provinzkinos unserer jugendzeit

Staufen & Forst (Waiblingen)

Von Stephan Herczeg

Zum Erstaunlichsten am Dasein als Jugendlicher gehört, dass man sich ziemlich lange der eigenen Provinzialität und der des Kleinstadtkinos, das man gelegentlich im Rahmen der Langeweilebekämpfung besuchte, überhaupt nicht bewusst war. Das Gelaber vom Kino als Sehnsuchtsort setzte bei mir erst später ein, nach den ersten Kinobesuchen in der zwanzig Kilometer entfernten Großstadt. In Kinos, in denen Filme zu sehen waren, die erst mit vierwöchiger Verspätung, aber meistens überhaupt nicht im Staufen-Theater in Waiblingen anliefen.

Ich glaube, das Staufen-Theater hat mich als Kind nicht besonders beeindruckt. Es schien mir eine vollkommen selbstverständliche Einrichtung zu sein und gehörte zum Kleinstadtbild wie die Stadtbücherei im Marktdreieck oder das Geschäftszentrum «Querspange». Ein Kino aus den 50er Jahren mit 600 Plätzen, also ziemlich groß eigentlich, mit unterschiedlichen Sitzplatzpreisen für Parkett vorne, Parkett hinten, Balkon und Loge. An den ersten elternlosen Kinobesuch als Zehnjähriger im Staufen (so die allgemein übliche Benennung) kann ich mich noch gut erinnern: Tante Trude aus Buxtehude mit Rudi Carrell und Ilja Richter. Ich war ein Kind, hatte keinen Geschmack und fand Städtenamen wie Buxtehude, Darmstadt oder Düsseldorf extrem lustig. Im Rückblick bilde ich mir ein, den Film als sehr anstrengend und schrottig empfunden zu haben. Aber wahrscheinlich rede ich mir da was schön.

Ein paar Jahre später wurde das Staufen als Teenager-Treffpunkt zur Nachahmung eines Erwachsenenlebens wichtig. Jeden Donnerstag fand dort die «Filmauslese» statt – Eintritt 3 Mark mit freier Platzwahl. Die «Filmauslese» zeigte wahllos Filme mit dem Prädikat «besonders wertvoll». Also alles von Und Jimmy ging zum Regenbogen bis hin zu Clockwork Orange. Entweder machten wir uns am Tag danach auf dem Schulhof hochmütig über diese Filme lustig und diffamierten sie als Kitsch, oder wir labten uns an deren Unverständlichkeit und Modernität. Bis heute finde ich schwer verständliche, moderne Filme total super.

Aber es gab auch ein Schmuddel-Kino in Waiblingen, die «Forst-Lichtspiele». Dort wurden vor allem Sexfilme wie Unterm Dirndl wird gejodelt oder Hausfrauen-Report 3 gegeben. Es gab keine festen Vorstellungszeiten, Einlass war angeblich durchgehend bis spät in die Nacht. Renate, eine sexuell frühreife Mitschülerin, behauptete, ins Forst gingen nur Alte und Gastarbeiter zum Wichsen, was den Faszinationsgrad für dieses Kino natürlich nochmals erhöhte.

Da das Forst in Laufweite des Gymnasiums lag, fanden dort vormittags aber auch gelegentlich Schulvorstellungen im Rahmen des Geschichtsunterrichts statt. Endlich war guten Gewissens ein Besuch dieses Sexkinos möglich, auch wenn ‹nur› Joachim Fests Dokumentarfilm Hitler – Eine Karriere gezeigt wurde. Es war sehr stickig und unbequem im Forst mit seinen ungepolsterten Klappsitzen. Die Schwere der deutschen Geschichte und die imaginierte Outsider-Erotik des Wichskinos lagen wie Blei im Raum. Renate wurde schlecht und sie musste den Saal verlassen. Ich schämte mich wegen allem, und ein kleiner Rest dieses diffusen, schambeladenen Fremdheitsgefühls im Kino ist mir bis heute geblieben.