berlinale 2019

Materialstände Notizen zum feministischen Videoaktivismus der 70er Jahre und zu neuen Arbeiten von Mischa Hedinger, Jean-Gabriel Périot und Thomas Heise

Von Cristina Nord

DELPHINE ET CAROLE, INSOUMUSES © Berlinale

 

Am zweitletzten Tag des Jahres 1975 sitzt Françoise Giroud in einem Pariser Fernsehstudio. Sie ist Dreh- und Angelpunkt der Show Das Jahr der Frau. Gott sei Dank! Es ist vorbei. Die UNO hatte das Jahr 1975 als «Internationales Jahr der Frauen» deklariert, und nun hält der Moderator Rückschau, indem er Giroud, 1974 von Valéry Giscard d’Estaing zur Staatsekretärin für Frauenfragen ernannt, mit Männern konfrontiert, die sich besonders misogyn geben. Ein Gastronomie-Kritiker sagt, Frauen könnten nicht kochen, ein Modemacher, Frauen machten immer alles falsch, denn sie seien nachlässig, wenn sie auf sich achtgeben sollten, und gäben auf sich acht, wenn sie gefälligst nachlässig zu sein hätten. Ein Fernsehproduzent behauptet, es gebe keine guten Moderatorinnen, deswegen heuere er nur Männer an. Auf die abwertende Rede reagiert Giroud meist wohlwollend, entschuldigend und um Gelassenheit bemüht. Sie lacht viel, zupft an ihren Ohrringen und erkennt in einem Schlager eine Liebeserklärung an Frauen, obwohl darin körperliche Gewalt verharmlost wird.

Das Jahr der Frau. Gott sei Dank! Es ist vorbei wäre vergessen, hätte sich nicht seinerzeit ein Kollektiv von Videoaktivistinnen rund um die Schauspielerin Delphine Seyrig (sie spielte die Fee in Jacques Demys Peau d’âne und die Gräfin Bathory in Harry Kümels Les lèvres rouges) dazu entschlossen, Einspruch zu erheben. Das Kollektiv «Les insoumuses» (ein Wortspiel aus Muse und «insoumis», widerspensig) machte damals aus der Fernsehsendung ein 55-minütiges Video namens Maso et Miso vont en bateau. Mit Schrift- und Filminserts, Voiceover, einer Soundcollage und gif-artigen Wiederholungen von besonders absurden Momenten legen sie die Hilflosigkeit der Staatssekretärin und die Zumutungen der Show frei. Am Ende steht ihr Fazit auf einer handschriftlichen Texttafel: Es gehe nicht um Giroud persönlich und auch nicht um die Frage, ob eine andere Frau an ihrer Stelle es hätte besser machen können. Es gehe um die Struktur, die einer Frau eben nur dann Sendezeit und Sichtbarkeit gewähre, solange sie sich zur Komplizin ihrer eigenen Unterdrückung mache.

Auch Maso et Miso vont en bateau wäre vermutlich vergessen bzw. nur noch einem kleinen Zirkel Eingeweihter ein Begriff, hätte nicht das Berlinale Forum in diesem Jahr eine Sonderreihe namens «Archival Constellations» ins Leben gerufen. Kaum bekannte, verschollene oder zensierte Filme aus Marokko und Kolumbien, Sudan oder Afghanistan waren zu sehen – und eben auch drei Arbeiten von «Les insoumuses» sowie der Dokumentarfilm Delphine et Carole, insoumuses von Callisto McNulty, der den Werdegang und die Methoden Delphine Seyrigs und ihrer Mitstreiterin Carole Roussopoulos nachzeichnet.

Wer diese Filme heute sieht, reibt sich die Augen, weil die Kluft zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart so groß erscheint. Vieles erstaunt: wie erschreckend ungebrochen der Chauvinismus gelebt wurde, wie viele Rechte, die heute unverbrüchlich scheinen, nicht selbstverständlich waren (zum Beispiel das auf körperliche Unversehrtheit), wie gang und gäbe es war, Frauen der Lächerlichkeit preiszugeben, aber auch, wie kraftvoll die Frauenbewegung in den 70er Jahren in Frankreich auftrat, wie vergnügt und humorvoll «Les insoumuses» zu Werk gingen und wie charmant selbstgebastelt ihre Videos ausschauten. Unübersehbar sind der Aufbruch, der in der Luft lag, das Begehren, scheinbar individuelle Nöte als gesellschaftlich produziert und damit als veränderbar zu begreifen, und die Lust, dafür neue Darstellungsformen zu entwickeln. Delphine et Carole, insoumuses erinnert zum Beispiel daran, wie Prostituierte in Lyon Mitte der 70er streikten, indem sie eine Kirche besetzten. Sie forderten vor allem ein Ende der Kriminalisierung ihrer Arbeit. Sie waren misstrauisch und wollten die Regie über das Bildmaterial nicht bei Seyrig und Roussopoulos belassen. Also filmten die beiden in der Kirche, sahen sich das Material gemeinsam mit den Prostituierten an, kompilierten es an Ort und Stelle und übertrugen es anschließend nach draußen, wo verblüffte Passanten vor Bildschirmen standen. In der Rückschau erläutert Roussopoulos, dass es ohne die damals neue Videotechnik gar nicht möglich gewesen wäre, diese Art von filmischem Aktivismus voranzutreiben.

Schaut man die Arbeiten von «Les insoumuses» heute, liegt die Reaktion nahe, eine große Entfernung zwischen Vergangenheit und Gegenwart wahrzunehmen. Doch nach einer Weile taucht die Frage auf, ob dieses Gestern wirklich so weit weg ist. In Sois belle et tais-toi (1981) sprechen Schauspielerinnen wie Jane Fonda, Maria Schneider, Juliette Berto oder Shirley MacLaine darüber, welcher Unsinn ihnen aus dem Mund von Produzenten, Regisseuren, Drehbuchautoren entgegenschlägt, welche Demütigungen und wieviel Sexismus sie Tag für Tag erleben. Klingt wie Me too? Eben. 1981 war alles schon da. Man hat es nur wie so oft nicht richtig hören wollen, und man erinnert es nicht mehr. Damit nicht genug: Die Sorge, dass diejenigen, die heute der Rückkehr zu angestammten Geschlechterrollen das Wort reden, Zustände wie in Maso et Miso vont en bateau anstreben, besteht aus gutem Grund. Umso mehr überrascht, wie viele sich mit diesen Positionen ernsthaft auseinandersetzen wollen, ganz so, als sei der Chauvinismus ein valides Argument.

Es war ein kluger Schachzug der Berlinale, eine ganze Reihe von Filmen ins Gesamtprogramm aufzunehmen, die vergangene gesellschaftliche Auseinandersetzungen und die filmischen, ästhetischen, intellektuellen Antworten darauf vergegenwärtigen. Von heute aus betrachtet, führt dies zu folgenden Fragen: Was ist vom weltweiten emanzipatorischen Aufbruch der 60er und 70er Jahre in der Gegenwart sichtbar und nutzbar? Was kann als Grundlage dafür dienen, denjenigen entgegenzutreten, die hinter diesen Aufbruch zurückwollen? Etwas allgemeiner formuliert: Was ist alles schon gedacht und gefilmt worden? Mit welchen ästhetischen und technischen Lösungen, mit welchen Materialien? Obschon gesellschaftlicher Fortschritt sich nicht als linear denken lässt, gibt es eine Summe an Reflexionen, an gesammeltem Wissen und an Ausdrucksformen, hinter die zurückzufallen bedeutet, sich dümmer zu stellen als nötig. Diedrich Diederichsen hat vor einigen Monaten Adornos Begriff des Materialstandes reanimiert, um diese Summe an Wissen zu benennen. Wo immer die Berlinale Gelegenheit bietet, einen existierenden, heute aber verschütteten Materialstand zu erkennen, löst sie ihren selbst gesteckten politischen Anspruch viel eher als mit den üblichen Themenfilmen des Wettbewerbs ein.

Manchmal wirkt es trotzdem etwas betulich, etwa in Agnès Vardas gefilmter Masterclass Varda par Agnès, deren didaktische Aufgeräumtheit vom Übermut der frühen Filme so weit entfernt war wie die Erde vom Mond. Szenen aus Le bonheur wiederzusehen macht trotzdem Vergnügen – und führt wiederum vor Augen, wie viel Unglück im Privaten herrschte, als Geschlechterrollen rigide waren. In anderen Fällen hält die Vergegenwärtigung der Vergangenheit dem Heute nicht ganz stand – etwa in Mischa Hedingers Filmessay African Mirror.

 

AFRICAN MIRROR © Mischa Hedinger

 

Der Schweizer Regisseur kompiliert Material, das René Gardi (1909–2000), ein zu Lebzeiten in der Schweiz populärer Journalist, im Norden Kameruns gedreht hat. Die Kameruner tauchen darin entweder als edle Wilde oder als dumme Kinder auf; Gardis großonkelhafte Kommentare aus dem Off betrauern, dass eine falsche, übereilte Modernisierung die traditionellen Lebensweisen auslösche, belehren, dass die Unabhängigkeit für diese Menschen keine Option sei, oder träumen: Wäre es nicht schön, hätte die kleine Schweiz Kolonien, damit die jungen Schweizer sich wie die jungen Franzosen austoben könnten? Hedinger lässt all dies unkommentiert, und er tut gut daran, denn je haarsträubender diese Konstruktion europäischer Überlegenheit ausfällt, umso weniger bedarf es einer expliziten Einordnung. In diesem Sinne betreibt African Mirror Selbstaufklärung. Nur: Was ist mit denen, die Gardi ins Bild setzt? Sie bleiben stumm, und auch bei Hedinger kommen sie nicht zu Wort. African Mirror klärt über Suprematie zwar auf, versäumt es aber erneut, diejenigen, auf deren Kosten diese Suprematie ausagiert wird, nach ihrer Perspektive zu fragen. Der Film fällt hinter den Materialstand zurück, da er Schlüsseltexte und -diskussionen (etwa Achille Mbembes im Original 2013 erschienene Untersuchung Kritik der schwarzen Vernunft) nicht berücksichtigt.

Anderswo sind die Anordnungen komplexer und die Erkenntnisse frappierend. In Shayne, einer Miniserie von Stephan Geene, die sich dem erratischen Entertainer Ricky Shayne anzunähern versucht, blitzen Beirut und Kairo als Hotspots einer untergegangenen Populärkultur auf. In Nos défaites von Jean-Gabriel Périot re-enacten Schüler Szenen aus wichtigen Protestfilmen, ohne dass je ein Archivbild benutzt würde. Besonders beeindruckend gerät, wie eine Schülerin eine Szene aus La reprise du travail aux usines Wonder nachstellt, und zwar die, in der sich eine Arbeiterin über den miesen Zustand der Umkleideräume empört, nachdem der Arbeitskampf schon abgeschlossen ist. Im Anschluss an die Re-Enactments werden die Schüler aus dem Off befragt, was sie über Begriffe wie «Revolution», «Marxismus», «Sozialismus» oder «Gewerkschaft» denken. Die Stimme des Fragestellers könnte die eines Lehrers sein; in Wirklichkeit ist sie die des Regisseurs. Die Schüler haben nicht viel Raum, sich zu artikulieren, sie sind ein bisschen verstockt und überfordert, die Fragen klingen autoritär; ihre jugendliche Unbeholfenheit und ihre jugendliche Anmut stehen zum rigiden, von Périot gesetzten Rahmen in einer eigentümlichen, den Film bereichernden Spannung, bis schließlich in der Coda neue Wege der Emanzipation aufscheinen.

 

HEIMAT IST EIN RAUM AUS ZEIT © Thomas Heise

 

In Heimat ist ein Raum aus Zeit trägt Thomas Heise Fotografien, Tonaufzeichnungen, Briefwechsel und weiteres Material aus dem Familienarchiv zusammen und durchmisst damit das 20. Jahrhundert. Pars pro toto für die vielen großartigen Momente dieses Filmessays sei an eine mehrminütige Sequenz erinnert, in der Heises Stimme aus dem Off die Briefe vorträgt, die seine jüdischen Wiener Vorfahren zu Beginn der 40er Jahre nach Berlin schrieben. Man sieht in dieser Sequenz nichts anderes als die Deportationslisten, die die Nazis anlegten, die Kamera fährt die Listen langsam ab, man liest Namen nach Namen nach Namen und registriert, dass ab einem gewissen Moment jeder Vorname um Sara oder Israel ergänzt wird. Die Briefe von Heises Verwandten sind zunächst noch robust im Ton, manchmal fast heiter. Je länger die Sequenz dauert, je harscher die Lebensbedingungen werden, umso resignierter und bitterer klingen sie, bis sie schließlich ganz verstummen.

Auch diese Sequenz markiert auf ihre Art einen Materialstand: In Debatten wie der um Takis Würgers Roman Stella überrascht, wie viele Leute betonen, man dürfe doch nun endlich wieder erzählen. Dagegen setzt die reduzierte, gebrochene, ins Nichts mündende Sequenz aus Heimatistein RaumausZeiteine Erinnerung: Leicht konsumierbares Erzählen ist keine angemessene Antwort auf die Aporien, die der Darstellung der Shoah inhärent sind.