Radikal zeitgeistig Über die Filme von Martin Müller
In der Mitte stehend: Martin Müller (1967)
© Wolf Huber (courtesey of Martin Müller)
«Du bist faul, eingebildet, unzuverlässig, hast nie Geld. Du liebst mich nicht, und außerdem sind deine Haare zu lang.» – «Was willst du dann von mir?» – «Ich will dich nur heiraten.» Irgendwann müsse schließlich jeder einmal heiraten, meint sie zu ihm. Das klingt mehr nach gelangweiltem Trotz als nach Überzeugungstat. Nach anfänglichem Widerstand kapituliert er. Am Ende packen beide ihre Koffer in den Wagen. «Wie ich dich kenne, hast du eine Hochzeitsreise geplant.» – «Woher weißt du das?» Die letzte Einstellung folgt ihnen, wie sie auf einer von Giebeldachhäuschen gerahmten Schnellstraße die graue Großstadt verlassen, dazu romantische Musik. Ironie schwingt mit. Andere Szenerie: Paul wird vom Vater genötigt, sich endlich einen Job zu suchen. Sonst bleibe die monatliche Zahlung der 400 Mark aus. Gemeinsam mit seiner Freundin heckt er einen Plan aus: Ein Freund leiht ihm seine Bundeswehruniform, mit der er nach Flensburg zum Ernährer fährt und so tut, als wäre er einberufen worden. (Dass Soldaten kurze Haare haben müssen, sei allerdings eine Frechheit!) Das Täuschungsmanöver glückt, der Vater zahlt weiter Starthilfe. Paul kann mit seiner Freundin auf der Matratze liegen bleiben und die Poesie des Rumhängens zelebrieren. Mit Die Kapitulation (1967) und Zinnsoldat (1968) beginnt die Filmografie Martin Müllers.
Martin Müller. Ob man mit solch einem Allerweltsnamen die Chance hat, ein bekannter Filmemacher zu werden? Sein einzigartiges, sich kaum Filmkonventionen oder Verwertungslogiken beugendes Œuvre, das im Wesentlichen bereits zwischen 1967 und 1971 im Kasten war, hätte es jedenfalls verdient, mehr Aufmerksamkeit zu bekommen. 1947 im vogtländischen Pausa geboren, landete Müller mit Zwischenstation in Bayreuth Anfang der 1960er im Schwabinger München der Filmcliquen und Kinobesessenen. Dort entstand mit dem und für den eigenen Freund:innenkreis ein überschaubares Werk. Es handelt vom Hier-und-Jetzt und dem Empfinden der Unangepassten seiner Generation – damals abwertend ‹Gammler› genannt. Ein Kino, das niemandem etwas beweisen will, das uneitel und radikal zeitgeistig ist, ohne je bemüht radikal zu wirken.
Dass Müllers Kino vergessen ist, hat sicher mehrere Gründe. Zum einen liegt es wohl daran, dass er bereits in den frühen 1970ern, wo er gerade einmal eine Handvoll Kurzfilme und zwei halbwegs abendfüllende Spielfilme gedreht hatte, die Filmemacherambitionen schon wieder begrub. Er sei weder geduldig noch ambitioniert genug gewesen, sich mit Fernsehredakteuren herumzuschlagen. Heißt das doch, sich ständig reinreden zu lassen, sich über Jahre hinweg und gegen alle Widerstände an eine (allenfalls teilrealisierbare) Vision zu klammern. Seine Devise war es eher, und das merkt man seinen Filmen unmittelbar an, etwas zu probieren und wenn’s nicht klappt, ist das eben auch eine Erfahrung.
Statt sich in die Mühlen der deutschen Filmförderung zu begeben, beließ es Müller bei einigen wenigen Regiearbeiten und verlagerte sich lieber aufs Arbeiten für andere. Für das impulsive, aus der Situation geborene Anti-«Staatskino» seines 2022 verstorbenen Freundes Klaus Lemke machte er häufig Regieassistenzen (es begann bereits mit dessen Langfilmdebüt 48 Stunden bis Acapulco, 1967). Für den wiederum eher «kunstangestrengten» Filmkosmos von Wim Wenders war Müller ab den frühen 1970er Jahren häufig für den Ton zuständig.
Die fehlende Sichtbarkeit seines eigenen Schaffens hat sicher nicht zuletzt auch mit dem filmhistoriografischen ‹Siegeszug› der Oberhausener und des Neuen Deutschen Films zu tun. Der von den Großen wie Alexander Kluge, Werner Herzog, Rainer Werner Fassbinder und besagtem Wenders geworfene Schatten ist lang. Filmemacher:innen, die parallel zu jenen drehten, vielleicht gar ihren Anteil an der so lebhaften Münchner Film- und Kinokultur hatten, haben es bis heute schwer, über den Status als Randfiguren ihrer Zeit hinauszukommen. Was auf Müller zutrifft, gilt auch für die Neue Münchner Gruppe, deren jüngstes Mitglied er wurde.
Zwischen 1964 und etwa (da weichen die Periodisierungen bereits ab) 1972 schufen hier Jungfilmer wie Klaus Lemke, Rudolf Thome und der drehbuchschreibende Kopf der Gruppe, Max Zihlmann (1936–2022), erst kurze, später abendfüllende Spielfilme. Diese sollten sich sowohl vom gediegenen Unterhaltungskino der Großstudios als auch vom politisierten und zugleich – so empfand es die Gruppe – pädagogischen Filmansatz der selbsternannten Erneuerer des deutschen Films abheben. Kommerzielle Formelhaftigkeit war ihnen ebenso suspekt wie der Wunsch nach einem gesellschaftsrelevanten Themenfilm samt eigener politisch-moralischer Standortbestimmung. An der Peripherie der Gruppe, die nicht kämpferisch auftrat, sich wohl aber herrschenden Tendenzen verweigerte, gesellten sich noch weitere Filmemacher:innen hinzu. Da gab es die auf Mainstream-Nischen schielenden May Spils (*1941), Werner Enke (*1941), Marran Gosov (1933–2021), Roger Fritz (1936–2021) und Eckhart Schmidt (*1938). Auch Auteur-Eigenbrötler wie Veith von Fürstenberg (*1947) und Niklaus Schilling (1944–2016). Schützenhilfe bekam die Neue Münchner Gruppe in ihren Anfängen sogar von Danièle Huillet und Jean-Marie Straub. Die gemeinsam geteilte Abneigung gegen das Selbstverständnis der Oberhausener, die sich in ihrem Manifest 1962 eine staatlich protegierte Führungsrolle ja selbst herbeigeschrieben hatten, verband sie offenbar über alle filmästhetischen Differenzen hinweg.
Das Kino der Neuen Münchner Gruppe verstand sich als «unverkopft» und als das Gegenteil von «staatstragend». Es sollte das eigene, eher dahinplätschernde als aufregende Leben zeigen. Dabei am besten noch rauf und runter gespielte Popmusikikonen und den ein oder anderen Drogentrip würdigen. Ein lustiges, ein lässiges Gegenwartskino war der Plan, das seine Ziel- und Tendenzlosigkeit stolz vor sich herträgt. Dafür, aber auch einfach so, saß man bis Anfang der 1970er oft in der Kneipe Bungalow herum. Ansonsten gingen Müller und Co. in den Türkendolch, ein Repertoirekino in der Türkenstraße. Dort liefen in der preiswerten Spätschiene Filme von Howard Hawks, Nicholas Ray und Budd Boetticher. Also Filme, die die Cahiers du cinéma bereits adelten, während die Kritiker:innen der Filmkritik – die deutsche Autorität für linke Filmkritik der Zeit –, laut Müller noch die Nase drüber rümpften. Kino bedeutete für ihn, Lemke, Thome, Zihlmann: Gesten, Sprüche, Wunschbilder. Film verstanden sie nicht als Anlass zum Abstrahieren, sondern als etwas, in das man eintaucht. Wenn die Filme anderer zur Weltanschauung wurden, war es nur konsequent, selbst Filme über das eigene Leben zu machen, wenn auch im kleineren Maßstab.
Setfotografie Anatahan, Anatahan
© courtesey of Martin Müller
Film und Leben – filmgewordene Träume von einem ‹filmreifen› Leben: Anatahan, Anatahan von 1968 ist Müllers erster längerer Film, nachdem er mithilfe des geschäftstüchtigen Filmemacher-Produzenten Marran Gosov (eigentlich Tzvetan Marangosoff) erste zehnminütige Kurzfilme drehen konnte, die es darauf anlegten, ein Prädikat «wertvoll» bei der Filmbewertungsstelle abzustauben. Dadurch wurden sie, auch wenn für Müller finanziell dabei so gut wie nichts heraussprang, für die Vorfilmprogramme der Kinobetreiber:innen interessant. Denn bei ihrem Einsatz entfiel die Vergnügungssteuer, und zwar selbst dann – der Trick! –, wenn der Hauptfilm kein solches Prädikat vorweisen konnte.
Nun also mit Anatahan, Anatahan ein erster Fünfzigminüter. Eine Spiegelung des eigenen Alltags in aufgeräumten, grobkörnig schwarzweißen 16 mm-Bildern, nie für die Außenwelt bestimmt. Der schlichte Vorspann listet die Namen aller ‹Beteiligten› ohne ihre Funktionen hintereinander auf, vermengt dabei Filmcrew und eigene Pop-Idole. Das geht dann so: Martin Müller, Bob Dylan, Veith (Fürchtegott) von Fürstenberg, Amon Düül II, Sonja Lindorf, Creedence Clearwater Revival. In der Schwabinger Bude, die wir kaum je verlassen, wird nämlich viel Musik gehört – mit ihr in den Tag hineingelebt. Man hält sich mit Filmstatist:innenjobs über Wasser (auf Produktionen mit Langhaarigen sei man ohnehin abonniert), ruft sich von Zimmer zu Zimmer an, wenn man die Butter braucht, liest demonstrativ die Zeitung von gestern (die Nachrichten sind eh veraltet). Damit es überhaupt etwas zu tun gibt, plant man halbherzig ein Theater namens «Superstück», dessen Text aus einer Collage herausgerissener Seiten der Klassiker besteht, die sowieso im Bücherregal herumstehen. Drei Seiten Ein Sommernachtstraum, eine Seite Zar und Zimmermann, zwei Seiten Turandot, drei Seiten Die Maßnahme, eine Seite Richard III. «Sein oder Nichtsein von Shakespeare. Das muss auch noch rein.» Ein bisschen so funktioniert auch der Film: eine Abfolge disparater Momente, durchdrungen von ikonischen Songs. Am Ende bleibt vom Vorhaben tatsächlich nur Livemusik übrig. Ein Erzähler berichtet uns, bevor der Film zur finalen statischen Halbtotale eines Auftritts der Krautrocker Amon Düül II hinüberschneidet: «Man hat das Theaterspielen aufgegeben. Warum auch noch Theater spielen, wenn man ohnehin schon Theater spielt. Es war auch niemand traurig darüber, man musste nur etwas Neues finden.» Die Performance geht gut zehn Minuten, die letzte davon ist stummes Auseinandergehen. Einfach nur die Band, Publikum, Klänge. Ein Fünftel des Films, keine Schlusspointe. Man ist auf diesen inoffiziellen Beginn des Slow Cinema nicht vorbereitet.
Kamera und Schnitt folgen keinem Gesetz. Rainer Knepperges beschreibt im einzigen mir bekannten Text zu Müller, München März 1969 (erschienen im Zine Siggi-Götz-Entertainment), schön eine Szene, in der eine junge Frau ihrem Kumpel von einer Begegnung mit Mick Jagger berichtet. Die Anekdote endet mit einer Enttäuschung. Die Kamera läuft länger als von Christi Culemann, die als Laiendarstellerin hier etwas aus ihrem Leben preisgibt, gedacht. «Zum Glück, denn so fing er die Augen des Mädchens ein, die direkt in die Kamera schauen, dann beiseite und wieder direkt in die Kamera. Drei unbeschreibliche Blicke. Man kann sie zwar zählen, drei Stück, als wären es Sternschnuppen am klaren Nachthimmel oder Tiger im Gehege, doch ihr Effekt bleibt unfasslich.»
Schön ist auch, dass Müller seinen nur halbfertigen Debütkurzfilm als Film-im-Film in Anatahan, Anatahan hineingeschmuggelte. Filmfigur Veith (gespielt von Veith von Fürstenberg) hat nämlich den Kurzfilm «Anatahan, Anatahan» gedreht, den er im Anschluss an seine neuerliche Statistenrolle dem Regisseur und dessen Stab vorstellt. Darin streift ein von Werner Enke gespielter Slacker mit Sonnenbrille und Lederjacke durch Münchner Straßen und bezahlt partout nicht für Äpfel und seinen schwarzen Kaffee mit viel Zucker. Klaus Lemke ist in der selbstironisch überkandidelten Rolle des Hollywood-Newcomers Montgomery Hathaway von diesem Debüt derart beeindruckt, dass er Veith eine Karriere verspricht und ihn kurzerhand als seinen Regieassistenten engagiert. Sein bisheriger, gespielt von Müller selbst, bleibt dafür in München. Die Irrealität des Ganzen greift nicht zuletzt augenzwinkernd den Hollywoodfimmel der Münchner Gruppe auf. Wunsch, Ironie und die eigene Alltagsrealität fließen in Anatahan, Anatahan ineinander.
Ein Sehnsuchtsbild US-amerikanischen Lifestyles ist auch das Cabriolet im Kurzfilm Die Geschäftsfreunde (1968). Zwei Gangster im Anzug, gespielt von Lemke und Peter Berling (1937–2017), kommen damit in einer piefigen 50er-Jahre-Wohnsiedlung an. «Wir sind Geschäftsleute und warten auf einen Geschäftspartner», behaupten sie. Tatsächlich ist ihr Auftrag, einen Typen (Christian Friedel, *1943) kalt zu machen. Der ist aber nicht da. Stattdessen lädt seine Freundin (die Gangster wissen es nicht) sie zu Martinis und Discobesuchen ein. Da immer einer aufpassen muss, ob die Zielperson nicht doch noch eintrifft, wechseln sie sich ab. Eine absurde Anlage, und dennoch ist es Müllers am stärksten am Kino seiner Vorbilder orientierter Film: schnörkellos, oberflächenbetont, zackig inszeniert, sogar mit einem physischen Finale.
Lediglich die Miniatur Under My Thumb (1968) setzt da ähnlich stark auf Schauwert – apropos: in Müllers Filmen hängen oft die immer gleichen stylischen Drucke und Plakate an den Wänden (Andy Warhols Monroe, ein Cowboy-Elvis). Under My Thumb ist schnell und hart, voller Pathosformeln, etwas, was die anderen, weit entspannteren und darin besser gealterten Kurzfilme eigentlich kaum interessiert. Dreiminütig, für eine Fingerübung erstaunlicherweise in Cinema-Scope gedreht, wälzt sich die Liveperformance des titelgebenden Rolling Stones-Songs über die Tonspur, während die Bildebene dem frühen Godard’schen Diktum vom A-Girl-and-a-Gun-Cinema verpflichtet scheint. De facto ein Musikvideo, bevor es Musikvideos gab. Hier ist eingedampft, was auf Müllers Filme mehr oder weniger immer zutrifft: es sind Musikfilme. Ohne Autofahrten und Stadtparcours zu Rock, Blues oder Folk geht es eigentlich nicht.
Unser Doktor (1970) ist im Grunde ein zehnminütiger, musikunterlegter Roadtrip, zugleich Müllers rätselhaftester, da völlig kontextbefreiter Film. Wie so oft sind wir in eine Szenerie hineingeworfen, ohne dass uns die Motivation der Filmfiguren auch nur annähernd nähergebracht wird. «Unser Doktor hat uns eine Beschreibung des Weges gegeben, von der wir nicht recht wussten, was wir davon halten sollten. Wir sollten so lange in dem Gebiet herumfahren, bis wir die Stelle mit den drei Bäumen gefunden hatten. Irgendwie kam es auch darauf an, zu der richtigen Zeit da zu sein.» So der Voiceover zu Anfang. Zwei langhaarige Typen (von Fürstenberg und Müller), eine Karre. Schließlich dann die Stelle mit den drei Bäumen am Seeufer. Ein sonnenbebrillter Typ mit Koffer, der nicht wie ein Doktor aussieht. Die Übergabe findet statt. Ein Drogendeal? Eine Terrorzelle? Es wird nicht aufgelöst, ist auch egal. Der Film besteht nur noch aus Atmosphäre, Bewegung, tiefenentspanntem Blues zu Bildern zarten Naturlichts. Kurz vor der Transaktion, etwa in der Filmmitte, gibt es eine Szene, die wieder an das Slow Cinema denken lässt. Das Auto parkt an einem Teich, die beiden Reisenden rauchen einen Joint auf der Motorhaube, gefilmt ist das Ganze vom entgegengesetzten Ufer aus. Die untere Hälfte des Bildes nimmt die mit Herbstlaub übersäte Wasseroberfläche ein, Bäume spiegeln sich darin, das Sonnenlicht funkelt. Bernd Fiedler (*1941), der bereits bei Anatahan, Anatahan und Rudolf Thomes Rote Sonne (1969) die Kamera führte (später noch den ebenso obskuren Roadtrip Auf Biegen oder Brechen (1975) von Hartmut Bitomsky bebildern sollte), drehte die Szene in Zeitlupe. So werde das Flirren des Lichtes sichtbar. Anderthalb Minuten dauert die Totale, gefühlt ist sie länger. Es gibt keine dramaturgische Begründung für diese Szene, sie ist einfach ‹nur› schön.
Müllers Kino nimmt sich die Zeit, die es braucht. Auch wenn das an den Sehgewohnheiten des Publikums vorbeiinszeniert ist. Radikal wirkt das beim zweiten Lang- und ersten Farbfilm Furchtlose Flieger (1971), den der WDR sowie der frisch gegründete Verlag der Autoren produzierte. Müller führt gemeinsam mit von Fürstenberg Regie, nach einem Drehbuch von Max Zihlmann. Hier treiben sie ihr Hangout Cinema auf die Spitze: Wieder zwei Typen. Sie versuchen, einen maroden Doppeldecker, der im Garten eines Straßenlokals irgendwo in Italien vor sich hinrostet, auf Vordermann zu bringen. Ein Gangster, der wiederum in einem abgeranzten Hotel vor sich hinvegetiert, interessiert sich dafür. Es ist aber nicht so, dass die Reparatur im Zentrum stünde. Ein bisschen Liebe hier, kleine Rivalitäten, Musik- und Schachspieleinlagen da. Am Ende hebt das Teil tatsächlich zu US-Prog-Rock ab; ein Abenteuerfilm ist es eher nicht.
Keiner hat das Pferd geküsst (1980)
© Albatros Filmproduktion
Extrem unaufgeregt geht es auch in Müllers letzter Regiearbeit zu. Für die autorenfilmaffine Albatros Filmproduktion sowie die strikt kommerziell ausgerichtete deutsch-österreichische Lisa Film, deren Erfolgsrezept ein Mix aus Pauker-, Heimat-, Schlager-, Klamauk- und Softsexfilmen war, drehte Müller nach längerer Pause die Komödie Keiner hat das Pferd geküsst (1980). Das Produzentenkalkül war sicherlich, auf der Welle quirliger, im Kontext des deutschen Unterhaltungsfilms sagenhaft leichtfüßiger RomComs mitzureiten, die Lemke ab Mitte der 1970er mit den ostentativ bayerischen Darsteller:innen Wolfgang Fierek und Cleo Kretschmer fürs Fernsehen gedreht hatte. Statt Kretschmer ist hier Dolly Dollar (eigentlich Christine Zierl) mit im Boot, die sehr schön das von der Großstadt verzauberte, kindlich staunende Landei spielt. Sie begleitet ihren Schwarm Wolfgang (Fierek) auf einen Trip nach München, wo der Pferdehändler den Schimmel Vroni bei der «Roten Mühle» abzuliefern hat. Das Problem: Beide gehen davon aus, dass ihr Ziel eine echte Mühle ist, tatsächlich entpuppt sie sich als Nachtlokal, das eine Striptease-Nummer mit Vroni als Attraktion plant. Als sich Dollars Marie dort zu allem Überfluss noch an den feiernden Schlagerstar Richard «Ritchie» Rigan ranschmeißt (1945–2023, die SZ titelte: «Der ‹Elvis von Schwabing› ist tot»), eskaliert die Situation aus Sicht Wolfgangs langsam. Die Betonung liegt auf langsam. Keiner hat das Pferd geküsst ist die Zeitlupenversion einer Lemke-Komödie. Ein warmherziger, faszinierend auf der Stelle tretender Liebesfilm, ehrlich an seinen Figuren interessiert und fernab von jeglichem Zynismus, allerdings auch fernab von jeglichem Komödientiming. Hier treffen nicht nur unterschiedlichste Gestalten auf engstem Raum aufeinander, sondern quasi auch Zeitschichten deutscher Filmgeschichte. So wird der launige Clubbesitzer vom Papas Kino-Liebling Eddi Arent gespielt, Sprücheklopfer aus den Edgar-Wallace- und Karl-May-Verfilmungen der 1960er Jahre. Undenkbar im Tee-Joint-Langhaar-Kosmos von Müllers frühen Filmen, hier aber gut aufgehoben. Zumal sich in der Figur augenzwinkernd ein Generationskonflikt zeigt: Foxtrott vs. Rock’n’Roll.
Apropos Filmgeschichte: Von Müller, aber auch von seinen Mitstreitern der Neuen Münchner Gruppe, hört man manchmal, sie wollten Filme machen, die denen ihrer Hollywood-Idole Hawks und Co. glichen. So richtig habe ich das nie kapiert. Klar, da gibt es die eher funktional schlichte Kameraarbeit, griffige Sprüche und diese ‹widerspenstige› Gleichgültigkeit den Normen der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber – wie im Gangsterfilm. Aber die Münchner Filme sind eben auch sehr deutsch, nur behauptet (wie auch sonst?) kosmopolitisch. Erzählerisch wollen sie, mit ihren Gesten, Zitaten, Träumen, schon auf etwas ganz anderes als «Hollywood» hinaus. Da ist, so scheint mir, mehr Lakonie und untergründiger Witz drin.
Und doch: Kurz nachdem beim diesjährigen GEGENkino Festival in Leipzig eine (von mir kuratierte) Hommage an Müller lief, habe ich eher zufällig Hawks’ To Have and Have Not (1944) im Kino wiedergesehen. Hangout Cinema. Vielleicht ist es vor allem das? Auch wenn Hawks‘ Film natürlich eine ganz andere dramatische Rahmung als etwa Anatahan, Anatahan hat, so treffen sich doch beide darin, ihre charismatischen, der eigenen Umwelt stets eine gewisse Skepsis entgegenbringenden Held:innen beim Rauchen, Musikmachen und Blickewechseln auf eine Weise einzufangen, die einlädt, sich zu ihnen zu gesellen, einzutauchen.
Bislang ist keiner der genannten Filme Martin Müllers auf DVD oder BluRay erschienen; Keiner hat das Pferd geküsst ist via Amazon Prime streambar