich zu entrollen. Allen Anthropo-de-zentrierungs-Strategien zum Trotz war ich bei Verlassen dieser ‚Aussichtsplattform‘ doppelt froh, kein Ding zu sein und Dingperspektiven allenfalls in Filmen wie Leviathan ausprobieren zu können // Szenenwechsel, Lissabon (NECS-Tagung): zum dritten Mal dasselbe Hotel, derselbe Blick von Bairro Alto, hinunter auf San Francisco (die Brücke, die nach einem Vertigo-Remake schreit) und Rio de Janeiro (die Jesusstatue), ein Fensterblick, der mich jedes Mal an João César Monteiros grandios melancholischen Kurzfilm Passeio com Johnny Guitar erinnert. Was ich da noch nicht wusste: dass mir die Entdeckung von Monteiros eigentlichem Meisterwerk, seines maßlos unverschämten Films Erinnerungen an das gelbe Haus (1989) noch bevorstand (und zwar bei der diesjährigen Viennale). 

3) Passagen-Werk: 

Das Geschenk des Jahres bleibt für mich Leos Carrax’ Holy Motors, ein Film, auf den ich  irgendwie gewartet habe, was ich aber erst jetzt weiß, vielleicht auch, weil er mir plötzlich wie eine Verfilmung von Schefers Poem über den gewöhnlichen Menschen und die Affektmaschinerie namens ‹Kino› erschien (im Januar sollte es so weit sein), ohne Zweifel: ein Manifest, ein Jahrhundertsteinbruch und eine Echokammer, die so viele Filmpartikel ein-, durch- und ausatmet, dass sich die Zukunft an der Vergangenheit noch lange wird abarbeiten können. Und das beruhigt mich irgendwie.