was vom jahr bleibt

30. Dezember 2011

Was vom Jahr bleibt 2011

Von Michael Baute, Sven Beckstette, Raymond Bellour, Johannes Beringer, Ludger Blanke, Christa Blümlinger, Robin Celikates, Catherine Davies, Matthias Dell, Jan Distelmeyer, Daniel Eschkötter, Lukas Foerster, Die Brüder Goncourt, Christoph Haas, Günter Hack, Jakob Hesler, Alexander Horwath, Dominik Kamalzadeh, Rainer Knepperges, Ryland Walker Knight, Ekkehard Knörer, Gertrud Koch, Anne Kunze, Max Linz, Cristina Nord, Nikolaus Perneczky, Christian Petzold, Peter Praschl, Bert Rebhandl, Isabella Reicher, Simon Rothöhler, David Wagner, Robert Weixlbaumer und Ulrich Ziemons

Für Michael Althen

 

 

Michael Baute

Ich erinnere

- wie übers ganze Jahr gesehen mein Topspin langsam wieder Form annahm und auch die Rückhand sich stetig verbesserte beim Freitags-Tischtennistermin bei Ursula in der Reichenberger, mit Thomas und Ekkehard und manchmal Volker,

- das im Herbst von der Kreuzberger Chirurgin ambulant weggemachte Balggeschwulst am Kopf,

- die wilden Erdbeeren auf Fårö zu Beginn des Sommers.

 

Sven Beckstette

Raphael Saadiq und Erykah Badu konzertieren in Berlin: In dem Jahr, in dem mit Gil Scott-Heron die wohl wichtigste Stimme der afroamerikanischen Musikszene verstarb, bezeugten die Auftritte von Saadiq und Badu die Kraft, die Soul und Funk immer noch innewohnt. Hier Saadiq, der den Altmeistern nacheifert, ohne sie sklavisch zu kopieren und dabei viel mehr vom Geist des Soul verstanden hat als Mode-Sänger wie Aloe Blacc und Mayer Hawthorne zusammen; dort Badu, die wohltemperierten Jazz und afrozentristische Esoterik hinter sich lässt, um sich als Rachegöttin des Funk neu zu erfinden.

Shabazz Palacess, Black Up: Wer hätte gedacht, dass das komplexestes Hip-Hop-Album des Jahres aus Seattle kommen würde? Zehn Stücke voller vertrackter Beats und surrealer Reime, die bei aller Disparität ein strenges Formbewusstsein offenbaren. Eine Platte, die sich auf der Höhe der Zeit befindet, ohne dabei zeitgeistig zu sein.

David Foster Wallace, Unendlicher Spaß. Ist hierzulande zwar schon vor zwei Jahren erschienen, in diesem Februar allerdings erst als Taschenbuch (in dieser Ausgabe habe ich es gelesen). Ein in seiner Sprachgewalt so monströses und beeindruckendes wie zugleich angeberisches und auch mal ärgerliches Werk, das allerdings in erzählerischer Suggestion und Hellsichtigkeit, Komik und Bissigkeit  seinesgleichen sucht. Außerdem finden sich hier zwischen den Zeilen genauere Beobachtungen zum Retrophänomen als in Simon Reynolds unentschlossener Studie Retromania. Auch deshalb kann man das Buch als eine der wichtigsten Kulturkritiken unserer Zeit nicht übergehen. Buchstäblich ganz großes Tennis.

 

Raymond Bellour

1.

La rétrospective Ritwik Ghatak à la Cinémathèque Française.

Voir et revoir les quelques trop rares long-métrages du plus méconnu des très grands cinéastes, le seul sans doute qui ait su développer un art du choc des plans égal à celui d’Eisenstein, mais sans détermination théorique préalable, selon la pure inspiration d’un rythme inducteur d’émotions, capable d’exprimer la dimension tragique attachée à la partition du Bengale.

Avec, aussi, la peur, au vu de l’état de trop des copies, que ces œuvres uniques puissent être à terme menacées de disparition, si rien n’est fait pour les restaurer à temps.

2.

Adieu Caracalla (2009), le gros livre de Mémoires de Daniel Cordier qui fut, âgé de vingt ans à peine et pendant un peu plus d’un an, le secrétaire de Jean Moulin, chef de la Résistance Française jusqu’à son arrestation et sa mise à mort par les nazis. Trois choses m’ont bouleversé dans ce livre :

– la mémoire de l’auteur capable, soixante ans après, de se rappeler avec précision autant de moments et d’instants singuliers d’histoire, de même qu’il pouvait retenir sans papier compromettant toutes les heures et les adresses des rendez-vous quotidiens qu’il organisait.

– que toutes ces actions se déroulaient à Lyon où je vivais alors enfant.

– que pendant de rares moment de détente Moulin ait initié Cordier à la peinture, le préparant à devenir le future galeriste d’Henri Michaux dont j’ai réuni et commenté plus tard les œuvres complètes dans la bibliothèque de la Pléiade.

3.

Restless (2011) de Gus Van Sant, pour la pureté flamboyante et cruelle d’une histoire d’amour inattendue,  au point d’avoir pleuré pour la première fois depuis longtemps au cinéma.

 

Johannes Beringer

Partie/Renoir von Helmut Färber: man kann Färber auch beim Denken zuschauen – sein Innehalten und Neuansetzen (in den «Renoiriana») führt immer wieder zu schönen – haltbaren - Wendungen. (Ich hatte von der Langsamkeit geschrieben, mit der Färber seine Projekte und Texte entwickelt. «Doch diese Langsamkeit ist nur scheinbar: nach aussen hin mag es so scheinen, für ihn selbst ist es die für die Ausarbeitung des Projekts, des Texts notwendige Zeit. Man sollte das Wort also durch ‹Forscherdrang›, ‹Stetigkeit›, ‹Beharrlichkeit› oder ‹Unentwegtheit› [‹Persévérance›] ersetzen ...»)

Der überraschendste Film bei der Vorbereitung der Chantal Akerman-Retrospektive für die Viennale: Je tu il elle von 1975. Darin zu sehen auch eine Wendung: weshalb es für Akerman nicht bei dem vielgenannten Einfluss durch den «strukturellen Film» bleiben konnte – zum rein Ästhetischen musste noch etwas anderes hinzukommen (der Blick auf ihren Familienhintergrund genügt). 

Frauen-Fussball-WM im Sommer: die «Fügungen» für Japan die ganze Zeit, schon im Spiel gegen Deutschland! (Der ganze nationalistische deutsche Medienhype mit einem Bums – 1 : 0 –  zusammengekracht.) Im Endspiel gegen die USA hatte Japan eigentlich keine Chance – aber «irgendwie» (nach der Umweltkatastrophe) wusste man: das gewinnen die.

 

Ludger Blanke

1

Mit der 9-jährigen L. in der Nachmittagsvorstellung von Le Quattro Volte von Michelangelo Frammartino im Filmtheater am Friedrichshain. B. hatte die Idee der Film könnte was für ein Kind sein und bat mich sie nachher zu befragen und das aufzuschreiben. Aber L. möchte keine Filmkritikerin sein. Sie weigert sich mit mir über den Film zu sprechen. Sie findet den Film traurig. Die kleine Ziege stirbt. Sie mag keine traurigen Filme. Das ist alles was ich aus ihr herausbekomme.

Aber ich habe selten mit so hoher Aufmerksamkeit einen Film gesehen. Mit den eigenen Augen, und der auf mich übertragenen Konzentration meiner Tochter neben mir.

Später erzählt A., L. habe ihr den Film am Abend, vor dem Vorlesen, in jeder Einzelheit nacherzählt.

2

Ein Dreh Anfang Juni für ein Portrait Guido Westerwelles in seiner neuen Rolle als Nur-noch-Außenminister. Begleitung des W. in der Regierungsmaschine auf der Reise zu einem Treffen der Kontaktgruppe Libyen im italienischen Aussenministerium neben dem Olympiastadion in Rom. Rasend von Blaulicht-Carabinieri freigepresst in der Kolonne über die in der morgendlichen Rush-Hour verstopfte Via Appia, spontaner Zwischenstopp in der deutschen Botschaft mit Statement des Aussenministers, dann zum von der Welt abgeschirmten Ort des Treffens. W. ist bemüht, wird aber von seinen Kollegen geschnitten, das ist nicht schwer zu erzählen. Aber nachher geht fast alles schief. Wir finden keinen Ort für das lange Interview, dann doch, dann werden wir in letzter Sekunde vertrieben, drehen ohne Licht aus der Hand im Gewusel auf dem Flur. Probleme mit dem Ton, wir müssen das Interview später vor dem Rückflug auf dem Flughafen Ciampino wiederholen. Für W. kein Problem, der hat schlimmeres erlebt.

Aus den Fenstern des Minibusses mit der Pressebegleitung heraus Rom im Licht eines frühen Sommertages. Ein alte Stadt, die sich um mich, um Libyen, um W. und die hysterische Blase, in der ich mich befinde, nicht kümmert. Sehnsucht nach einem anderen Leben.

3
Homeland, Melancholia, Rango, Schlafkrankheit, Elmore Leonard, Destroyer – Kaputt, Lensing und Heins Kirschgarten, Frank Fischer - Die Südharzreise

 

Christa Blümlinger

1.

Anlässlich einer Vortragsreise besuchte ich vergangenen Herbst zum ersten Mal Philadelphia und das dortige Kunstmuseum. Obwohl ich bereits in Paris und Stockholm Repliken der beiden großen Duchamp-Assemblagen gesehen hatte, beeindruckte mich die Aura der «Originale» auf unerwartete Weise. An Etant Donnés, das in einem düsteren kleinen Saal zugänglich ist, fiel mir vor allem eines auf: die Patina, an genau der Stelle der Holztür, wo die Besucher ihre Nasen plattdrücken, um durch die beiden kleinen Gucklöcher das berühmte Environment zu erspähen, die enigmatische Konstellation von «Wasserfall» und «Leuchtgas», arrangiert rund um den im Gras liegenden nackten Puppentorso. Auch der angrenzende Saal, in dem Le Grand Verre (La mariée mise à nu par ses célibataires, même)  ausgestellt ist, wartet mit einem überraschenden Detail auf. Hannah Wilkes historische Performance vor oder eigentlich hinter Duchamps gläserner Assemblage eröffnet sich mir buchstäblich unter neuem Licht, angesichts der Platzierung der Raumskulptur: ein Plexiglasfenster scheint für das durchsichtige Tableau der «von ihren Freiern entkleideten Braut» geschaffen worden zu sein. Wilkes Performance-Film von 1976, Through the Large Glass, zeigt die Künstlerin beim Vollzug eines Striptease, lesbar als feministisch-aktive Antwort auf die besagten Environments. Erst vor Ort wird mir klar, wie wesentlich an dieser Performance das «Hier» ist. Duchamps Präsenz im Museum of Art, so erläuterte uns Alex Alberro beim Durchstreifen der entsprechenden Räume, bewegt bis heute so manchen Künstler, mit einer Schenkung sich einen Platz unweit des großen Meisters zu sichern. Auch dieser Umstand trägt zur Auratisierung der Kunstwerke bei.

2.

Diesen Sommer habe ich Wilfried Steiners jüngsten Roman Bacons Finsternis (Deuticke, 2010) gelesen. Eine Salzburger Freundin schenkte ihn mir anlässlich einer Fahrt ins Ausseerland. Dieses spielt allerdings so gut wie keine Rolle im Roman, oder nur eine periphere, doch sehr präzise ausgespielte, um eine Spannung zwischen Original und Fälschung, Kultur und Kitsch, Verführung und Verlust aufzubauen. Was dem Autor so gut gelingt, ist der weitgehende Verzicht auf psychologische Erklärungen seiner in kriminelle, libidinöse und künstlerische Passionen verstrickten Romanfiguren, zugunsten einer mit lyrischer Exaktheit entworfenen Beschreibung von Handlungen und Zuständen, die in den erstaunlichen Passagen über Bacons Malerei ihre Entsprechung findet. Wie Bacons Abgründe nicht direkt als Darstellung lesbar sind, so sucht Steiner untergründig auch seine erzählerische Literatur in eine Form zu bringen, die direkt an die Sinne und an intensive Innenwelten rührt.

 3.

In der Wolfsburger Ausstellung Die Kunst der Entschleunigung habe ich eine Installation von Bill Viola entdeckt, die mir bislang entgangen war. The Threshold (1992) bildet eine radikale Schwelle zwischen einem blendenden Außen (grell blinkende Schlagworte aus der Medienwelt) und einem dunklen Innenraum, der mehr noch als so manch anderes Werk des Videokünstlers zur konzentrierten Kontemplation einlädt. Der gerichtete, genau fokussierte Schall und die schwach konturierten Wandprojektionen ziehen den Besucher in den Bann dreier Schläfer. Man taucht in eine Zone des Zwielichts ein, um an der Schwelle zwischen Farbe und Schwarzweiß zu schweben, ganz den imaginären Träumen der drei Schläfer angepasst.

 

Robin Celikates

IDFA-Herzog-Doppelpack: Höhlenkino & Death Row – mit M; diesseits und jenseits der Clichés: Rio/São Paulo/Salvador in 9 Tagen; Miami Venice; Before Your Very Eyes von Gob Squads Theater-AG

 

Catherine Davies

Zwei Monate leben und arbeiten in Cambridge (UK): Untergebracht in einem funktionalen Gästezimmer in Wolfson, einem der neueren Colleges. Umso schöner der tägliche Spaziergang zur University Library und der berühmte Blick über die Cam auf das Trinity College. Nicht zu vergessen: das großartige Brot aus der Cambridge Cheese Company.

New York Public Library: Hier habe ich im Spätsommer zahlreiche Briefe von Moses Taylor, einem New Yorker Kaufmann des 19. Jahrhunderts, gelesen – leider nicht in dem herrlichen Lesesaal, sondern in dem kälteren und dunkleren Manuscripts Reading Room. Erhaben hat es sich trotzdem angefühlt.

Uwe Johnson, Jahrestage: Die Lektüre zum NY-Aufenthalt, bei der ich – trotz aller Begeisterung für die Stadt – Sehnsucht nach Mecklenburg bekam.

 

Matthias Dell

1. Saskia Sassen an einem Nachmittag im Frühling von New York. Eigentlich ist keine Zeit, eigentlich soll es um was anderes gehen, aber dann geht es um ihre Geschichte als Tochter eines Nazis, der Adolf Eichmann in Buenos Aires interviewte. Die Schönheit einer Sprache, die nach Erklärung sucht. Abruptes Ende, Aufwachen aus einem Film.

2. Moskau an einem Tag im Sommer. Wildes Hase-und-Igel-Rennen ohne Igel, Fluch des späten Besuchs. Wo das Hotel Rossija stand, rudalvegetiert noch immer eine riesige Baulücke, Fernsehturm geschlossen, Hotel Lux wird renoviert. Die Twerskaja hinauf zum Puschkin-Platz dann der irritierendste Moment: Vor einem müde gewordenen Neubau, an dem noch die Büsten, Namen, Lebensdaten prominenter Bewohner hängen, zumeist verdienter Schauspieler des Volkes, ein unscheinbarer Flachbau, der sich innen als größter McDonald's entpuppt, den ich je gesehen habe. Vor einer Tür dilettantische Fotos: Eröffnung am 31. Januar 1990, eine Menschenschlange, die sich um den Platz zieht. Etwas Demütigenderes kann man sich nicht vorstellen.

3. Das alte München in einer kleinen Ewigkeit. Der Graf-Polizeiruf, erste Folge mit Matthias Brandt, auf der Fernbedienung immer an der Lautstärke rumgestellt, das war diese unglaubliche Tonspur. Und mitten drin die Doris-Kunstmann-Erzählung vom München aus einer Zeit, bevor die Vernunft sich Fahrradhelme aufgesetzt hat.

 

Jan Distelmeyer

Sejdeme se v Denveru (CZ 2006/07, Jan Jan Šikl) & Po zakonu (Nach dem Gesetz, SU 1926, Lev Kulešov), im November in Hamburg. Der wunderbarste Moment kommt in SEJDEME SE V DENVERU, als sich ein Gebirgszug in Winnipeg in Glas und Malerei auflöst.

Duncan Jones' Source Code – der beste Beitrag der letzten Jahre zur symbolischen Ordnung des Computers.

Schwimmen in Buckow und eine Woche maximale Deckenhöhe von 1,80 m in einem Haus auf Öland.

Monte Hellmans Road to Nowhere zusammen mit Ludger – wegen der ersten Minuten des großartig langsamen Annäherns an die aktuellen Bedingungen von Film (aber eigentlich auch wegen der Traurigkeit des ganzen Unternehmens).

Kelly Reichardts Meek's Cutoff mit Tom, Aysun und Christian im FSK und dem schönen Kontrast, als nach ungezählten Swimmingpool-Trailern (blau, blau, blau) sich der Western in Staubgelb und 4:3 auf vergebliche Wassersuche macht.

Das 5:2 von Arminia Bielefeld gegen Stuttgart II und zum ersten Mal Hoffnung, die Dritta Liga (nach oben) zu verlassen. Danke, Eric Agyemang.

Die Neuregelung des brasilianischen Waldschutzgesetzes von 1965 und das Fast-Scheitern der 17. UN-Klimakonferenz.

Ruth Distelmeyer (1916-2011)

 

Daniel Eschkötter

Was Louie C.K. in diesem Jahr da einige Wochen, Monaten gemacht hat, in seiner Show LOUIE auf seinem FX-Sendeplatz: es war, in vielerlei Hinsicht, nicht absehbar. Wie er mit seinen Töchtern zur alten urrassistischen Tante rausfährt, auf der Autofahrt zu The Whos «Who Are You» einmal in voller Länge abgeht. Wie er die Folge mit einem Stand-up-Act über das Vorlesen von Tom Sawyer beendet, über die Angst des Vorlesers beim Erscheinen Huck Finns im Roman, dem Erscheinen von Wörtern mit ihm, die er den Töchtern nicht erklären mag. Wie er dagegen Pamela seine Liebe erklärt (CARGO # 12. Auch, dazu: die Lieben aus HOW DO YOU KNOW, aus BRIDESMAIDS.)

Wenn die Spur nach Portugal führt: Spuren von Techniken (Erzähl-, Medien-, Geschichts-) aus anderen Jahrhunderten, Spuren eines Kinos, das die longue durée ansteuert. Was die Kamerabewegungen, was die Rückblenden, die Abschweifungen in und mit Raúl Ruiz’ MISTÉRIOS DE LISBOA anstellen. O ESTRANHO CASO DE ANGÉLICA und was sich dazwischen abspielt, erstreckt, auch zwischen Manoel de Oliveiras erstem Film DOURO, FAINA FLUVIAL von 1931 und den Tatsachen im Falle Angelica in seinem ganz sicher nicht letzten. – Und dann, tatsächlich, die Gärten und Anhöhen von Lissabon. Wenn sich Warten im Regen auf ein amerikanisch-israelisches Nachmittagsfrühstück mit eggs Benedict lohnt. Und ein Tag, ein Reacher, drei Sicherheitschecks, ein Flieger, der nicht ging, zum Jahresanfang. 

Wenn der Kitsch den Reizschutzwall bricht und einem das irgendwie peinlich ist, aber da muss man nun durch: Sufjan Stevens in Berlin. Dass Age of Adz wohl eine Schizo-Eso-Sakro-Folk-Rockoper sein soll, das war mir vorher nicht klar. Da, in Dekor und Choreographie, öffneten apokryphe Offenbarungs-Lieder wie «Seven Swans» Passagen zu NIGHT OF THE HUNTER: «He will take you / If you run / He will chase you / Because he is the Lord.» Am Ende kamen dann doch nur Luftballons von der Decke, aber das hatte schon so seine Richtigkeit.

 

Lukas Foerster

– ganzjährig, rund um die Uhr: Die sozialen Netzwerke haben mich erst dieses Jahr vollständig erfasst. Bis auf weiteres lasse ich alles laufen, als Selbstversuch, das rede ich mir zumindest ein.

– Juni bis Dezember: Privatretrospektive Hollywood 1980 – 1984. Die erschreckende Erkenntnis, dass ich auf die Gegenwart des Kinos verzichten könnte, wenn ich mich nur tief genug in seine Vergangenheit versenken würde.

– November: USA-Reise. Die Medien, die mir das Land vermitteln: early television, talk radio, die Filme der L.A. rebellion, Jack Reacher.

 

Brüder Goncourt

Die Spätvorstellung von North By Northwest im Original. Das Kino ist das gleiche, in das wir auch früher immer gegangen waren; die Angestellten hatten es von der früheren Besitzerin übernommen, die es schließen wollte und nur nach zähen Streitigkeiten überließ: warum auch immer sie dann die Bestuhlung und, wohl aus Wut, die Leuchtreklame des Kinos mit sich nahm. Ich saß sehr müde in der Vorstellung, die Filmkopie war eine sehr brüchige, vergilbte; es war eigentlich gleichzeitig so, als säße man Sonntagnachmittags in einem Bahnhofskino, und dann wieder so, als würde man jemanden aus der Zeit der Bahnhofskino-Sonntagnachmittage wiedersehen, alt und grau geworden. Wir waren fünf Zuschauer; als ich auf die Straße trat, begann gegenüber dem Kino eine Prügelei.

*

Mit Malo in mehrere Mahler-Konzerte gegangen. Lange nicht so räumlich Musik gehört, in einem Satz schien jedes Instrument irgendwann an die Reihe zu kommen, wie in einem Würfelwurf über Schiffsplanken, der seltsame Eindruck, dass sich diese zufällige Verteilung genauso wieder zu einleuchtenden Summen zusammenfügte wie in den T-Konten, die ich in einem parallelen Lehrgangs-Leben nach Übungsaufgaben des Schmolke-Deitermann über die Blätter zog. Das elektronische Geräusch der Kasse; die Gespräche mit Malo nach den Konzerten im oberen Stock von Kentucky Fried Chicken am Hauptbahnhof Essen.

*

Das schöne Buch von Lee Friedlander, mit den Fotografien vom Central Park.

 

Christoph Haas

Film I: The Leopard Man von Jacques Tourneur

Der letzte Teil der Horror/Mystery-Trilogie, die Tourneur 1943/44 für RKO drehte. Weit weniger bekannt als Cat People und I Walked with a Zombie – aber genauso gut. In 65 Minuten erzählt Tourneur mehr als die meisten seiner Kollegen in der doppelten Zeit, und dienarrativen Freiheiten, die er sich herausnimmt, sind unglaublich.

Musik: Preis dem Todesüberwinder von Michaela Meise

Eine junge Bildhauerin und Objektkünstlerin aus Berlin singt alte Kirchenlieder. Ungefähr so,als handele es sich um Folk, und nur von einem Akkordeon begleitet. Das ist herzergreifend; man möchte sofort fromm werden – zumindest für die Spieldauer dieser CD.

Comic: 5 000 Kilometer in der Sekunde von Manuele Fior

Eine schwierige Liebe zu dritt. Die Schmerzen der Jugend und die Schmerzen des Alterns. Die Unmöglichkeit, irgendwo zu Hause zu sein, sei es in der Ferne oder in der Heimat. Der Comic des Jahres.

Film II: Im Schatten von Thomas Arslan

Schon aus dem Jahr 2010, aber erst 2011 gesehen. Ein Film von Jean-Pierre Melville, in den der Geist der Berliner Schule gefahren ist. Oder umgekehrt. Auf jeden Fall: ein perfekter Film. 

 

Günter Hack

Die letzten Minuten von Werner Herzogs Die Höhle der vergessenen Träume zeigen Albino-Krokodile, die sich in einem Zuchttümpel suhlen, welcher von der Abwärme eines französischen Atomkraftwerks beheizt wird. Herzog knackt mit diesem kurzen Postscriptum die Atmosphäre der Erhabenheit, die sich über der vorhergehenden intensiven Betrachtung der Jahrtausende alten Wandzeichnungen in der Chauvet-Höhle unweigerlich aufbauen musste. Der zunächst bekloppt anmutende Ausflug ins Mad-Max-Subgenre der Science Fiction erfüllt aber eine wichtige Funktion: Er rettet den Streifen davor, als erbaulicher Schulfilm zu enden. Wenn die Demokratie eine Maschine zur Vernichtung von Macht ist, dann ist ein demokratischer Film vielleicht einer, der deutlich mit jeder Form von Pathos bricht.

Der unverhoffte Anblick des Blatts «Parte di ampio magnifico Porto all'uso degli antichi Romani» von Giambattista Piranesi in einer ansonsten langweiligen Ausstellung. Piranesi zeichnet seine erfundenen Bauten hyperdetailliert durch, verschleiert ganze Bildteile durch Darstellung von Rauch und Dämpfen. Auch der Blick auf seine Radierungen herbeihalluzinierter Kerker offenbart ihn als konsequenten Wegbereiter der zeitgenössischen Computerspielarchitektur. Von den «Carceri» führt mehr als eine Linie über «Doom» in den Aufmerksamkeitsknast zeitgenössischer Gaming-Welten.

Kelsey Grammer in seiner Rolle als Chicagoer Bürgermeister Tom Kane in Boss. Er leiht der Grundmetapher dieser TV-Serie, dass die Demokratie in den USA wie von einer Alzheimer-ähnlichen Nervenkrankheit zerfressen wird, seinen Körper und damit überraschende Plausibilität.

 

Jakob Hesler

1 Es hat mich erschreckt: dass mir im Londoner NFT Singin' in the Rain unangekündigt in digitaler Projektion vorgeführt wurde. Der Film, der den traumatischen Übergang vom Stumm- zum Tonfilm in einer psychedelisch ausufernden Komödie bedrohlich dauergrinsender Oberflächlichkeit verklärt – im Saal 2 eines Hauptrefugiums des Zelluloid, des Britischen Film Instituts – im flauen, surreal statischen Video-Look des Internetzeitalters. Eine Allegorie wie eine Bratpfanne, neuerliches schmerzhaftes Aufwachen in der digitalen Ära.

2 Es hat mich gefreut: dass ich in Norddorf (Amrum) auf das winzige Lichtblick-Kino gestoßen bin - dass diese sympathischen Leute ihr winziges Haus seit kurzem auch digital bespielen, kann ihnen gar niemand verübeln. Hochzufrieden habe ich hier die letzte Komödie (Nichts zu verzollen) angesehen und nebenher eine feststeckende Schollengräte mit großen Mengen Popcorn meinen Schlund hinab zu komplimentieren versucht.

3 Es war mir ganz gleich: in welchem Format die Bilder denn nun an mir vorbeiflimmern, als ich Filme von Asghar Farhadi gesehen habe. Der Film spielt hinter dem Schirm, hinter der Stirn; ob Transistor oder Röhre, Pixel oder Silber, Film bleibt Film, so wie Musik Musik, immer schon.

 

Alexander Horwath

1.
Mai, Internationale Filmfestspiele in Cannes. Gefühlte 333 Abendessen, bei denen nach jeweils 3 Minuten Kopfnicken und Schulterklopfen zu LE HAVRE (da redete ich) jeweils 3 Stunden über THE TREE OF LIFE und MELANCHOLIA debattiert wird (da redete ich weniger). Herzrasen vor Zorn, dass es also wieder einen Gott oder zumindest einen Weltuntergang geben soll.

2.
Juli, Filmmuseum. Anschauen von LOW DEFINITION CONTROL von Michael Palm (Rohschnitt). Herzrasen vor Freude.

3.
Herbst und Winter, Wien, Venedig, Pordenone, Paris, London, Brauschweig. Lesen von Texten über die Grenzen des Kinos. Die Grenzen des Kinos selber empfinden, beinahe täglich. Schreiben von Texten über die Grenzen des Kinos. Die Grenzen von Texten zum Kino und von Texten über die Grenzen des Kinos selber empfinden. LOW DEFINITION CONTROL wiedersehen und Miriam Hansens letztes Buch lesen. Mit Vitaminen also wieder von vorne beginnen.

 

Dominik Kamalzadeh

1. Als Steve Jobs am 5. Oktober starb, erfuhr ich das in der Früh über mein iPad. Viele andere wohl auch, dennoch traf dieser Moment für mich persönlich einen Nerv, vergleichbar den ersten Angriffen des Anonymous-Netzwerks. Ein Gerät trauert um seinen Erfinder – sentimentale Sciencefiction. Den Roman, der dieses Gefühl am besten auszudrücken verstand, fand ich in Jennifer Egans A VISIT FROM THE GOON SQUAD, der den Übergang vom analogen zum digitalen Zeitalter als eine Art großartigen Reigen durch die kontingenten Lebensentwürfe zeitgenössischer Menschen entwirft und dabei ständig die Stilistik ändert. Am Ende steht die Utopie einer Welt, in der bereits Kleinkinder ihre Songs selbst einkaufen (und damit die Musikindustrie retten).

2. Ein Film sorgte für die nachhaltigsten Diskussionen (und endlose Verteidigungsreden meinerseits): Terrence Malicks THE TREE OF LIFE. Nicht nur wegen der Dino-Szene wild umstritten, vor allem aufgrund seines kosmisch-religiösen Dröhnens. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er hält, vielleicht gerade wegen der Widersprüche, die er mit sich selbst austrägt: ganz in seiner Gegenwart verfangen, sucht er zugleich das Universelle. Das Gegengift war für mich David Cronenbergs Psychoanalyse-Drama A DANGEROUS METHOD, der, äußerlich makelloses «period piece», seine verborgenen Triebe in kleinen, aber umso verstörenderen Symptomen ausdrückt.

3. Slavoj Zizek, der in New York zu den Demonstranten der Occupy-Bewegung predigt und wie diese dann seine Worte wellenartig in die Menge tragen. «Time is needed to deploy the new content.»

 

Rainer Knepperges

1.
Eine Autofahrt mit den besten Freunden über die Rheinbrücke bei Emmerich, weiter über Xanten und Moers, im goldenen Abendlicht am Niederrhein lang, und dazu Why Not Your Baby von Dillard and Clark, Loy krathong von Don Sonrabiap, The Night Has a Thousand Eyes von Bobby Vee, und I See God In Everything von E. C. Ball & Orna Ball. So hatte ich die Welt noch nie gesehen; mit Musik im Auto durch den Garten Eden.

2.
Louie (Louis C.K.)

3.
In Lille, wo zu Ostern das Universum Adolf Wölflis ausgestellt wurde, gibt es ein schönes kleines Naturkundemuseum, in dem zwischen eingelegten Reptilien und ausgestopften Vögeln, gleich neben zwei Mumien aus Theben, ein einzelner Axolotl beinah bewegungslos aus einem Aquarium schaut, ganz allein mit sich und mit einem so traurigen Zug um den Mund, als wäre Another Love von Johnny Williams sein Lieblingslied.

 

Ryland Walker Knight

1. Buying the prosumer Canon T2i. This new toy helped me inch towards making more images throughout the year. The most visible were the Cannes Questionnaires interviews I conducted/edited with my friend Danny Kasman, but I also shot a few short films I'm proud of, which you can find on my vim.

2. Attending Cannes for the first time and, consequently, spending my summer abroad. I gripe about the experience of Cannes plenty to my friends but such moans are vain and stupid: the event was formative. As was the summer. I'm forever grateful to those, including Ekkehard, who helped make the summer something to remember.

3. Breaking Bad all fall. I finally got on board this band wagon last fall when I raced through all four seasons in a few months. As evidenced by the latest issue of CARGO, there is a lot of impressive creativity in American television and this show's dark comedies and darker tragedies are a particular highlight of the medium's possibilities for illustrating motivations and narrative trajectories. The filmmaking isn't always as exciting as the plot but the acting alone, and the development of Jesse Pinkman into one of the great characters of The Recession, are enough for me to elevate this show in my personal pantheon. (Hard to beat Deadwood, of course, but this has to be up there with The Sopranos.)

4.  Louie. Forget what I said about plot. The beauty of Louie isn't just its ethical posture, nor its comedy, nor its behind the veil interest in how comics live, nor its total-cinema maker (he writes, directs, stars, edits, produces), nor its cast of genuine New Yorkers in bit parts, nor the unrequited love subplot (the closest thing to a thru-line narrative), but its loose aleatory nature. Things happen, other things happen, it's just stuff mixed with some discrete standup bits. And it's great. The standout episode is obviously the USO trip to Afghanistan, «Duckling», but my favorite has to be «Eddie» for its simple message, which is called out as a blow-hard speech despite its truth, that life isn't something you possess but something you take part in, or not. Things happen and you participate. Or you don't.

 

Ekkehard Knörer

2011 war ja nun ein merkwürdiges Jahr. Erstes Mal in einer Jury gesessen, Kurzfilmfest in Dresden, all diese öden, in ganz falsche Richtungen ambitionierten Visitenkarten und Angebersachen, zum Glück war da dann aber noch Youdid Kahvecis Radiostar. Danach der Lehrauftrag in Frankfurt (Oder), Wiederbegegnung mit einer fremden Heimat, Seminar zur Kriminalliteratur, mit der ich eigentlich gar nichts mehr zu schaffen habe (außer natürlich mit dem alljährlichen Reacher, The Affair, ein guter Jahrgang), aber von der Seminarlektüre (The Moonstone) angeregt Wilkie Collins' umwerfenden Roman No Name gelesen, der einem eine weibliche Heldin vorsetzt, der man mit schreckgeweiteten Augen mitfiebernd folgt. Dazwischen einen Monat in der Freitag-Redaktion, das war eine gute Zeit, obwohl natürlich Jana Hensel zum Schlimmsten gehört, aber in einem Zimmer mit Matthias Dell, das war toll. Sehr schön war es auch, über Cornelia Vismanns Nachlassbuch Medien der Rechtsprechung schreiben zu können. In Frankfurt (Oder) hatte ich bei ihr studiert in winzigen Seminaren und war ihr Hiwi gewesen und dann  das Gerichtsfilmseminar bei ihr, das ist in dem Buch noch aufgehoben, (mit Stefanie Diekmann und – naja, Kurzbesuch – Gertrud Koch war das übrigens), eine aus diesen und anderen Gründen sehr wichtige Sache, damals, im Jahr 1998. Das war auch das Jahr meines ersten Berlinalebesuchs, glaube ich. 2001 kam dann der furchtbar fröhliche Herr Kosslick, mauserte sich zum Helmut Kohl meiner Filmkritikerjahre und macht, Schreckensmeldung des Jahres, bis 2016 glatt weiter. Aber es soll mich nicht kümmern, ich lasse mich für 2012 nicht akkreditieren, denn ich sitze ja seit Oktober als Ex-Filmkritiker in der Mommsenstraße in Charlottenburg und übe mich in europäischem Denken. (Plus: Ruiz, Vecchiali, immer wieder Hong, und immer noch die Trauer darüber, dass es nie wieder einen Film von Rivette geben wird. Und wunderbar auch: wieder Tischtennis spielen, mit Ursula und Michael und Thomas und manchmal Volker.)

 

Gertrud Koch

0. Spielregel: Als Leinwand für bleibende, soll also heißen, dauerhaft über sie hinaus wirkende Ereignisse, die aus der laufenden Chronologie ausreißen und im Januar des folgenden Jahres nicht schon Schnee von gestern sind, geben Kalenderjahre fragwürdige Kandidaten ab. Ob der Eindruck sich erhärten und die diagnostische Voraussage eintreffen wird, kann allerdings ohnehin erst im Nachhinein geprüft werden. Die Willkürlichkeit des Zeitraums setzt daher einen angenehmen Schuss Spekulation frei und so wird das Räsonieren über das im Vergehen begriffene Jahr zu einem Gesellschaftsspiel, bei dem vor allem der Spieler seine Karten im Va banque Spiel der Geschichte auf den Tisch legt. Das Jahr 2011 hat Karten aller Couleur und für alle Spieler bereit gehalten: 

1. Fern und Nah: Was zu gewinnen war/ist – Die Zukunft? Das Jahr 2011 stellt sich mir im Rückblick als ein Jahr der Massen dar, im Dezember drängen die Russen auf die Moskauer Strassen und Plätze, um gegen den siegessicheren Wahlschummel Putins zu demonstrieren und in Kairo und anderswo sind Leute immer noch und immer wieder auf den Plätzen – obwohl es gefährlich ist und obwohl an vielen dieser Orte das zentrale Verständigungsmedium Internet schon längst von oben ab- oder ausgeschaltet wurde. D.h. es funktionieren auch noch die «alten» Medien und Körpertechniken wie Pfeifen, Winken, Klopfen, Schreien, Rufen, Flüstern, Gesten. Globale Steuerungsmedien vernetzen sich mit ihren Körperschnittstellen. Abstimmungen werden mit den Füßen gemacht.

2. Was immer schon da war und wieder gekehrt ist: Melancholie. Im eisigen Providence an der Ostküste der USA schlittere und bibbere ich in den Filmclub der Brown University zu einem Doublefeature: Luchino Visconti, The Innocent, 1976, sein letzter, selten zu sehender Film und Michelangelo Antonioni, Il Grido, 1957. In der Doppelung ein melancholischer Schritt in den Doppelselbstmord: Zwei Männer, zwei Epochen, zwei Regisseure, zwei Stile. Darunter die Tödlichkeit der verfehlten Liebe: in gleißendem Sonnenlicht und abgeschatteten Räumen (Visconti), im Nebel und Grau der Poebene (Antonioni) entfaltet sich die Krise.

3. Das Unwiederbringliche: der Tod. Im Februar stirbt in Chicago meine Freundin seit Studententagen: Miriam Hansen. Was von ihr bleibt, ist ihr eindrückliches geschriebenes Werk, wunderbare Filminterviews mit Alexander Kluge, ihr letztes Buch, das sie selbst nicht mehr in Händen halten konnte – und viele, viele Erinnerungen. 

 

Anne Kunze

Fukushima. Das war's, hoffentlich. Und dann wählt Schwaben grün! Zum ersten Mal kein Schamgefühl, wenn jemand fragt, woher ich komme (nach dem Wahltag ändert sich das wieder).

In Israel, im Frühling, CNN läuft 24/7. Auf der Straße überraschen mich die, die Angst vor der arabischen Revolution haben. Und der Besuch aus Deutschland verfolgt das Guttenplag so intensiv wie ich die Nachrichten aus Ägypten.

Berlin, natürlich. Das Beste, das mir passieren konnte (fast).

 

Maximilian Linz

08. Mai: Premiere von Die Finanzen des Großherzogs Radikant Film bei den Oberhausener Kurzfilmtagen. 

03. Oktober: Fase – Four Movements to the music of Steve Reich, der erste von vier Abenden mit Rosas/Anna Teresa de Keersmaeker im HAU. 

05. November: Thunder Road und Cape Fear mit Robert Mitchum, Auftakt zu einer von Hans-Joachim Fetzer programmierten Mitchum-Woche, die das Kino Arsenal in die Cinémathèque française verwandelte.

 

Cristina Nord

Von 2011 bleibt mir vor allem eines: die Erinnerung an eine Reise. Im März fliege ich für knapp drei Wochen nach Addis Abeba, um Freunde zu besuchen, die dort leben. Abgesehen von einem kurzen Aufenthalt in Tunis war ich noch nie in Afrika. Äthiopien hat eine Sonderstellung, insofern es nie kolonialisiert wurde – Italien versucht’s, gibt die Besetzung aber nach wenigen Jahren auf. Schwierig ist das 20. Jahrhundert trotzdem. Auf Haile Sellasies Jahrzehnte währendes Kaiserreich folgt eine brutale sozialistische Militärdiktatur, zwei verheerende Hungersnöte suchen das Land in den 70er und 80er Jahren heim und prägen die Vorstellung, die man sich in Europa von Äthiopien macht. Besonders demokratisch sind die Verhältnisse auch heute nicht. Addis Abeba ist eine Stadt, wie ich sie aus anderen Ländern der Dritten Welt zu kennen meine, weitläufig, hügelig, voller improvisierter Ansiedlungen, mit überraschender Bauaktivität – wer wird wohl in all den Bürohochhäusern arbeiten?

Ulrich Köhlers Film Schlafkrankheit ist eine schöne Vorbereitung auf die Reise, unter anderem weil er die Aporien einer Expat-Existenz so smart durchspielt; Michael Baute gibt mir den Tipp, äthiopischen Jazz zu hören, tatsächlich zählt Mulatu Astatke seither zu meinen Lieblingsmusikern, hinzu kommt ein kleines Lektürepaket, Ryszard Kapuścińskis Reportageroman König der Könige über den Niedergang von Haile Selassie, Dambisa Moyos Polemik Dead Aid über die Schädlichkeit von Entwicklungshilfe, ein Roman über die Zeit des Militärregimes, Beneath the Lion’s Gaze von Maaza Mengiste, Season of Migration to the North von dem sudanesischen Schriftsteller Tayeb Salih und schließlich – und ganz großartig – der zweite Band von Michel Leiris’ Phantom Afrika. Der französische Ethnologe erforscht Anfang der 30er Jahre im nordäthiopischen Gondar Besessenheitsrituale, stößt dabei aber immer wieder an die Grenzen seiner Disziplin. Er verliebt sich in eine Informantin, ohne dass er es wagte, ihr nahezukommen, die mönchische Enthaltsamkeit macht ihm zu schaffen. Er weiß nicht, ob die Trancezustände und Ekstasen, deren Zeuge er wird, echt sind oder nur für ihn und gegen Bezahlung in Szene gesetzt werden, und ab einem gewissen Punkt hätte er lieber an den Ritualen teil, anstatt sie zu beobachten.

Von Lalibela aus, einer Stadt im Norden, breche ich zu einer siebentägigen Wanderung auf. In einer kleinen Gruppe geht es von Camp zu Camp, begleitet von Bergführern und Eseltreibern, die mächtigen Tafelberge hoch und runter, durch zwei Flüsse hindurch, an einer Felskirche, Chili-Pflanzungen und Pavianherden vorbei. Die Landschaft ist atemberaubend. An manchen Stellen sieht es aus wie in John-Ford-Country. Das Ziel ist der Gipfel des Abuna Yoseph. Aber daraus wird nichts, weil es bis auf eine Höhe von 3900 Metern hinabschneit – mehr als einmal stapfen wir durch strömenden Regen, was für März außergewöhnlich ist und die Bauern glücklich macht. Das Ganze ist Teil eines Tourismusprojekts, das sich zugute hält, einen möglichst großen Teil der Einnahmen den Dorfbewohnern zukommen zu lassen, ein willkommenes Antidot gegen das schlechte Gewissen, das sich einstellt, wenn man in einem Land der Dritten Welt Urlaub macht und dabei nolens volens von dem Macht- und Wohlstandsgefälle profitiert, das man doch eigentlich ablehnt. Es gibt keinen Strom, keine Straßen, kein fließendes Wasser, der Besuch in einer Schule auf etwa 3800 Höhenmetern ist ernüchternd, Frontalunterricht, die Englischlehrerin hat keinen guten Tag erwischt, der Chemielehrer jagt in einer Mischung aus Englisch und Amharisch durch den Stoff, und weil ein eisiger Wind geht, sitzen die Schüler in Wolldecken gewickelt auf ihren Stühlen. Die Bauern, die die Camps betreiben, fragen, warum ich in meinem Alter noch immer nicht verheiratet bin und wieviele Rinder, Ziegen und Esel der Durchschnittsdeutsche besitzt. Manchmal meine ich, Leiris’ Fremdheitserfahrung wie ein leises Echo aus der Ferne herüberhallen zu hören.

 

Nikolaus Perneczky

/Desensibilisierung/
2011 habe ich das Travelling in Kapò dann doch noch gesehen; eine dezente, kaum mehr wahrnehmbare filmische Geste. Sieht man den ganzen Film, ist Rivettes berüchtigtes Verdikt («De l’abjection») zwar durchaus nachvollziehbar: Da wurde ein früher, und in vielen Momenten unerträglich argloser Versuch unternommen, die Wirklichkeit der Lager zur Erzählbarkeit zu entstellen. Was aus heutiger Sicht staunen macht, ist nicht Rivettes harsches Urteil, sondern dessen Begründung in einer einzigen formalen Operation, die obendrein, von unserem Ende der Filmgeschichte her in Augenschein genommen, recht verhalten daherkommt. Wie Rivette diese eine sachte Kamerabewegung herausgreift und zum Emblem alles dessen überspitzt, was ihn an Kapò insgesamt befremdet, das ist gewiss auch eine rhetorische Finte. Trotzdem sollte man den waghalsigen Einsatz, aus nur einem formalen Detail einen ganze negative Ethik zu extrapolieren, nicht einfach als dem Zeitgeist verpflichtetes Diskursmanöver abtun. Das würde Rivettes Argumentation die Spitze nehmen, die sie – darüber gibt Serge Daneys Aufsatz über Das Travelling in Kapò Aufschluss - zweifellos einmal besessen haben muss. Trotzdem: Wer die totale Mobilisierung der Kamera in den letzten drei bis dreieinhalb Dekaden miterlebt, wer vielleicht sogar die souveränen Pirouetten gesehen hat, welche die vorletzte Folge der HBO-Miniseries Band of Brothers (executive producers Tom Hanks & Steven Spielberg) auf dem Appellplatz eines eben erst befreiten Lagers dreht, dem kann das, was Rivette einst für die unbedarfte Positivität des Travelling in Kapò hielt, 2011 mitunter wie eine zurückhaltende, bald skrupulöse Annäherung an das Undarstellbare vorkommen.

/Resensibilisierung/
Und noch einmal Rivette: «La seule critique véritable d'un film ne peut être qu'un autre film». Die beste Kritik von Nicolas Winding Refns Drive, den ich vor drei Monaten in einem nüchternen Londoner Kino gesehen habe, ist Nicolas Winding Refns Drive wie er mir diese Weihnachten stoned im elterlichen Blu-ray-Heimkino wiederbegegnet ist. Beim ersten Mal sah ich ein handwerklich kompetentes 80er-Pastiche, das mich in desinteressierter und darum ästhetisch besonders rezeptiver Äquidistanz zu seinen generischen Weltbausteinen hielt – auch und vor allem während der viel besprochenen Feelgood- und Gewaltexzesse. Beim zweiten Mal sah ich ein Stück reines, immersives Genrekino (die Chiaroscuro-Autoverfolgungsjagd am Anfang des Films, Bryan Cranstons zeichenhaft-väterlicher Freund mit Hinkebein, der Todeskampf in der nächtlichen Brandung), das mir sehr gut gefiel bis mir aufging, dass es in diesem Film zwar eine Szene gibt, worin Ryan Gosling es als seine Bestimmung erkennt, sich zu einem «real human being» zu wandeln, und eine andere, in der er einem Bösewicht, der seiner Minne im Weg steht, die Schädeldecke eintritt, aber keinen Sex, nicht einmal einen begehrlichen Blick, nirgends. Nichts Unheimlicheres ist mir 2011 im Kino begegnet.

 

Christian Petzold

Val Kilmer zündet sich eine Zigarette an. Im Film HEAT. Im türkischen Fernsehen, in einer Privatstation, Star TV oder Show TV, in diesem Sommer. Die AKP Regierung hat die Zigarette im Kino und Fernsehen verboten. Val Kilmers Hand, die in die Jackentasche gegriffen hat, herumnestelte, ist plötzlich verpixelt. Die Pixelfläche wird zum Mund geführt, der jetzt auch, unterhalb der Augen, völlig verpixelt ist.

Der schöne Moment: Aus der Pixelfläche tritt Rauch, klarer, ausgeatmeter Rauch. Der ist nicht verboten. Irgendwie unanständig sieht das aus. Zensur führt wahrscheinlich immer zu Obszönität.

Das Tor von Marco Reus im zweiten Relegationsspiel gegen Bochum. Herausgespielt, eine Kombination, ein Doppelpass mit de Camargo. Das Gegenteil von Schweinefußball, rausgehen und kämpfen, Standardsituation und irgendein Madlung kriegt die Rübe an den Ball. Das Tor von Reus reicht für eine ganze, großartige Hinrunde.

Die alten Filme, die alten Platten. Unbenutzt und ausgestellt waren sie irgendwie Retro, Sentiment, Flohmarkt. Jetzt einen Videorekorder gekauft, ein neues Tonabnehmersystem. Das Zeug lebt.

Landschaft und Krieg im Le Bal. Written on the Wind. Four way Street. Das große Heft. Peter Stein Interview in der Lettre. Animal Kingdom. Ästhetik und Widerstand. Let England Shake.

 

Peter Praschl

2011.

Blue Bra Girl.

Am Tag nach dem Sturz Mubaraks schreibt jemand in meinen Facebook-Strom «2 down, 15 to go», eine schöne Sekunde in meinem Leben. Bald danach kommen die Handy-Videos, der Lynchmord an Gadaffi, das Mädchen mit dem blauen BH auf dem Tahrirplatz. Ein Soldat hat ihr die Kleidung zerrissen, sie liegt auf der Straße, der Soldat springt auf ihrem Körper herum. Ich sage mir meine Bescheidwissermantras auf: Was hat Gadaffi denn erwartet, kein ancien régime löst sich über Nacht in Luft auf, Revolutionen sind kein Picknick, so ist es nun mal. Doch es taugt nichts mehr, die Bescheidwissermantras alle zu oft heruntergebetet. Die Revolution wird nicht kommen, nicht mehr in meinem Leben, kein Sinn, noch etwas zu erhoffen.

Paulchen Panther.

Deutschland ist ein Land, in dem ein Türke ein Buch bekommt, in dem ihm gesagt wird, dass er aus einem Genpool für Dumme stammt. Oder einen Schuss in den Kopf.

Fernsehen.

Auf Phoenix die Stuttgart 21-Schlichterverhandlungen mit Heiner Geißler. I saw the best minds of my generation, destroyed by madness.

DVDs

[In recent years this tiny country with a population the size of New York City’s has become something like the world capital of feel-bad cinema.] Die Edition Der österreichische Film, von der Wiener Tageszeitung "Der Standard" herausgegeben, bisher sind sechs Staffeln und 200 Folgen erschienen. Das Naheliegende (Die Hanekes, die Fälscher, die Murnbergers), lokale Witzigkeiten, aber auch so erstaunlich viele grandiose kleine Filme, abstrakte Filme, Untergrundfilme, Debütfilme, einmal und nie wieder vorgeführte Filme, Fernsehproduktionen aus einer Zeit, in der der ORF noch nicht durchformatiert war, dass ich mich nicht einkriegen kann vor Respekt und Begeisterung und Dankbarkeit. Hat Wolff von Amerungen Konkursdelikte begangen? Dietmar Brehm. Totstellen. Gerade wiedergesehen: Fritz Lehners und Thomas Pluchs Das Dorf an der Grenze (#179), ein Fernseh-Dreiteiler aus dem Jahr 1982, der sich mit der ethnischen Säuberung Kärntens von der slowenischen Minderheit (die erst zu einer Minderheit gemacht werden musste) beschäftigt. Feel-bad cinema, umso mehr, als ich weiß, dass alles, das es erzählt, erbärmlich wahr ist.

Bücher.

Christopher Hitchens, Arguably. Joan Didion, Blue Nights. Marc Fischer, Hobala. Gundula Schulze Eldowy, Am fortgewehten Ort. Bettina Stangneth, Eichmann vor Jerusalem. Thomas Harlan, Veit.

Magazine.

Cabinet. Lapham's. n+1. Port. Cargo.

Going, going, gone.

Marc Fischer.

 

Isabella Reicher

Thomas Wolfes Roman Schau heimwärts, Engel! (in der Übersetzung von Hans Schiebelhuth) habe ich zufällig zu lesen begonnen, nachdem ich Tree of Life schon gesehen hatte. Beim Lesen habe ich mehr und mehr gedacht, dass sich der Film wie ein Echo zu dieser monumentalen Erzählung verhält. Das Buch ist mir sehr ans Herz gewachsen. (Andere glückliche Film-Literatur-Kombinationen: Kelly Reichardts Western Meek’s Cutoff und die Pionierromane von Willa Cather; Todd Haynes’ Mildred Pierce-Adaption und I was looking for a street, Charles Willefords Jugenderinnerungen an die große Depression.)

Im Österreichischen Filmmuseum war im März das Werk von Dorothy Arzner ausgestellt. Während des Studiums in den 80er-Jahren waren die Regisseurin und vor allem ihr Melo Christopher Strong (1933) mit Katherine Hepburn ein wichtiger Bezugspunkt feministischer Filmwissenschaft. Man konnte viel darüber lesen. Aber zugleich blieben die Filme unsichtbar, ein Versprechen, das sich jetzt endlich einlösen ließ. Ähnliches gilt für Elfi Mikeschs Was soll’n wir denn machen ohne den Tod (1980) – gesehen bei der Diagonale in Graz. Dort bin ich auch einmal zu Mittag in Margareta Heinrichs Filmakademie-Kurzfilm Zwielicht von 1978 gestolpert, ohne zu wissen, welche Überraschung mich erwartet.

Und dann noch: wie die niederländische Regisseurin Nanouk Leopold und ihre Produzentin Stinette Bosklopper übers Filmemachen sprechen (bei Crossing Europe in Linz); auf welche Weise die feenhafte Kanadierin Crys Cole einer Tischplatte mit allerhand Gerät Töne entlockt und wie das klingt (What’s up Vienna! What’s up Montreal!, Echoraum Wien).

 

Bert Rebhandl

Am Ben Ash Monument kurz vor Mud Butte in South Dakota wäre ich auf meinem Western Road Trip im September beinahe vorbeigefahren. Dann stieg ich aber doch auf die Bremse und fuhr ein paar Meter zurück, um nachzusehen, worum es sich dabei handelt: Einen Gedenkstein für die «Trail Blazers» Ben Ash, S.C. Dodge, Russ Marsh, Ed Donahue und Stimmy Stimson, die von diesem Punkt in der Landschaft aus am 26. Dezember 1875 auf ihrem Treck von Bismarck, North Dakota, nach Deadwood erstmals die Black Hills am westlichen Horizont ausmachen konnten. Mein Versuch, sie mit dem Zoom meiner Laienkamera ein wenig näher heranzuholen, war dann deutlichster (und technischer) Ausdruck des großen Abstands zur Welt der Pioniere, den ich auf meiner Fahrt durch das «Indian Territory» natürlich nicht aufholen, wohl aber äußerst intensiv «genießen» konnte.

Auf verschiedenen Nebenwegen bin ich im vergangenen Jahr zur Psychoanalyse «zurückgekehrt». Die Brautbriefe zwischen Freud und Martha Bernays sind in mehrfacher Hinsicht großartig, sie zeigen einen ganz anderen Mann als den versteinerten Wissenschaftsstrategen, den David Cronenberg uns vorführte. Dass der eifersüchtige und ungeduldige Verlobte neben der unentwegten Um- und Feinschrift gerade niedergelegter Liebesschwüre (und Affektbeobachtungen) schon zu einer Selbstanalyse ansetzte, nehme ich für mich (Abwehr hin oder her) als Lizenz zu einer fortgesetzten Umgehung des klassischen analytischen Settings: Ich bin auch weiterhin «in treatment» bei Texten, zum Beispiel bei der Theorie des menschlichen Unglücks von Judith Le Soldat oder bei der Psychotheologie des Alltagslebens von Eric L. Santner.

Der verkabelte Torso, auf den Source Code von Duncan Jones zulief, ist mein Filmbild des Jahres: Wie hier Trash-Neurowissenschaft und Perspektiven-Suspense zusammenfanden, wie Anish Kapoors Cloud Gate in Chicago den Riss zwischen Alltag und Ausnahmezustand biomorph werden ließ, vor allem aber, wie sich hier die Strategien des Kriegs gegen den Terror phantasmatisch auf Amerika zurückprojiziert finden, wie der zerfetzte Soldatenkörper zum letzten Gegenstand für «enhanced interrogation techniques» wird, das alles nehme ich als wirksames Gegenbild zu der Doxa, mit der Beseitigung von Osama bin Laden sei ein Geschichtskapitel abgeschlossen worden.

 

Simon Rothöhler

«I perceive so many things at once, that I don't know how to go about putting them in narrative order» – ein Satz aus einem Lieblingsbuch des Jahres: Alexis de Tocqueville: Letters from America + 2 tolle Monate im Raum dieser Ostküstengeschichten: Seth Herzogs Sweet Show immer dienstags, mit seiner Mutter aus Queens; Mysteries of Lisbon, der große Film von Ruiz an einem extrem heißen Augustnachmittag; immer wieder: das Broccoli-Gericht bei Momofuku, eggplant parm bei Torrisi; einmal: der Rote-Bete-Lollipop im Eleven Madison; noch am Columbus Day Sommer auf Martha's Vineyard; die leeren Regalkilometer bei Whole Foods, das Ampelblinken in der nahezu komplett autofreien Lower East Side am Abend vor Irene; leben, lesen, via russischem Stream Liverpool-Spiele schauen mit Fensterblick auf die irrsinnig kompetitiven Stanton Street Courts und später das Puppenheim Harvard Yard («Enter to Grow in Wisdom» könnte, sollte auch am Eingang der Straßensportstätte stehen) #Was noch bleibt: Sand von Herrndorf, Mühsams Tagebücher 1, Joseph Vogls minima oeconomica-Reihe bei diaphanes; Tea&Sympathy im Waldhaus Sils Maria; korsische Klagelieder in Nuit bleue von Leccia; Kristen Wiig & Amy Poehler; Paul Rudd & Reese Witherspoon; Marclays The Clock (+ Miami Venice mit R & G); Louie 2.0; die Begegnung mit Paul Schrader in Wien; Fritschs Trampolintempotheater Die (s)panische Fliege # der surreale Al-Jazeera-Livestream-Moment, als Mubaraks Reiter den Tahrir-Platz dann doch nicht leer prügeln konnten.

 

David Wagner

Januar: Das Graffiti, das ein Wikinger namens Halvdan im 9. Jahrhundert in die Balustrade der Empore der Hagia Sophia in Istanbul ritzte

Steven Colbert, Montags bis Donnerstags auf Comedy Central (Steven Colbert, du bist ein TV-Genie)

Giolitti in Rom, Via del Vicario (sehr viel Eis im Februar, das Kind spricht das ganze Jahr über davon)

April: Die Obstgartenwiese in Oberösterreich (auf der die Bäume so unglaublich blühen und die Tochter die drei Tage zuvor neugeborene Ziege an der Leine spazieren führt)

Der FC Barcelona, u.a. am 28. Mai und am 10. Dezember (eine Mannschaft wie diese wird auf diesem Planeten so bald nicht wieder zu sehen sein)

Bill Callahan, das Konzert am 15. Mai im Astra und das neue Album Apocalypse

Berlin (fast jeden Tag, das ganze Jahr hindurch)

Oktober: Die Fähre von Suomenlinna/Sveaborg nach Kauppatori/Salutorget, Helsinki/Helsingfors (einmal werde ich nachts um kurz vor halb drei ganz allein übers Wasser gefahren)

Emmanuel Carrère, Limonov und D'autres vies que la mienne (Lieblingsbücher im Dezember)

 

Robert Weixlbaumer

1.
Der Juli in Paris mit Frieda, die die größte Freude mit dem Fotoautomaten im Foyer der Cinématheque Française hatte, wohin ich sie bestimmt vier Mal geschleppt hatte, sogar Roziers Adieu Philippine hat sie sich geduldig mit mir angesehen (im Tausch für Transformers 3). Den Hintergrund der schwarzweißen Passbilder aus dem Automaten bildet das Muster des Hotelteppichs aus Shining, danach habe ich sie in der Kubrick-Ausstellung im prähistorischen Set von 2001: A Space Odyssee fotografiert. Der Bogen der Bilderreise endete zwei Wochen später in einer Höhle im Tal des Lot-Flusses vor sechzehntausend Jahre alten Pferdezeichnungen, einen Tag nachdem wir noch einmal den neuen 3D-Potter in einem kommunalen, volldigitalisierten Provinzkino in der paradiesischen Dordogne gesehen hatten. Noch ein neolithisches Paradoxon.
                                                                                                                                  
2.
Wien-Retour: Psychedelische Wechselschwammerln in der Leopoldstadt, Halluzinationen der Gelassenheit, Droopy’s Double Trouble von Tex Avery, Modell Doo-Konzert im rhiz, Frühstück in der Berggasse, fast so gut wie in A Dangerous Method. Über-Ich-Es komme, was wolle.
 
3.
Viaggo in Italia: Der Vormittag in Neapel im Gewusel der Seitenstraßen rund um die Piazza Garibaldi, der Nachmittagsweg auf den Schneevesuv, infernalischer Feier-Stau in der Abenddämmerung der Küstenstädtchen, der Weihnachtsabend in Palinuro im Irish-Pizza-Pub mit den kalabresischen Dudelsackspielern, über die die Dorfjugend kicherte. Rossellini undeutlich im Kopf, Kiarostami schärfer, und auch sein Bild vom Flashback/Flashforward einer Beziehung, die hinter allen Enden vielleicht immer weitergehen kann, wie eine beinahe fadenlose Filmerzählung.

 

Ulrich Ziemons

Drei Begegnungen mit dem Underground:

I. Genesis Breyer P-Orridge und Tony Conrad zum Abschluss der Berlinale: Elektrisches Geigenduell auf der Bühne des HAU2.

II. John Waters zeigt seinen Lieblingsfilm in Chicago: The Wizard of Oz durch seine Augen, hunderte kostümierte Kinder im Saal.

III. Kaffeeklatsch bei George Kuchar.