spielfilm

15. Dezember 2012

Neuer Deutscher Film Die Vertreibung aus dem Paradies (1977) von Niklaus Schilling

Von Bert Rebhandl

© DIF

 

Dieser Tage war ein Reclam-Bändchen in der Post: Stilepochen des Films VI: Neuer Deutscher Film, herausgegegeben von Norbert Grob, Hans-Helmut Prinzler und Eric Rentschler. Anton Kaes schreibt darin über Fata Morgana, Thomas Elsaesser über Harun Farockis Etwas wird sichtbar, Rentschler über Bierkampf. Und es gibt einen Text von Michael Althen über Rudolf Thomes Berlin Chamissoplatz, in dem das Rätsel um den an der Zimmerwand von Anna geschrieben stehenden Satz «je reposer comme une fraise» auch nicht gelöst wird, weil es darum natürlich nicht geht in einem Film, der mit dem Satz beworben wurde: «Im Kino schlafen heißt dem Film vertrauen.» Diesen Satz, wenn er ihn nicht ohnehin selbst in die Welt gesetzt hat, hat Michael Althen gern zitiert.

Ich habe zu dem Reclam-Band auch einen Text beigesteuert, der dann aber aus Umfangsgründen nicht gedruckt wurde. Hier sind meine Überlegungen zu Die Vertreibung aus dem Paradies von Niklaus Schilling.

Als Anton Paulisch, aus dem Süden kommend, in winterlicher Landschaft die Grenze nach Deutschland überschreitet, wird gerade die Flagge eingeholt. Sein Pass ist abgelaufen, einen Schnitt später spielt das aber keine Rolle mehr, und er lässt sich von dem italienischen Paar, mit dem er als Autostopper unterwegs war, an einer Straßenkreuzung absetzen. Nach links geht es in den oberbayerischen Ort Murnau, nach rechts nach München, wohin Anton durch ein Telegramm seiner Schwester Astrid gerufen worden war: Die Mutter liegt im Sterben, der Sohn kommt schließlich zwei Stunden zu spät. Er trifft sie lebend nicht mehr an, er kommt nur noch zurecht, um seiner Schwester Trost zu spenden und an dem Begräbnis teilzunehmen, bei dem sich ein Vertreter der Bayerischen Kreditbank als sein Gegenspieler und Nebenbuhler zu erkennen gibt.

Anton hat als Schauspieler mit dem Künstlernamen Andy Pauls in Rom gelebt, das bedeutet: unsicheres Auskommen, unregelmäßige Arbeit, Gefangenschaft in einem Traum (vom Kino). Berens hat eine sichere Stelle, er hat der Mutter Paulisch jenen Kredit verschafft, mit dem sie das nach dem Tod des Vaters verbliebene Fotogeschäft noch eine Weile weiterführen konnte, bis sich schließlich nach ihrem Tod dessen Existenzgrundlagen als nicht mehr ausreichend erweisen. Berens möchte Astrid heiraten, die wiederum liebt ihren Bruder, den sie nicht heiraten kann, zumindest aber kann sie mit ihm ins Bett gehen. Andi und Astrid sind Kinder der fototechnischen Ära, aber das Erbstück an den Sohn entstammt einer anderen Zeit: Ein Stich, den die Mutter über dem Bett hängen hatte, auf dem «Die Vertreibung aus dem Paradies» zu sehen ist. «Das habe ich nie verstanden mit dem Paradies», sagt Andi, der den ganzen Film hindurch mit dem sperrigen Objekt nicht viel anfangen kann. Es ist ein Dingsymbol dafür, dass er ein bestimmtes Erbe nicht antreten will – die kleinbürgerliche, rechtschaffene Existenz der Eltern, die er noch in seiner Schwester Astrid verkörpert sieht, zu der er sich allerdings mehr als nur geschwisterlich hingezogen fühlt.

Sie spricht auch den Satz aus, der für den Fortgang der Geschichte entscheidend ist: «Auch in München werden Filme gedreht.» Andy Pauls entscheidet sich gegen die sofortige Rückkehr nach Rom und sucht stattdessen in der deutschen Filmbranche nach Arbeit. Sein Prestige im internationalen Kino der Stars hat Schilling schon zu diesem Zeitpunkt markant akzentuiert: Auf den Schwarzweißfotografien von den Sets für Fellinis Roma oder andere bekannte Filme wirkt Andy Pauls wie jemand, den man im Bildausschnitt vergessen oder übersehen hat – ein Komparse, der nicht rechtzeitig zur Seite getreten ist. Er ist peripher in einem ganz buchstäblichen Sinn, seine Herkunft aus Deutschland ließ ihn offensichtlich über den Status eine Faktotums nicht hinauskommen. Dies geht vor allem aus der einzigen Rolle hervor, die er mit Bravour immer noch weiterzuspielen vermag – den «mechanical man», eine Clownfigur mit Robotermotorik. Andy Pauls bewegt sich zunehmend desillusioniert durch München, das von Beginn an im Zeichen einer enttäuschten Cinephilie stand: Das Kino in der Nachbarschaft seiner Eltern «heißt jetzt Tengelmann», so seine erste, sarkastische Beobachtung, als er aus dem Taxi steigt; es ist also geschlossen und durch eine Supermarktfiliale ersetzt worden.

Nach und nach bekommt die Geschichte von Andy Pauls einen Bezug zu dem Titel von Niklaus Schillings Film: Er ist ein Vertriebener aus dem Paradies des Kinos, er ist in die irdischen Verhältnisse einer deutschen Filmbranche gefallen, die konsequent mit Motiven der Hochstaplerei und des Bankrotts assoziiert wird. Andy Pauls bekommt schließlich doch noch eine Rolle, allerdings nur für einen Werbefilm, bei dessen Dreharbeiten er sich unsäglich blamiert – er kann nämlich nicht Autofahren, und soll doch den Lenker eines Sportwagens spielen. Danach ist sein Ruf endgültig ruiniert, und er kann als ein «Outlaw» des in den Fernsehredaktionen verkommenden deutschen Films eine Karriere jenseits seines Traumberufs einschlagen. Er wird zum Sekretär einer attraktiven Heiratsbetrügerin, mit der er gutgläubigen älteren Herren größere Summen abnimmt, nur um am Ende erst recht mit leeren Händen dazustehen. Den großen Coup am Ende organisiert Schilling überraschend und mit einer Veränderung in der Personenkonstellation, die das Motiv der Wahlverwandtschaften mit dem der Geschwisterliebe eng führt: Zwei Männer und zwei Frauen fahren nach Italien, im Koffer einen Haufen Geld (das nun aber dem kleinbürgerlichsten aller Delikte entstammt: einer Unterschlagung), aber erst im Paradies des Kinos, in Cinecittà, kann Anton Paulisch wieder zu Andy Pauls werden – in einem offenen Ende, das ebenso sehr Beschwörung wie Entzauberung eines Mythos ist.

Als Die Vertreibung aus dem Paradies im April 1977 auf der Duisburger Filmwoche uraufgeführt wurde, war dies der erste neue Film von Niklaus Schilling seit Nachtschatten (1972), einem mit kleinem Budget in der Lüneburger Heide gedrehten Spiel mit Genre-Elementen des Horrors und der Naturmythologie. Karsten Witte schrieb von der Premiere eine enthusiastische Notiz, er beobachtete einen «Cinéasmus, der aus seinen betörenden Formen das Bewußtsein seiner Mythen austreibt» (Frankfurter Rundschau vom 4.4.1977) – eine Formulierung, die in ihrer Vieldeutigkeit ganz gut die Ambivalenz zum Ausdruck bringt, von der Die Vertreibung aus dem Paradies geprägt ist. Schilling ist hier an einer Vermittlung zwischen der unglamourösen Alltagskultur Münchens mit einer Reihe von Motiven der Überhöhung gelegen, von denen die Opernmusik von Donizetti und Verdi und der Horizont des großen Kinos die entscheidenden sind, zu denen aber auch Topoi wie der vom Geschwisterinzest oder vom großen, befreienden kriminellen Coup gehören. Der Stich Die Vertreibung aus dem Paradies von Gustave Doré, der in einem schweren Rahmen über dem Bett von Mutter Paulisch hängt und von dort abgenommen wird, ist auch für diese Vermittlung das Dingsymbol – er steht für eine kleinbürgerliche Aneignung jener Erzählstoffe, die zum Menschheitserbe gehören (wenn man es genau nehmen will, steht dieses Bild sogar für den Anfang allen Erzählens und von Geschichte selbst, denn das Paradies war in seiner Vollkommenheit ja ereignislos). Der Stich bringt das «bigger than life» der Mythologie in das Schlafzimmer einer deutschen Kleingewerbetreibenden, und fällt als deren Erbe dem Unverständnis ihrer Kinder anheim, die schon mit dem Kino groß geworden sind.

Mit der Filmmusik wiederholt Schilling diese Aneignungsprozesse trivial gewordenen kulturellen Materials, in denen sich die spezifischen Möglichkeiten des deutschen Films in den 1970er Jahren herauskonturieren. Die Vertreibung aus dem Paradies beginnt mit einer Overtüre, also auf der Ebene des Tons wie eine Oper, während die Bilder dazu einen tapsigen Grenzbürokraten zeigen, der sich mit der Flagge der BRD abmüht, die er erst einholt, dann aber wieder hisst. Schon hier klaffen also zwei mythologische Motive auseinander: Das aus dem 19. Jahrhundert überlieferte Pathos, das sich damals noch für konkrete politische Zwecke in Dienst nehmen ließ (vor allem die Legitimierung der jungen Nationalstaaten), wird im 20. Jahrhundert zu einem ästhetischen Potential, das gewissermaßen frei wird für andere Besetzungen. Das Pathos der Opernmusik schließt sich nicht mehr an eine Sache an (die Überhöhung der Liebe oder des Gemeinwesens), es wird leer und gerät in ironischen oder tragikomischen Widerspruch zu den alltäglichen Situationen, in denen es bei Schilling erscheint. Das Pathos verweist nur noch auf sich selbst in seinem Widerspruch zu einer als schnöde und trivial empfundenen Gegenwart.

Die Musik ist das wichtigste stilistische Merkmal in Die Vertreibung aus dem Paradies. Mehrfach verknüpft Schilling heterogene Szenenanschlüsse, indem er Musik von Donizetti oder Verdi über den Schnitt hinweg fortführt. In Rheingold, den er ein Jahr später herausbrachte, übernimmt ein elektronischer Soundtrack von Eberhard Schoener dieselbe Funktion. Im Kontext des Neuen deutschen Films steht Schilling mit diesem diegetischen, zugleich inhaltlichen wie autonomen Einsatz von Musik aus dem 19. Jahrhundert nicht allein. Alexander Kluge, Werner Schroeter und Hans Jürgen Syberberg greifen ebenfalls prononciert auf Musik zurück, die als Kulturgut kanonisiert ist und als romantische der Entmythologisierung Widerstand leistet. Aber bei Kluge ist diese Musik nur ein Teil in einem modernistischen Diskurs, dessen Form die Collage ist und dessen Subjekt sich als kühler Polyhistor aus dem Zeitgeschehen herausnimmt (Deutschland im Herbst); bei Schroeter ist die Musik ein Movens der queeren Entgrenzung und Entsubjektivierung (Eika Katappa); und bei Syberberg bildet sie einen Horizont für die Ästhetisierung von Geschichte insgesamt (Hitler – Ein Film aus Deutschland). Schilling hingegen erhebt mit der Musik von Donizetti und Verdi einen Anspruch: Er möchte das Kino (zumal das deutsche seiner produktionshistorischen Gegenwart) auf die Höhe des Pathos bringen, das der Kultur im 19. Jahrhundert noch eignete. Sein Protagonist findet aber nur Tengelmann, und die Stadt des Kinos Cinecittà bildet als Chiffre der Rückkehr in das Paradies den Horizont für ein Ankommen, dem die ganze Ambivalenz eines Falls aus der Welt und aus der Erzählung eignet.