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Verstörte Körper Jan Bonny fragt nach der Darstellbarkeit des NSU-Terrors: Wintermärchen

Von Ekkehard Knörer

© W-Film

 

Parallelaktion I

«I don’t think I can relax here anyway With Nazi bitches speaking in my hood Raging, scaring people into loving soilThat’s still so drenched in blood it’s a swamp»

Zeilen aus dem Song The Only Thing We Have to Fear von Get Well Soon alias Konstantin Gropper. Man hört sie, im Hintergrund zu den Bildern, der vielleicht auch der Vordergrund ist, weil der Film, Episode 1, zunächst eine Auftragsarbeit ist, von Jan Bonny gedreht, Buch von Jan Eichberg: Bonny und Eichberg machen aus Groppers neuem Album eine Serie in vier Folgen, im Web zu sehen, Titel The Horror. In Folge eins spielt das Lied. Ein Mann (Jean-Luc Bebert), eine Frau (Merle Wasmuth), eine kaputte Ehe, im Bett nebenan die tote Geliebte, eine Studentin. Der Mann tanzt, trägt die Tote hinaus in die Nacht, von Hunden wie von Wölfen gejagt und zerfleischt, The Horror, schaut euch das an.

Parallelaktion II

Deutschland, Deutschland über alles, singen sie, die ungesungene Strophe, versammelt auf der Volksbühnenbühne, die ihnen Chris Dercon geöffnet hat: Bibiane Beglau, Jean-Luc Bebert, all die anderen, es geht immer um Helge, der Helge Achenbach ist (Joachim Król spielt ihn), der Kunstberater, der die Sammler gelinkt hat, in Düsseldorf ansässig, wo auch Julia Stoschek sitzt, die Kunstsammlerin, die diesen Achenbach-Rheingold-Totentanz mitfinanziert. Alle spielen hier mit Blatt in der Hand, Dialoge und szenischer Erzähltext gehen konsequent durcheinander, das ganze Geflecht von Geld, Kunst, kulturellem und anderem Kapital in wilden Wortkaskaden, der Ton tendiert in Richtung Groteske, die Handkamera wirbelt zwischen den auf der Bühne Spielenden quirlig herum, Nibelungen-Anspielung gratis, zehn Episoden, Regie Jan Bonny und der Künstler Alex Wissel, das Ding ging unter in den Abschiedswirren um Dercon, ist aber in der Fullscreen-Ruine der Volksbühnen-Website in seiner ganzen durchgeknallten Blüte zu sehen. 

Parallelaktion III

«Das sind die Wölfe, die heulen so wild,

Mit ausgehungerten Stimmen.

Wie Lichter in der Dunkelheit

Die feurigen Augen glimmen.»

Deutschland, ein Wintermärchen, Heinrich Heine kommt von Frankreich herüber und denkt an Deutschland in der Nacht. Deutschland lassen Jan Bonny (Regie, Buch) und Jan Eichberg (Koautor) im Titel ihres Films weg, Deutschland kw, weil sich von selbst versteht, dass es um nichts anderes geht: Das Wintermärchen, das bleibt, könnte kaum finsterer sein. Wölfe tauchen nicht auf bei Bonny/Eichberg, auch wenn es den Natureingang gibt, in dem, denkt man, jederzeit der von Hunden gehetzte Jean aus The Horror auftauchen könnte: Deutschland, tagsüber, draußen, verlassener Wald, eine Lichtung, auf der Becky (Ricarda Seifried) und Tommi (Thomas Schubert) Schießübungen machen. So beginnt das, später kommt ein Dritter dazu (den dann tatsächlich der sehr tolle Jean-Luc Bubert spielt, der Jean aus The Horror), der Rest ist Mord und Beziehungsdynamik. (Wintermärchen, Deutschland 2018)

Es geht in Wintermärchen um ein mörderisches Beziehungsdreieck, zwei Männer, eine Frau, Becky, Tommi und Maik (Nachnamen keine), die in Deutschland lebende Türken und wer aus ihrer Sicht sonst nicht hierher gehört oder im Weg steht, ermorden, aber das Wort «NSU» fällt in dem Film, der sich sehr ausdrücklich auf die NSU-Morde bezieht, kein einziges Mal. Die drei tragen nicht die Namen Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt, die Ähnlichkeiten sind begrenzt, das Prinzip des Films ist nicht historische Rekonstruktion, sondern eine Reduktion (ad absurdum, ad Sex and Crime, auf das Stumpfe), die die Register des Realen und des Imaginären berührt, aber die des Symbolischen ausdrücklich nicht.

Dem, was geschah, will sich Jan Bonny nähern, aber nicht, indem er die rechtsextreme Ideologie analysiert, nicht, indem er das Geschehen politisch einzuordnen versucht, nicht, indem er psychologische Deutung betreibt, nicht, schon gar und überhaupt nicht, indem er den Terror zum Pop-Roman macht, wie in einschlägigen RAF-Exploitationen geschehen. Die Reduktion erlaubt Andeutungen in Richtung eines größeren Netzwerks (Kurzauftritt: Lars Eidinger), sie erlaubt die Bewegung durch ein ziemlich kaputtes Land mit Begegnungen, die einem Schauder bereiten. Und sie stellt auch etwas in den Vordergrund, nämlich genau das, was bleibt, wenn man die Deutungskontexte abschneidet, wo es nur geht: eine Beziehungsdynamik.

Die wiederum ist stark reduziert: in erster Linie auf Sex. Sex zwischen Tommi und Becky, verkorkster Sex, der als Schwundstufe immer auch an die Stelle von etwas anderem tritt (Politik, Liebe, Diskurs), Sex zwischen Becky und Maik; später, als Becky verschwindet, dann auch Sex zwischen Maik und Tommi. Das ist auch fast schon der Plot, ein Abzählreim, erst zwei, dann drei, dann wieder zwei (eine Vierte, die dazustoßen will, darf nicht rein). Als «schmutzige Fantasie» hat Bonny die Geschichte des Films in einem Interview bezeichnet, hier ausgearbeitet zum Film: eine der schmutzigen Fantasien, die Zschäpe und die Dreier-Beziehung bei vielen Betrachtern, auf dem Boulevard und anderswo, ausgelöst haben.

Diese Fantasie aber macht keinen außer den Kränkesten geil. Das liegt schon auch am so ausgiebig gezeigten Sex: Er füllt alle Leerstellen der Imagination mit einem buchstäblichen Aufeinandergeworfensein der Körper, von Zweier- und Dreier-Konstellationen, in denen das Wollen mit dem Kriegen und dem Nichtkriegen ringt, das aber an keiner Stelle über das hinausweist, was es ist. Was man am anderen will, ist gerade kein Imaginäres, kein höheres Ziel: nur Gewalt, zermalmte, abgeschnittene, auf bloßes dumpfes Wollen zurückgeworfene Fantasie, das höchste der Gefühle: «Ich denke manchmal an N**** beim Sex», sagt Becky, dann schläft sie nochmal mit Tommi, eine der Stellen, an denen der Film fast schon zu viel sagt, auch ohne solche Erklärung verstünde man – als obszöne – die Krankheit dieser Figuren zum Mord. (Auch zu viel sieht und hört man später, als die beiden Männer Becky im sehr bürgerlichen Haus der Mutter aufsuchen, sie da rausholen zum Finale. Kommt sowas von sowas? Wohl kaum.)

Wo Diskurs sein könnte, sind Körper mit dumpfem Begehren, das seinerseits nicht weiß, was es will, sondern nur schlecht gelaunt nimmt, was es kriegt. Was bleibt, sind treibende Kräfte, fordernde, zögernde, widerstehende Kräfte, mal Nichtstun, mal Streit und Geschrei, mal Gerade-noch-Sex, dann springt und schießt es über in Entladungen roher Gewalt. Die Krankheit ist aber an allen Stellen dieselbe, vor der Politik, vor der Passion, vor der Lust: ein Wollen, das absolut blind bleibt; Verbindungen, die über die Dyade nicht hinauskommen (als Dreierbeziehung ist es nur die Konkurrenz dreier Dyaden), eine Unfähigkeit zur Vergesellschaftung. Die Terroristen agieren im Sozialen, aber sie gehören ihm nicht an. Es ist in ihnen zerstört, so können sie ohne weiteres im Sozialen ihr Zerstörungswerk tun. Tommis wiederholte Formel, er gehöre doch zu den Guten, ist darum so leer, wie Worte leer sein können. (Soll heißen: nicht ganz, denn Worte sind immer sozial, wollen etwas bedeuten; ob Tommi verstehen kann, was er da sagt, ist eine andere Frage.)

Wintermärchen ist ein Film, der Bewegungen folgt. Das sind einerseits die Verschiebungen, die An- und Abstoßungen der internen Beziehungsdynamik zwischen Tommi, Becky, Maik, selbst wenn sie auf der Stelle treten, stehen sie in fast zwanghaftem Bewegungsdrang niemals still. Filmisch umgesetzt wird es auch in Bewegungen, durch die Natur – ein Kochtopfbombenexperiment im Wald, das zum Rohrkrepierer wird, aber vor allem durch den Stadtraum. Gleich zu Beginn eine Autofahrt mit schweifendem Blick, ein Scan auf der Suche nach dunkelhäutigen Opfern. Daneben immer wieder gehetzte Blicke und gehetzte Schritte, draußen, aber auch drinnen, wie oft sieht man Läden, Späti oder Supermarkt, Orte des Konsums (genau genommen: nicht einmal das), kein Wunder, dass ein Supermarkt dann zum Schauplatz der brutalsten Gewalttat werden wird.

Und auch davon wendet der Film die Augen nicht ab: von der Gewalt. Anders als Fatih Akins Der goldene Handschuh hat er aber gute Gründe dafür, diese Exerzitien der Gewalt den Zuschauern zumuten zu wollen. Bonny interessiert sich wirklich für Körper, ihre Entblößung, ihre Nacktheit, ihre gegenseitige Berührung, im Sex, aber auch für die Brutalität miteinander ringender, sich schlagender und würgender, um Leben und Tod kämpfender Körper. An dieser Stelle setzt er die Erkundungen seines damals gleich in der Quinzaine gelaufenen Kino-Erstlings Gegenüber (von 2007) ganz konsequent fort: Darin erzählte er von einem Ehepaar, er (Matthias Brandt) Polizist, sie (Victoria von Trautmannsdorff) Lehrerin, und dessen zerstörerischer Binnendynamik. Wieder und wieder wird er, ein sanfter Mann, von seiner verletzlichen, ihre Verletzungen in Gewalt transformierenden Frau getreten und geschlagen, ohne sich dagegen zu wehren.

Beider Berufe zeugen von leichter Ironie, aber eigentlich ist es Bonny mit seinen Fragen zum Ort des Körpers im Zusammenhang des Sozialen in Gegenüber genauso ernst wie nun hier. Richtig interessant sind auch die Fernsehfilme, die er dazwischen gedreht hat, genau da, wo er solche Fragen weiterverfolgt. Über Barbarossaplatz (2016), eine wüste Liebeseifersuchtsdreiecksgeschichte, bei der der Dritte, weil tot, abwesend bleibt, hat großartige Sequenzen immer da, wo er Körper sich in Verlangen und Selbsthass ausdrücken lässt; insgesamt steht der Psychoplot des Drehbuchs von Hanna Hollinger dem aber ziemlich im Weg rum. Der Münchner Polizeiruf– Der Tod macht Engel aus uns allen (2013) mit Matthias Brandt konzentriert seine Höhepunkte auf die von Lars Eidinger gespielte Transgender-Figur – hier wie im Milberg-Tatort– Borowski und das Fest des Nordens behandelt Bonny die Krimi-Topoi dagegen mit sichtlichem Desinteresse.

Genre als Genre ist überhaupt nicht sein Ding: Klischees als Abstraktionen liegen seinen immer konkreten Erkundungen denkbar fern. Auch deshalb ist Bonny ein grandioser Schauspielerregisseur: jemand, der seine Darsteller*innen zu Erstaunlichem treibt, nicht aus Lust am Exzess, sondern weil seine Faszination für Körper und ihre Interaktionen sich auf ihr Spiel überträgt. Wie etwa die Rheingold-Volksbühnen-Serie zeigt, ist ‹Realismus› keineswegs das einzige Register, das ihn interessiert. Was umgekehrt heißt: Auch der Realismus, der in Gegenüber oder Wintermärchen regiert, ist alles andere als naiv.

Vor allem anderen stehen Darstellungsfragen. Die Entscheidung für das Zeigen dumpfer Dyaden von ringenden und mordenden Körpern ist eine Entscheidung gegen andere Formen der Repräsentation eines Terrors, dessen Obszönität sich nur um den Preis der Ausbeutung oder gar der Heroisierung eins zu eins darstellen ließe. Wintermärchen schlägt dabei eine Richtung ein, die der kalten Formalisierung etwa von Alan Clarkes oder, anders, Gus van Sants Elephant im Versuch der Reduktion einerseits ähnelt, diese andererseits mit einem von zeitgenössischen Körpern, Wörtern und Dingen durchdrungenen Realismus verbindet – das gilt schon auf der Ebene des Tons, der Hintergrundgeräusche im Mix eher hervorhebt als tilgt. Es gilt aber auch für die Figuren, von denen sich die Kamera nie distanziert: Wir kommen ihren Körpern und ihrem Verhalten im Spiel der Schauspieler*innen so nahe wie möglich.

Abstrakt ist nichts von dem, was man sieht. Abstrakt ist nur der Bezug zum realen NSU-Geschehen. «Die schmutzige Fantasie», als die der Film sich versteht, ist die Antwort auf ein Darstellungsproblem, und zwar als eher verzweifelte Frage: Könnte es wirklich so dumpf, so undiskursiv, so elend sinnlos gewesen sein, wie der Film das gut zwei Stunden lang zeigt? Waren da im wesentlichen nur drei in ihrem Verhältnis zu sich und anderen komplett verstörte Figuren? Andere Fragen schließen sich an, nun aber an den Film: Ist es legitim, den Prozess und alles, was er an Ungeheuerlichkeiten ans Licht gebracht hat, ganz auszublenden? Und ist es nicht doch ein Problem, dass der Film sich ganz auf die Täter und nicht auf die Opfer fixiert? Ist Wintermärchen am Ende mindestens so sehr Symptom wie Analyse, nämlich als Weigerung, Politisches als politische Angelegenheit zu verhandeln?

Selbst wenn die Antworten darauf «nein» und «doch» und «womöglich» lauten sollten: Die zugrundeliegenden Fragen haben Bonny und Eichberg sich sehr wohl zum Problem gemacht. Damit hat Wintermärchen den meisten deutschen Filmen zu politischen Fragen von Akin bis Donnersmarck sehr viel voraus.

 

Wintermärchen (Jan Bonny) D 2018 | Kinostart am 21. März 2019