thomas harlan

17. Februar 2009

Land im Trance Ein Nationalepos als Geistergespräch: Souvenance (1991), der dritte Film von Thomas Harlan

Von Bert Rebhandl

Souvenance

© Edition Filmmuseum

 

In seinem dritten Film erzählt Thomas Harlan von der Befreiung Haitis, in einem zweifachen Sinn: als Erinnerung an die revolutionäre Erlangung der Unabhängigkeit im frühen 19. Jahrhundert und als Aktualisierung dieser Erinnerung in der Gegenwart, dem Wendejahr 1989. Eine Frau vernimmt einen Ruf, sie hat es nicht eilig, sie streift durch das Schilf, sammelt ein paar Dinge ein, hebt ein Depot aus; sie macht sich bereit und auf den Weg. Sie bereitet sich darauf vor, wieder die Kaiserin von Haiti zu sein. Défilée-la-Folle beklagt ihren Geliebten Dessalines, später Jacques der Erste «Empereur d’Haiti», der 1806 von rivalisierenden Offizieren ermordet und verstümmelt worden war. Défilée hatte damals den Leichnam des Kaisers in ihren Besitz gebracht. In dem Legendenkomplex, der sie umgibt, geht es zentral um die Integrität des kaiserlichen Körpers, der aus seinen Teilen wieder zusammengesetzt werden soll.

In der Gegenwart des Films ist Défilée mit dieser Arbeit immer noch beschäftigt, eine alte Frau, die sich die Namen der Attentäter von damals immer wieder vorsagt: Yayou, Gédéon, Vavin, Guérin; die sich auf einem Feld eine Decke ausbreitet und die Orden von Dessalines ausbreitet; die den Zweispitz, den Hut des Kaisers, für ihn bereithält. In Souvenance ist Défilée eine Prophetenfigur geworden, die ein messianisches, allerdings ganz und gar außerhalb des jüdisch-christlichen Geschichtshorizonts liegendes Ereignis ankündigt: Die Wiedergeburt des Königs.

Der Ruf, der an sie ergeht, kommt aus einer anderen Gegend der Insel. Chériza, der Sohn von Halaou, des wichtigsten Priesters im Voodoo, beklagt den Tod seines Vaters. Die Namen wechseln. Der Vater ist «Papa» oder «Papa Loko», aber auch Ogu oder L’Arbre Mapou, der mythische Baum, der das Land verkörpert, das der Afrikaner Dessalines 1804 auf seinen alten, präkolumbianischen Namen getauft hatte: Ayti – die Felseninsel. In Souvenance kommen zwei Komplexe zusammen: Die Hoffnung auf die Wiederkehr des Kaisers, und die Begräbnisrituale des Voodoo. Der tote Mann muss seine Ruhe finden, dazu braucht er seinen Hut, den Hut hat Défilée, wenn der tote Mann seine Ruhe gefunden hat, kann der König/Kaiser/General wiedergeboren werden.

Der Ruf, der den Film zusammenhält, ist nicht ausdrücklich zu hören, bzw. er verliert sich in dem Gemurmel, das die erste Stunde bestimmt. Erst ganz allmählich bekommen die Bewegungen eine Richtung. Défilée und Chériza treten aus der Natur heraus, sie machen sich auf den Weg, er schleppt die Leiche seines Vaters auf einem notdürftig zusammengebastelten Wägelchen über die Insel, Défilée geht zu Fuß, besteigt ein Boot, fährt auf einem Lastwagen (dabei überholt sie Chériza). Trommeln verkünden etwas, was kein westlicher Zuschauer versteht, was sich aber aus der Bewegung des Films versteht.

«Le President absent est entré dans le Gouvernement», singen die Menschen. Der Präsident, das ist der Kaiser, der König, der General, die revolutionäre Instanz der Befreiung, der nationale Körper, die Besetzung der historischen Vakanz, die einmal während des Unabhängigkeitskriegs gegen Frankreich vollzogen wurde, damals aber schnell wieder in einem Bürgerkrieg verloren ging. Thomas Harlan (Mise-en-Scène) und Anna Devoto (Drehbuch) betreiben Geschichtspolitik für eine Nation, deren Gründungsereignisse in hohem Maß traumatisch waren. Die Gewalttaten von Dessalines machen ihn zu einer prekären Identifikationsfigur, die Rituale des Voodoo fungieren auch als Bann gegen das Potential der Grausamkeit, das Souvenance heraufbeschwört. Der Kaiser, der seinen Thron wieder besteigt, ist kein Heilsbringer, deswegen kann die Geschichte dieses Films kein Ziel haben, sondern nur einen Kreis abschreiten. Am Ende macht sich Défilée wieder auf den Weg, der große Baum steht unerschüttert im Abendlicht, die Felseninsel ist wie im Trance einmal durch ihre Geschichte gegangen, weiß davon aber schon nichts mehr.

 

Maya Deren: Der Tanz des Himmels und der Erde. Die Götter des haitianischen Vaudou (1953)

Hans-Christoph Buch: Tanzende Schatten oder Der Zombie bin ich (2004)