hofbauerkongress

Letzte Tage Vom Schrottplatz der Filmgeschichte errettete Attraktionen: Die Hofbauerkongresse, eine Zwischenbilanz

Von Lukas Foerster

 

Das erste Februarwochenende war besonders brutal. Im Nürnberger KommKino präsentierte das «Filmarchäologen Symposium» laut Flyer eine Auswahl «längst vergessener filmischer Artefakte auf 35 mm». Ob es sich dabei «um verlorene Schätze oder vollkommen zu Recht verdrängten Humbug» handelte, fand nur heraus, wer die Reise nach Franken antrat. Parallel organisierte das Filmarchiv Austria in Wien ein «Tribute to Joe D’Amato», das dem italienischen Gossenauteur und «total filmmaker» eine zehn Filme umfassende Retrospektive widmete, ebenfalls komplett mit analogen Kopien bestritten. Und schließlich fand, ebenfalls vom 1. bis zum 3.2., im Filmmuseum Düsseldorf ein «35 mm-Weekender» unter dem Motto «Im Bahnhofskino um die Welt» statt, präsentiert von Mondo Bizarr.

Zugegeben: Nicht jeder wird auf Anhieb die Tragweite des Dilemmas nachvollziehen können, in das eine derart unglückliche Terminplanung eine kleine Gruppe von Cinephilen stürzt. Aber tatsächlich müssen wir uns nicht nur für einen von drei gleichermaßen attraktiven Lockrufen entscheiden, sondern auch mit der Unsicherheit darüber leben, ob die Filmkopien, die auf den beiden anderen Veranstaltungen (in meinem Fall sogar: auf allen dreien; weil ich an dem Wochenende anderweitig verpflichtet war, musste ich ganz auf Analogkinoreisen verzichten), in näherer Zukunft überhaupt noch einmal irgendwo zu sehen sein werden.

Schon seit einigen Jahren befindet man sich als Liebhaber des analogen Kinos sozusagen permanent im Zustand der Letzten Tage. Fast jede einzelne Projektion einer analogen Kopie könnte die letzte Gelegenheit sein, den entsprechenden Film noch einmal im ursprünglichen Vorführformat zu Gesicht zu bekommen. Denn auch wenn die meisten Kinematheken und kommunalen Kinos ihre analogen Geräte noch nicht komplett abmontiert haben, ist der Drift zum Digitalen – von wenigen, wertvollen Ausnahmen abgesehen – unaufhaltsam. Die Gründe sind fast überall pragmatischer Natur: billigere Transportkosten, fehlende Ersatzteile fürs 35 mm-Equipment und so weiter. Ebenfalls fast überall geht die Digitalisierung einher mit einer Verflachung bis hin zur kompletten Abschaffung des Repertoireangebots.

Was bleibt, ist die Flucht in jene Nische, die ich vor gut sechs Jahren entdeckt habe, bei meinem ersten Hofbauerkongress. Das war im Dezember 2012, als die Kongresse noch halbklandestine Veranstaltungen waren. Im KunstKulturQuartier Nürnberg, das das KommKino beherbergt, wusste offiziell niemand von den damals nur eine Handvoll Verrückten, die sich in einem seinerzeit noch ziemlich heruntergerockten Kinosaal bis in die frühen Morgenstunden Filme mit Titeln wie Tanja – Die Nackte von der Teufelsinsel oder Drei Schwedinnen auf der Reeperbahn anschauten. Ein Großteil des Programms des damaligen 8. Kongresses wurde ad hoc zusammengestellt, und die meisten Filme wurden auch gar nicht analog vorgeführt, sondern als sogenannte «Videoknüppel». Je pixeliger und verrauschter das Bild, desto größer die Neugier auf die vom Schrottplatz der Filmgeschichte erretteten Attraktionen.

Diese Zeiten sind vorbei. Beziehungsweise: Sie sind nicht bloß vorbei, sondern heute, da die Veranstaltung sich professionalisiert hat und fürs inzwischen runderneuerte KommKino fast schon zu groß geworden ist (bei Abendveranstaltungen ist der Saal regelmäßig übervoll), zur Legende, zum Objekt von Nostalgie geworden. Auf dem bislang letzten, dem 18. Kongress, wurde vor dem Abschlussfilm Robert Wagner, der treueste aller Stammbesucher, nach vorn gebeten, um von seinen ersten Kongresserfahrungen zu berichten. Ein Stück Oral History, sicher noch keine Grabrede, aber etwas Finalisierendes hatte das schon. Ein Zwischenfazit vielleicht – bis 2021 wird das Festival wohl pausieren.

Zum Glück gibt es inzwischen, siehe oben, jede Menge Ausweichmöglichkeiten. Natürlich existierte, das sei gleich dazugesagt, schon vor den Hofbauerkongressen eine hochgradig lebendige Offkinokultur. Aber ich bin nicht der einzige, der erst durch die langen KommKinonächte mit der Szene in Berührung gekommen ist. Und die Kongresse sind, das ist zumindest mein Eindruck, wenn nicht Auslöser, so doch zumindest Symptom eines Generationenwechsels. Die alten kommunalen und Offkinos einte ein gewisser (gegen-)kultureller Konsens, oft gegründet in einer Nähe zu subkulturellen oder auch bewegungslinken Positionen, der für die Hofbauerszene keine große Rolle mehr spielt. Der Zugriff auf die Filmgeschichte ist idiosynkratischer geworden, es gibt keine natürlichen Allianzen mehr wie die der Filmkunstkinos mit dem Neuen Deutschen Film. Natürlich hat die Vorliebe der jüngeren Generation für die Untiefen des Populären, für die Leichen im Keller von Papas Kino, auch etwas zu tun mit bewussten Abgrenzungen von den Vorgängern, mit Gebietsmarkierungen.

Die äußere Form der Kongresse, das Wochenendfestival – zwei bis vier Tage, mit drei bis fünf Screenings täglich – hat sich als bevorzugtes Format der neuen alternativen Cinephilie etabliert. Auch das hat pragmatische Gründe: Bei vielen dieser Veranstaltungen reist die deutliche Mehrzahl der Gäste aus anderen Städten an, das dichte, vor allem auf Samstag und Sonntag konzentrierte Programm ermöglicht es, die Reisekosten gering zu halten und den Kinoausflug in den Arbeitsalltag zu integrieren. Besonders im KommKino scheint das Modell gut zu funktionieren: Fast schon im Monatsrhythmus werden da neue Spezialistenfestivals aus dem Boden gestampft. Die Szene wächst, bleibt allerdings, zumindest vorläufig, unter sich. Auf den Tagesbetrieb wirkt sich das alles nach wie vor kein bisschen aus, da haben die Nürnberger die gleichen Probleme wie alle anderen Kinos, die mehr zeigen möchten als Blockbuster und best-ager-Favoriten: Außerhalb der Festivals sind und bleiben die Zuschauerzahlen katastrophal. Bisher ist nicht abzusehen, wie die blühende Off-Festivalszene in die Normalität des Kinos hineinwirken könnte.

Dennoch werden die Kongresse, oder zumindest ihr Geist, nach wie vor dringend benötigt. Besonders deutlich zeigt sich das im Abgleich mit anderen Präsentationsformen von Filmgeschichte. «Film:ReStored – Das Filmerbe-Festival», 2016 von der Deutschen Kinemathek ins Leben gerufen, ist beispielsweise schon fast ein Antihofbauerkongress. Oder anders herum: Gäbe es den Kongress nicht schon, man müsste ihn gründen als Reaktion auf eine Veranstaltung, die zeigt, was passiert, wenn man die Filmgeschichte den Institutionen überlässt. Die Filmauswahl orientiert sich am Kanon des Neuen Deutschen Films, ergänzt um ein paar Defa- und Weimar-Klassiker, projiziert wird ausschließlich digital, fast durchweg kommen gerade abgeschlossene Restaurierungsprojekte zur Aufführung. Dazwischen wird zum Beispiel über die (so das Leitthema im letzten Jahr) «Beziehung zwischen Fernsehanstalten und Filmarchiven bei der Überlieferung des Filmerbes» gesprochen.

Auf Veranstaltungen wie «Film:ReStored» ist die Filmgeschichte von ihrer kulturbürokratischen und technologischen Verwaltung nicht mehr zu unterscheiden. Was natürlich nicht heißen soll, dass Technik und Kulturbürokratie unwichtig wären. Man mag denn auch einwenden, dass es der Kinemathek in erster Linie darum geht, einen Rahmen zu schaffen für – selbstverständlich dringend notwendige – Diskussionen über die diversen Fallstricke der Digitalisierung. Aber warum das dann überhaupt Festival nennen? Das Filmprogramm des «Film:ReStored» wäre mit «Messe» oder «Leistungsschau» besser umschrieben. Nicht das zu Entdeckende, sondern das bereits Entdeckte steht im Mittelpunkt. Arbeit (vielleicht gar: Abbrucharbeit) am Kanon ist von vornherein nicht vorgesehen.

Beim Kongress haben dagegen sogar die Hofbauerkommandanten selbst nicht alle Filme, die sie präsentieren, vorab gesehen. Manchmal hat das praktische Gründe, weil von einige Werken eben tatsächlich nur noch eine einzige rotstichige 35 mm-Kopie mit Essignote aufzutreiben ist; aber manchmal ist es auch eine bewusste Entscheidung: Es geht nicht darum, Geheimwissen weiterzugeben, sondern darum, Filme gemeinsam zu entdecken. Rainer Knepperges hat beim letzten Kongress darauf hingewiesen, dass die eigentliche Radikalität der Veranstaltung in diesem gewissermaßen antikuratorischen Gestus gründet. Wenn wir nach Nürnberg fahren, vertrauen wir nicht auf das Geschmacksurteil der Hofbauerkommandanten, sondern lediglich auf ihre Intuition.

Das sind die schönsten Hofbauermomente: Wir sitzen im Kino, das Licht geht aus, und wirklich niemand weiß, was als Nächstes geschehen wird. Idealerweise folgt dann ein Film, der diesen Zustand der Unsicherheit nicht gleich wieder in Sicherheiten, in Routine übersetzt, sondern ihn verlängert. Zum Beispiel ein Film wie Caribia, inszeniert von Arthur Maria Rabenalt, der seine Karriere in der frühen NS-Zeit begonnen hatte und 1978 noch einmal die Gelegenheit bekam, eine letzte Produktion auf die Beine zu stellen. Und zwar nicht irgendeine, sondern einen, laut Untertitel, «Filmrausch in Stereophonie», offensichtlich mit einem ordentlichen Budget ausgestattet, gedreht in der Karibik, basierend auf einem Bühnenstück von de Marivaux über ein Sozialexperiment zur Zeit des Haitianischen Sklavenaufstands: Sechs Waisen, die gemäß der Lehre Rousseaus «in Einklang mit der Natur», aber ohne menschliche Kontakte aufgewachsen waren, werden, inzwischen ausgewachsen, im Urwald ausgesetzt – und beginnen zu tanzen.

Das ist die zentrale Setzung des Films und gleichzeitig eine Irritation, deren bizarrer Reiz sich über den Film hinweg nicht abnutzt: Das Formenrepertoire des klassischen Balletts ist für die drei jungen Frauen und drei jungen Männer, allesamt nur mit einem Lendenschurz bekleidet, die einzige Möglichkeit, miteinander und mit ihrer restlichen Umwelt Kontakt aufzunehmen. Während sich um sie herum ein klassischer, fast etwas arg gediegen inszenierter Historienfilm entfaltet, erkunden sie in stilisierten Bewegungen zunächst ihre Umgebung, dann einander. Am Ende kommt Voodoo ins Spiel. Nach der Projektion sind wir so ratlos wie vorher. Vor allem stellt sich die Frage: Für wen wurde diese ästhetizistisch-konterrevolutionäre Parabel, bei der Riefenstahl genauso mitschwingt wie die softpornografischen ‹exotischen› Inselfilme der 1970er, eigentlich gedreht? Die Antwort liegt, natürlich, auf der Hand: exklusiv für den Hofbauerkongress.