berlinale 2019

Was bleibt

Von Ekkehard Knörer, Bert Rebhandl und Simon Rothöhler

Die Kinder der Toten (Kelly Copper, Pavol Liska)  Ein Film nach Motiven von Elfriede Jelineks Roman Die Kinder der Toten: Nazi-Zombie-Motiv, Doppelgängermotiv, Steiermarkmotive. In der Steiermark ist der Film allerdings sowas von gedreht. Das Naturtheater von Oklahoma hat gerufen, und viele aus der Region spielen mit. Während des Drehs gab es Jelinek-Lesungen, kompensatorisch quasi, denn Copper und Liska kamen mit dem Wortlaut des nur in deutscher Sprache vorliegenden Buchs nicht in Kontakt. Der 8mm-Totentanz, der dieser Film ist, ist denn auch wie geträumt. Grand Guignol mit überzogener Schminke, sehr schrägem Humor, viel Palatschinken und entstelltem Älpler-Klischee, mit Stummfilm-Schrifttafeln und grotesker Nachsynchronisation. Nazis verlassen die Leinwand, an der Kinowand Eran Schärfs hebräische Grafik: «Die Geister der Toten, die solange verschwunden waren, sollen kommen und ihre Kinder grüßen.» Und so geschah es. ek

Ich war zuhause, aber ... (Angela Schanelec)  Eine Mutter, zwei Kinder, der Sohn war weg, ist wieder da. Eine Mutter, die am Rad dreht, die ein Rad kauft, das zum insistenten Dingsymbol für ihre Ungehaltenheit wird. Sie macht einem Filmemacher, der eine Sterbende gefilmt hat, eine Szene, die Kinder schmeißt sie raus, im Lehrerzimmer skandiert sie monologisch, als Fremd- steht ein Heizkörper im Text. Maren Eggert als diese Frau ist die Schau. Kinder spielen Hamlet, jeden Rahmen, der das zum Spiel machte, lässt Schanelec allerdings weg. Auch andere Rahmen. Kantige Bruchstücke sind als Szenen ineinander verkeilt. Vieles bleibt offen. Manches kommt aus dem Nichts. Grandiose Sequenz einer Flucht bei Nacht ans Grab des verstorbenen Mannes zur Musik von M. Ward (nach David Bowie). Trostwachtel kommt. Banalstes, hoher Ton, Komik: einzigartige, umwerfende Mischung. ek

Heimat ist ein Raum aus Zeit (Thomas Heise)  218 Minuten Familiengeschichtsschreibung auf Basis teils höchstprivater Archivbestände. Unsortierte Kisten, die man nicht aufräumen, nicht wegwerfen kann. Alle Deutschlands des 20. Jahrhunderts tauchen auf, aber Bilddokumente sind fast keine darunter, wenngleich manches Schriftmaterial doch gerade filmisch, abgefilmt seine Wirkung entfaltet. Schier endlos rollen die Deportationslisten durchs Bild, die der jüdischen Bevölkerung Wiens den Tod brachten. Massenmord als Bürokratieproblem, dazu von Heise verlesene Briefwechsel zwischen Berlin und Wien, in denen die Hoffnung immer kleiner, die Verzweiflung immer größer wird. Dann Marika Rökk, das sequenzabschließende Schwarzbild besingend, ganz deutsch, nicht hin, sondern immer nur gerade aus schauend. Mach dir nichts draus, bist anständig geblieben. Später Udo, ein Jurist im Nachkriegsmainz, der Heises Mutter Rosie hartnäckig in den goldenen Westen zu locken versucht. Historische Geopolitik im Schneegestöber einer provinziellen Gegenwart. Wie man überwintert. Gegen Ende dann Heiner Müller, im Gespräch mit Wolfgang Heise, Tonbandmitschnitte, O-Ton-Material – und vor der Ost-Berliner Wohnungstür lauern, schweigen IMs, die (auch) Nachbarn sind. Mindestens ambivalent, heute zu hören, was Müller 1992, nach Rostock-Lichtenhagen, zum «deutschen Augenblick» einfiel. Wenn das mal eine Glosse ist. Deutschland, deine Schwimmwesten. rot

Kameni Govornici (The Stone Speakers) (Igor Drljaca)  Bosnien-Herzegowina ist ein Land an der Grenze zwischen Europa und dem Orient. Die Brücke über die Drina, bekannt aus einem Roman von Ivo Andric, führte einmal von da nach dort, oder von drüben nach hüben. Heute ist das Land ein Staat am Rande der EU, in dem Muslime eine Bevölkerungsmehrheit bilden. Igor Drljaca sucht vier Geschichtsorte auf: alle sind ‹historisch› in einem sehr speziellen Sinn. In Medjugorje hat das fundamentalistische Christentum einen Wallfahrtsort gefunden, ein Hügel in Visoko führt zurück entweder ins Osmanische Reich oder bis zu einer Pyramide vielleicht extraterrestrischen Ursprungs, in Visegrad hat der Filmemacher Emir Kusturica maßgeblich dazu beigetragen, mit Andricgrad einen serbischen Nationalkultort zu errichten, in Tuzla ist die Erde hohl, und man kann in Salzseen wie in einem toten Meer der konstruierten Identität baden. Drljaca zeigt lakonisch, wohin man durch eine Aneinanderreihung von Beobachtungen kommen könnte: zu einem Relativismus, der von den Steinen keine Geständnisse erpresst. reb

Nos défaites (Jean-Gabriel Périot)  In einer Mittelschule in Ivry-sur-Seine, südöstlich von Paris, gibt es ein Wahlfach Kino, das zum zweiten Mal hintereinander zu einem Film im Forum der Berlinale geführt hat: letztes Jahr Premières Solitudes, dieses Mal mit einem stärker konzeptuellen Aspekt der Film von Jean-Gabriel Périot, in dem Schülerinnen und Schüler bekannte Szenen aus politischen Filmen aus dem Umfeld des Mai 1968 nachspielen (La chinoise von Godard oder Le reprise du travail aux usines Wonder). Dazwischen stellt Périot den jungen Leuten Fragen, in erster Linie nach Begriffen: Was sind Gewerkschaften? Was ist für dich Politik? Die Antworten sind naturgemäß vielschichtig, sie lassen sich übrigens auch sehr gut auf das «depends on what my friends are up to» aus Searching Eva beziehen: Périot zeigt eine potentielle politische Klasse, wie sie eine liberale, individualistische Gesellschaft hervorbringt. reb

Olanda (Bernd Schoch)  Die Pilzsammler kommen über die Transalpina in die rumänischen Karpaten, bauen an Waldrändern Zeltlager auf und starten ihre Expeditionen aus konkurrentiellen Gründen im Dunkel sehr früher Morgenstunden. Schoch interessiert sich ethnografisch für die Ökonomie und Logistik dieser Unternehmungen: von den umgebauten Plastikwäschekörben, die sich die Pilzpflücker mit improvisierten Gurten auf die Rücken schnallen, über Zwischenhändler, die die Ernte direkt vor Ort aufkaufen, ihrerseits mit Zigaretten, Bier, Kleinwaren handeln und eigene Ansichten zur Rationalität kapitalistischer Preisbildung vertreten, bis zur mühseligen Einzelpilzsäuberung in stundenlanger Handarbeit, der letzten rumänischen Station vor dem Transfer in westliche Supermärkte. Auch von den Zumutungen innereuropäischer Arbeitsmigration ist in Andeutungen die Rede. Das mykologische Wissen zirkuliert in Olanda als angewandtes, pragmatisches. Aber einmal bricht unvermittelt pulsierende Pilzpsychedelik aus: Emergenz eines freidriftenden sozioökologischen Experimentalfilmgeflechts. rot

Searching Eva (Pia Hellenthal)  «You are the post modern Joan of Arc». So lautet einer der Kommentare, die Eva Collé in den sozialen Netzwerken bekommt. Sie ist eine Identifikationsfigur in vielerlei Hinsicht: eine junge Frau, die ihr Leben nach außen trägt, die sich selbst auf den Kanälen inszeniert, die dafür zur Verfügung stehen. Sie lebt in Berlin, verdient Geld als Sexarbeiterin («the system fucks you anyway»), lässt sich «working lass» auf die Schulter tätowieren, nimmt Drogen, fährt zu den Eltern nach Italien (beide waren eher «junkie parents»). In den Credits wird Eva «als» Eva ausgewiesen: Eva as Eva. Das gilt auch für alle anderen Figuren/Rollen in einem Dokumentarfilm am Rande des Selbstspiels, der eine sehr heutige, europäische Figur nahe bringt, ohne ihr zu nahe zu treten. Was steht an? Vielleicht eine Revolution, «depends on what my friends are up to». Kann von Instagram eine Revolution ausgehen? reb

Years of Construction (Heinz Emigholz)  Schauplatz Mannheim. Die Kunsthalle reißt einen Teil des Hauses ab, den missratenen Neubau, und lässt einen neueren, größeren Neubau errichten: Den Ausgangszustand, den Abriss und die Errichtung des Neuen filmt Heinz Emigholz, der erfahrenste Architekturverfilmer der Welt, als Auftragsarbeit und Film-Kunst am Bau. Wer glaubt, sie kenne mit einem Film aus der Photographie und jenseits-Reihe gleich alle, der täuscht sich. Die Prinzipien – statische Einstellung, schneller Schnitt, schräge Nicht-Zentral-Perspektiven – bleiben sich gleich, und doch sieht man, weil der Raum immer ein anderer ist, und wird, immer auch anders. Und anderes. Hier greift Emigholz zwischendurch recht weit aus in den Stadtraum. Toll wird es mit dem Wachsen des Neubaus. Aber schon die Bilder vom Auszug und Wiedereinzug der Kunst sind das Eintrittsgeld wert. ek