notizen

2. Juni 2023

Notizen 2023

Von Ekkehard Knörer

JUNI

2.6. Diamonds Are Forever (Guy Hamilton, GB 1971)

Sean Connery, den man aus dem Ruhestand gezerrt hat, steht, sitzt, liegt herum als ein Bond, der schlecht gelaunt das eine oder andere lebensgefährliche Abenteuer durchsteht. Zu Lande natürlich, zu Wasser erst recht und im Wolkenkratzer-Las-Vegas auch in der Luft. Da ist Tiffany (Jill St. John) mit wechselnden Haaren, da ist Plenty (Lana Wood), der Bond mit einem frivolen Wortspiel am Spieltisch begegnet. Da ist Blofeld mit Katze. Und nochmal Blofeld mit Katze. Fun fact: Nur einer (und eine) von beiden ist echt, so sehr sie sich gleichen. Da sind auch zwei Ladys mit Flic-Flac-Attacken, eine schwarz, eine weiß, da sind Scherze mit Whyte House, wobei der Spruch mit a more perfect union nicht schlecht ist. Alles ist sowieso zu Scherz aufgelegt, die tongue so sehr in cheek, dass es irgendwann doch Schmerzen bereiten muss, aber hey, immerhin ist immer was los, Bond, der im Sarg liegt und quasi kremiert wird, wilde Verfolgungsjagd produziert Polizeiauto-Schrott, hier explodiert was, da fliegt was in die Luft, Q tut sich gütlich an Spielautomaten, Bond taucht, immer noch schlecht gelaunt, mitten in der Wüste aus einem Kanalystem auf, während, leider, die beiden schwulen Killer mit dem Frisurproblem allzu sehr in den Hintergrund rücken, bis zur finalen Bombe surprise, die ihnen und allem ein Ende bereitet. Außer Spesen nichts gewesen, davon aber mehr als genug. (72cp)

 

Trenque Lauquen (Laura Citarella, Argentinien 2022)

taz-Kritik (81cp)

 

1.6. Le cercle rouge (Jean-Pierre Melville, F 1970)

Alle drei haben sie Namen: die Katzen des Kommissars Mattei, Fiorello, Griffaulait, Aufrène. Viel Liebe steckt in diesem Film im Detail. Mattei ist, von seinen komischen Rollen sehr weit entfernt, André Bourvil, ein Blofeld des Guten, Gegenspieler der Gangster, nichts bringt ihn aus der Ruhe, die Flucht nicht des Gefangenen, den er transportiert, und auch nicht die Investigation des Ermittlers, der in einem Gehäuse aus Plüsch sitzt - ein Film der Innenraum-Modellierung, siehe nur die Villa des großen Finales, offener Kamin, Gemälde, ein bürgerliches Schloss. Anderer Innenraum: der Club im Sousterrain, die Tänzerinnen, hier laufen Fäden zusammen, Überlagerung der Welten. Apotheose eines Inneren das Zimmer mit der gestreiften Tapete, hic sunt leones und Monster anderer Art, die Höhle des Mannes, der Polizist war und der Erlösung bedarf. Und er wird auch erlöst, seine Alkoholsucht zum Riechgenuss beim Heist sublimiert, keine Schlange mehr, kein Gecko, keine Ratten, eine Blende hinein in eine Schwärze, in der nichts mehr lauert, aus der nichts mehr hervorkriecht, welch schöne Sache: der Tod. Der endlose, wortlose Heist, methodisch vorbereitet, methodisch ausgeführt, die Kamera, die beim Ausbaldowern auf jeder Kamera einzeln insistiert, beim Switch-Off des Alarms später sind Bild und Ton wie selbstverständlich ineinander verschaltet. Es ist die Methodik, die man genießt, die Coolness eines Meisters, der die Spannungsmomente des Genres auf Kriechstrom hinuntergekühlt hat: die Kontrolle des Wagens, das Auslösen des Alarms, kein Tropfen Schweiß, nirgends, das Faszinierende ist, wie sich das auf die Haltung beim Zusehen überträgt. Sind so kalte Betrachter, finales Kamerarasen im Dunkel, kühl noch der Tod. (83cp)

 

 

MAI

31.5. Zwei unter Millionen (Wieland Liebske, Victor Vicas, BRD 1961)

Noch, gerade noch, trennt keine sichtbare Mauer die Stadt. Zwei junge Männer, Paulchen (Walter Giller) und Karl (Hardy Krüger), pendeln von hüben nach drüben, arbeiten in einer Markthalle in Ostberlin, während Karl in der Kneipe «Zur stillen Heimkehr» gleich hinter dem Schlesischen Tor Westmark verdient, in der Hoffnung, sie in eine besser Zukunft investieren zu können. Die Blütenträume von der Übernahme der Kneipe werden am Ende nicht reifen, zuvor aber begegnet er, reiner Zufall, der aus dem Osten in den Westen entlaufenen Christine (Loni von Friedl), mit der erst in den Regen gerät, dann macht er ihr am Bahnhof Zoo von einer Straßenseite zur anderen einen Heiratsantrag. Man sieht, in den Hintergründen des Bilds, die aber sein heimlicher Vordergrund sind, sehr viel Berlin, ein bisschen vom Osten, viel mehr vom Westen, um den Zoo herum, in der Nähe des Schlesischen Tors, in frühen Morgenstunden radeln Paulchen und Karl gemeinsam auf menschenleeren Straßen durch die Stadt, ein Reinigungsfahrzeug sprüht Wasser, alles scheint Aufbruch und Frische, noch das Scheitern hat eine berührende Erstmaligkeit. Es ist ein Film voller Hochbahngleise, ein Film, in dem einer, naiv, sich auf die Suche nach seinem eigenen Wirtschaftswunder begibt, von der Liebe heiß und kalt erwischt wird. Viele Fragen noch offen, die eine Zukunft verbaut, andere Optionen wird die Mauer zerstören, wenn nicht für die Zwei, dann doch für Millionen. (75pc)

 

30.5. In Water (Hong Sang-soo, Südkorea 2023)

Die Welt ist unscharf, womöglich trübe, aber sie ist auch, erstaunlich fast, bunt. Am Meeresufer drei Menschen, ein Schauspieler, der einen Kurzfilm drehen will, eine Schauspielerin und ein Freund, der Regisseur ist und die Kamera macht. Mehr ist schon fast nicht, sitzen, trinken, essen, Funde machen. Gefunden ist die Frau, die den Müll aufklaubt, sie wird in Fiktion überführt, wobei das Überführen wichtiger scheint als die Fiktion, eher ist es, als würden Stücke genommen und aus der Wirklichkeit in den Film übersetzt. Übersetzen aber heißt nicht mehr als: nehmen und (wieder-)geben, es kommt ein Nichts (eher als je ne sais quoi) an Erfindung dazu, es werden wirklich nicht viele Worte gemacht, nur kleinste Andeutungen von Konflikten, ein Song, den es gab, wird wiederverwendet, an einen anderen, vielleicht besseren Ort gebracht, eben in die Fiktion. Hier scheint nun wirklich ein Nullpunkt erreicht, alles hat Hong selber gemacht, die Schrammelmusik, die Unschäre des Bildes (mal weniger und mal mehr) ist auf seine eigene Augenkrankheit beziehbar, lässt sich aber natürlich auch als Experiment nehmen, das sich selbst genügt, das nirgends hinführt, das absichtslos scheint, so absichtslos und Zen wie dieser Wasserhauch von einem einstündigen Film. Eine Selbstreflexion, die kaum mehr als eine Luftspiegelung ist. (73cp)

 

Resident Evil: Redistribution (Paul W.S. Anderson, D/K/USA 2012)

Milla Jovovichs Körper, ein Vorhang vorn, einer hinten, in einem virtuellen Raum, im Raum des Virtuellen, so real und irreal, wie es New York, Suburbia und Moskau hier sind. Testgelände, Zitat, Video, Spiel, Räume öffnen oder schließen sich beziehungsweise, weniger organisch, werden entworfen als Szenen für Action-Sequenzen, dann schalten sie sich, verbraucht, wieder ab. Falls man von Verbrauch sprechen kann in einer Welt, falls man von Welt sprechen kann, in der der Vorrat an Munition niemals endet, so wenig wie der Vorrat an Menschen, die Klone sind, die sich als Menschen begreifen, und es auch sind, schließlich sind sie instantan humanisierbar, schneller als bei den Graugänsen geht das, Mutter-Tochter und zack. Die Frage, ob Androide noch träumen, zum Beispiel von elektrischen Schafen, ist in Auge-in-Auge-Kurzschlüsse überführt: Es sind die Gefühle, die zählen, es geht um die Leben, die man riskiert, das ist das Echte, einerseits geheimnislos selbst nur virtuell, echt andererseits als das, was zu hinterfragen nirgends mehr hinführt: Es hilft nichts, es anders zu nehmen. In einer Welt, in der Leben und Tod sehr relativ sind, eine Welt der Über-Lebenden und der Über-Toten, Kämpferkörper dazwischen, empfange deine Wunde, zeige deine Wunde, die Wunde ist das Zeichen, dass Körper als Körper noch existieren (und, tödlich verwundet, auch sterben). Parasiten dagegen machen Körper zu Wesen aus Stahl oder zu Zombies mit zappelnden Mündern wie fleischfressende Pflanzen. Mehr-als-organisch, mehr-als-virtuell, Ausgangspunkt (nach der fantastischen Rückwärts-Vorwärts-Anfangs-Sequenz) ist die Realität als das Generische selbst - amerikanische Suburbia, Kernfamilie, Häuser im Grid, es ist die Banalität, die hier lebt, völlig unentscheidbar, ob die Zombies real sind oder Metapher, das eine stülpt sich ins andere, im Zweifel Futter für die Kampfkünste der Heldin. Wobei Milla Jovovich sich aufspaltet in die, die blickt und sich in Bewegung setzt, auf in den Kampf, aber noch nicht darin, und jene, die als Kampfmaschine agiert, in den virtuellen Raum überführt. Die Kämpfe selbst stellen - anders als die Wunden und auch die Blicke und Signing-Gesten zwischen Mutter und Tochter (aus dem Nichts kann auch Alice plötzlich gebärden) - keine Kontakte mehr her zu einer wirklichen Welt, virtuell-real wie sie sind, virtuell-real wie sie ist. Was ist Virtualität? Sie baden gerade Ihren Körper darin. (82cp)

 

29.5. Il segno di Venere (Dino Risi, I 1955)

A wie Agnese und C wie Cesira. Die eine Frau, Agnese (Sopia Loren) wird die Männer nicht los, die Hände und Finger der Männer, die Blicke der Männer, während Cesira (Franca Valeri) den einen oder den anderen nähme, sie bietet in einem Bahnhofsbüro neben anderen Frauen ihre Dienste als Tipperin, Geschäftliches, Poesie, Liebesbriefe nähme sie auch, die Männer sitzen und diktieren, sie schreibt. Da ist der Dichter (Vittorio de Sica), so soigniert wie verkracht und sowieso alt; ihn sich schön zu gucken könnte Cesira gelingen, aber es wird aus ihm keiner, der was taugt. Nur sind die anderen keineswegs besser, sie dealen mit Autos, auf der Party tanzen wie die Blöden, die sie leider auch sind, im Zweifel hängen sie eh an der Mamma. Es ist Rom, es ist, daran lässt der Film keinen Zweifel, die Hölle, guter Rat ist nicht teuer, die Tante, selbst (und selbstbewusst) ohne Mann, interveniert, aber gegen den Traum vom Richtigen wie gegen den Aufmarsch einer gefühlt endlosen Reihe von Falschen kämpfen sogar Göttinnen sehr vergebens. Alles sehr bitter, das Drehbuch, an dem acht Autor*innen, darunter Franca Valeri, mitgemischt haben, nimmt die Auftritte seiner Stars komisch, recht eigentlich aber fährt die Sache keinem glücklichen Ende entgegen, sondern eher gegen die Wand: Die spinnen, die Römer, genauer gesagt, dieses Rom hat ein strukturelles Problem. (62cp)

 

26.5. The Lodger (Alfred Hitchcock, GB 1927)

Das Funkeln der Augen, soweit noch normal, aber auch die Fingerspitzen können hier glitzern. Das Haus, oben der Mieter, unten die Familie, der Vater-Mutter-Komplex, dazwischen, buchstäblich zwischen oben und unten als Shifter die Tochter. Eindringling, von der Eltern-Instanz völlig verkannt, ist der Polizist; er wäscht, als Pontius Pilatus, seine Hände in Unschuld (will nur, als gehörte sie ihm bereits, die Tochter des Hauses) - und macht so den Mieter zur Jesus-Figur, am Geländer gekreuzigt, ein Glück, dass er, vom Lynchmob gejagt, in eine seltsame Pietà hinein überlebt. Das Haus selbst Organ, die Decke Membran, die Lampe, die wackelt, wenn der Mieter über die Dielen geht. Kühn, gerade in seiner Selbstverständlichkeit, wie Hitchcock die Decke zur gläsernen macht, er traut dem Bild das Unmögliche zu, indem er es umstandslos ins Buchstäbliche übersetzt. Es ist Raum für Schnörkel, etwa eine Dreiviertelumdrehung des Körpers, ein turn-tease, der kürzere Weg wäre der verkehrte, weil das Vergnügen in der Verzögerung liegt, die einen thrill und ein Begehren hervorbringt, das es anders nicht gäbe. Aber es geht auch in your face und direkt: der Kuss, die Annäherung des Gesichts von Ivor Novello, groß und größer; geht aber auch, nun eher ikonisch, Gesicht an Gesicht und Lippe auf Lippe als Profilgroßaufnahme. Das Spiel mit der blinkenden Schrift der golden curls (Attraktion für den Serienkiller, der Avenger heißt, und den Betrachter, also ich oder du, als wäre der eine mit dem anderen zu verwechseln), zwischen Titel und diegetischem Bild, zum Finale dann endgültig, neben-protagonistisch im Fenster: Das Paar, das sich hat, die Schrift, die in den fiktionalen Wirklichkeitsraum tritt. (85cp)

 

Sommerwege (Hans Lucke, DDR 1960/2014)

Kein Film, der fließt, sondern einer, der einen Stein auf den anderen setzt. Die Landschaft wird in genauen, schweren, schönen Bildern gefilmt, die Landschaft mit Wegen, Sand, Äckern und Bäumen, und die andere Landschaft, die der Gesichter, der Körper, der Hände, alles auf dem Weg zur Skulptur. In die Geschichte ragt, wie in die Landschaft, die Vergangenheit herein, in eine Rückblende aus dem Krieg, die sich zuletzt wiederholt, die in der Wirklichkeit wie in Träumen auftaucht, die sich aber nur im Traum umträumen lässt. Widerständig, stur wie ein Baum steht der Bauer Grimmberger (ein Name, der fast mehr spricht als der Mann) im Dorf, im Stall, pflügt als menschlicher Ackergaul hinter seinem Ackergaul her, weil die Genossenschaft im einen Traktor verweigert. Im Parteiauftrag kommt Wollni ins Dorf, er kennt den alten Mann, ja, der hat ihm im Krieg das Leben gerettet. Er muss erleben, wie störrisch Grimmbauer ist, der Acker, der seiner war, soll seiner bleiben, eine Vorstellung von Eigentum, die sich verhärtet hat und weiter verhärtet, die auch das Verhältnis zur Tochter ergreift, die er mit seinem eisernen Willen in Bande zu schlagen versucht, die er dann tatsächlich, handgreiflich schlägt. Nun zieht Wollni aus, schlägt sich auf ihre Seite, und versucht doch weiter, als Mittler tätig zu sein, zu verstehen und im Verstehen Verständnis aus dem Bauern-Brocken zu locken. Es fruchtet nichts, so wenig wie die Kartoffeln, die hie wie da groß sind, so wenig wie der Tod der Stute, die fohlt und stirbt, Grimmbauer packt sich das tote Neugeborene auf die Schulter. Und stapft, eine Skulptur des Trotzes, davon. Der Film nimmt sich Zeit, er gibt seinen Figuren Zeit, er gibt der Landschaft, dem Licht und dem Schatten, dem Schwarz-Weiß-Kontrast, ja, er gibt der Zeit selbst Zeit. (Als hätte der Film geahnt, dass er ein halbes Jahrhundert lang unvollendet, verschlossen, in eine Krypta gesteckt würde, bevor er 2014 das Licht der Welt dann doch noch erblickte.) Die Kamera bewegt sich schwer, nicht gravitätisch, nur überlegt, unterstreichend durch Zooms und Schwenks, die immer etwas, manchmal doch zu viel, bedeuten; wie auch die Wörter und Sätze, die in den Mündern und Gesichtern geschrieben stehen, aber mit erstaunlicher Kraft. Und wie fremd und in ihrer Fremdheit doch hinreißend Joachim Werzlaus kunstliedhafte Musik dazu ist, wie unaufgelöst ins Fest der Gemeinschaft das Ende: Während die Kamera sich nach oben erhebt, steht Grimmberger abseits, am borkigen Stamm eines Baums. Und raucht die Pfeife, zu der ihm Wollni das Feuer gereicht hat. (80cp)

 

25.5. Die Schlüssel (Egon Günther, DDR 1974)

Eine Zufallsbegegnung auf dem Flughafen, da hat sich die Frage, ob das unverheiratete Paar, gespielt von Jutta Hoffmann und Jaecki Schwarz, sie Arbeiterin, er Student, im Hotel in Krakau ein Doppelzimmer bekommt, gleich erledigt: Ein anderes Paar gewährt ihnen Zugang zu seiner privaten Wohnung, hier die Schlüssel, das Apartment ist nobel. Gespräche, Konflikte, vage Aussicht auf gemeinsame Zukunft, das hängt zusammen, aber ständig fährt etwas dazwischen, ständig keilt Egon Günther Straßenszenen dazwischen, minutenlang ein Rockkonzert, intensiv, in Krakau übernehmen die Studenten für Tage die Stadt, um den Vietnamkrieg geht es, Pferdekutschen am Straßenrand sieht man, Spaß mit der Seife unter der Dusche, vieles ist, oder wirkt, improvisiert, Überleitungen, Verbindungen sind geradezu aggressiv weggelassen. Die Stadt, das Paar, die Schlüssel, dann ein Monolog, minutenlang, von Jutta Hoffmann in der abendlichen Straßenbahn, Selbstzweifel, Beziehungszweifel, in der doch ziemlich einzigartigen Hoffmannweise gespielt, selbstironisch naiv und dabei ziemlich bestimmt, kindlich und anpackend. Am Morgen darauf ist sie tot, auf die Straße gerannt nach Jaecki, unter der Dusche hat sie die Straßenbahnzweifel an der gemeinsamen Zukunft beiseite geräumt, das Bild crasht, da liegt vor der Straßenbahn, die entgleist ist, die Leiche. Das ist nicht der Schluss, die Straßenbahn wird abgeschleppt, Jaecki Schwarz muss sich um die Rückführung der Toten kümmern, Papierkram, es dauert einen Moment, die Trauer, auch darüber, dass er ihr so nahe nicht war, dann kommen auf der Brücke über den Fluss doch die Tränen. Das Leben als ständiger Einbruch und Überfall von Dingen, die aus allen Richtungen kommen. Und als das Inkommensurable, das der Überlebende doch bewältigen muss, der gewaltsame Tod. (75cp)

 

24.5. Midaregumo / Scattered Clouds / Two in the Shadow (Mikio Naruse, J 1967)

Es ist Sommer im Idyll fast am Ende, der Mann, die Frau, die Natur, zwei, die noch in der Sonne im Grünen im Schatten sind, sie sammeln Kräuter und nennen ihre Namen; ein Spiel, ein Griff, ein Kuss, wieder, wie so oft zuvor, Kadrierungen, die instabil sind, Schnitte, die die Perspektiven so sachte wie brutal verschieben: Wo Gesicht war, kann Hinterkopf werden, er wendet sich zu, sie wendet sich ab. Sommer und Farbe, die Wärme scheint mild, nichts ist hier grell, außer vielleicht die Musik, die das Melodram ausagiert, das der Rest des Films subtil, in Nuancen kurz vor der Erstarrung, gezielt unterspielt. Zum Erstarren ist Grund, der Mann, die Frau sind tragisch verbunden: Er hat den Mann, mit dem sie verheiratet war, getötet, es war ein Unfall, er hat keine Schuld, nimmt sie aber auf sich und zahlt ihr freiwillig monatlich eine Entschädigungssumme. Sie trauert und wütet, in sich gekehrt, sie nimmt das Geld, sehr widerstrebend, sie weicht aus, der Gegenwart des Toten, der Gegenwart dessen, der ihn getötet hat, jedoch, Ironie des Schicksals, genau dorthin, wo sie ihm wiederbegegnet. Die Witwe ihres Bruders will sie verkuppeln, ein Gasthaus für Männer, die zechen, denen der Alkohol die Blicke gierig und die Bemerkungen schmierig gemacht hat. Und so fliehen die beiden, voneinander weg, aufeinander zu, er verliebt sich, sie weicht zurück und dann beinahe nicht mehr. Ihm droht die Versetzung nach Lahore, es wird zum Schreckenswort als Schreckensort, von dem die Cholera stammt. Eine Liebe, die ein Ding der Unmöglichkeit ist. Die Fesseln lassen sich nicht abstreifen, nicht wirklich, es bleibt, als Ausweg, der keiner ist, nur das Lied, das er singt und das die Unmöglichkeit wenigstens in eine schöne traurige Form zu fassen vermag. (82cp)

 

23.5. Reputations (Juan Gabriel Vásquez, Kolumbien 2013, Übersetzung: Ann McLean, Hörbuch, Sprecher: Robert Fass)

Javier Mallarino ist ein politischer Karikaturist bei einer der meistgelesenen Zeitungen Kolumbiens, und als solcher eine Berühmtheit. Seit Jahrzehnten aktiv, links-dissident, eine Art Gewissen der Nation, zum 65. Geburtstag wird ihm eine große Feier ausgerichtet, sogar eine Briefmarke wird zu seinen Ehren in Umlauf gebracht. Dieses ist das erste Buch, aus einer Sicht wird die Lage der Dinge geschildert, es beginnt mit einer Szene, in der er den historisch berühmtesten Karikaturisten des Landes heraufimaginiert, eine Art Halluzination zwischen Spiegel und Identifikation, denn dieser ist seit 79 Jahren tot. Im zweiten Buch beginnt in der Konfrontation mit einer jungen Frau das Selbstbild zu bröckeln - die Erzählung springt, erinnernd, Jahrzehnte zurück. Irritierend ist, dass das Geschehen von damals, eine mögliche pädophile Missbrauchsgeschicht, ganz im Unklaren bleibt: Klar ist, dass die Denunziation, die damals zum Selbstmord des Verdächtigten führte, heute nicht mehr so heroisch erscheint. Vasquez erzählt dabei nicht die Geschichte des Zusammenbruchs eines Selbstbilds, sondern des Eindringens von Zweifeln, des Bröckelns, auch der Bestätigung einer früheren Kränkung, als seine Frau ihn verließ. Die Unklarheiten, die er eindringen lässt, affizieren allerdings auch den Kern seiner Geschichte, den Pädophilie-Verdacht. Es ist, am Ende, womöglich der Undurchsichtigkeiten eine zu viel. (64cp)

 

Maigret und sein Revolver (Georges Simenon, F 1951, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Madame Maigret ruft ihren Mann an, im Büro, am Quai d’Orfèvre, und berichtet von einem jungen Mann, der sie besuchte - und am Ende war mit ihm Maigrets Revolver (ein Souvenir von seiner Reise in die Vereinigten Staaten) verschwunden. Noch einmal taucht der junge Mann auf, er war mit seinem Vater bei einem Kollegen Maigrets zu Besuch. Spiel der Objekte: Der Revolver ist weg, ein großer Koffer taucht auf in der Gepäckannahme der Gare du Nord: darin eine Politikerleiche. Das eine ist mit dem anderen durch Verwandtschaft verbunden. Der Mann mit dem Koffer ist der Vater des Revolverdiebs, einer, der große Vision gebiert, mit denen er stets jämmerlich strandet. Maigret sucht ihn auf, der Mann hat, wie es scheint, den Verstand verloren, aber vielleicht tut er nur so. Auf undurchsichtige Weise als zentrale Figur in die Sache verstrickt ist eine umtriebige Frau, die sich nach London abgesetzt hat. Ihr hinterher: der Sohn (Geld hat er sich durch einen Überfall mit Maingrets Revolver besorgt) und Maigret. Nun also: London-Roman. Maigret darf im Hotel Savoy nicht Pfeife rauchen, also raucht er Zigarre. Langer Dialog mit dem jungen Mann, der steckt unter dem Bett. Maigret schiebt sich zusehends als Vaterfigur vor den realen Papa, der nichts taugt. Nach dem Abendessen werden noch Touristenattraktionen besucht, Picadilly Circus, Trafalgar Square. Wieder zuhause berichtet Maigret seiner Frau von alledem. Maigret und sein Revolver. Maigret und sein Sohn. (71cp)

(Maigret Nr. 40)

 

22.5. Vernichten (nach Michel Houellebecq; Regie: Sebastian Hartmann, Schauspiel Dresden)

Der Hintergrund ist interessant, und bleibt es: zweigreiche Scherenschnittbäume, wir sind in einem (recht lichten) Wald. Die Bühne als solche ist dunkel, ein Turm steht da, in dem, wer hineingeht, vor Steigleitern steht. Es wird noch geklettert, später, es geht in ein Oben, bevor der Turm erst umgelegt, dann weggeräumt wird; zunächst aber unten mit schwarzer Perücke Gesang. Rechts vor der Bühne spielt, mit einer Frisur wie gefrorene Zuckerwatte, Friederike Bernhardt an einer Art Flügel, der viel Elektronisches kann, wie zum Beispiel das Klopfen, unheimliches, mit dem Skorpion (oh ja, Skorpion, menschengroß) assoziiertes Geräusch. Musik gibt Atmosphäre, im dritten Teil Kate Bushs Running Up the Hill, wenn auch fast minimal repetitiv, wir setzen dabei die 3-D-Brillen auf zu Tilo Baumgärtels digitalromantischen Baum-, Landschaftstierfantasien. Im ersten Teil sind, zum Gesang, vor den Scherenschnittbäumen Gestalten, wie man sie aus Hartmanns Theater kenne, von rechts nach links und links nach rechts über die Bühne geschlichen. Leicht verzerrt aus dem Off ist dabei der medizinische Teil von Houellebecqs Roman zu hören: Krebsdiagnose, gute Nachricht, schlechte Nachricht, Kieferersatz, Zungenamputation. Ein Schrei aus tiefer Seele, dann Träume. Vieles an Houellebecqs bis ins Groteske sachlicher Sprache ist hier in Atmosphäre, Bild, Traum, Baum, Skorpion und Bilder vom Klettern und Angst vor dem Stürzen übersetzt, auf vielfache Leinwände übertragen, die sich öffnen und schließen, heben und senken, eine Kamera schwebt und filmt den schwebenden Menschen. Manchmal kann man buchstäblich folgen, manchmal auch nicht, es war noch nie schwer, sich dem Hartmannschen Gesamtkunstwerkrausch zu überlassen. Ist es, oder wäre, auch diesmal nicht. Nur haut es einen dann doch öfter raus. In einer langen monologischen Suada im zweiten Teil, die tolle Linda Pöppel geht da doch glatt auf die Nerven, Klage über die nun nicht wenigen Übel der heutigen Welt, sprachlich und gedanklich so unrhythmisiert, dass es noch lange nicht aufhört, als es längst aufgehört haben sollte. Darauf dreht ein Kegelmann einen Kreis, auch Monolog, er sagt was von Fürzen, auch das nicht Houellebecq, sondern ziemlich, vielmehr unziemlich weit von der Vorlage weg. Wie das Finale: Nadja Stübiger singt ein leicht atonales Chanson von der Zweidimensionalität, darauf Anton Zeilinger und Quantenverschränkung. Der Bezug zum Rest ist sehr lose, ganz anderer Film; für sich stehend aber zieht es sich, wie manches andere, wenig anziehend hin. (63cp)

 

21.5. L'armée des ombres (Jean-Pierre Melville, F 1969)

Luc Jardie (Paul Meurisse), Mann im Hintergrund, Mathematiker-Philosoph (modelliert nach Jean Cavaillès), einer, der das Essen liebt, und die Musik, Beethoven-Büste im Zimmer und Bücher über Bücher, er hat sich einen Holzkasten gebaut, um die eigene Körper-Abwärme zu speichern: making do, ein renaissance man in finsteren Zeiten. In London verleiht ihm die Regierung im Exil, machtlos, einen Orden. Im Kino läuft Gone With the Wind, Clark Gable und Vivien Leigh im Poster-Standbild: Nein, noch das ganz große Kino wird die Franzosen nicht retten. Formen des Widerstands, kleiner, um nichts weniger lebensgefährlich: eine Frau auf einer Farm, ein Adliger, im Herzen eigentlich Royalist, auf seiner Wiese Leuchtfeuer zur Orientierung der Flugzeuge, die hier landen. Gefangenschaft und Befreiung, das entsättigte Dunkel, die Berge, das Meer, ein auftauchendes Unterseeboot. Von Zeit zu Zeit sind Stimmen zu Hören, aus dem Off, das voll und ganz geisterhaft ist: Es sind die Todgeweihten, die in der ersten Person sprechen, so schweigsam sie in ihren engen Handlungsspielräumen sie sind, die Männer des Untergrunds, die aus einer Zukunft sprechen, die sie nicht haben. Statt dieser ersten Person ist Simone Signoret Körper, Stimme, Gesicht, eisern entschlossen, kühl bis ans Herz in der Höhle des Löwen, aber mit einer Lindenblatt-Stelle. Der Schrecken, der überall ist, im Töten-Müssen, in der Übermacht des Feindes, ausgezirkelt in strengen Bildern, in denen die Uhr ticken kann wie in Silence de la Mer; Straßen der Städte, durch sich die Samurais des Widerstands bewegen, die Zyanid-Kapsel in der Tasche; Fenster in ein Draußen, das kein Entkommen verheißt; der Sturz in die Tiefe, im Vertrauen auf den Fallschirm oder andere Menschen, ein Vertrauen, das sein muss, weil nichts anderes bleibt. Kulmination von Drohung, Halbschatten, Psycho-Mathematik: die Männer, die sich im Maschinengewehrfeuer zur Wand retten sollen. Philippe Gerbier (Lino Ventura) als Mann, der das Spiel nicht mitmachen will und es dann doch, stark, aber nicht übermenschlich, mitmachen wird. Diese menschliche Schwäche ist es, mit der Mathilde rechnet. Sie ist seine Rettung. Die Gleichung geht auf, für den Moment. Und weil er überlebt, ihretwegen, wird sie sterben, weil sie zu menschlich ist. (85cp)

 

Die goldene Pest (John Brahm, BRD 1954)

Gar manches ist faul im Städtchen Dossenthal in der südwestdeutschen Provinz. Ein US-Militär-Stützpunkt, nach drei Jahren in den Vereinigten Staaten kehrt US-Army-Mann Richard Hartwig (Ivan Desny mit fremdem, wenn auch nicht amerikanischem Akzent), der von hier stammt, wieder zurück. Jedoch: Statt Wirtschaftswunder ein Sodom und Gomorrha aus Drogenhandel im Tantengeschäft, weiblichem Schlammcatchen, Prostitution und einem Mafioso, der im Fond eines teuren Schlittens Drohungen spuckt. Der Bruder von Hartwigs Braut (drei Jahre hat sie auf ihn gewartet), Karl Hellmer (Karlheinz Böhm), ist von diesen bösen Mächten verführt und getrieben, mit Krediten hat er ein Vergnügungszelt im Zentrum eröffnet, attraktive junge Frauen radeln knapp bekleidet im Kreis, die Schwester singt, einen Drag-Auftritt gibt es auch, jedoch reicht das Geld, das Hellmer mit den Vergnügungen einnimmt, nicht aus. Erich Ponto gibt den älteren Herrn, der der Sache nicht traut; eine vielköpfige Familie, die den Nazi-Zeiten nachtrauert, vermietet ein Zimmer nach Art eines Stundenhotels. Tiefer und tiefer verstrickt sich Karl Hellmer, während der Zirkus, den er heraufbeschworen hat, zusehends außer Kontrolle gerät und im furiosen Truppenübungsfinale gleich mitexplodiert. Auf dem Weg in einen sehr produktiven blattgoldenen Herbst als USFernsehserienregisseur kam John Brahm - nicht unähnlich der Hartwig-Figur - nach Deutschland zurück; Erfolg war dem düsteren Sitten-Thriller keiner beschieden, so ist es bei dem einen Abstecher geblieben. Ob es den richtigen Ton gegeben hätte für diese wüste Geschichte, ist schwer zu sagen. So ganz gefunden hat John Brahm ihn jedenfalls nicht, Karlheinz Böhm bekommt die banale Abgründigkeit seiner Figur eines Getriebenen nie so ganz hin und Gertrud Kückelmann als allzu Naive ist keine, zu der einer, der den Koreakrieg gesehen hat, nach Jahren zurückkehrt. (64cp)

 

20.5. In Memory of Memory (Maria Stepanova, Russland 2018, Übers.: Sasha Dugdale, Hörbuch, Sprecherin: Inger Tudor)

Am Anfang steht das Tagebuch der verstorbenen Tante: minutiös genau, aber ohne jede emotionale Farbe. Von diesem Nullpunkt der Aufzeichnung des Nicht/Erlebens der Gegenwart aus unternimmt Maria Stepanova sehr weit ausgreifende Bewegungen, der Recherche, des Denkens, des persönlichen Erinnerns und vor allem des Aufzeichnens dieser Bewegungen selbst. Das Ergebnis ist dieses Buch, das doch mehr verspricht, oder eher: mehr umfasst, als es halten kann. Es geht den eigenen Familienstammbaum nicht sehr bedeutender Persönlichkeiten hinab, falls das mehr heißt als: Von vielen verlieren sich die Spuren, die Geschichtsbücher verzeichnen sie nicht, von manchen sind Fotografien, Tagebücher, Hinweise aus den Erinnerungen anderer erhalten, aufspürbar, von anderen nicht. Ihre Leben spielen vor dem Hintergrund der Kriegs- und Vertreibungsgeschichte des 20. Jahrhunderts, in der Sowjetunion, in Europa, Odessa und Würzburg, Moskau natürlich und auch Berlin sind die Orte, an die sich das Erinnern bewegt, in denen sich Gegenwart zuträgt. Das Buch ist ein Essay aus Theorie- und Geschichtsstücken, Barthes und Sebald und Mandelstam kommen vor, manchmal nur, das sind die schwächsten Passagen, als Versuch, selbst Theorie zu verfassen, da wird dann Rembrandt mit Selfies zusammengebracht, sehr weit über kulturkritische Regungen geht das an diesen Stellen oft nicht hinaus. Als Gesamtes ist das Buch Verkörperung seiner These, dass das Heraufbeschwören des Vergangenen bei allen Teilbelichtungen, die es leistet, vor allem Geschichte als Schwarzbild negativ sichtbar macht: Nichts wird wiederbelebt, Vergegenwärtigung ist eine wenn nicht falsche, dann doch auch kaum mehr als eine Metapher. Darum auch verzichtet Stepanova gänzlich darauf, eine Welt mit dem Raunen des Imperfekts zu beschwören; es fehlt dem Buch jeder Zug in die Fiktion, Stepanova unternimmt programmatisch nicht den Versuch, eine eigene Welt zu bauen, die die Leser*innen dann als fiktionale Vergangenheit nähmen. (67cp)

(International Booker Prize 2021)

 

19.5. Forsthaus Strelitz (Wenzel Pankratz, 5. Besuch)

Jetzt also: Zuckerwatte, als Schlusspointe oder eher finales Bonmot. Mit Fenchelsamen und Anis, an einem Stab in einer Art Vase, in grünes Gekräusel gebettet – jenes Lebensmittel, das aus der Enttäuschung, wie etwas wunderbar wabernd und nebelig Zartes im Mund zu klebriger Zucker-Eindeutigkeit zergeht, einen antiklimaktischen Knalleffekt macht. Hier aber nicht, oder anders, oder gebremst, die Fenchel- und Anis-Aromen geben dem Zucker überraschende Noten, und das noch ohne den dazu gereichten Blauschimmelkäse. Stunden sind vergangen, sieben, acht Gänge, kann man so und so zählen, Kartoffelchips mit Fleisch und Fisch, knusprig-zarte Aromen-Gleichzeitigkeit. Der eigentliche Auftakt: das Ei, angenehm (ja: angenehm!) suppig, darin Zwetschge (mehr schmeck- als erkennbar) und Karpfen schwimmen, der Fisch von allem Teichschlamm Welten entfernt; und so dadaistisch das klingt, Regenschirm, Nähmaschine, wink, wink, so ganz im Gegenteil fügt sich das, als habe es sich Zeit seines Lebens gefügt: Kleines Suppenschüsselidyll aus Huhn und Teich und Pflaumenbaum, glücklich transsubstantiiert auf den Tisch. Darauf einerseits Wiederbegegnung mit dem Vertrauten, dem Signature-Kohlrabi als Spaghettigericht, darunter, so fest, wie man ihn kennt, so fast abstrakt nur, mehr für den Kaureiz als den Geschmacksnerv, auch Fisch: ein kleines, feines Stück Hecht. Die Consommée, flüssiger Zwischengang, verbindet Fettaugen-Charme mit darin schwimmender kleinfädiger Pflanze, runde Sache, als Musik dazu jetzt die Violent Femmes, Blister in the Sun. Hierauf Premiere: Hinter dem Haus hat Wenzel Pankratz erstmals Spargel aus dem Boden geholt. Schlank ist er, zart, mehr Richtung Gras als in Richtung Beelitzer Phallus-Bolide, schön leichtbraun gebraten, neben Grünes aus dem Garten gerückt, intensiv schmeckt das, bissfest, ohne jede butter- oder gar hollandaisen-Affinität. Schöner Übergang, apropos bissfest, großer Auftritt eines großen Verachteten der besseren Küche: des Eisbergsalats. Hat hier mit Burger gar nichts zu tun, birgt vielmehr als Hut und Schirm unter sich etwas Weißes, Cremiges, in dem man, zugegeben, Senf und Sonnenblumenkerne kaum wiedererkennt. Kein Widerstreit zwischen dem beiden, dem knackigen Außen und dem sämigen Innen, vielmehr ein Kontrast von großer Freundschaftlichkeit. Ein bisschen anders liegen die Dinge beim Fleischgang, denn hier herrscht nun doch Konkurrenz oder zumindest haben gleich drei starke Performances wenig die eine mit der anderen zu tun. Das sehr zarte und sehr rote Damwild bekommt zwei fast schon überwältigend starke Partner zur Seite, einerseits ein, zwei kleine, schmiegsam weiche Büschel Hollunder - und vor allem eine kleine Handvoll Kräuter, bei denen man glaubt, es rausche einem der ganze Garten konzentriert, aber auch in Stengel und Blatt, in Rauhes und Glattes, in Schärfe und Fülle der Geschmäcker differenziert, ins Nervensystem. Fast schon beruhigend der Nachtisch, bei dem sich die geeiste Zitronenmelisse und Milch und Himbeere ohne jede Balgerei freundlich vertragen. Dann das Bonmot, Zucker, zur Watte verweht, es ist sehr dunkel geworden, und frisch ist es draußen, in der Sonne am Tag war es schon warm. (84cp)

 

18.5. Hangover Square (John Brahm, USA 1945)

Harmlos genug geht das los: ein Mann, Komponist, zwischen zwei Frauen, und zwischen zwei musikalischen Formen. Die eine blond und solide und klassisch, die andere brünett und lasziv und Unterhaltungsmusik. (Beides, alles, von Bernard Herrmann ohne Rücksicht auf Verluste komponiert.) Und was für ein Mann das ist: Laird Cregar als George Harvey Bone, in der Rolle, die ihn buchstäblich umgebracht hat, mit der amphetamingestützten Diät, die zum Herzinfarkt führte. Der Film ist, sich selbst in den Wahnsinn steigernd, chronologisch gedreht, tatsächlich kann man beobachten, wie Cregar zusehends schlanker, aber auch immer flackernder wird. Man spürt John Brahms Bändigungsakt, am Ende quellen Cregars Augäpfel aus ihren Höhlen, die Stimme bleibt samten, der Schauspieler setzt sich dem Sturm (nicht nur) der Musik aus, den er selbst heraufbeschwört. Daneben George Sanders als Mediziner, wandelndes Realitätsprinzip, prompt in die Sousterrainwohnung gesperrt. In einer anderen, einer der vielen von Joseph LaShelle grandios fotografierten Szenen bleibt er im Schatten, dagegen Laird Cregar auf der Suche nach der verdrängten Tat strahlend im Licht. Die Kamera mit Raubvogelblick auf den Komponisten, die Leiche im Arm, dann lauernd, knapp über dem Asphalt, einmal wird leinwandfüllend eine Laterne entzündet, rasend die Massen und lodernd der Scheiterhaufen, remember remember the fifth of November, die Tonspur ein einziges Brausen. Und dann das irre Finale, eine Plansequenz fliegt über das Orchester, die flitzenden Bögen der Streicher, hinweg, kreist um die Sitzenden, nimmt die spielenden Hände aus der Lotrechten in den Blick, eine Einstellung als lebendes, sich ins Irresein steigerndes Wesen, eine Szene, in der das Feuer schon lodert, bevor es tatsächlich ausbricht und den immer weiter spielenden Helden im furiosen Finale verschlingt. (83cp)

 

17.5. The Panic in Needle Park (Jerry Schatzberg, USA 1971)

Manhattan-Straßenrealismus, der Needle Park (der Sherman Square der Upper West Side) als Drogenumschlagsplatz, Cafés, in denen man sich trifft, Dächer, auf denen man die Ware versteckt (dann ist sie weg), aber es sind der Innenräume noch mehr, in denen die Süchtigen liegen, die Toiletten und Betten, in denen sie sich einen Schuss setzen. Einen topologischen Zusammenhang aber stellt Jerry Schatzberg so wenig her wie auf allen anderen Ebenen. Keine Musik (Ned Rorems Score wurde gestrichen), es müssen die abrupten Rhythmen der Montage genügen, Ellipsen sind fast buchstäblich Absencen, des Bewusstseins, Aussetzer der Erzählbarkeit, Abtauchen in eine eigene Welt. Der narrative Bogen ist als Linie gezackt: ein Liebespaar, Bobby und Helen, Al Pacino und Kitty Winn, die sich in diese Rollen verkriechen und spielen, als spielten sie nicht, die Al-Pacino-Methode: ein ins Manierierte steigerbarer künstlicher Naturalismus, der in diesen Film passt, weil er selbst nichts anderes will. Überführung eines Romans (der auf einer Life-Reportage beruhte) in ein Drehbuch (von Joan Didion und John Gregory Dunne, no less) in einen Spielfilm, der auf allen Ebenen, von kitchen sink bis bathroom tub, von Nadelstich-Wunden bis Kick und Antiklimax, aufs Dokumentarische zielt. Und in der Wirklichkeit, um die er sich, in Al Pacinos ruheloser Arbeit am authentischen Ausdruck perfekt verkörpert, so schrecklich bemüht, doch niemals ankommen kann. (64cp)

 

Shaim/Two (Astar Elkayam, Israel 2021)

taz-dvdesk (64cp)

 

16.5. Carola Lamberti - eine vom Zirkus (Hans Müller, DDR 1954)

Stummfilmstar Henny Porten, die im Westen keine Rollen mehr fand, hat zum Ende ihrer Karriere die Haupt- und Titelrollen in zwei DEFA-Filmen gespielt. Dies ist der erste der beiden. Sie ist Carola, die Direktorin des Zirkus Lamberti, Matriarchin der Kompanie, eine Tochter, drei Söhne, die Frage der Nachfolge steht an. Sie selbst reitet noch Hohe Schule, démodé, das reißt keinen mehr mit. Tochter Ines voltigiert gekonnt, steht aber im Schatten des eigentlichen Stars: Viola, knapp bekleidet, Salto zu Pferde, die Männer umschwirren sie, auch zwei der Söhne Lamberti, mit einem geht sie davon und kehrt wieder zurück, sie legt es auf Konkurrenz, Heirat und Erbfolge an, protegiert von einem intriganten Hintergrundmann, der sie Liebling nennt und abwerben will. Erzählt wird so die Geschichte eines Scheiterns und Versagens der Jungen, die sich von der liebevoll-strengen Mutter nur lösen können, indem sie einer femme fatale verfallen. Vom Geschäft verstehen sie ohnehin nichts, dafür steht das Verfüttern des Brots (mangels Hafer) an die Pferde. Es renkt sich der Familienzwist, erst in einer riskanten Trapeznummer, dann in einem burlesken italienischen Finale bei rasender Verfolgung des fahrenden Zirkuszugs wieder ein. Auf die Komödie will es geradezu gewaltsam hinaus, von Hans Müller gekonnt, wenn auch etwas unentschieden inszeniert. Die Vertreibung Violas ist freilich das eine. Die Nachfolgefrage bleibt jedoch offen. (60cp)

 

15.5. Let Us Live (John Brahm, USA 1939)

Einführung des zentralen Paars nach Geplänkel mit einer Nebenfigur im Kneipengerangel: eine behandschuhte Hand (es ist die Henry Fondas, wie man nach einem Schwenk nach links sieht) greift von links auf die Schulter eines betrunkenen Mannes und reklamiert die Frau, Mary (Maureen O’Sullivan) für sich. Ungewöhnlich umwegiger Einstieg für einen so kurzen Film (67 Minuten), allerdings war er ursprünglich nicht nur größer geplant, sondern auch mit einigen dann gestrichenen Szenen gedreht. Die Geschichte von zwei Taxifahrern, die, von einer Reihe Zeugen falsch identifiziert, um ein Haar auf dem Elektrischen Stuhl landen, beruhte auf einer wahren Geschichte. Die Polizei, der Prozess, die Jury, der Gouverneur: sehen entsprechend gar nicht gut aus. Die Kürzungen (in den Ermittlungen, im Prozess, in der Verhandlung der Jury gibt es spürbare Lücken)  machen die Sache allerdings eher noch straighter: Die Wandlung des rothaarigen Fonda vom bescheidenen Glückspilz des Schicksals zum in aller Unschuld desillusionierten jungen Mann wird, um Gegen-die-Uhr-Thriller-Momente verstärkt, zum eindeutigen Fokus des Films. Die Anklage gegen ein Rechtssystem, das das zulässt, bleibt implizit. John Brahm inszeniert außerordentlich präzise: die semitransparente Leinwand bei der Gegenüberstellung, die die Zeugen ins Halbdunkel rückt; die Härte, mit der Henry Fondas helles Gesicht in ein alles umgreifendes Dunkel getaucht wird (Kamera: Lucien Ballard). Und bei allen Konzessionen durch Kürzung: Die unschuldigen Männer kommen davon, aber es ist ein alles andere als versöhnliches Ende. (73cp)

 

14.5. L'albatros (Jean-Pierre Mocky, F 1971)

Vom ersten bis zum letzten Moment ist der Mann (Mocky: Albatros) auf der Flucht, er hat einen Polizisten erschossen (Notwehr), er wird nun von Polizisten gehetzt, aber auch von zwei Politikern, von denen der eine nicht weniger korrupt als der andere ist. Die einen kleben Plakate, die anderen übermalen sie wieder, auf einer Party gabelt der Albatros eine Blondine auf, die die Tochter eines der Politiker ist: Erst zwingt er sie mit der Waffe, dann sinkt sie hin, es endet, spektakulär und vor viel Publikum, mit Schattensex auf der Gefängnismauer, ausgedehnte Szene, Bond-Scherenschnitt, reizend absurd, danach führt der Weg steil nach unten. Zu diesem Ende kommt es, alle Elemente des fliehenden Plots haben sich hier versammelt, in einem eigentümlich andersweltlichen Städtchen namens Burghoffen, Mocky hängt unten am Auto, drei Jungs werden noch eingeladen, eine Verfolgungsjagd folgt der anderen, ins Wasser hinein, Hänge hinab, bevor sich etwas beruhigen kann, ist der Schnitt immer schon weiter, für eine versuchte Vergewaltigung ist zwischendurch Zeit, für Intrigen und auch für die Annäherung und dann eben, als wäre das alles, was die Geschichte von Anfang an wollte, der Sex oben droben, dann Sturz und dann Schluss. (73cp)

 

The Pleasure Garden (Alfred Hitchcock, GB 1925)

Honoratioren, die auf junge Frauen starren: Welcome to The Pleasure Garden, Tanztheater, in dem sich falsche Prinzen in Frauen vergucken. Der Beginn mit den subjektiven, verschwommenen, sich schärfenden Blicken vom Publikum auf die Bühne ist orginell, dann normalisiert sich das aber schnell zu einer doppelten Paargeschichte, bei der eine Frau den Falschen erwischt, der sich im exotisierten Anderswo nämlich eine “Eingeborene” angelt; ihre Tänzerin-Freundin betrügt ihrerseits den anderen, im selben exotisierten Anderswo befindlichen Mann, was sich am Ende, mit Mord und Melodram, zurechtwürfelt, auch weil die Eltern ihre im obersten Regal befindliche Sparbüchse leeren, was dem Vater einiges abverlangt, er stützt die Hand auf den Kopf seiner Frau, später sieht man ihn mit Kopfhörern in der Ecke, das Radio läuft. Apart noch ein Match Cut, Großaufnahme einer winkenden Hand und dann einer anderen, le montage è mobile, der Mann und die Frau sind es auch. (58cp)

 

13.5. Tod in Venedig (Luchino Visconti, I 1971)

Gustav von Aschenbachs/der Kamera sondierender, raubtierhaft schleichender Blick durch den Salon, mal sucht er, mal wird er gesucht, das ist der Dschungel, Auftritt der Gäste in Gruppen und Herden. Dagegen der Strand als Savanne, herrlich diese Übersicht, Tadzio wagt die Entfernung von der Familie, mit der er noch in der Stadt in Gassen und über die Brücken unterwegs ist. An den Strand, in die Savanne zieht sich der für den Tod aufgeschminkte Komponist zum Sterben zurück. Im Dschungel-Salon jedoch die Fülle der Menschen, Tiere, Gegenstände und Pflanzen: die rote Lampe, die Blumen, die weiße Lampe, die Köpfe und, am hellsten strahlend, im Matrosenanzug Tadzio dazwischen. Und vor allem die Hüte der Frauen wie Paniktriebe einer späten Ziviliation, Fortsetzung der Blumen des Dschungels, wenn nicht der Lampen, mit anderen Mitteln: golden umtülltes rotes Gewölle, Federbusch vornedran; am undefinierten schwarzen Rund seitwärts ein in den Raum greifender Tumor aus Stoff; etwas Blaues regnet in Fäden hernieder bis fast ins Gesicht; mehr Ahnung im Hintergrund ein grünes Gefieber. Der Tod in Venedig ist ein Film, in dem das Verlangen Ausstattung wird, alles, noch das Fühlen, ist ins Blicken verlagert, Dirk Bogard spielt sein Gesicht und seinen Körper wie ein kleines, zu feinsten Nuancen begabtes Orchester: auflebend, abblühend, reckend, sinkend, als Künstler, als Clown, verzweifelt Glück saugend aus seinem letzten Begehren, ein tragikomisches Drama der vollendeten Passivität, das Visconti, noch einmal anders genießend und nur mit knapper Not aus dem Pädophilen in die mahlergestützte, von überreifen Gerüchen umwehte Ausstattungsoper überführt. (82cp)

 

Tabi yakusha / Travelling Actors (Mikio Naruse, J 1940)

Sommer auf dem Dorf, es ist heiß, eine Theatertruppe kommt an. Sie wirbt mir ihrem huldvoll grüßenden Star, er trägt den Namen eines viel Berühmteren, ist in Wahrheit aber, wie die Kollegen, eine recht kleine Nummer. Wenig Glamour im Ganzen, noch weniger glamourös sind Hyôroku und Senpei: die vier Pferdefüße des Bühnengauls, der sonst aus Pappmaché ist. Hyôroku ist der Ältere von beiden und als Vordermann des Pferds glaubt er, er sei zu Großem geboren. Er wiehert auch, wie er zwei Geishas vorführt, sehr professionell. Das Unglück will es, dass der unter windigen Versprechen gewonnene Finanzier der Truppe vor Ort, es ist der Friseur, im Rausch den Kopf des Pappmaché-Pferdes zerstört. Der Lampenmacher repariert dilettantisch. Hyôroku und Senpei sehen sich in ihrer Pferdebeindarstellerehre gekränkt und treten in Streik. Das als Ersatz engagierte wirkliche Pferd pisst auf die Bühne; die beiden suchen den Kampf. Die Verblendung der Helden ist tragisch und komisch zugleich, Naruse, der die große Kunst des Theaters in einer tristen Variante vorführt, hält den Ton genau in der Mitte: Er betrachtet ihren Wahn mit mildem Spott, zu vollends lächerlichen Figuren werden sie nicht. (67cp)

 

12.5. Maigret, Lognon und die Gangster (Georges Simenon, F 1951, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Eine Leiche fällt auf die Straße, dann ist sie weg. Ein Polizist erstattet keine Meldung, dann vermisst ihn seine Frau. Ein Amerikaner, und noch einer, und noch einer, tauchen auf in Paris. In der Wohnung des Polizisten, in einem Lokal: Sie werden gesichtet, sie entziehen sich, sie schießen, sie wollen töten. Sie sind Gangster aus den Vereinigten Staaten, seine US-Liaison gibt Maigret zu verstehen, er solle besser die Finger von ihnen lassen, das sei für ihn eine Nummer zu groß. Simenon, seinerseits an Grenzüberschreitung interessiert und nach dem Krieg in die USA übergesiedelt, inszeniert einen französischen Hardboiled-Roman per Verbrecher-Import. Der Polizist namens Lognon (oder auch: Griesgram) wird zusammengeschlagen, ein anderer bekommt einen Schuss in den Bauch. Maigrets Ehrgeiz ist mehr als geweckt, er verhört Frauen, die Morgenmäntel tragen und gar nichts darunter. Paris wird zum Schauplatz einer Jagd, von der sich Maigret, das ist klar, von niemandem abhalten lässt. Mehr als hundert Männer hat er am Ende im Einsatz. Die Männer vom Racket werden gefasst, der französische Kommissar hat es den Amerikanern gezeigt. (67cp)

 

11.5. A New Name: Heptalogie VI-VII (Jon Fosse, Norwegen 2021, Übersetzer: Damien Searls)

Nun geht es endwärts. Dichter und dichter die Erinnerungen an Ales, die Frau, die er liebte, als präsentes Gespenst stellt der Text sie im unmerklichen Ich-Er-Übergang vor Augen. Es ist ihre Liebesgeschichte, in minimalen Momenten vorwärtsruckend, mit Gegenwart und mit anderen Erinnerungen durchsetzt, fast nichts von ihrem Sterben, nur der Tod selbst, so abrupt wie der Tod des anderen Asle, der die ganze Zeit im Krankenhaus lag und den Asle, der Ich-Asle (auch wenn er gegen Ende gefährlich in Richtung des anderen rutscht), nicht mehr lebend sieht. Ein letztes Gemälde, von Åsleiks Schwester Guro (die sich mit der anderen Guro, von einem Feuer verschlungen, vermischt), diese letzte Gemälde, ein Porträt, spiegelt sich im Bild, das Asle als junger Mann von seiner Vermieterin Herdis Åsen gemalt hat. Sie hat sich hergerichtet für ihn, für das Bild, für die Erinnerung, anders als es sonst in diesem Sprachstrom ist, in dem das Vergangene immer ganz unvermerkt zur Gegenwart wird, während Asle seine Gegenwart nicht nur als von der Vergangenheit, sondern auch von der Abwesenheit einer Zukunft überschattet erlebt. Was hier fließt, stockend, wirbelnd, sich schichtend, sich von der Beobachtung zum Gebet wandelnd und vom Gebet zum Erinnern und vor und zurück, ist ein Strom-Ich, ein Sprachstrom-Ich, ein von seinen Erinnerungen heruntergebetetes Ich, ist ein Subjekt, das sich zusammensetzt und auflöst zugleich in diesem Strom, das sich in den Spiegelungen und Doppelgängern entgrenzt, denen der Gegenwart und denen der Vergangenheit (falls diese Trennung letztendlich möglich sein sollte), das sich in die Gemälde hinein, die reine Sprachevokation bleiben, verdichtet und transzendiert, eine unio mystica, auch Meister Eckart wird wieder zitiert, die jedoch immer zugleich das Eine sucht, auf das Eine hinstrebt, auf ein Zentrum, das nicht halten kann, das in tausend Fragmente und nicht zuletzt buchstabendrehende Sprach-spiel-elemente zersplittert. (84cp)

 

10.5. Noi donne siamo fatte così (Dino Risi, I 1971)

12 Episoden, mal kürzer, mal länger, was sie vereint, ist, dass Monica Vitti in allen die Hauptrolle spielt. Als Beckenschlägerin, die mit dem Instrument durch die Stadt eilt, kurz auftritt und wieder verschwindet. Als Blinde, von deren leerem Blick sich die Männer im Restaurant (und auch eine Lesbe) beflirtet fühlen. Als Mutter von 22 Kindern, das nächste bringt sie rasch im Nebenraum auf die Welt. Als sexuell gelangweilte Ehefrau, die sich per Anruf-Sendung im Radio ihre Vergewaltiger zur Wiederholung des Vergnügens bestellt. Uff. Als Stewardess, die ihre Jobwahl bei Turbulenzen verflucht: Am Ende steht das Bild Kopf. Als Teil eines sexuell befreiten Paars, das sich beim Partygespräch nonchalant diverse Untreue-Taten gesteht, um sich (und die Partner) am Ende über den Haufen zu schießen. Als Sängerin im Nonnengewand, die vor versammelten katholischen Würdenträgern einen mehr oder weniger frommen Song im Dylan-Style schrammelt. Subtil ist das nie, selten komisch, die Episoden sind selbstverständlich nur von Männern geschrieben (neben Risi und anderen auch Ettore Scola darunter), wobei nicht nur die Vergewaltigungsfantasie etwas Abstoßendes hat. Kamera Carlo di Palma, Monica Vitti als versatile Darstellerin; es ist nur alles so platt, dass sie unter ihren Möglichkeiten brilliert. (45cp)

 

9.5. Le renard jaune (Jean-Pierre Mocky, F 2013)

cargo #58 (62cp)

 

Je vais encore me faire des amis (Jean-Pierry Mocky, F 2015)

cargo #58 (65cp)

 

8.5. The Locket (John Brahm, USA 1946)

Hier kommen die Flashbacks in Gestalt von Brian Aherne und Robert Mitchum zur Tür hereinspaziert - und öffnen Abgründe, die tief in die Vergangenheit einer jungen Frau reichen. Nancy (Laraine Day) ist blond und schön und verführt die Männer unraffiniert; dabei klaut sie, das Trauma führt in ihre Kindheit zurück, wie eine Elster: Diamanten, Armbänder, Schmuck aller Art. Nun, Gegenwart, kurz vor der Hochzeit, hier setzt der Film ein und stürzt in drei Vorgeschichten zurück, Rückblenden-Mise-an-abyme. Ein Psychoanalytiker, Dr. Harry Blair (Brian Aherne), tritt ein und erzählt, bevor er auf sich und Nancy näher eingeht, von Norman Clyde (Robert Mitchum), dem Maler, der Nancy verfiel, bis er - ein Mord ist geschehen - ihr zu misstrauen begann. Er selbst kann nicht mehr berichten, der Film tut es im Flashback aus seiner Sicht, an seiner Stelle, und bringt so den Toten zum Sprechen. Dann Blair selbst, zurück in den Krieg, Verschüttetes wird geborgen, ein Diamant blinkt lebendig, wo Bomben ihr Zerstörungswerk taten. Eingelegt in die Perspektivübernahmen ist, als Erinnerung Nancys, der anamnestische Blick in die Kindheit - hier wird der Film selbst als Psychoanalytiker tätig. Laraine Day/ Nancy wird so als Dreh- und Angelpunkt, der drei Männer zu einem Schicksal verbindet, in den Erinnerungsbewegungen zugleich Einschub um Einschub dezentriert: ein Vertigo-Flashback-Schachteleffekt. Zu sich kommt sie und kommt die präzise inszenierte und (von Nicholas Musuraca) auch in Licht und Schatten gesetzte Geschichte in einem grandiosen Finale die Treppe herab. Blick auf den Boden, Selbsterkenntnis als namenloser Schrecken. Hinter der Tür, die sich schließt, kann man auf eine besser Zukunft nur hoffen. (80cp)

 

Le miraculé (F 1987, Jean-Pierre Mocky)

Der Mocky-Zirkus auf ganz großer Fahrt, nämlich nach Lourdes. Mit an Bord neben vertrauten (Un)Gestalten wie Jean Abeillé sind Jeanne Moreau, Michel Serrault und Jean Poiret. Serrault (als eine Figur mit Namen Ronald Fox Terrier) ist stumm und macht groteske Geräusche und Gesten; Jeanne Moreau ist fromm, aber das glaubt sie nicht einmal selbst; Jean Poiret begibt sich, eines Versicherungsbetrugs wegen, in den Rollstuhl und wird Richtung falsche Wunderheilung gekarrt. Es gibt Kino im Zug, einen Priester, der sich, wenn ihn die böse Lust überkommt, knallrot verfärbt; noch einen Priester, älter, der den jungen begehrt. Gelegenheiten zur Absurdität werden nicht ausgelassen, ein nach einer OP zu einer Art Hintern verformtes Gesicht nur zum Beispiel; auch ein Affe taucht einfach so auf. Die Darsteller*innen sind von der Leine gelassen (Monsieur Fox Terrier trägt allerdings den Film hindurch ein Hundehalsband), outrieren bis zum Anschlag und darüber hinaus; nichts Groteskes, Gotteslästerliches, Obszönes ist hier irgendwem fremd: eine Klamotte, die bodenlos ist und die doch immer noch einen draufsetzt. Knallchargen unter sich: Kein Wunder, dass sich auch der liebe Gott am Ende vertut: Der Fox Terrier spricht, der betrügerisch Lahme kann nun in der Tat nicht mehr gehen. (72cp)

 

Litan (F 1982, Jean-Pierre Mocky)

Litan heißt der Ort, es gibt hier Höhlen, Berge, Gestein und rauschende Wasser. Eine Kapelle spielt zünftige Blasmusik, aber das sieht sehr unheimlich aus, denn die Musiker tragen rote Jacken und ausdruckslos-glatte silberne Masken. Gleich zu Beginn hat Nora (Marie-José Nat), die mit Jock (Mocky selbst) durch den Ort und die Höhlen und Berge und über rauschende Wasser stolpert und rennt und fällt und flieht, einen Alptraum. Der setzt sich allerdings nach dem Aufwachen fort, der Irrsinn selbst ist in Litan unterwegs: mit Musik, die den Marsch bläst; mit Zombies, die erstarren, und Menschen in Schweinemasken zum Beispiel, die Messer zücken und Metzger schlachten. Wer ins Wasser fällt, wird zu einer elektrischen Seele, Diskussionen über Leben, Nachleben, Tod werden geführt, Gesichter werden in Pupillen erscheinen, ein mad scientist möchte seine verstorbene Frau wiederbeleben. Dies alles geschieht, auch klopft ein Mann an eine Tür und viel später klopft er noch immer. Das Treiben ist brutal, Erklärungen gibt es keine oder sie sind so irre, dass sich nicht weiterhelfen. Ein einziger Alptraum, der das Groteske nicht scheut, das von Mocky vertraute Bizarre ist reichlich vorhanden, jedoch legt er sich die Horrormotive in diesem Fall so zurecht, dass wirklicher Schrecken, Genrekonsistenz also, in Reichweite bleibt. (76cp)

 

7.5. Der Dritte (Egon Günter, DDR 1972)

Der Dritte ist, streng genommen, der Vierte. Denn da war das Kloster, da war, die scharfkantigen Flashbacks, die den Film bestimmen, zeigen es: Gott. Mit ihm allein aber wurde Margit Flieser nicht glücklich, Jutta Hoffmann entfernit ihre Haube. Wandelbar ist die Figur, die sie spielt, quecksilbrig spielt sie sie, zwischen den Männern - und, eine Fünfte, der Freundin Lucie, zu der es eine lesbische Zuneigung gibt -, im Job, sie arbeitet mit Computern, ist mathematisch begabt, zwischen den Wünschen, zu denen gehört, sich einen Mann, der ihr gefällt, einfach nehmen zu können, und einer Wirklichkeit, in der sich das auch für die sozialistische Frau nicht gehört. So fährt sie unter einem Vorwand hinter dem Dritten, Hrdlicka her, dem der ihr gefällt, über dessen Witz in der Konfliktbereinigungssitzung sie als einzige lacht. Mit der Freundin spricht sie, beim Kegeln, über Partnerschaftssuche per Algorithmus, der die zueinander Passenden findet; in den Rückblenden, sprunghaft gehen sie, die Chronologie irritierend, dazwischen, ist Armin Müller-Stahl, Braille lesend mit seinen Fingern, als Zweiter blind. Er ist der Vater ihres zweiten Kinds, der Richtige ist er so wenig wie es der Erste war, der Physikdozent, sie tanzt mit ihm zu einem lateinamerikanischen Schlager. Jutta Hoffmann hält das alles über Ellipsen und Sprünge nicht nur zusammen, sondern formt alle Episoden in der Eigenwilligkeit einer Figur, die Männer ihr auf den Leib geschrieben haben (Romanvorlage: Eberhard Panitz), deren thetischen Zumutungen sie sich immer wieder durch selbstbewusste Spontaneitäten entwindet. (74cp)

 

Maigret und die Bohnenstange (Georges Simenon, F 1951, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Eine erstaunliche Geschichte, die Ernestine, die Bohnenstange, eine ehemalige Prostituierte, mit der Maigret eine unerfreuliche Vorgeschichte hat, ihm da erzählt: Ein Bekannter von ihr raubt Tresore, die er selbst im Hauptberuf aufgestellt hat, im Nebenberuf wieder aus. Nichtsahnend war er unlängst nächtens am Rauben, da fiel das Licht seiner Taschenlampe auf eine Frauenleiche in der Ecke des Zimmers. Maigret sucht das Haus auf, da leben ein massiger und sehr unzugänglicher Zahnarzt und seine sehr resolute Mutter. Wer tatsächlich fehlt: die Frau, mit der der Zahnarzt seit gut zwei Jahren verheiratet ist. Sie habe sich, berichten den beiden, eine Auszeit genommen und sei in ihre niederländische Heimat gereist. Dazu hat sie tatsächlich Anstalten getroffen, Koffer wurden verschickt. Es findet sich jedoch von ihr keine Spur. Maigret rückt, ohne wirkliche Belege zu haben, seiner Intuition vertrauend, zwischendurch aber doch an ihr zweifelnd, dem Sohn und der Mutter auf die Pelle, vernimmt sie, stundenlang, bewegt sich am Rand der Möglichkeiten, die das Gesetz ihm hier lässt. Eine sehr starke Mutter-Sohn-Bindung, in die er, sie aufzulösen, einzudringen versucht. Millimeterweise kommt er voran, erschöpfend für ihn, erschöpfend bei der Lektüre; am Ende hat keiner die Kraft mehr, die Lösung als Erlösung zu empfinden. (70cp)

 

6.5. When We Cease to Understand the World (Benjamín Labatut, Chile 2020; übersetzt von Adrian Nathan West, Hörbuch, Sprecher: Adam Barr)

Die Schreckensgeschichte (vor allem) des 21. Jahrhunderts und Geschichten, im Plural, stark individualisiert, ja auf Forscherpersönlichkeiten (alles Männer) zentriert. Von Fritz Haber wird erzählt, von preußisch Blau, von der Entdeckung der Schwarzen Löcher, die kurz vor seinem Tod im Krieg dem Astrophysiker Karl Schwarzschild gelang. Von Heisenberg, Schrödinger, Bohr, nach Helgoland geht es, es wird viel durchaus Bekanntes berichtet; auch die bizarre Wendung, die das Leben des Mathematikers Alexander Grothendieck nahm, ist einschlägig durchaus bekannt. Querverbindungen werden gesucht, oft eher assoziativ, so dass man plötzlich, via Goethes West-östlichem Divan, zum Beispiel beim Mystiker Hafis landet. Erklärt werden die wissenschaftlichen Dinge auf für den Laien verständliche Art, angetäuscht sachlich; auf der anderen Hand sind die Informationen von Elementen der Kolportage nicht frei. Wie sich das Eigentümliche der Personen, das am wenigsten Vereillgemeinerbare an ihnen, und die umstürzenden, von ihnen oft nicht absehbaren Folgen ihrer Erfindungen und Entdeckungen zueinander verhalten, dazu hat das Buch keine These: das Unvermittelte ist vielmehr das Prinzip, das Hybride der Genrezuordnung zwischen Sachbuch und Essay und Fiktion und Klatsch und Tratsch und Metaphysik ist eine aber selber nur weitere Rätsel aufgebende Antwort der Form. Die Anekdoten und Episoden und Privat- und Weltgeschichten schweben so in recht leerem Raum; das Labatut manches, und je länger es geht, umso mehr in szenische Fiktion überführt, füllt die Leere des anschwellenden Nicht-Verstehens der Welt an ganz falschen Stellen. Bestürzend geradezu  das kurze Addendum, nun erstmals reine Fiktion, Episoden aus dem Landleben, die die ganz großen Fragen mit losen Bezügen zum Vorangehenden erden. Da steht dann der Ochs hinterm Berg und weiß so wenig wie wir, wie es kam. (80cp)

(International Booker Prize 2021)

 

5.5. Leuchtfeuer (Wolfgang Staudte, DDR/Schweden 1954)

Bergmanesk finster ist die Lage, die Insel ist schwedisch, der Film der letzte, den Wolfgang Staudte für die DEFA gedreht hat. Wir schreiben das Jahr 1901, Weihnachten naht, das Leben der Bewohnerinnen und Bewohner der Insel ist karg, ist mehr als karg, denn nach dem Ausbleiben des Versorgungsboots droht das Verhungern. Bei Kälte und Sturm und unter Lebensgefahr fahren die Männer hinaus, spektakulär sind die Aufnahmen von der tobenden See, dem stürzenden Wasser, die Netze jedoch bleiben leer. In düster kontrastreiches Schwarz-Weiß hat Robert Baberske das gemalt, das Licht des Leuchtturms streicht, an und aus, an und aus, durch die Dunkelheit. Die Not ist groß, sie ist so groß, dass die Erinnerung immer verlockender wird, die Erinnerung an ein Unglück vor Jahren, bei dem ein Schiff vor der Insel zerschellte, die Ladung ein Gottesgeschenk für die darbenden Menschen. Nun beknien die Männer den Leuchtturmwärter, der löscht nach langem Widerstehen das Licht, die tragische Verkettung der Umstände will es, dass an Bord des Schiffes, das nun die Orientierung verliert, nicht nur Männer, sondern auch Kinder sind. Zum Unglück kommt nun noch die schreckliche Schuld. Zuvor ist bereits ein sozialistisches Weihnachtswunder geschehen, die Besatzung eines Schiffs hat sich das Recht genommen, dem Kapitalisten, dessen Knechte sie sind, einen Teil der Ware zu stehlen und der Abordnung von der Insel aufs Boot zu hieven. Jedoch: Es ist alles umsonst. Im falschen Leben bringt der einzelne solidarische Akt keine Rettung. (68cp)

 

4.5. Sensou to seishun / War and Youth (Tadashi Imai, J 1991)

Die Gegenwart der Erinnerung steht als verbrannter Pfahl mitten in Tokio. Um ihn herum lässt Imai einen familiären Zusammenhang kreisen: Hier hat die Tante der jugendlichen Protagonistin ihre Tochter verloren, im Feuersturm des amerikanischen Bombenangriffs, bei dem 100000 Menschen in Tokio starben (beim Linken Imai fehlt nicht der Hinweis auf vergleichbare Untaten der japanischen Seite). Und hier sitzt nun, Jahrzehnte später, die Tante, nicht mehr bei Sinnen, und erkennt in jedem Kleinkind Keiko, die verlorene Tochter. Eine schulische Essay-Aufgabe setzt das Erinnern in Gang: Der Vater der Protagonistin will zunächst nicht an das Trauma rühren, rückt dann aber doch mit der Sprache heraus. Es folgen schwarz-weiße Rückblenden in die Kriegsjahre, die Liebesgeschichte zwischen der Tante und einem Lehrer, der sich der Einberufung entzieht - er verbrennt den Einberufungsbefehl, hier gerät erstmals fast unmerklich Farbe in das Vergangenheitsbild. Er stirbt, die Tante gebiert das Kind, es geht zurück in die Gegenwart, die Protagonistin bei den Proben einer Folkloretanztruppe, im Gespräch mit der Lehrerin. Der didaktische Zug des Films liegt dabei so offen auf der Hand, dass er keineswegs stört. Die banale Gegenwart und ihre manchmal sogar slapstickhaft-humoristische Shomingeki-Harmlosigkeit kontrastieren scharf mit dem aufwendig inszenierten Schrecken, den Imai in den Vergangenheitsszenen entfesselt; im Ende, das fast glücklich ist, sind das Tragische und eine harmonische Auflösung fast aufwandslos balanciert. Ein Film, der das Furchtbare und das Drollige hart aneinandergefügt, und zwar als populäres Kino gedacht und gemacht, der also mit kleinen, fast bescheidenen Gesten ziemlich Großes vollbringt. (78cp)

 

3.5. Maigret als möblierter Herr (Georges Simenon, F 1951, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Man hat auf Janvier, einen seiner engsten Mitarbeiter, geschossen, und Maigret ist sichtlich getroffen. Janvier pfeift aus dem Loch in der Lunge, wird jedoch überleben. Von wem der Schuss kam, ist ganz unklar, zwar hat der Inspektor wegen eines Überfalls auf ein Nachtlokal ermittelt, der Täter, ein Mann namens Paulus ist verschwunden (und taucht später unter einem Bett wieder auf), jedoch glaubt Maigret nicht, dass er den Schuss abgab. Und so wird der Kommissar, in Verschärfung seiner üblichen Akklimatisierungs- oder Affinierungsmethode, nicht zur Made im Speck, aber, wo Madame Maigret schon verreist ist, zum möblierten Mieter im Haus, in dem er den Täter vermutet. So macht er die Bekanntschaft eines Milieus der Strandenden, Ringenden, Gestrandeten, auch der üppigen Vermieterin Mademoiselle Clément, die das Leben als solches ulkig zu finden behauptet und entweder ausgesprochen durchtrieben oder ungewöhnlich naiv ist. Maigret igelt sich ein und liegt nachts wach und blickt aus dem Fenster: Im Haus gegenüber ist ein Vorhang meist zugezogen, das weckt Maigrets Interesse. Hier findet er die Lösung des Falls, in einem Zusammenhang aus Liebe, Verfall und viel Unglück, was bei ihm selbst eine schreckliche Erinnerung erweckt, daran nämlich, wie er als Jugendlicher einem Huhn den Kopf abschlagen musste. Er hat es nicht wieder getan, aber nun sieht er den Täter, der ein Opfer ist, hilflos flattern. (72cp)

(Maigret 37)

 

Modelo 77 (Alberto Rodríguez, Spanien 2022)

taz-dvdesk (69cp)

 

2.5. Le samourai (Jean-Pierre Melville, F 1967)

Alain Delon: mehr Hut und Trenchcoat als Mann; mehr genre-mythisch als psychologisch-biografisch zu fassen; das Bushido-Zitat vom einsamen Samurai, von Melville erfunden. Besonders schön: Es endet, aus dem allzu Bestimmten herabmoduliert, mit einem «vielleicht». Der Mann aus Trenchcoat und Hut wird auseinandergenommen bei der Gegenüberstellung, dann wieder zusammengesetzt. Die Wohnung mehr Behausung als Zeichen von Leben, der Vogel im Käfig alles andere als kanarienbunt, grau in grau die Wände, das spärliche Mobiliar. Vom Beben oder Zucken des Bildes ganz zu Beginn zu schweigen, als er, Jef Costello, noch liegt, bevor er aufsteht, bevor der Mythos, von Melville am Schnürchen gezogen, sich in Bewegung zu setzen beginnt. Wenige Worte, das Schweigen im Dienst der Abstraktion, die hier herrscht. Geduld ist eine Kette von Schlüsseln, Griffe von Händen, die lange geübt haben, was sie tun. Ein set piece, bis an den Rand des Manierierten als rhythmisierte Bilderfolge montiert: der Einbruch, bei dem die Wanze platziert wird: Schlüssel/Riegel/Vogel und wieder von vorne. Wärme im Grauen, wenn überhaupt, jedenfalls nicht zu greifen, in den Klängen mit Elektroorgel und mit Trompeten, die Francois de Roubaix komponiert hat. Was Costello, den grauen Mann, anzieht, ist die Musik, ist die Musikerin; noch im Liebestod ist er stoisch. Die Bewegungen durch die Stadt, das Vorbild fürs Kino heißt Uhrwerk, die Stadt bekommt Augen unten und oben herum, der Stadtplan nimmt die Verfolgung auf: Paris leuchtet. (85cp)

 

The Walking Dead (Michael Curtiz, USA 1936)

Kurviger Plot, rasende Autos. Ein aufrechter Richter muss sterben (und wird als Toter quer auf den Rücksitz eines Autos gelegt), ein Unschuldiger wird von finsteren Hintermännern zum Täter erkoren, das Paar der Augenzeugen zögert, das korrumpierte Rechtssystem zögert hinaus, bis es zu spät ist. Oder auch nicht, schließlich arbeitet das von schlechtem Gewissen gepackte Paar in einem Labor. Hier arbeitet man an der Wiederbelebung der Toten. Und so wird der Hingerichtete aus dem Reich der Toten geholt. Ein bisschen schief geht er schon, eine graue Strähne im Haar hat er auch, ein Blutgerinnsel im Hirn, zum Leidwesen des Mad-Scientist-Professors rückt er mit seinen Jenseitserfahrungen nicht wirklich heraus. Dafür jedoch hat er die Kraft, die Schuldigen durch bloßes Gegenüberstehen zu töten. Als reichte es, ihnen ihre schurkischen Taten zu spiegeln: Sie stürzen und sterben. Bloß kein Stillstand, Auto rast durch die Dunkelheit, die Montage lässt sich in Sachen Tempo nicht bitten, die Kamera legt gerne den Kopf schräg und kommt erst zum Schluss wieder ins Lot. (60cp)

(10 x Michael Curtiz)

 

1.5. The Books of Jacob (Olga Tokarczuk, Polen 2014, Übersetzerin: Jennifer Croft, Hörbuch, Sprecher*innen: Gil Messer, Allen Lewis Rickman)

Im damals polnischen, heute west-ukrainischen Städtchen Korolówka schlägt einer sehr aus der Art: Jakob Joseph Leib, später bekannt unter dem Beinamen Frank, Sohn askenasischer Juden, der Vater war Rabbi, beginnt schon jung, gegen manche Lehren der jüdischen Tradition zu rebellieren. Anhänger erst des Sabbatianismus des Schabbtai Zvi, der sich selbst zum Messias ausrief; dann mit rasch wachsenden eigenen Ambitionen, die nicht gelehrte jüdische Bevölkerung durch eigenen Messianismus und Wundertaten zu seinen eigenen, heterodoxen Ansichten zu bekehren; auf der Suche nach Land und Titeln, erst mit Unterstützung des polnischen Herrschers, nach dem Ende der Adelsrepublik in Österreich-Habsburg und Russland; er ist zum Katholizismus konvertiert. In Polen hatte ihn die Inquisition, die das als strategische Sache erkennt, in den Klosterkerker von Tschenstochau gesteckt, wo man ihm nach und nach Freiheiten gewährt, wo er vier Kinder zeugt. Die Geschichte endet mit der Flucht Franks und seiner Anhänger, Hunderte sind es, nach Offenbach, wo er in einem Schloss bis zu seinem Tod residierte, die junge Bettina von Arnim hat sich, als sie das bunte Treiben einmal erlebt, die Augen gerieben. Es ist diese Geschichte, die Geschichte des Jakob Frank, und der Frankisten, die Olga Tokarczuk in ihren Jakobsbüchern erzählt. Sie tut es chronologisch, im Präsenzs der Chroniken, sie tut es gründlich, hingestellt werden tausend und ein Detail dieser vergangenen Welt. Frank, die charismatische Figur, bleibt als Zentrum des Ganzen verblüffend wenig greifbar, es liegt auch daran, dass sich die in Faktendingen und historischen Volten allwissende Erzählerin, das ganze Buch wirkt theologisch wie material-historisch exzessiv fast belesen, in der Regel auf das äußerliche Beschreiben erschöpft, in Franks Fall die Körpergröße, die Pockennarben, die türkischen Gewänder, der Fes - in diesem Verzicht auf Subjektivierung ein entschiedener Gegenentwurf zu Hilary Mantels Versuch, eine historisch ferne Figur komplex in ihren Subjektiven zu fokalisieren. (Gestalt gewinnt dagegen die Erzählung selbst, nicht verkörpert, eher als alles eher kühl notierende, noch in ihrer Lust am sprachlichen Bild Chronik-nahe Geste.) Dabei stellt Tokarczuk Menschen und Situationen nicht selten in schlagartig einrastenden Vergleichen vor Augen, Vergegenwärtigung von Kleidung und Körper, von Gebäuden, Städten, Landschaften. Reich ist das Buch an Figuren, deren Schicksale mit Höhen und Tiefen und Tod über Jahrzehnte nachverfolgt werden; zwischendurch aus den Augen, die Lücken sind, den tausend Seiten zum Trotz, nicht weniger wichtig als das, was sich festhalten lässt. Ein Sonderstellung hat einer der (lange) engsten Vertrauten Franks, sein Anhänger Nachman, aus dessen (fiktiven) Aufzeichnungen immer wieder zitiert wird. Ebenfalls eigenständiges Material: der Briefwechsel zwischen einem polnischen Priestergelehrten, der an einer Art früher Enzyklopädie arbeitet, mit einer Adeligen, die am Ende nach dem Pest-Tod von Kindern und Enkeln verstummt. Als höchste Blick-Instanz wird eine alte Frau, Yente, installiert, und zwar auf magisch-realistische Art, die früh im Roman beinahe stirbt, nach und nach kristallisiert, aus ihrem Körper tritt und als ungebundener Blick die Dinge von oben betrachtet. Sie verkörpert den Wunsch der Autorin, aus der ungeheuren Fülle, die sie in einer unüberschaubaren Zahl eher kurzer Kapitel der Wirklichkeit abgewinnt, ein Ganzes zu fügen. Das ist ein Wunsch, der der Erzählung in seiner Artifizialität äußerlich bleibt. Erstaunlich ist nicht so sehr das Ausbleiben narrativer Spannung: Figuren ohne viel Innenleben werden durch ein Europa im Umbruch geschoben, als kleine Leuchten in großer Geschichte, auch Gastauftritte (wie der Giacomo Casanovas) müssen Blindstellen bleiben. Erstaunlicher ist das Ausbleiben immersiver Effekte. Man verfolgt, was geschieht, noch mittendrin mit Distanz. (64cp)

(International Booker Longlist 2022)

 

 

APRIL

30.4. Y a t'il un Francais dans la salle? (Jean-Pierre Mocky, F 1982)

Im Zentrum steht, wie es sich für einen Präsidenten gehört: der Präsident. Nicht der der Republik (an der Wand hängen Bilder von Giscard), sondern Rotes Kreuz und anderes, nicht wichtig, der Präsident ist hier etwas zwischen Eigenname, Funktion und, gewiss nicht zuletzt, Allegorie von Macht. Erkannt wird der Mann, der durchaus noch einen - gerne gesungenen - Eigennamen hat (Horace Tumelat), überall, ein bunter Hund, der Dreck am Stecken hat, eine Siebzehnjährige zu begehren beginnt und sich die Haare blond färbt. Früher, erfährt man nebenbei, hat er Juden an die Gestapo verraten. Jetzt ist sein Onkel gestorben, hat sich erhängt, oder war es doch Mord? Die Frage kümmert keinen so richtig, aber sie hält den Wirbel der Interaktionen in Gang. Hinter der Wand lebt ein alter Herr in Ketten, der den Präsidenten erpresst hat. Als Figur außer Rand und Band ist Jean-Francois Stévenin von der Partie, der ermittelnde Kommissar, er lebt mit einem transvestitischen Mann, vögelt aber auch die sehr reife Madame Fluck, von deren Wohnung aus sich der Tatort beobachten lässt: das Haus des Onkels, das eine Bruchbude ist. Dagegen: Paläste. Das alles ist, der ins Gemenge gezerrten Genres nicht achtend, polymorph à la Mocky, von nonchalanter Zwanghaftigkeit. Ganz vergessen: Die Assistentin Alcazar, die zu ihrem Leidwesen nur der Fuck-Buddy des Präsidenten ist, bringt ihren Mann um die Ecke. Ohrfeigen setzt es. Eine Komödie, wie stets, vor allem faute de mieux: Wie soll man ein Geschehen anders betrachten, das nicht der Wirklichkeit verpflichtet ist, aber auch nicht ihrer Kritik, oder beidem durchaus, angetäuschter Surreealisms, wobei es im Kern um etwas anderes geht, nämlich Mockys (und seiner Darsteller*innen) Lust daran, mit dem Realen, mit Genres, mit Figuren so rüde wie liebevoll über die Stränge der Konventionen (nicht zuletzt des Kinos) zu schlagen. (67cp)

 

Anima persa (Dino Risi, I 1977)

Ein junger Mann kommt nach Venedig, das Malen zu lernen, er hat vom Leben noch nicht viel gesehen. Durch die Kanäle geht der Vorspann im Dunkeln, das Haus von Onkel und Tante (Catherine Deneuve und Vittorio Gassman) hat prächtige Zimmer, andere sind, wie das Theater, verblasst, verfallen, Zeugnisse vergangener Größe. Eine Stiege nach oben wird dem jungen Mann verboten, ein heimliches Zimmer, es wird zum Faszinosum des Films. Hier haust, ist nach und nach zu erfahren, dann auch zu sehen, ein Mad man in the attic. Einst hat er Insekten gesammelt, nun rollt er die Augen und auch die Zunge und schlachtet eine Melone. Die Tante erzählt eine Geschichte vom Missbrauch und Tod eines Mädchens, der junge Mann macht dem Nacktmodell seiner Malklasse schöne Augen, vor allem an der Accademia-Brücke. Ein Film wird vorgeführt, vieles, das behauptet wird, erweist sich als Lüge, Franics Lai hat sich einen sehr schön unheimlichen Score ausgedacht. Der sich ebenso zwischen den Stühlen bewegt wie alles an diesem Film Horror, der sich kaum manifestiert, Giallo-nah, nur dass diese Nähe eher im Atmosphärischen liegt. Geschichte eines nicht nur sexuellen Erwachens, der Blick hinter die Kulissen offenbart dann doch einen Abgrund zu viel. Der Onkel war Gas-Ingenieur, und ist es nicht mehr; der wahnsinnige Insektenforscher ist nicht das, was er scheint. Die blonde Tante hält einen Verfalls-Monolog, während ihre Daseinsform etwas Gespenstisches hat: Ganz anwesend ist sie nie. Venedig tut das Seine dazu; Kirche, Kanal, Friedhof. Ganz lokalisierbar ist der Schrecken, der in diesem Film umgeht, bis zuletzt nicht. (74cp)

 

29.4. Heptalogie III-V (Jon Fosse, Norwegen 2020)

Vorangestellt: Ich ist ein anderer, Zitat Rimbaud. Das Ich, das erzählt, das Ich, das immer denke ich sagt, gleitet nun immer öfter zurück, erzählt aus der Kindheit und Jugend, die Geschichte der Band, aus der sehr schnell nichts wurde, die Entwicklung zum Künstler, die erste Ausstellung, die Begegnung mit seinem späteren Galeristen, die Aufnahme auf die Kunsthochschule. Das Buch normalisiert sich nun, ohne seinen Charakter zu ändern, in Richtung Bildungsroman. Irritierender noch, mitten im Satz, der Übergang vom Ich zu Asle, der erzählt wird, als ob er ein anderer wäre. Vom anderen Asle ganz zu schweigen, der dem Ich-Asle so ähnlich ist, dass alle Welt die beiden ständig miteinander verwechselt (die sehr überschaubare norwegische Welt, der Horizont bleibt weitherin extrem begrenzt). Was sich fortsetzt, wenn nicht intensiviert, sind die theologischen Bezüge, Ales, die verstorbene Frau, war es, die Meister Eckhart las und zitierte; als eigene Jugendlektüren werden Beckett und Trakl genannt. Wiederkehrend, als Leitmotiv, das Andreaskreuz-Bild mit den zwei Strichen, Inbegriff der (theoriefeindlichen, theologiefreundlichen) Inbegrifflichkeit, auf die Ales’ und vermutlich auch Fosses eigenes Kunstverstehen hinauswill. Sie will aber so rhythmisch ihre Wiederholungen und langsamen Fortgänge murmelnd, ihren literarischen Rosenkranz vor sich hin betend, so sehr im mit großer Sicherheit sich voranfindenden literarischen Halbschlaf auf sie hinaus, dass die Faszination keineswegs nachlässt. (80cp)

 

28.4. Sardanapal (Fabian Hinrichs, Volksbühne Berlin)

Bevor es losgeht, und so richtig los geht es nie, ein Mann am Saxophon, ein Mann am Klavier, Hölderlin-Zitat, Fabian Hinrichs, der ein Lied mit einer Inbrunst vorträgt, als könne er tatsächlich singen; und fast kann er es, der Inbrunst wegen, dann auch. Lässig geht es dann, bevor es richtig losgeht, weiter im Rewe in München, Fünf Höfe, da steht die Kasse (ohne Laden), da steht der König (ohne Land), da sitzt Lilith Stangenberg und wälzt sich bald darauf träumend im Sand aus der Tüte. Eine Lichtschrankentür geht auf und geht zu, durch die andere Tür werden die Requisiten geschoben, Sir Henry am Klavier auch zum Beispiel, während vorher, bevor es vor dem Nichtlosgehen lange schon erst recht nicht los ging, liefen da Songs, Blue zum Beispiel, von Eiffel 65, mit viel Ba Da Bee Ba Da Di an der Wand. Ich liebe Musik, sagt Fabian Hinrichs mit Fabian-Hinrichs-Emphase, bevor das Sinfonieorchester des Händel-Gymnasiums, oder Teile davon, zum Klavier musizieren. Als eine Art Conférencier berichtet Hinrichs vom nächtlichen Surfen im Netz zu Lord Byron, einen Traum von Percy und Mary Shelley hatte er da schon erzählt, der Genfer See, das Jahr ohne Sommer, als eine Vulkanausbruchswolke aus Indonesien die Welt in Hungersnot etcetera stürzte. Das ging vorüber. Es folgen als Projektion an die Wand, immer noch beim Losgehen vor dem Losgehen, ein Drittel des Ganzen ist jetzt vielleicht schon vorüber, Byron-Zitate als bloße Klischees. Eines auch, das im Zusammenhang mit König Sardanapal steht, dem König, der das Essen und das Trinken und die Liebe wollte, und sonst nichts, schon gar nicht die Macht. Man ist dankbar, denn bis dahin hat wenig, eigentlich nichts, in Richtung des Titels gedeutet, der über dem Abend steht, unübersehbar, SARDANAPAL. Nun also doch, hier fügt sich kurz was, ein Königreich für einen Zusammenhang, der aber bald wieder fehlt. Hinrichs hat von nun an meist das Textbuch in der Hand, liest deklamierend, deklamiert lesend, die rechte Überzeugung fehlt, oder nein, die rechte Überzeugung ist da, es fehlt nur der Kontext, das Stück, he lost the plot, er findet Musik, die aber stellt auch keinen Zusammenhang her. So schreitet Hinrichs, so schreiten wir durch seltsame Ruinen eines Stücks, eines Abends, manches ist fade, manches ist lustig, Lilith Stangenberg Kopf voran hinein in den Badezuber, in dem Hinrichs schon sitzt, das Textbuch wird nass. Dann tritt er, oder war es vorher, es macht ja nicht den Eindruck, als wäre die Reihenfolge irgendwie wichtig, tritt also Hinrichs an die Rampe, aus der Rolle heraus, in der er sowieso nie richtig drin war (oder sein wird, wenn auch gegen Ende, Richtung Liebestod, etwas mehr), lässt hundert Becher Weißwein verteilen und hält einen Monolog zur Entwaffnung. Dies sei alles nicht gelaufen, wie es geplant war. Den König sollte einer spielen (Benny Claessens, er nennt den Namen nicht, aber wir wissen Bescheid), der dann nicht mehr kam. So standen sie da, er mit dem Textbuch, in den Kulissen, die gesamte Spektakelgemeinschaft aus Jugendsinfonieorchester und Flying Steps, die später noch eine Schlacht darstellen werden, fast zu virtuos für diesen Abend, an dem es auf alles ankommt, aber ganz sicher nicht auf Virtuosität. Vielmehr agieren Könnerinnen und Könner hier tendenziell dilettantisch, da hat der Gesang zu Beginn schon die Richtung gewiesen. Die Bühne selbst tut, was sie kann, Orchestergraben nach oben, Orchestergraben nach unten, Stufen in Richtung Liebestod/Große Freiheit, tatsächlich zirzensisch wickelt sich eine Frau dann noch vom Bühnehimmel zum Boden, tut dabei aber etwas, das sie nicht so professionell kann: Zitiert ein Sappho-Gedicht. Es ist ein Abend wie ein Abistreich am Theater: Die Erwachsenen, die Autoritäten sind weg, man greift in die Kasse, auch der Fundus ist voll, es wird aufgefahren, was sich auffahren lässt, weiße Gespenster von oben, rotes Tuch stürzt von der Decke, wird eher ungelenk in Richtung Bühnenbildzauber verwurstet; Schönes ist da und verpufft, Bewegung kommt rein, auch wenn man so ganz genau nicht weiß, wozu das wilde Treiben nun gut ist. Das Bewusstsein, dass der Zusammenhang fehlt, wenn nicht gar ein Grund; dass das Können fehlt, und wenn das Können nicht, dann das Ziel, dieses Bewusstsein tritt mit auf die Bühne, macht die Beteiligten aber nicht kleinlaut, sie haben sich vielmehr entschlossen, dem Desaster, das zu erwarten wäre, dem Desaster, das auch - doch, schon - in gewisser Weise tatsächlich eintritt, mit Inbrunst (und Entwaffnungsmonolog) zu begegnen. Und da kommt es dann zu einer Art Wunder, dem Wundertüten-Wunder, die Ruinen beginnen zu leuchten, Fabian Hinrichs, der, Textbuch in der Hand, von einem Trumm zum anderen stapft, der kein bindendes Band und keinen rechten Zusammenhang, eher einen ständigen Zusammensturz hat, macht einfach weiter, besieht sich die Szene, als staune er selbst was er da angerichtet hat, Textbuch in der Hand, aber da findet sich leider auch keine Erklärung, nicht Stück, sondern Stückwerk, wohin man sieht. Man will das Absolute, sagt er, und bekommt die Wirklichkeit, es wird gelacht, er hat die Lacher schon die ganze Zeit auf seiner Seite. Es ist die Haltung, die diesen Abend, der ständig zusammenkracht und verpufft, am Ende doch trägt: Ein Trotz, dem es an Bauernschläue nicht fehlt, ein Begehen der Ruinen, als wäre da Pracht und Palast, wenn man nur daran glaubt. Es ist nicht so, dass dieser Glaube Berge versetzt, aber es gelingt ihm doch, aus dem Gerümpel der Gedanken und Attraktionen etwas zuletzt doch zauberhaft Bizarres zu machen. Nicht ganz klar, was das ist, ein gelungener Abend definitiv nicht, aber die Art, wie sich Hinrichs in das von ihm angerichtete Missraten hineinstürzt, rettet die Würde der Beteiligten. Schule machen kann so etwas nicht. Gott behüte. Aber der Ritt über den Bodensee ist am Ende, obwohl Pferd und Reiter ständig eingekracht sind, doch auf wundersame Weise geschafft. (80cp)

 

Fiddler on the Roof (Norman Jewison, USA 1971)

Am Ende, vor dem Auszug: Versöhnung der Bärte. Der Metzger, der die Tochter des anderen versprochen bekam, verzeiht, dass der andere, Tevye, dann doch ihrem und nicht seinem Wunsch folgte. Eine Geschichte ist das, fast rein allegorisch, der Abschiede. Da ist der eine, der große Abschied, bitter, der Verlust des Dorfes Anatevka, das Heimat war, brutale Vertreibung von Grund und Boden, die nicht ihnen, sondern dem Zaren gehören. Heteronomie, gegen die die Juden (noch) kein Mittel besitzen. Sie bräuchten schon ein eigenes, autonom besiedeltes Selbstherrschaftsland. Die anderen Abschiede sind der Fortschritt, Auszug aus der Tradition, vielmehr, geschmettert: TRADITION, eine Humanisierung durch die Töchter, in drei Schritten: Die erste bittet darum, ihren Willen anzuerkennen. Die zweite entscheidet und will nur den Segen. Die dritte macht sich mit dem Goi davon, ganz egal, was der Vater - die Väter - dazu sagt oder sagen. Aber auch sie bekommt zuletzt noch gute Wünsche auf ihren Weg. Patriarchal ist die Konstruktion darin, dass die Befreiung nur als Befreitung vom männlichen Herrscher vorgestellt werden kann. Als der figuriert Tevye in seiner wohlwollendsten Form; er zivilisiert noch die Frau, der die Befreiung aus der Tradition nur mit seiner Hilfe gelingt. Norman Jewison setzt das mit Sinn für den Boden wie für die Landschaft in Szene, er nutzt die Breite des Raums, ergreifend beim Abschied, die Kamera verleiht den zum Auszug Verurteilten in stummer Vorbeifahrt noch einmal Würde. Die Lieder sind mit einer Ausnahme fast oder ganz übergangslos in die Diegese gefügt, so sehr die Prosa oft nach Anlässen sucht, die Menschen in Lyrics und Gesang ausbrechen zu lassen. Heraus fällt als fast bollywoodesk ein Reigen der Töchter, ein Tanz, in die Landschaft gestellt, aber das wird ausdrücklich in Zooms auf Tevyes Gesicht (hinein und hinaus) als Fantasie präsentiert. Am Ende wird Tevye, wird das Volk von Anatevka, Ahasver. Kein Gelobtes Land in Sicht. Aber der Fiedler kommt mit. (72cp)

 

27.4. Captain Blood (Michael Curtiz, USA 1935)

In der großen Schlacht zum Finale brechen und biegen die brennenden Balken, ein großes Franzosenschiff fliegt in die Luft. Gewaltig stoßen die Vielmaster auf der Studio-See aneinander, Enterhaken schlagen in Körper, an Seilen schwingen sich die zu Patrioten gewendeten Piraten wider die Franzosen. Strahlend, groß und mit blondesten Locken, steht Errol Flynn als seinerseits vom Dissidenten zum Feldherrn gewandelter Held. Es schmettert, schmetterwillig von Anbeginn, das Orchester den Score, den Erich Wolfgang Korngold für es komponiert hat. Zuvor hat Captain Blood, zwischendurch, Basil Rathbone als unzuverlässigen Franzosen im Fechtkampf aus dem Felde geräumt, der liegt am Meeresstrand, von der Gischt überspült. Auf die Insel ist Blood als Sklave geraten, den die junge Olivia de Havilland statt ihres schurkischen Onkels sich für 20 Pfund kauft. In den politischen Widerstand ging Peter Blood ohne viel Zutun nur in Ausübung seines Berufs als Arzt. Als Heiler der Gicht gewinnt er sich dann in Gefangenschaft ein Stück Freiheit zurück. Curtiz inszeniert das wie stets so, dass wenig Verschnaufpausen bleiben, die Spektakel- und Massenszenen bieten den Zuschauern mehr als genug für ihr Geld. Eher atemlos wird die arme Olivia de Havilland periodisch (und natürlich zum Schluss) aus den Kulissen neben den Helden geschoben, der Abwechslung halber, wie an anderen Stellen Humor oder Running-Gag-Bibelsprüche. Sie ist ein Liebesobjekt, für das sich weder der Held noch der Film so recht interessieren: Sie haben anderes, Größeres, nämlich viel Swash und viel Buckle im Sinn. (61cp)

(10 x Michael Curtiz)

 

Le club des soupirants (Maurice Gleize, F 1941)

Ein, zwei Busladungen Playboys haben pekuniäre Probleme, gründen einen Club der Verehrer, eine reiche Erbin zu erobern, nicht als Herzensangelegenheit, sondern um ihre Finanzen zu salvieren. Sie bekommen zu diesem Zweck einen Lehrer, er ist hat bessere Tage gesehen, aber die Theorie der Eroberung beherrscht er, glaubt er zumindest, doch noch. Der Club fährt singend hinaus in die Natur. Dort, beziehungsweise im Umfeld der ins Visier genommenen Familie Carabus (Saturnin Fabre als Vater: grandios), ist ein anderer junger Mann unterwegs, Fernandel nämlich, ihn hat Continental-Chef Greven mit dem Angebot, bei zwei von drei der für die Firma gedrehten Filme Regie führen zu können, zu den Deutschen gelockt. (Das ist der eine, bei dem ein anderer, das wenig beschriebene Blatt Maurice Gleize, Regie geführt hat.) Fernandel ist ein Hanns Guck-in-die-Luft, ein Schmetterlingsjäger, der als Unterhalter der einen Tochter engagiert worden ist, jedoch ein Auge auf die andere, die nicht erben soll, wirft. Bei der einen oder anderen Gelegenheit darf er den Fortgang der Handlung für Gesang, wenn nicht Tanz unterbrechen, wobei dieser Fortgang ohnehin wegen Musik mehr als einmal zu oft ins Stocken, wenn nicht in den Stillstand gerät. Ende gut, alles gut, Pointen hier, ein Unsinn, der harmlos wäre, wäre nicht die eskapistische Absicht hier schmerzlich spürbar, Drehbuchautor Marcel Aymé (auch André Cayatte tat mit) hat man das zu Recht später übel genommen. (53cp)

(Continental Films 4)

 

26.4. Throw Away the Books, Rally in the Streets (Shuji Terayama, J 1971)

Ein Querschnitt, oder Queerschnitt, durch die japanische Gegenwart der frühen siebziger Jahre. Sehr scharf ist das Messer, mit dem Terayama diesen Schnitt durchführt, mit dem er sich von jung zu alt, von öffentlich und politisch zu privat und intim, und wieder zurück metzelt. Er jagt, mit der Kamera, die dieses Messer ist, durch die Straßen in Bildern, die grün gefärbt sind, in eine Entjungferungsszene im Bordell, in der die Montage sich selbst in Überblendungen vögelt, er begibt sich ins Restaurant westlichen Stils, in dem man Roastbeef serviert und der junge Mann der jungen Frau erklärt, wozu Messer und Gabel und Löffel gut sind. In der Wanne räkelt sich ein schwuler Mann mit Lockenperücke und bittet um Achselrasur, Umfrage hier, Umfrage da, was Männer sich wünschen, während die Striptease-Tänzerin die Bibel überall liest, nicht zuletzt auf dem Klo. Musik dazu und dazwischen, mal sanft und mal punkig, mal schmissig, mal Psychedelischeres, Fußballer, die in der Dusche eine junge Frau vergewaltigen, während draußen auf dem Platz einer die Kreidelinien frisch zieht; junge Frauen in Schuluniform auf einem Zaun vor Kuh auf der Weide, ein fröhliches Lied, sie entkleiden sich und singen davon, wie sie zu Huren werden. Dann zurück zum Kaninchen, das kam früher schon vor. Das alles geht, rennt, wirbelt sehr durcheinander, immer nur kurz arretiert, Schnitte von einer Szene zur anderen, kein roter Faden, es sei denn, man nimmt, blind für die Vielfalt der nicht nur farblichen Differenzen, das grün Viragierte als solchen. Oder den Sohn, der nach Amerika will und einen kleinen Nudelshop kauft, für den Vater. Oder die Schrift an der Wand: Die Stadt ist ein offenes Buch, schreib in ihre endlosen Ränder! Oder die weiße Leinwand und ein Abgesang auf den Ruhm für fünfzehn Minuten. Zur Schlussansprache nach 28 Tagen des Drehs der Sprung aus der Fiktion, die ohnehin außerordentlich löchrig ist, in eine Wirklichkeit, die um das Fiktive an ihr ganz genau weiß. Das erzählende Ich nennt seinen wahren Namen, Eimei Sasaki, als den eines Menschen, der als Ich die Worte eines anderen spricht: Sayonara, Cinema! (Der Abspann: Statt Namen und Schrift ein Kamerafahrt, die Gesichter entlang.) (77cp)

 

Night Drum (Tadashi Imai, J 1958)

Nach Jahren am Hof kehrt der Samurai in die Heimat zurück. Der Ritt durch die Landschaft, die Geschichte ist in Bewegung gesetzt, sie wird bis zum Ende durch das Gegeneinander von statischen Szenen in Räumen und kurzen, wilden Ritten rhythmisiert. Nicht dingfest zu machen, oder nach und nach erst, in Rückblenden, in Augenzeugenberichten, die sich widersprechen, ist ein Gerücht: Tane, die schöne Frau des Samurais, habe ihn, während er am Hof war, betrogen, mit dem Trommellehrer des Sohns. Der Lehrer singt traurige Weisen über die Dinge des Lebens (Liebe und Trauer), langsam schlägt die Trommel in den Händen dazu. Das Gerücht, die Beweglichkeit selbst, kommt dem Zurückgekehrten zu Ohren, er stellt die Frau zur Rede, es werden Recherchen angestellt. Sehr beweglich, in Schnitt und Wahl der Ausschnitte und dem Platzieren von Körpern und von Gesichtern im Kader, sind die Szenen gefilmt, in denen der Verdacht Einzug hält, abgewiesen wird, Perspektivwechsel und Achsensprünge sorgen dafür, dass sich das bei allem Herumsitzen niemals beruhigt. In Rückblenden (auch die nicht unmerklich, eine ungewöhnliche Sternblende einmal) wird aufgerollt, was geschah. Es stellt sich, aus dem Aufrühren der Vergangenheit, die auch ruhen könnte, mit wieder toll gefilmten Ritten dazwischen, eine Ausweglosigkeit her, an deren Ende Gewalt spricht und Schwerter, die Rache, ein brutales System von Klasse und Ehre, in dem das Verzeihen eine Unmöglichkeit ist, die Selbstbestimmung der Frau eine undenkbare Sache. (78cp)

 

25.4. Un couple (Jean-Pierre Mocky, F 1960)

Ein schöner Mann, eine schöne Frau, ein schönes Paar geraten hier aus der Bahn. Nach ein paar Jahren Verzauberung beginnen sie sich für andere zu interessieren. In Innenräumen mit Partys, am Arbeitsplatz mit der blonden Kollegin, in Außenräumen auf von Eugen Schüfftan wunderbar ausgeleuchteten schwarz-weißen Straßen. Blicke im Hausflur, Begehren im Treppenaufgang. Im Schaufenster, das mit Spielzeug umdekoriert wird, geht ein Kuss das erste Mal fremd. Der schöne Mann arbeitet für einen Spielzeugerfinder (der ist dick, Glatze, Zigarre, immer schöne Frauen zur Hand), ein Kollege hat seinen mechanischen Maulwurf bei Sonne und Regen dabei. Die schöne Frau hat einen schwarzen Ring um die Iris, den man bei den nicht wenigen Großaufnahmen sehr gut erkennt. Paare, Passanten, die Entfremdungsgeschichte, das Titel-Paar in der Einzahl, gerät nach und nach, Drehbucbeteiligung: Raymon Queneau, ihrerseits aus der Bahn. Setzt einen Mann mit Krücken in den Salon, der die anderen mit Vergnügen zu Fall bringt. Und nimmt ein anderes Paar als Refrain, dessen Abend immer auf dieselbe Weise verläuft: Mann hängt den Salat im Entwässerungssieb vor das Fenster, schließt die Läden, füttert den in einem von der Decke hängenden Korb liegenden Hund, begibt sich zur Frau ins Bett, deren Hand an einem baumelnden Schalter das Licht löscht. Einmal bleibt es an. Der Film geht dann aus. (73cp)

 

A New Leaf (Elaine May; USA 1971)

Zwei Karikaturen, aufeinander losgelassen: Walter Matthau als komplett verschnöselter Mann, brutale Ego-Figur, der seinen enormen Reichtum mit Ferrari und im Edelrestaurant durchgebracht hat. Nun hilft nur eines: sehr reiche Heirat. Da kommt Elaine May als das Ungeschick höchstpersönlich mit großer Brille sehr recht, Mauerblümchen ist gar kein Ausruck für sie, deren Ehrgeiz darauf geht, sich als Botanikerin durch Entdeckung einer neuen Art einen Namen zu machen. Weltfremd und selbstlos wird sie zum leichten Opfer für den Mann, der auf der Hochzeitsreise ein Buch über Gifte studiert, weil er sie möglichst schnell wieder loswerden will. Die sehr trockene und fast schon abstrakte Komik des Films besteht nun darin, die Karikaturen nicht etwa zu Menschen zu machen, sondern in Konstellationen zu bringen, in denen sie ihre scharf konturierte Eigenart ins Absurde steigern können. Ein Höhepunkt: Die Verhandlung zu den Konditionen der Ehe, Matthaus Gesichtsakrobatik, die das Zerknautschte mit dem Ungerührten zu wilden Grimassen verbindet. Elaine May dagegen als große Naive, die nichts von ihrer Schutzbedürftigkeit ahnt. Es sind Figuren, die von Anbeginn auf Nicht-Veränderbarkeit angelegt sind, weder in die eine noch in die andere Richtung auf Humanisierung. Nur zu verständlich, dass der entstellende Schnitt, den das Studio dann vornahm, May so sehr verstörte, dass sie den Film nicht mehr als ihren anerkennt. (69cp)

 

24.4. Antonius und Cleopatra (William Shakespeare, Projekt von Claudia Bauer, Patrick Isermeyer und Teresa Schergaut; Schauspiel Leipzig; Diskothek)

Vorne Säulenportal, hinten Besprechungsraum, seitwärts Badewann mit später viel Blut. Vor dem Portal ganz zu Beginn ein Dialog, der nicht ins Drama gehört, sondern die Regeln gibt zu dem, was auf der Bühne geschieht: jede Berührung mit dem intimacy coach besprochen, ich Mann, du Frau (bzw. als solche identifiziert), keine kulturelle Aneignung, es werden also in Vertragsform Triggerthemen berührt. Im Ton so uneindeutig, dass sich Freund*in wie Feind*in dieser Dinge ein wenig am Kopf kratzen dürfen. Viel hilft viel, das gilt auch sonst: Im Haus wird gespielt, zu Öffnungen und Fenstern heraus, aber oft auch per Livekamera aus dem Haus auf die (jeweilige) Vorderseite im Bild projiziert. Das Stück selbst ist im Haus und in den Mündern von Patrick Isermeyer und Teresa Schergaut von Zeit zu Zeit drin; Antonius als Person of Color, sie eine Cleopatra mit enschieden mehr Rundungen als Elizabeth Taylor (am Ende ist sie dann noch Octavian/Hitler): auf zwei reduziert, manchmal fährt heutiger Text den schönen Fetzen des Originals mit lautem Fuck in die Parade. Zwischendurch sagt, hysterisch geschüttelt, Antonius einen Programmhefttext auf, der gängige Situierungen des Stücks im (post)kolonialen, (post)imperialen Kontext erklärt. Dann zurück ins Haus, ins Stück, zu Sex(ploitation) und Blut(ploitation) und Telefon(ploitation) und aus dem Film herüberzititerten Kostümen und Glitzerperücke. Epilogisch dann gespielte Manöverkritik, auf so unslicke Art smart wie alles andere auch, zuletzt ist darum noch das Richtungslose sympathisch: Nicht zu Ende gedacht, sondern einfach mit Schmackes gemacht. (71cp)

 

Mindset (Sebastian Hotz, D 2023)

taz-Kritik (53cp)

 

23.4. La parmigiana (Antonio Pietrangeli, I 1963)

Der Polizist: ein Mann wie ein Pfahl auf zwei Beinen, mit dem Regenschirm als drittem dazwischengesetzt. Da steht er, aufgepflanzt, vor dem Fenster, und bringt seinen Willen, Dora zur Frau zur nehmen zum Ausdruck. Im Eifer des Gefechts rudert er sie unsanft rückwärts ans Ufer, da noch mit Schnurrbart, später ohne. Zunächst mit strikter Jungfräulichkeits-Ehemoral, später ohne, nachdem sie ihn durch Beischlaft loszuwerden versucht. Viel geht hier nach hinten los, auch die Schwenks nach rechts oder links, die die Gegenwart (und ihre lüsternen Männer) mit der Vergangenheit (und ihren lüsternen Männern) verbinden: Sie sind nicht flott und nicht elegant, diese Schwenks, gewinnen Eigengewicht durch ihre Erstreckung, großartig absurd einer, der mitten in der Stadt auf ein Klavier stößt, das dann im Match-Cut-Schwenk zu einem früheren führt. Auch die Musik tut eigenwillige Dinge, pfeift sich eins, wenn sie nicht diegetisch zum Tanz aufspielt, frenetisch: eine Gesellschaft, die ihre Beengungen durch Winden und Schütteln auszutreiben versucht. Catherine Spaak als diese Dora ist die Verführungskraft höchstpersönlich, egal ob blond oder brünett, ist ein Subjekt des Begehrens, dessen selbstbewusste Avancen die Männer ebenso wie klare Ansagen als Einladung nehmen, sie einzig als Objekt zu begreifen. Sie macht es sich zunutze, up to a point, objektiviert aus Notwehr zurück, im Gegenzug schenkt sie ihre Verachtung, und die ist, daraus macht der Film nicht den mindesten Hehl, Mann für Mann mehr als verdient. Eines allerdings kann in dieser verkehrt eingerichteten Welt nicht gelingen, im provinziellen Parma nicht und auch nicht im sich mondän gebenden Rom, gnadenlos wird das rundum durchdekliniert: eine Beziehung, in der beide sich und die andere als Subjekte begreifen. Ein Happy End wäre gelogen und findet darum nicht statt. (81cp)

(5 x Antonio Pietrangeli)

 

Anti War Women (Jessica Glause, Kammerspiele München)

Die Anti War Women trafen sich 1915, mitten im Krieg, in Den Haag zum Friedenskongress. Nicht ganz aus aller Welt, schon gar nicht aus allen Klassen, eine einzige schwarze Frau war darunter, aber doch: ein Ereignis historischer Dimension, das sich zu guter Letzt auf Resolutionen einigen konnte, Forderungen für den Frieden sogleich und eine gerechtere, auch gleichberechtigtere Welt in möglichst naher Zukunft. Die Sache wurde von den Männern verlacht, auch wenn Woodrow Wilson manches für seine Völkerbund-Vision aus den Kongressdokumenten entnahm. Aus diesem historischen Fakt hat Jessica Glause einen Theaterabend gemacht, der einzelne der teilnehmenden Frauen als Figuren auftreten lässt. Die Sache tut bunt, mit Brust- und Genitalmalerei auf den Kostümen, später schweben zerschnetzelte Fahnen von der Decke herab, Tüllresteröcke sind um die Hüften geschnallt, zwischendurch gibt es Musik von Punk bis Jenseits von Eden und am Ende ein Original von Eva Jantschitsch, die für die musikalische Seite zuständig ist. Theatrales Eigengewicht gewinnt dabei nichts, da hilft auch der Bühnennebel sehr wenig. Der Informationsgehalt ist okay, die Spielfreude groß, die Sache wichtig und gut, über bloße Illustration gelangt das aber, ganz frei von Form, die sich ernst nimmt, an keiner Stelle hinaus. (44cp)

 

22.4. Phenotypes (Paulo Scott, Brasilien 2019, Übersetzer: Daniel Hahn)

Die neue Regierung hat eine Kommission ins Leben gerufen, die eindeutige Regelungen finden soll für die umstrittenen, ja umkämpften Quoten für affirmative action. Als renommierter Soziologe sitzt Federico darin, Sohn eines Polizisten in Porto Alegre, mixed race, wobei er selbst als weiß passen kann, sein Bruder dagegen scheint eindeutig schwarz. Was zunächst nur Vorgeschichte scheint, Familiensachen, Heimatdinge, dringt nach und nach in Rückblenden in die Erzählung von der Kommission in Brasilia ein, infiltriert diese Gegenwart, und zwar mit immer stärkerer Wucht. Eine Nichte von Federico wurde bei Protesten gegen die Regierung mit einer Waffe aufgegriffen. Diese Waffe triggert Erinnerungen, die, als Federico nach Porto Alegre zurückgereist ist, abrupt, wenn nicht brutal auf die Gegenwart stoßen. Der Erzählstrom besteht aus kurzen Sätzen, mit schnellem Atem gereiht, die Sätze enden, ohne zu enden, oft steht da ein Komma statt eines Punktes. Das Ineinanderfließen, von Vergangenem und Gegenwart, von präsentischem Berichten und ausgelöstem Erinnern, ist das Prinzip, das Drängen von beidem; die Fragen von Grenzen, von mixed race und einem Rassismus, den auch Quoten nicht zum Verschwinden bringen, strukturieren das Geschehen und sind zugleich auch in Dialogen thematisch. Das Verschwiegene, das Verdrängte läuft, ungesagt, aber wirksam, ja vielleicht umso wirksamer, immer mit. Auf einen politischen Punkt, der diese Verwicklungen arretiert, will Paulo Scott nicht hinaus. Vielmehr geht es genau darum, zu zeigen, in Sprachhandlung vorzuführen, dass die Enden nicht lose sind, sondern dass eine Frage, eine Tat, eine Geschichte immer an der anderen hängt, und zwar so, dass jeder Eingriff Folgen hat, die nicht zur Gänze absehbar sind. (80cp)

(International Booker Longlist 2022)

 

Green Corridors (Natalka Vorozhbyt, Regie: Jan-Christoph Gockel, Münchner Kammerspiele)

Die Wand ist sehr solide, die Wand ist die Grenze, die Wand ist auch Leinwand, auf die Live-Malerei digital projiziert wirt. Die Wand ist solide, aber dann kippt sie um, langsam erst, dann schneller, man wartet auf den Knall, sie landet jedoch weich. Später öffnen sich Luken, aus dem Boden kommen Nebel und Figuren in Kostümen gekrochen. Der Realismus des Beginns, die Geschichten der Flüchtenden mit Katzen und Spitzen und Kindern, ist da dann schon zwar nicht vergessen, aber doch mehrfach überschrieben. Durch Szenen vom Dreh eines Historienfilms über Stepan Bandera, noch weiter zurück geht es in die zwanziger Jahre, dann wieder Gegenwart des ukrainischen Kriegs, Sex auf Distanz via Skype, der Mann dann tot, Scherze über Tinder, die Frauen kommen in Deutschland an; hier tritt nun eine penetrante Frau, penetrant gespielt, auf, eine Figur, die weniger verdichtet ist, als kabarettistisch verflacht. Der Text versucht sich zu retten durch Sprunghaftigkeit, er berichtet von Vergewaltigung, Mord, zentriert seinen Konflikt um eine opportunistische Schauspielerin, die noch in russischen Serien spielte, aber dann wieder Spitze, Einwanderungsdinge, rein ins Kostüm, raus aus dem Kostüm, Schrift erst an der vorderen, dann an der hinteren Wand, Livemusik dazu von links. Kreuz und quer geht das und nichts trifft richtig ins Ziel. (59cp)

 

21.4. Unser täglich Brot (Slatan Dudow, DDR 1949)

Wirtschaftsaufbruch als Familienaufstellung: Am Küchentisch sitzen Eltern und Kinder und Untermieter und teilen sich das sehr karge Brot. Der Vater - von Paul Bildt gespielt eine Figur, die man ernst nehmen muss - glaubt nicht an die sozialistische Zukunft, der eine Sohn hat alle Mühe, die Arbeiterinnen und Arbeiter als Führungskraft über die Durststrecke bis zu ersten Gehältern im volkseigenen Traktorbetrieb zu bringen, der vorderhand noch Fressnäpfe und Kochtöpfe produziert. Eine Tochter verkauft Sahne, als wäre es Eis, und fliegt raus, weil sie nicht rabiat genug ist. Ein anderer Sohn gerät auf die schiefe Bahn, was sich zuletzt als versehentlichen Überfall auf den Vater melodramatisch zuspitzen wird. Die Mutter hält zusammen, was durch Auszug der Kinder und Mieter auseinanderstrebt. Parolen werden geschwungen, aber das hält sich in Grenzen. In impressionistischen Szenen sieht man Prostituierte als verzweifelte oder zynische Variante des Versuchs, über die Runden zu kommen. Hanns Eislers Musik sucht Dynamik, wo sie den Beteiligten fehlt. Optimismus muss sein, der Vater wird das Mitmachen lernen, aber Slatan Dudow hat viel wenig Geschöntes unter die ideologischen Notwendigkeiten gemischt. (65cp)

 

Maigret und die Tänzerin (Georges Simenon, F 1951, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Arlette, die Tänzerin, stirbt, weil sie der Polizei vom Mord an einer Gräfin berichtet. Sie hat es gehört im Picratt’s, wo sie mit ihrem Striptease den Männern, auch einem jungen Polizisten, die Köpfe und andere Körperteile verdreht. Maigret begibt sich ins Milieu von Montmartre, findet Spuren, die in die Vergangenheit der einst schönen und mondänen Gräfin führen, die zuletzt als Morphinistin in einer heruntergekommenen Wohnung vor sich hin vegetierte. Der Wirt Alfonsi, seine Frau Rose, einer, der Heuschrecke heißt, ein drogensüchtiger Homosexueller, ausgehaltener Gespiele der Gräfin: kleine Gesellschaft der Nacht. Arlette, von allen bewundert, wird ersetzt, als recht unbegabt beim Entkleiden erweist sich die junge Frau, die ihre Nachfolgerin wird, aber das kann ja noch werden. Maigret sitzt und blickt, schickt die Inspektoren herum, auf der Suche nach der mysteriösen Figur namens Oscar, die bis fast zuletzt im Verborgenen bleibt. Kein Verhör, Maigret geht beinahe auf in seiner Funktion, Beobachter einer Szene zu sein, zu der die bessere Gesellschaft nur im Zwielicht begegnet. (71cp)

(Maigret 36)

 

20.4. Le témoin (Jean-Pierre Mocky, F 1974)

Antonio Berti, der Maler, der mit einigem Karacho aus Italien (Alberto Sordi) nach Reims kommt, malt in der Kathedrale, er malt auch nackte und halbnackte Gestalten. Junge Mädchen stehen ihm dafür spärlich bekleidet Modell. Der reichste Mann der Stadt, Monsieur Maurisson (Philippe Noiret), ist sein Freund, geht sehr gern auf die Jagd, nach Frauen, aber auch, wie sich herausstellt, nach den sehr jungen Mädchen. Als eine von ihnen ermordet wird, werden Alibis durch die Gegend geschoben und gerät Berti in Not, denn er hat Maurisson in der fraglichen Nacht am fraglichen Ort in sehr verdächtiger Weise gesehen. Und hält die Klappe, aus Freundschaft, außerdem lassen Schüsse bei der Jagd keine Zweifel an der Entschlossenheit Maurissons. Noiret und Sordi haben sichtlich Vergnügen an ihren üblen Figuren, Mocky hat Spaß daran, eine Genregeschichte mit allem Drum (Kommissar, allerdings schwul) und Dran (Lustmolch, dieser und jener) im Graubereich zwischen Chabrol und Buñuel und commedia all'italiana einem entschiedenen Ende zuzuführen: Ein Schuss, der versehentlich den trifft, der unter die Guillotine gehört. Aber ganz der Falsche ist auch der nicht, dem der Kopf abgehackt wird. Ein paar Sekunden lang wird in der Totalen danach noch das Blut mit dem Schlauch weggespritzt. (67cp)

 

Premier rendez-vous (Henri Decoin, F 1941)

Die sich da nach einer Kontaktanzeige Briefe schreiben: Micheline Chevassu (Danielle Darrieux), die in aller weltsüchtigen Unschuld fast volljährig im Waisenhaus sitzt. Und Nicolas de Rougemont (Fernand Ledoux), sehr mittelalt und kein Beau, der sich als sein Adoptivsohn Pierre ausgibt. Ernüchterung im Café. Er nimmt sie gegen ihren leisen Widerstand mit in sein Haus, der schlimme Verdacht, der Micheline anfliegt und den der Zuschauer angesichts ihrer Lebensunerfahrenheit erst recht hegt, löst sich nach einer ungestörten Nacht im Zimmer des real existierenden, aber vorderhand abwesenden Pierre, rasch in Luft auf. Erst recht, wenn man den wackeren Nicolas in seinem Job als Literaturlehrer im Elite-Internat sieht: von den adeligen Schülern verhöhnt und verlacht. Da leidet und begehrt und zuckt eine schöne und zarte Seele im nicht so zarten Körper, sie kam in seiner literarischen Sprache heraus. Alles durcheinander bringt, als schönerer Körper, wenn auch deutlich robustere Geist des jüngeren Mannes, Pierre (Louis Jourdan). Es kommt zu Gesang, aber auch komödiantischem Nachspiel der falschen ersten Begegnung; er hebt seine Seele hinauf zu der ihren, sie senkt ihre ein wenig in Richtung Realismus hinab. Henri Decoin wirft gekonnte Turbulenzen dazwischen, veredelt nebenbei den ungehobelten Jungadel, zumindest ein wenig. Pierre nimmt die Beine in die Hand, um die Geliebte zum Happy End zu erwischen. Der Vater, dessen Tragödie das hier partout nicht sein soll, seufzt ein Lob auf die Jugend dazu. (68cp)

(Continental Films 3)

 

19.4. La visita (Antonio Pietrangeli, I 1963)

Treffen sich zwei, eine Heiratsannonce, auf die er geantwortet hat, bringt ihn aus Rom in die sehr kleine Stadt, in der sie in einem Haus für sich lebt. Hier erproben sie 24 Stunden lang, wie das sein könnte: Pina (Sandra Milo) und Adolfo (François Périer), ein Leben als Paar. Die Fahrt mit dem kleinen Oldtimer-Auto durch die Innenstadt, wo ihnen Cucaracha (Mario Adorf) begegnet, der Außenseiter, der mit Steinen bewirft, was ihm nicht passt, zum Beispiel: Adolfo. Der wird von Pina fürstlich bewirtet und tritt zum Dank die kleine Schildkröte, die als Haustier bei ihr lebt. Er beschimpft den Papagei, er frisst wie ein Schwein, er betrinkt sich fürchterlich, er macht der Enkelin der Zugehfrau schöne Augen und sucht beim Dorffest den Engtanz mit ihr. Pina träumt sich den Mann, der schlimmer nicht sein könnte, gewaltsam zurecht, denkt man, zieht aber am Ende mit brutalem Realismus gerechte Bilanz. Und hier stellt sich der Film, der bis dahin die Komik des schrecklichen, egozentrischen, gefühllosen Mannes kalt zelebriert hat, auf sehr verblüffende Weise auf den Kopf. Adolfo bekennt sich zur Wursthaftigkeit seiner selbst, fällt in sich zusammen. Auf dem ausgenüchterten Grund des Realitätsprinzips haben sie anstatt einer gemeinsamen Zukunft nun Sex. Dann Rückfahrt im Morgengrauen zum Bahnhof, er schickt einen Brief und eine Lampe, sie kehrt zurück ins kurz zerrissene soziale Gewebe, in ihr Haus mit Schildkröte, Papagei, dem LKW-Fahrer und dem steinewerfenden Cucaracha. (74cp)

(5 x Antonio Pietrangeli)

 

Der andere Name. Heptalogie I-II (Jon Fossse, Norwegen 2019, Hörbuch, Sprecher: Max von Pufendorf)

Asle, der Maler, schon lange kein Trinker mehr, einer, der Gott gefunden hat, der Gott in seinen Bildern findet, es ist eine dunkle Theologie, es ist für ihn das Schwarze, das leuchtet, aus dem heraus Gott leuchtet, es ist dieses Leuchten, das er in seinen Bildern zu bannen versucht. Und der andere Asle, auch Maler, Asle, der in Bjørgvin lebt, der größeren Stadt, der Trinker, mit Hund, dieser Asle, den der andere Asle findet, im Schnee, kaum bei Bewusstsein, und den er ins Krankenhaus bringt. Und zwischen dem einen Asle und dem anderen Asle (wie überhaupt im ganzen Buch) kein einziger Punkt. Eine Prosa, die in ständigen Wiederholungen und Verschiebungen vorankommt, sich manchmal auch festfräst, minimal prose, die an Beckett erinnert, von ferner her auch an Bernhard, ein Sprachstrom und Bewusstseinsstrom, von einem so beiläufigen wie insistenten «ich denke» interpunktiert (sehr viel mehr inter als Punkt), das ein ansatzloses Gleiten ermöglicht, Erinnerungspfade hinab, die in der Vergegenwärtigung Gegenwart sind, ein Paar auf einem Spielplatz im Schnee, das der eine Asle beobachtet, das vielleicht Asle selbst ist, mit seiner Frau Ales, auch hier sind der eine Name und der andere Name sich nah, eine Erinnerung später, des einen oder des anderen Ales, eine Szene der Kindheit, Ales und seine Schwester am Ufer des Fjords, später Ales im Auto mit der Glatze, einer monströsen Figur. Weil aber Gott und der Frühstücksspeck sich hier sehr nahe sind, so nahe wie die Theologie und die sehr dinglichen Dinge, die Freund Åsleik anschleppt, weil im Insistieren auf dem Banalsten, der Beobachtung der unbedeutendsten Äußerlichkeiten, weil in diesem Nebeneinander des sehr Großen, des leuchtenden Schwarzen, und des sehr Kleinen etwas Komisches liegt, weil der Rhythmus der Prosa sich anfühlt wie, denke ich, das Erfrieren im Schnee, ist das alles nie prätentiös, so wie es wundersamerweise auch niemals ermüdet, getragen von einem sehr langsam fließenden, aber doch immer weiter fließenden Unterstrom murmelnder Verzweiflung und flüsternder Ekstase. (82cp)

(International Booker Longlist 2020)

 

Alice, Darling (Mary Nighy, USA 2022)

taz-dvdesk (62cp)

 

18.4. Le deuxième souffle (Jean-Pierre Melville, F 1966)

Der Winkel, den das erste Bild setzt: verkantet, aber so muss er, anders kann er nicht sein. Die Statik der Mauern, bald darauf das Rennen, der Zug. Der Tod gleich im Spiel, das versteht sich von selbst. Alles ist Konstruktion, ein Ablauf, der vorausgedacht ist, datiert, nummeriert, gezählt und geprobt. Dinge, die am Schnürchen laufen, Zufälle, die die Kugel des Plots von der Bahn abweichen lassen: ein unschuldiges Boule-Spiel, bei dem einer den Gangster erkennt, aber auch Spiel über die Bande: die auf dem Schrank platzierte Waffe, die Zuschauer und Schurken an der Nase herumführt. Alles ist akkurat aus Genre-Topoi gezimmert, inklusive die Finten und doppelten Böden, eine Geschichte, die nicht mit roten Heringen, aber mit der Irritation von Erwartungen und Erwartungserwartungen agiert. Die Überfall-Szene mit einerseits Serpentinen, andererseits sehr straighten Schüssen, Hommage als Anerkenntnis, dass Robert Wise es in Odds Against Tomorrow so gut gemacht hat, wie es sich nur machen lässt. Eine Idee von Professionalismus, es gehört die sachgerecht ausgeführte Ermordung bei laufender Autofahrt entschieden dazu. Eine Idee von Verhängnis, das Ende (so oder so) ist ausgemacht von Anbeginn. Der doppelte Ehrenkodex, so strikt genommen, dass eine Warntafel zu Beginn den Film von jeder Wirklichkeit distanziert: Der Gangster, dem einzig auf dem Gewissen liegt, es könne der Eindruck entstehen, er habe seine Spießgesellen verraten; der Polizist (und es braucht Paul Meurisse in seiner Abgebrühtheit dafür), der den Deal mit dem erzwungenen Geständnis als Ehrensache begreift. Ein Film, der nie außer Atem gerät; der aber keinen Zweifel daran lässt, dass es beim zweiten Atem des Titels um ein letztes Ausatmen geht. (73cp)

 

Eine Pyramide für mich (Ralf Kirsten, DDR 1975)

Ein Vierteljahrhundert nach dem Aufbruch kehrt ein Mann mittleren Alters als Professor an den Ort zurück, an dem er mit Männern und Frauen seines Alters einen Staudamm, der gut und gern für einen neuen, sozialistischen Staat stehen kann, erbaut hat. Sie haben zum Gedenken, zur Feier der neuen Gemeinschaft eine Pyramide errichtet. Sie steht noch, aber vergessen, vermoost, der Lack ist schon lange ab. Das gilt auch für Satie selbst, bleicht geschminkt im Gustav-von-Aschenbach-Style, dunkel die Augenringe, keuchend der Gang die Stiegen in Wolfsgrün hinauf. Ein Film voller Wiedergänger, hart die Szenen aus der Vergangenheit gegen die Gegenwart geschnitten, in der alles Vergangensein, nichts Neuanfang ist. Oder schlimmer noch: Der Neuanfang, der gerade geplant wird, gegen den Satie mit einem Gutachten Einspruch erhebt, wäre ein neuerer, viel größerer Staudamm, für dessen Flutung ganze Dörfer ausgelöscht würden, gnadenlos werden die Gebäude, die der megalomanen Zukunft weichen müssten, aufgezählt und genannt. Und klar ist doch auch, den großen Gesten, die so falsch klingen, wird keine große Zukunft mehr folgen; schon der erste Aufbruch gleich nach dem Krieg war mit seinem Ehrgeiz, seinem Schwung auch rücksichtslos und brutal. Plattgemacht wurde der Bauernhof des Mannes, der Balanchin heißt, der nicht vergessen hat, der gespenstischste Wiedergänger von allen. Hanka dagegen, die Geliebte von einst, nun an den Wänden der kleinen Stadt als Hure denunziert: Selbstbewusst, aufgestiegen, sie lebt mit dem Sohn, von dem Satie nicht wusste, sie liebt mit einem fünfzehn Jahre jüngeren Mann. Keine Anknüpfung möglich, alle Fäden zerschnitten, alle ins Schicksal gefügt: Ein Resignationsfilm, wenn es je einen gab. (78cp)

 

17.4. Fortunat (Alex Joffé, F 1960)

Besatzungs-Historie und Holocaustdrama und Klassenkomödie vertragen sich hier miteinander. Es ist ein ziemliches Wunder, auch weil die Regie weiter keine Umstände macht. Noel Fortunat (Bourvil) ist ein einfacher Mann, der wildert, der trinkt und der dem Papagei in der Kneipe beibringt, «Hitler kaka» zu sagen. Seine frühere Lehrerin, Mitglied der Résistance, gibt ihm den Auftrag, eine Mutter und zwei Kinder als deren vermeintlicher Gatte ins «freie» Frankreich zu bringen, und zwar nach Toulouse. Es glückt, im Obergeschoss finden sie eine Wohnung, die sich mit viel Mühe aufs Niveau der gehobenen Mittelschicht einer Juliette Valcourt (Michèle Morgan) bringen lässt. Die jüdische Familie Falk wohnt daneben. Als die Hakenkreuz-Fahne am Mast weht, ist ihr Schicksal besiegelt. Zuvor aber isst man gemeinsam, die Kinder spielen auf der Terrasse, Klavier wird gespielt. Juliette Valcourt schätzt den Gatten als gutherzigen, aber ungebildeten Tölpel ohne Manieren bei Tisch und auch sonst. Da tritt aus heiterem Himmel ein sehr junger und schneidiger Amerikaner ins Bild, mit dem Juliette allzu eng tanzt; Noel, der ihn in Sicherheit bringt, kehrt nach vielen Tagen zurück: Nun sieht sie ihn mit anderen Augen. Pfeifend streichen sie die Terrassentür neu und malen sich Farbe ins Gesicht mit dem Pinsel: Ganz klar, sie hatten Sex. Nach dem Krieg renken sich die Klassenverhältnisse wieder ein und brechen nicht nur Noel Fortunat dabei das Herz. Letztes Bild: Ein Komiker, um den man weint, geht auf der Straße davon. (78cp)

 

The Breaking Point (Michael Curtiz, USA 1950)

Sein Haus (nicht groß), seine Frau (nicht blond), sein Boot (die Sea Queen), sein bester Freund (schwarz), seine Töchter: Harry Morgans Geschäfte gehen nicht gut, aber dann nimmt er einen Mann (reich) und eine Frau (blond) und damit das Unglück an Bord. Das Geld lockt, die Frau verführt, beim Auftrag, asiatische Männer über die Grenze zu schmuggeln, läuft etwas schief. Er verliert sein Boot und als er es wiedererlangt, ist seine Frau blond, ein nächster Auftrag und es kommt noch mehr Unglück an Bord. To have and have not steht nicht drauf auf dem Film, ist aber drin. Ein Mann, der sich zu bewähren hat, der sich und seine Möglichkeiten überschätzt, Hemingway-Existentialismus mit Blicken in die Wohnstube (eng) und ins Glas (Drink) und aufs Meer (weit), Shootout auf offener See. John Garfield in seiner vorletzten Rolle ist dieser stoisch verzweifelte Mann, steckt sich den Revolver in die Hose, im Glauben, es ließe sich alles ein für alle mal regeln. Curitz inszeniert die Überfahrt als Höllenfahrt so gewohnt smooth und dynamisch wie den Überfall auf ein Wettbüro, die Noir-Elemente (wenn nicht Klischees) sind so selbstverständlich im Spiel wie der schwarze Spielkamerad der Kinder. Störend übriggeblieben sind ein paar Voiceover-Monologe, ein Fehler des Drehbuchs; es ist aber auch so, dass es der Inszenierung in ihrer Weltläufigkeit ein wenig an Hemingways tragifiziertem Männer-Jammer gebricht. (Peckinpah hat den Film freilich geliebt.) (71cp)

(10 x Michael Curtiz)

 

16.4. Quai d'Orsay (Bertrand Tavernier, F 2013)

Der Quai d’Orsay ist so wenig der West Wing wie die französische die amerikanische Politik ist. Und Antonin Baudry ist nicht Aron Sorkin, dessen blauäugige ethische Imperative ihm fehlen; wofür er im Gegenzug Erfahrungen hat. Er war tatsächlich im Team des Außenministers Dominique de Villepin (2002-2004), den er in der von ihm verfassten Graphic Novel, die Depardieu verfilmt hat, in der Figur des Alexandre Taillard de Worms karikiert. Mit Vroom betritt der Minister unter fliegenden Blättern die Räume, das Werk Heraklits unterm Arm. Er ist, keine Frage, ein großer Bewunderer seiner selbst. Er verkündet Banalitäten, die er für Weisheiten hält. Lässt sich als Eitler von noch eitleren Schriftsteller-Eminenzen beraten. Manchmal gleitet er, etwa in seiner großen Textmarker-Rede, vollends in den Wahnsinn. Die Palastintrigen ölt Tavernier, dem Tempo der Vorlage folgend, wie geschmiert, die Beraterinnen und Berater bekommen jede und jeder ihr Fett ab; manch einer ist schlicht zu kompetent. Als in sich ruhender Buddha, fast immer schon schlafend, fast immer noch wach, Niels Arestrup als Chef-Berater, fulminant schildkrötenhaft, Splitscreens bebildern seine Vielarmigkeit. Zwei Wunder sind es, spät und ganz am Ende des Films, die den Minister anders beleuchten: Zum einen hat er, ohne Worte zu machen, die Abschiebung einer Familie unterbunden in einem wichtigen Ken-Loach-Nebenarm der Geschichte; zum anderen hält er eine Rede vor dem Sicherheitsrat, sie erhält von den hartgesottenen Politikern (in der Einstellung sieht man tatsächlich keine einzige Frau) standing ovations. Das war, einst, bei Dominique de Villepins Widerstand gegen den Irak-Krieg, realiter so. Es ist schon so, dass einem die Welt der französischen Politik, wie Baudry/Tavernier sie hier zeichnen, hohl und aufgeblasen vorkommen kann, und sicher auch soll. Es könnte aber ebenso sein, diese Vermutung erlaubt sich der Film, dass diese von keinem Selbstzweifel angekränkelte Aufgeblasenheit genau das ist, was die Welt an dieser Stelle erwartet. Und dann setzt das Buch eine Art Wandlungswunder in Szene: Es kommt der Moment, indem das Hohle in eine eigene Form von Substanz übergeht. (73cp)

(Bertrand Tavernier)

 

Die Möwe (Tschechow, Inszenierung: Jürgen Gosch, 2008, Aufzeichnung von 2017)

Die Bühne von Johannes Schütz ähnelt der von Goschs Wanja: Sie bietet keinen Weg, schon gar keinen Ausweg nach hinten, dunkel ist die Wand, und hoch, sie macht den Raum vorne eng. Eine Bank zum Daraufsitzen, später, wenn Nina zurückkehrt, wird sie zum Bett. Diesmal jedoch sind Abgänge möglich nach rechts und nach links, was die Lage etwas entspannt, auch wenn die Spielenden manchmal, wenn nicht oft bleiben, aus dem Spiel genommen, aber nicht ganz. Sie sind, in diesem Off, immer noch ein wenig on. Keine Blicke zur Wand, sondern Übergänge in Zwischenzustände: Nicht ganz die Figur, nicht ganz aus ihr geschlüpft, nicht ganz unbeteiligt, nicht ganz Publikum. Kostüme nur andeutungsweise, Stiefel, ein Kleid, das Kopftuch, aber nicht sehr weit entfernt von alltäglicher Kleidung. Es ist, mit einem Wort, beinahe so, als wäre das ganze ein Durchlauf zur Probe. Wie um das zu beweisen, ist der Übergang vom (durchaus: intensiven) Spiel zum Abgang, der ein Hinsetzen oder auch ein Weiter-Herumstehen sein kann, manchmal abrupt. Es ist kein großes Ding, das Übergehen des Menschen in die Figur; die Darsteller*innen stellen nicht etwas dar, das sie nicht sind, sondern sie geben sich selbst, virtuos natürlich, hinein in die Menschen, die Tschechow zur Sprache gebracht hat. Sie geben sich hinein und sind also noch drin, wenn sie sich, halb-off, halb-abwesend, halb-beteiligt, auf die Bank setzen. Bei Onkel Wanja oft wie abgeschnittene Marionetten: Hier nicht. Was bei allem Heraustreten der jeweils Agierenden, Sprechenden, Spielenden bleibt, ist ein Fluidum des Kollektivs, ein Erproben des gemeinsamen Tuns, auch wenn diesmal die eine (Harfouch) und der andere (Grashof) etwas sehr auf die Tube drückt, was der stärkere komödiantische Akzent des Stücks und der Inszenierung aber auch eher verzeiht. (80cp)

 

15.4. Adauchi/Revenge (Tadashi Imai, J 1964)

Shinpachi Ezaki ist ein Samurai niedrigen Ranges. Seine Tötung eines Höhergestellten in einem illegalen Duell verstößt gegen den Bushido-Code. Die Sache muss aus der Welt geschafft werden, und zwar durch ein legales, öffentliches, von der Institution selbst inszeniertes Duell, dessen Ausgang, als wären wir beim Catchen, vorherbestimmt ist: Ezaki muss sterben, von den sechs Assistenten des Gegners, der ihm den Todesstoß geben muss, unschädlich gemacht. So wird es nicht laufen. Und weit ist bis zu diesem fulminanten Ende der Weg. Bis dahin ist alles: Rückblende und Vorbereitung. Man sieht, was geschah. Man sieht, wie der Zaun um die Stätte des letzten Duells aufgebaut wird. Wie sich die Menge versammelt. Ezaki hat sich zurückgezogen, in ein Kloster. Vertreter der Clans treffen sich, um eine Lösung zu finden. Ziemlich glorios schwarz-weiß sind die Bilder. Statisch, auch wenn Tadashi Imai in die langen Szenen des Sitzens, Redens und Schweigens durch Schnitte maßvolle Perspektivwechsel bringt. Das Format ist so breit, dass viel Zwischenraum bleibt, fürs Betrachten, wenn nicht Versenken. Gegen die Ruhe und Langsamkeit der Vorbereitung gesetzt sind die Gewalt, das Tempo, der rasende Ezaki und die Kamera, die mit ihm die Manege durcheilt. In mehreren Subjektiven verschleiert sich bei seinem Sterben das Bild. Er ist nicht zu retten. Die Verlogenheit des Bushido-Codes aber liegt am Ende offen zutage. (71cp)

 

Heaven (Mieko Kawakami, J 2009, Hörbuch, Sprecher: Scott Keiji Takeda)

Der Ich-Erzähler, ein vierzehnjähriger Junge mit schielendem Auge, hat allen Widerstand aufgegeben. Er wird von seinen Klassenkameraden gemobbt, geschlagen, verhöhnt, er lässt es über sich ergehen. Bis er eines Tages einen Zettel an die Unterseite seines Tischs geklebt findet: Kojima, auch sie ein Opfer der Tyrannen der Klasse, hat ihm geschrieben. Sie treffen sich, selten, sie reden, sie machen einen Ausflug in ein Museum: Kojima zeigt ihm ihr Lieblingsgemälde, sie nennt es Heaven. Sie ist überzeugt, dass alles, auch ihr Leid, einen Sinn haben muss. Die beiden schreiben einander Zettel und Briefe. Er vergleicht sie mit einem Bleistift der Stärke 6B, weich und kaum zu zerbrechen. Der Erzähler stellt bei einer Begegnung an neutralem Ort einen der Nebentyrannen zur Rede, der ihm seine Amoral zynisch entfaltet: Das Dasein ist sinnlos, es gibt keinen Grund, anderes zu tun als das, wonach einem der Sinn steht. Die Solidargemeinschaft mit Kojima ist befristet, sie begreift seine geplante Augenoperation als Verrat. Eine letzte gemeinsame Demütigung festigt nur den Abgrund, der nun auch zwischen ihnen besteht. (65cp)

(International Booker Longlist 2022)

 

14.4. Die Sklavenkönigin (Michael Curtiz/Míhaly Kértesz, Österreich/GB 1924)

Am Ende öffnen sich die Wände des Roten Meeres für das Volk Israel, das so aus der Gefangenschaft in Ägypten entkommt. Wände von riesigen Bauten geben dem Raum Grenzen, zwischen denen die Massen als Ornament stehen oder, gekonnt choreografiert, fluten. Der Außenraum ist Schauraum, gelegentlich gehört auch die Wüste mit Palmen dazu. Die Kamera zeigt das gerne in Totalen, ist aber kein einziges Mal zu einer Form von Bewegung zu bewegen, selbst eine Wand. Ein Historienfilm, enorme Arsenale für die Kostüme hat man vor Augen, fast wirklich noch als die erhabene Illusion, auf die dieses Kino hinauswill. In den Innenräumen eine Liebesgeschichte zwischen dem Buch und Kultur und dann der schönen Israelin Merapi zugeneigten Pharao-Sohn Seti, der auf Befehl seines Vaters (und nach der Vorlage des fruchtbaren Romanciers H. Rider Haggard) die Schwester Userti heiraten musste. Wo so viel historisch Äußeres und nicht weniger seelenlebendig Inneres quillt, müssen zwischen den in sich wuselnden statischen Bildern weitere Stützwände her: Text, viel Text und noch mehr Text, der zuliefern muss, was man in den monumentalen Bildern nicht sieht, und in der Zulieferung doch immer wieder stillstellt, was an äußerer Dynamik mit so großem Aufwand in Bewegung gebracht worden ist. (63cp)

(10 x Michael Curtiz)

 

Hugo van der Goes - Zwischen Schmerz und Seligkeit (Gemäldegalerie Berlin)

An Heiligen und Engeln ist Hugo van der Goes nicht so sehr interessiert: Mariä und Jesu Gesichter sind durchgeistigt, es fehlt ihnen Leben und Ausdruck. Je weiter es nach außen geht in den Gemälden, desto spannender wird es. Die Propheten, die in der Breitleinwand-Szene der Anbetung der Hirten den grünen Vorhang mit den Händen zur Seite halten, einer blickt hinein, einer blickt hinaus aus dem Bild, der Bart läuft zauselig aus, ungebändigt die wenigen Haar. Aufregend die beiden, die von links herbeistürzen, Hals über Kopf, selbst vom Maler, der diesen decisive moment festhält, in ihrem Schwung kaum zu bremsen. Was spricht, sind die Gesichter der Hirten, sind auch ihre Hände, wobei das auch für die Apostel und für die Könige aus dem Morgenland gilt: Wundersam fällt in der Anbetung der Könige auf die zum Herzen erhobene offene, nicht zum Gebet gefaltete Hand des zweiten Königs von links ein auch durch den Mauerdurchbruch rechts hinten nicht wirklich erklärliches überirdisches Licht. Und im dichten Apostel-Gedränge um die entschlafene Maria werden Hände gefaltet, gekrümmt, sie weisen und zeigen, eine liegt auf dem Bett und zwei gefaltete Hände drängen sich, fast wie vom Körper getrennt, von links noch herein. Faszinierend das Ensemble der Kopien und Nachahmungen der Großen Kreuzabnahme, von der nur ein (ins Bräunliche entfärbtes) Fragment des Originals noch existiert. Und doch ist der Ausdruck der männlichen Hintergrundfigur, die auf dem Fragment neben Maria in den Vordergrund rückt, um ein Entscheidendes eigener, weniger entzifferbar in Schwere und Trauer und ungeschlachter Resignation als derselbe Mann in den Kopien. Ein Jammer, dass sich der Rest so sehr ins Dunkel des nicht Überkommenen entzieht wie so viele andere Bilder und Daten des Lebens von Hugo van der Goes, dessen Werk zur biografischen Sensation seines Wahnsinns (den Emile Wauters in einem Gemälde aufs Klischee gebracht hat) keinen Anhaltspunkt gibt. (80cp)

 

13.4. Adua e le compagne (Antonio Pietrangeli, I 1960)

Adua (Simone Signoret) und ihre Partnerinnen geben das Bordell auf, die Kundschaft stellt zum Abschied noch einen großen Kranz vor die Tür. Es geht zur Bank, dann hinaus aufs Land, im Gebäude, das für Aufbruch und Neuanfang steht, ist mehr als genug noch zu tun, bis es zur Eröffnung bereit ist: Das Restaurant trägt Aduas Namen, vom Kloster nebenan kommt ein Bruder, Gäste stellen sich ein, eine der Frauen holt ihr Kind zu sich zurück. Eine Befreiung, aber auch Selbstzweifel sitzen am Tisch. Das Geld reicht nicht, auch andere zentrifugale Kräfte machen sich sogleich ans Werk: in Richtung Ehe und Bürgerlichkeit. Ein Mann taucht auf (Marcello Mastroianni), der Autos verkauft, und mit Adua Absichten hat, mit anderen Frauen hat er sie auch. Der Kredit, den Adua und ihre Freundinnen aufnehmen müssen, hat einen Haken: Der Geldgeber fordert die lukrative Wiederaufnahme von Bordelltätigkeiten im Obergeschoss. Aufbruch, Frauensolidarität bleiben ein Traum, sie haben die Initiative ergriffen, die patriarchale Gesellschaft macht Druck und zwingt sie in die Rollen zurück, die sie hinter sich zu lassen versuchten. Gerne hängt der Film mit den Frauen ab, draußen im Garten, auch in der Küche, baut auf, bewegt sich im leuchtenden Schwarzen und Weißen, in Taglicht und Nachtschatten durch Stadt und Land, durch das erstrahlende neue Haus. Mit bitterer Wucht fährt Pietrangeli den Aufbruch dann gegen die Wand. Ein Schönes war, hieß Adua e le compagne. Und durfte nicht sein. Heftiger Regen, Adua ist zurück auf der Straße. (74cp)

(5 x Antonio Pietrangeli)

 

La grande frousse (Jean-Pierry Mocky, F 1964)

Das Monster geht um, hat sehr schiefe Zähne und sieht aus, wie von einem Trinker gebastelt. Ein Trinker ist durchaus in der kleinen Stadt Barge unterwegs, es ist der geachtete Arzt, der auf geraden Wegen in Schlangenlinien fährt. Nach Barge verschlägt es den Polizisten Triquet (Bourvil), denn hier versteckt sich der Fälscher Mickey, der die Guillotine, die klemmte, mit knapper Not überlebte (es hat stattdessen den Henker erwischt). Triquet ist eine eifrig-naive Bourvil-Figur mit Trencoat und kleinen Sprüngen im Schnitt. Hinter den Fenstern zittern die Menschen, das Monster lauert irgendwo draußen, der Polizist kämmt sich das Haar und gibt der Luft Küsschen, der Bürgermeister lacht ohne Grund und hat einen mächtigen Stuhl, der sich dreht, auf der Wendeltreppe stehen Bedienstete ohne Auftrag und Grund, der Metzger haut eine Hand ab, Würste fliegen, in der Scheune treibt es dieser mit jener, es regnet sehr viel, wenn auch meist lokal sehr begrenzt, auf der Tonspur ist es ohne Unterlass zugig. Alle sind, typisch Mocky, immer etwas neben der Spur, Charaktermasken, zur Dorf-Satire bestellt. Die Demaskierung des Monsters ändert so wenig, wie sonst irgendetwas irgendetwas ändert, der Tod geht um, alles bleibt trotzdem beim Alten. Der Gesuchte wird geschnappt, Triquet/Bourvil springt davon, der Irrsinn ist wieder bei sich. (71cp)

 

12.4. Der Rat der Götter (Kurt Maetzig, DDR 1950)

Im Westen wäre dieser Film nicht denkbar gewesen und wurde entsprechend verboten. Maetzig und Friedrich Wolf (Drehbuch) machen aus der Aufarbeitung des I.G.-Farben-Prozesses einen Film, der von der «Machtergreifung» bis in die damalige Ludwigshafener BASF-Gegenwart reicht. So ehrenwert das Anliegen ist, die ideologische Einsinnigkeit ist schwer zu ertragen. Da steckt die Zigarre im US-amerikanischen Mund, der pafft in verkommener Weise. Wie auch Hitler, es gibt zwischendurch Dokumentarmaterial, hier weniger die Macht ergreift denn als Knecht der Industrie inthronisiert wird, der die Aussicht auf Krieg mehr als recht ist. Der I.G.-Farben-Chef ist die spitzbärtige Karikatur des selbstgerecht Bösen, riesengroß das Bild des Rats der Götter, die im Kapitalismus die Geschicke der Menschen raffend und paffend lenken und leiten. Als Figur mit Gewissen, einsinnig aus Licht und Schatten gebaut, ein Doktor Scholz, der die gute Wissenschaft will und dabei, mitschuldig werden, die bösen Giftgase schafft: Es gibt kein richtiges Wollen im falschen. Scholz ist als einer, der Einsicht entwickelt, Identifikationsfigur für die deutschen Betrachter: Als einziger bekennt er sich im Prozess zur Verantwortung, verweigert, anders als sein Sohn, die Mitwirkung am ungebrochen kriegslüsternen Schaffen. Am Ende fliegt, wie gleichzeitig in der Wirklichkeit der Entstehung des Films, ein Teil des Werks in die Luft, mit Hunderten Toten. Maetzig ist sehr bemüht, das bis zur Lächerlichkeit plakative Drehbuch in Szenen umzusetzen, die den Eindruck von Kino vermitteln. So werden Vordergründe vor Hintergründe gerückt, die Kamera bewegt sich inspiriert durch Räume, in denen die Worte wie Blei zu Boden sinken. Alles ist vom ersten bis zum letzten Wort Propaganda, wähnt sich selbst auf der richtigen und sicheren Seite. So etwas führt sehr zwanglos zu Verblendungen eigener Art. (52cp)

 

Tomb of Sand (Geetanjali Shree, Hörbuch, Sprecherin: Deepti Gupta)

Tür auf, Tür zu, Geschichte einer Familie, in deren Zentrum die achtzigjährige Ma: Sagt sich leicht, aber schon die Sache mit der Tür, mit der der Roman beginnt und dann auch endet, zieht sich über einige Seiten. Erst steht sie, Ma, die Mutter, nach dem Tod ihres Manns nicht mehr auf, dann verschwindet sie, dann wird sie mit Stock zum wishing tree, dann kehrt sie, es wird nun vollends allegorisch hinter die Grenze Pakistans zurück, Gang durch die Wüste, sie wird immer kleiner, die Tochter, die dabei ist, altert umso geschwinder, die Krähe und das Rebhuhn geben ihren Senf dazu, von der Erzählerin ganz zu schweigen, die von Anfang bis Ende über das Garn entrollt, das sie entrollt, und zwar hierhin und dorthin entrolltund zwischendurch spielt sie auch einfach auf der Stelle damit, eine Stimme, die der Geschichte, die sie mehr amplifikations- als abschweifungsfreudig entfaltet, verschiebbare Grenzen setzt. Willkürlich, aber gerade die Unvermeidbarkeit des Willkürlichen ist vielleicht sogar das Zentrum des Ganzen, weil sie ins Wuchernd-Lebendige umschlägt: Think of a story as a living being. So überlässt sie sich immer wieder, was die Übersetzung virtuos wiederholt, der höheren Gewalt des living being der Sprache, folgt Assonanzen und Puns, es ist ein munteres Treiben, aktiv und passiv zugleich, das abruptes Aufhören, Umschwenken oder Neu-Ansetzen, aber keine Stoppregeln kennt. Das ergebt einen Erzählraum, der in alle und aus allen Himmelsrichtungen und Wissensgebiete(n) durchlässig ist, es schwirren Zitate aus Hindi-Filmen (Sholay, nicht zuletzt) und Namen von Autorinnen und Autoren durchs lebende, webende Sprachgebäude, das am Ende so vollgestopft, wie es ist, fast schon kein Resonanzraum mehr ist. Auch drin, neben tausend anderen Dingen: Rosi/Rosa, nonbinäre*r Hijra als Pflegeperson, während Ma selbst ein Zysten-Penis aus der Vagina wächst. Ein Schriftstellerkongress nach der Partition, Gender- und Border-Crossing als Prinzip, fundamental transformativ und erschöpfend. Könnte viel länger sein und wäre besser doch um einiges kürzer. (64cp)

(International Booker Longlist 2022)

 

11.4. Shaft (Gordon Parks, USA 1971)

Who’s the black private dick that’s a sex machine to all the chicks? Natürlich Richard Roundtree mit seinen Koteletten. Der ganze Film ein Aneignungsding: Gordon Parks hat sich den Roman, die Figur des weißen Autors Ernest Tidyman genommen, keine große Literatur, und etwas daraus gemacht, für das der Begriff Blaxploitation dann doch nicht ganz trifft. Es ist, wenn the cat that won’t cop out zu den unveränglichen Klängen von Isaac Hayes in New York unterwegs ist, fast in erster Linie sogar eine Dokumentation des Sich-Bewegens durch die Straßen der frühen siebziger Jahre. Des Herumsitzens in Räumen der Weißen in schluffigen Kleidern mit hängenden Schnäuzern. Vom Detektivroman stammen die Coolness, die Revolver, die Entführungsgeschichte, die grandiose Befreiung mit phallische spritzendem Feuerwehrschlauch; es kommt viel schwarzer Pride und die vermutlich ziemlich authentische Seediness der Stadt, des Mülls und des Sterbens dazu. Elegant gefilmt ist es nicht, durchaus im Widerspruch zu Isaac Hayes’ funkiger Smoothness.  Das eine, das Dokumentarische, ist Gordon Parks’ Ding, das andere, die Genreelemente, ist es eher nicht. So rumpelt das alles gegeneinander, ohne sich ineinander zu fügen. Jedoch rumpelt das Gegenstrebige insgesamt reizvoll. (72cp)

 

Sie tötete in Ekstase (Jesús Franco, BRD/Sp 1971)

Sie tötet, das ist mal sicher, aber in Ekstase, ich weiß ja nicht. Beim Sex in der Tat, mit denen, die sie mit Messer und Schere traktiert, Schwänze schneidet sie ab, das weibliche Opfer wird schick mit einem halbtransparenten aufblasbaren Gummikissen erstickt. Angeknüpft wird der fatale Kontakt über die John-le-Carré-Lektüre: A Small Town in Germany.  Insel, Hochhaus, Tourismus, hinein in den Strand, hinauf auf das Haus von Ricardo Boffil, energische Zoomsso, als könnte man auch mit ihnen irgendwas töten. (Kann man vielleicht auch, nämlich Sinn und Verstand.) Sie, Soledad Miranda, tötet, am Ende vollends verrückt, um ihren Mann, den Embryoforscher Dr. Johnson erst fantasmagorisch dann im Wahnsinn real nekrophil wiederzubeleben (Fred Williams, große Karriere in Fotoromanzen, der Mann, der bürgerlich den schönen Namen Friedrich Wilhelm Löcherer trägt), und sie tötet die Damen und Herren Kollegen, die seine Forschung mit sehr guten Gründen verbieten. Manfred Hübler und Sigi Schwab improvisieren jazznah dazu, Jess Franco spielt selbst mit und bekommt ein Messer tief ins Genick. Als Kommissar ermittelt Horst Tappert mit so hohlen wie tiefsinnigen Sprüchen, die klingen, als ob sie von Herbert Reinecker stammten; hat er für Derrick schon mal geübt. Sleaze ist eine alchemistische Sache. Manchmal kommen die haarsträubenden Ingredienzen magisch zusammen. Und manchmal bleibt das Abstruse auf ziemlich öde Weise abstrus. (55cp)

 

10.4. Holy Lola (Bertrand Tavernier, F 2004)

Géraldine und Pierre fahren nach Kambodscha und wollen ein Kind, Tavernier fährt in das Land und will einen Film. Es ist die Geschichte französischer Paare im Kampf gegen eine korrupte Adoptions-Bürokratie, ganz sicher nach nur zu wahren Fällen geschildert als eine Art Belagerungskrieg, in dem nach Beseitigung der einen Hürde die nächste auftaucht, in dem alle beteiligten Stellen neben den offiziellen Transaktionen unter der Hand noch anderes wollen (und, das wird ebenfalls deutlich, wegen der geringen Gehälter auch brauchen). Es ist gesetzlich geregelt, dass die Waisen (so sie es sind, ganz klar liegt das natürlich nicht immer) aus dem Land in den Westen adoptiert werden dürfen, von der US-Konkurrenz um die Kinder wird die Tatsache, dass es sich um Menschenkauf handelt, der auf einem enormen Wohlstandsgefälle beruht, weniger als von den Franzosen verscheiert: Da sind ganz andere Summen im Spiel. Die Not der kinderlosen Französinnen und Franzosen, die zuhause viele Jahre auf Adoptionschancen warten, ist wiederum groß, zwischen Tragödie und Komödie schwankt die weit in den Bereich des Identifikatorischen reichende Sympathie, die das Drehbuch mit ihnen hat. Alle kambodschanischen Beteiligten sind als mal freundliche, mal verbrecherische Randbedingung gezeichnet, ihr Verhalten ist meist verständlich, auf ihre Seite, in ihre Perspektive zu wechseln unterlässt der Film, wohlwollend gesagt: er belässt es bei Andeutungen, maßt sich den Blick der anderen nicht selbst an, viele Impressionen aus der Stadt und vom Land nimmt er mit, der turbulente Verkehr, Beseitigung von Minen am Rand der Straße, Besuch in der S-21-Gedenkstätte, Rithy Panh spielt auch mit, es ist ein recht reiches Bild. Nur kann Tavernier all das mit keiner anderen Haltung tun als derjenigen von Touristen, die kommen, Abenteuer erleben, etwas nehmen und wieder verschwinden. (73cp)

(Bertrand Tavernier)

 

Wer im Glashaus liebt... (Michael Verhoeven, BRD 1971)

Das Glashaus ist ein Maisonette-Dachgeschoss am Graben mitten in Wien, im richtigen Leben Friedensreich Hundertwassers Atelier. Hier wird es zum Kammerspiel-Ort, später geht es hinaus aufs Dach, ganz am Ende ist Igor (Hartmut Becker), Werbefuzzi mit 38.000 Schilling im Monat, als nackter Mann auf den Straßen der Innenstadt unterwegs und wird von der Polizei abgeführt. Die Bilder (Igor Luther) sind sehr 16 mm. Die Möbel werden am Ende zerhackt, im Küchenschrank ist die Axt, die Menschen sind weniger angezogen als nackt. Igor nämlich, mit seiner Geliebten, Christine (Marianne Blomquist), auf der Couch, es ist heiß, sie ziehen sich aus, alles ist träge, sie reden und reden. Dann klingelt es, das ist Hanna (Senta Berger, sie hat den Film ihres Mannes auch produziert), die die Ehefrau ist. Also Dilemma. Sie reden und reden. Und Hanna und ihr Mann haben auch Sex. Klingt einigermaßen experimentell, was es auch ist, und wäre interessant, wäre das, was sie reden, nicht so prätentiös existentiell und anitkapitalistisch, ein Phrasengebinde, es wirkt im ganz schlechten Sinn improvisiert. Es wird sehr großen und schlichten Gedanken sowie mit einem Revolver gefuchtelt, es ist eine Spielzeugpistole, es sind Spielzeuggedanken. Dreimal Großaufnahmen der Gesichter im freeze frame, es geben die Schauspieler*innen (in der Fiktion) ihren Senf zur Lage der Dinge. Wir müssen unser Leben ändern. Vielleicht Sex mal zu dritt? Der Film ist sehr ein Kind seiner Zeit. Und leider nicht sehr gescheit. (48cp)

 

9.4. Les drageurs (Jean-Pierre Mocky, F 1959)

Ganz Paris ein Pick-up-Paradies. Ein Spiel, zu dem das Übergriffige gehört und die Rollen-Asymmetrie. Er will und sie will, aber er ist es, der die Annäherung sucht; die Frauen, die suchen, sind nur die Professionellen, die sind raus aus dem Spiel. So weit, schwer auch erträglich. Im übrigen jedoch in seiner fundamentalen Unschuld zusehends reizend. Ein Kinderspiel ist das Ganze für einen nicht wirklich erwachsenen Mann wie Freddy, den Aufreißer-König, der alle Tricks kennt und den schüchternen Bankangestellten Joseph (Charles Aznavour) für eine Nacht unter seine Fittiche nimmt. So geht es in Passagen, das Anbändeln fast schon choreografiert wie ein Tanz; es geht in die Bar und es geht mit zwei Schwedinnen nach Montmartre, Freddys Auto muss hinten aufgeklappt werden, damit für mehr als zwei darin Platz ist. Es regnet, dann ist es auch wieder trocken. Man verspricht sich Dinge fürs Leben, sie sind im nächsten Moment, ein paar Tränen oder auch Prügel später, gleich wieder vergessen. So nämlich in der längsten Szene, einem von Verlobter und Verlobtem am selben Ort parallel gefeierten Junggesellenabschied. Davor jedoch sitzt in einem sehr magischen Moment Anouk Aimée mit ihrem kleinen Sohn in der Nacht an einem Tisch. Sie meint es ernst und erst beim Gehen ist ihre Behinderung zu erkennen. Sie geht, Freddy zögert, das wäre nun wirklich eine Sache fürs Leben, hinter der nächsten Ecke hat sie sich in Luft aufgelöst. Freddy fährt solo nach Hause, Joseph dagegen hat eine Krankenschwester gefunden, seine Träume haben, weil sie bescheiden sind, was Reelles. (77cp)

 

Maigrets Memoiren (Georges Simenon, F 1950, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Nun spricht Maigret. Schreibt vielmehr seine Memoiren, um die Dinge, die Simenon schief dargestellt hat, gerade zu rücken. Von der ersten Begegnung mit dem allzu selbstbewussten jungen Sim (so nennt er sich zu Beginn) berichtet Maigret, ein Recherche-Besuch. Dann die ersten Romane, Maigret wird berühmt, es stimmt das eine oder andere nicht, wobei sich Simenon mit der Idee einer tieferen Wahrheit herauszureden versucht: Es muss, der Literatur wegen, die eine oder andere Vereinfachung sein. Maigret, das erzählende Ich, verzichtet dann doch auf die Detail-Korrektur, dabei hat er alle Fehler in den Bänden blau angestrichen. Und das eine oder andere wird doch angesprochen: die Melone, die er schon lang nicht mehr trägt, der Samtkragenmantel, gab es mal, gibt es nicht mehr. Ganz zum Schluss wird von Madame Maigret, die in Simenons Büchern viel biederer erscheint, als sie ist, noch ein Zettel gereicht: Nicht Pflaumenschnaps, sondern Himbeergeist bringt sie immer mit aus dem Elsass. Davor geht der Kommissar die Kino-Maigret-Darsteller durch, Pierre Renoir schätzt er, von den anderen ist der eine zu alt, der andere etwas dick (ein Glück, dass ihm Depardieu erspart blieb), er erinnert sich an seinen Vater, den Schlossverwalter, der viel zu jung starb, an sein Medizinstudium, die Schicksalsflicker-Metapher, die er selbst gefunden hat und nicht Simenon. Es ist, alles in allem, ein sehr bodenständiges, anrührendes Meta, ein Charakterbild, das in sanften Absetzungbewegungen von Simenon (mit dem der Kommissar im richtigen Leben dieser Fiktion befreundet ist) den eigenen Mythos durchs Verweis aufs Reale einerseits erdet, was aber andererseits so wenig out of character ist, dass er ihn in dieser Blickwendung erst recht arrondiert. (80cp)

(Maigret 35)

 

8.4. P.S. (Roland Gräf, DDR 1979)

Peter, der aus einem Kinderheim kommt, geht erwachsen, und nicht erwachsen, hinaus in die Welt. Er lernt Sabine kennen, die ihm gefällt, er gefällt ihr auch, bald hat sie ein Kind. Er weiß davon nicht, denn er lebt schon mit Margot Giese (Jutta Wachowiak) zusammen, die ihm in die Welt, Berlin, hineinhelfen sollte, die eigentlich Opernsängerin ist, fast zwanzig Jahre älter als er, mit nicht mehr ganz kleinem Kind. Peter hat einen Job auf dem Bau, mit einem Auto, das ihm nicht gehörte, hat er Ärger bekommen, mit dem Motorrad fährt er in den Ferien so auf und davon, wie man in der DDR auf und davon fahren kann: Für die Ostsee sind die Wellen am Strand immerhin hoch. Peters Ankunft in der Welt ist holprig, Stöcke und Steine, er trifft auf Verständnis, aber dieses Verständnis ist durchaus begrenzt. Sabine, die Frau, die er zurücklässt, nimmt Tabletten und überlebt. Am Weinbergspark tauchen Männer mit BMW-Motorrädern auf, da ist alles andere nicht mehr so wichtig. Statt «wenn er nicht gestorben ist» gibt es zuletzt einen Strauß Blumen von ferne und, in die Wand zwischen anderes gekritzelt, nur ein P.S. (73cp)

 

Giornata nere per l'ariete (Luigi Bazzoni, I 1971)

Da ist Franco Nero als Reporter, da sind der schönen Frauen recht viele, manchmal nackt, öfter tot, da ist einer, der, gerne auch POV, umgeht mit Händen, die würgen, und Messern, die zustechen wollen, vor allem aber ist der Film ein großes Solo für Vittorio Storaro, den Kameramann, er liegt, selbst im Giallo-Kanon ein Außenseiter, eher unerwartet zwischen den Bertolucci-Kollaborationen Il Conformista und Ultimo Tango a Parigi, ein paar Jahre später dann Apocalypse Now und heute vor allem noch Woody Allen. Von den intimen subjektiven Mördermomenten zu Licht- und Schatteneffekten, mit Lamellen und Jalousien dazwischen, Keilen aus Helligkeit im dunklen Beton, einem verlorenen Menschen im All-Over aus weißen Treppen, dazwischen eine rasende Rennwagenfahrt im vibrierenden Bild, Bewegung durch die Straßen der Stadt zu synchroklappernden Schritten, durch den Park mit raschelnden Blättern, unter der Brücke am See, da ereignet sich der herbeibeobachtete Mord an einer Prostituierten. Dazu vergleichsweise funktionale Morricone-Musik, durch die Abruptheit der Montage ist die Sache schon exzentrisch genug. (69cp)

 

7.4. Solo (Jean-Pierre Mocky, F 1970)

Unter Feuer: Die beste Pariser Gesellschaft, reiche Männer, die es sich mit nackten jungen Frauen gut gehen lassen, werden von jungen Revolutionären mit Salven belegt. Die Polizei in Gestalt zweier Biedermänner kommt einem Virgil auf die Spur, weil der Verfasser die Wörter des Drohbriefs nicht nur aus Le Monde und L’humanité, sondern auch aus dem Anarchistenblatt Fossoyeur (Totengräber) entnahm. Der junge Mann verlässt seine Bude, mit Gewehr im Gepäck. Sein älterer Bruder Vincent (Mocky selbst), der Geiger und Juwelendieb ist, staubt einen Beischlaf bei der vollbusigen Nachbarin ab. Die Dialoge suchen attraktive Mittellagen zwischen Unernst und Ernst, es geht beinahe ernsthaft blutig zu, Georges Moustaki spielt zu allem das immerselbe Gitarrenmotiv, die politischen Phrasen bleiben dagegen in erster Linie Symptom für die mangelnde Seriosität oder auch reale Hilflosigkeit der Linksradikalen. Mocky schlägt sich dabei entschlossen zwischen die Seiten, jagt mancherlei in die Luft, legt die Kamera schräg, filmt eigentümlich wackelnde Fahrten, findet einen Ton der Künstlichkeit, der die Angebote des Genres nicht ausschlägt und das kritische Bewusstsein der Jugend nie vollends denunziert. (72cp)

 

Giù la testa (Sergio Leone, I 1971)

Was John Mallory in die Luft sprengt, setzt die Plansequenz wieder zusammen. In die Fugen wird Ennio Morricones bis zur Debilität wiederholtes Shon Shon Shon hineingespachtelt. Der Attraktionen sind viele, Rod Steigers eindrucksvoller Papa-Koloss von einer Figur, die zu hundert Prozent aus nicht wasserlöslichem method acting und also dem immer sichtbaren Draufgeschafftsein besteht, James Coburns zu wandelnder Coolness mit enormer Sprengkraft verfestigter, seinen Bakunin von sich werfender irischer Ex-Revolutionär. Es wird à la Goya erschossen, die Kamera gleitet über die Höhle der Leichen, bekommt von den toten Augen der Hingeschlachteten niemals genug. Sind so viele Großaufnahmen, Augenschlitze, Kampfgesichter, Vergeblichkeitsblicke. In die Flashbacks in die irische Zeitlupen-Weichzeichner-Revolution gerät aus Versehen sogar eine Frau, das passiert sonst eher nicht, die einzig wahre Liebe ist aber die zwischen dem mexikanischen Mann aus dem Volke, er trägt das Herz auf der Zunge, und dem Intellektuellen aus dem geträumten Europa, er fährt in der Wüste Motorrad. Tod, Liebe, Hoffnung, Freundschaft, Trauer, Revolution: Alles wird hier in Form schockgefrorener Sentimentalitäten verabreicht, deren epische Monumentalität das vom Sinn befreite Shon-Shon zum Glück mit schöner Regelmäßigkeit unterläuft. (67cp)

 

6.4. Un drôle de paroissien (Jean-Pierre Mocky, F 1963)

Verarmt sitzt der Adel ohne Möbel in einst prächtiger Wohnung. Müßiggang ist das Lebensprinzip, Arbeit im engeren Sinn kommt deshalb nicht in Frage. Der Sohn aber hat eine schöne Idee: Warum sich nicht aus den Opferstöcken der vielen Pariser Kirchen bedienen, treuherziger Augenaufschlag des Understatement-Komikers Bourvil, er trägt sein Haar mittelgescheitelt. Er schreitet zur Tat, die Werkzeuge werden verfeinert, eingespeichelte Karamellbonbons erst (Haftkraft!), dann ein batteriebetriebener Kleinstaubsauger, zuletzt werden die Opferstöcke zersägt. Die Polizei beginnt den Hasen zu riechen, ist aber dümmer, als sie selbst es erlaubt, ein Freund, der Zahntechniker ist, wird zum Komplizen, es beginnt ein Räuber-und-Gendarm-Spiel der abgrundtief albernen Art. Verkleidungen und angeklebte Bärte, eins führt zum andern, Mocky folgt in aller inszenatorischen Unschuld (das Portal von Notre-Dame als tapetenartige Rückprojektion) der Logik der Sache, pfeift auf Realismus, lässt das Ganze, sieht man von einer farbigen Traumsequenz mit Polizei-in-Soutanen-Choreografie einmal ab, aber auch nicht ins Surreale entgleiten. Es gleitet, oh ja, sehr durchaus, in den Wahnsinn, der bleibt jedoch hell und von zarter Unschuld, Bourvil geht immer voran und der Film und wir auch gehen mit, bis zum glücklichen Ausgang. (74cp)

 

Your Name (Makoto Shinkai, J 2016)

Ein Komet als Himmelsspektakel, das auf Erden Katastrophen anrichten kann. Beim Unglück ist etwas aus den Fugen geraten, im Traum findet ein Körpertausch statt zwischen der jungen Frau aus der Provinz und dem jungen Mann aus der riesigen Stadt. Er erwacht als sie und betastet, den Witz nehmen wir mit, erstaunt ihre/seine Brüste. Sie erwacht als er und bezirzt mit seiner femininen Seite die begehrte Kollegin. Ihr Vater ist Bürgermeister, aber auf die Politik kann man nicht zählen. Er macht sich in die Provinz auf die Reise, kommt zu spät und findet doch ein Wurmloch, durch das er in der Vergangenheit Schlimmes verhindert. Der Komet steht für Katastrophen anderer Art, Fukushima, Hiroshima, Nagasaki, es ist für Shinkai aber kein Problem, das Enorme mit Pop-Gesang, die Großstadt mit der Provinz, den Alltag mit dem denkbar Außeralltäglichen in Verbindung zu bringen. Eine Verbindung, in der vieles ausgerenkt bleibt, das Märchenhafte und das Reale, das Grauen und die Idyllik stehen im Gesamtbild recht schroff nebeneinander, aber die manchmal durchaus brutalen Unwuchten, die Makoto Shinkai erzeugt und wirken lässt, sind nicht bug, sondern feature der Darstellung einer nicht mehr zusammenzufügenden Welt. (74cp)

 

5.4. Flamingo Road (Michael Curtiz, USA 1949)

Südstaatlich satt wird eine Welt mit Namen Boldon ausgemalt, hingesetzt. Da sitzt, als umfangreiche Verkörperung des abgrundtief Bösen, Sydney Greenstreet als Sheriff Titus Semple im Stuhl auf der Porch und zieht die Fäden. Besonders jämmerlich zappelt an einem von diesen ein Mann, der sich Field nennt (von Fielding), einen albernen Cowboyhut auf dem Kopf trägt und dem Sheriff alles, am Ende sein Unglück, verdankt. Alles gerät aus dem Gleichgewicht des Bösen, als der Zirkus in die Stadt kommt und, als er fluchtartig wieder abreisen muss, eine Frau zurücklässt, die eben noch exotisiert tanzte, nun aber, es ist Joan Crawford, bleibt, Köpfe verdreht, den Machenschaften des Sheriffs widersteht. Den einen Kopf, nämlich Fields, dreht Titus mit Gewalt und mitsamt Cowboyhut wieder zurück, in Richtung zum Scheitern verurteilte Ehe mit einer recht öden Annabelle. Er hat aber die Rechnung ohne den Politiker Dan Reynolds gemacht, der sich Joan Crawford schnappt, die es so ins Anwesen in der Prachtstraße, der Flamingo Road, schafft. Natürlich hat Titus, schon aus Prinzip, etwas dagegen. So weit hat das seine nicht einmal sonderlich zur Übertreibung neigenden melodramatischen Meriten, wird im letzten Viertel aber mit wenig plausiblen Umschwüngen (Joan Crawford kommt, ohnehin etwas maskenstarr, mimisch nicht mehr hinterher) holterdipolter in Richtung Happy End prozessiert. (65cp)

(10 x Michael Curtiz)

 

Le dernier des six (Georges Lacombe, F 1941)

Sechs Männer lungern in einer Wohnung wie in einer Höhle herum; in einer solchen, aber tatsächlichen Höhle, wird die Kriminalgeschichte zuletzt ihre Auflösung finden, der Schurke wird dort demaskiert und versinkt blubbernd, nimmerwieder gesehen. Dazwischen liegt eine Geschichte, die ihre absurde Konstruktion zum Glück durchweg als Grund nimmt, sich selbst als Farce zu begreifen. Die Männer nämlich schließen einen Bund, in alle Welt (es dreht sich der Globus) auszuziehen, um ihr Glück zu suchen, um fünf Jahre später solidarisch zusammenzulegen, was sie haben, der eine mehr, der andere nichts, ganz egal. Dann also, rasche Blende: fünf Jahre später. Einer kommt gar nicht zurück, die anderen werden, es ist ein Dezimationsfilm à la Agatha Christies “And Then There Were None” (es liegt allerdings ein bereits 1930 geschriebener Krimi von Stanislas-André Steeman zugrunde), einer nach dem anderen von einem geheimnisvollen Macintosh-Mann eliminiert. Die Spannung hält sich, weil: Farce, in Grenzen. Dafür legt Pierre Fresnay als Kommissar Wenceslas Voroboevitsch (kurz: Monsieur Wens) recht komische Auftritte hin, seine Wendungen mit “je suis patient, mais…” sind ein running gag als geflügeltes Wort. Außerdem gibt es aus eher fadenscheinigen Gründen Revue-Einlagen, bei denen die Kamera manches von Busby Berkeley gelernt hat: Recht nett anzusehen. Das alles nimmt sich so wenig ernst, dass man es auch nicht ernst nehmen kann. Die Schauwerte sorgen dafür, dass es dann auch nie ernsthaft langweilig wird. (66cp)

(Continental Films 2)

 

The Case of Hana and Alice (Shunji Iwai, J 2015)

taz-dvdesk (77cp)

 

4.4. Le doulos (Jean-Pierre Melville, F 1962)

Zwei amerikanische Schlitten, die man von eher oben beim Einparken sieht, schräg und gerade. Die Juwelen, das Geld, sie werden geraubt, vergraben, die Laterne hält Wacht, sie wechseln Orte und Hände und werden in Taschen gesteckt. Der Hut, er steht für den Polizei-Informanten, hat es in den Titel geschafft, sitzt auf Belmondos Kopf so lange fest, bis er am Ende, letzter Blick in den Spiegel mit Sonnenkranz, letztes Geraderücken zum Tode, anstelle des Kopfes gerollt ist. Der Polizist, der auf dem Revier beim Verhör im Kreis geht, im Kreis, wie die komplizierte Geschichte von Mord und Verrat, Vertrauen und Täuschung, ausgezirkelt, für die unterschiedliche Deutung der Motive sehr offen. Ein Mobile, bei dem erst Serge Reggianis Maurice Faugel ins Zentrum gerückt ist, dann in den Knast und nach hinten verschwindet, es rückt Belmondos Silien, geheimnisvoll, dunkel, mit Hut als Herr der Intrige nach vorne, sitzt im Schatten am Tisch, verschiebt Menschen als Leichen über ein Schachbrett, alles geht Zug für Zug so, wie er es sich ausgedacht hat, zwei bis drei Männer bleiben übrig, weil die Frau aus der Gleichung längst rausgekürzt ist. Bis dann der Regen kommt, der große Regen, in Strömen, die Sintflut, die noch die Überlebenden auslöscht, sie verschwinden wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand. (80cp)

 

Madame Maigrets Freundin (Georges Simenon, F 1950, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Madame Maigret lässt was anbrennen, denn sie kommt aus reinem Zufall vor einem Zahnarztbesuch neben einem zukünftigen Fall ihres Gatten zu sitzen: Eine Frau auf der Bank neben ihr erspäht etwas, eilt davon, lässt das Kind bei Madame Maigret zurück. Die hat auf die Schuhe geachtet und sucht auf eigene Faust später den Hut. Wie das mit dem des Mordes verdächtigen Buchbinder sowie einem schokoladenbraunen Wagen im Wasser mit Leiche darin sowie auch einem blauen Anzug und überdies einem Clown und Juwelen und Siegeln zusammenhängt, wird Monsieur Maigret mit Hilfe der Gattin nach und nach eruieren, abwartend und verhörend wie gehabt, wobei sich am Ende herausstellt, dass ein mit gar nichts sonst zusammenhängender Zeitungsbericht, der ein Foto von ihm und Madame Maigret zeigt, der Anstoß war, worauf ein Dominostein nach den anderen kippte. Am Anfang der Kette: Maigret. Am Ende: Maigret. Als Igel für recht viele Hasen, und nichts hat ihn zwischendurch aus der Fassung gebracht, nicht einmal das angebrannte Mittagessen zuhause. (71cp)

(Maigret 34)

 

Suzume (Makoto Shinkai, J 2022)

taz-Kritik (73cp)

 

3.4. Laissez-passer (Bertrand Tavernier, F 2002)

Durch die Betten, durch die Studios, durch die Landschaft (pedaliter), durch die Besatzung, durch Dick und Dünn, immer con brio, rast fast drei Stunden lang Taverniers Wiederbelebung der Pariser Nazi-Filmfirma Continental. Wobei Wiederbelebung noch zu wenig ist, weil es sich um eine bis zur Schnappatmung gehende, der Bändigung widerstrebende Wiederverlebendigung handelt. Am Irrsten sicher der Ausflug des wegen Grippe fiebernden Helden Jean Vevraive mit Zug, Rad und Flugzeug über den Kanal und wieder zurück, im Ton zwischen Screwball und Slapstick, wie grundsätzlich die Sprunghaftigkeit des Tons das zentrale Charakteristikum ist. Die Continental, die Figuren, alles oder das meiste hat es gegeben: Maurice Tourneur, Richard Pottier, Alfred Greven und natürlich Pierre Bost und Jean Aurenche, die Bertrand Tavernier glühend verehrte und mit denen er noch die Drehbücher zu seinen ersten Spielfilmen schrieb. Laissez-passer ist also Historienfilm als Hommage, ständiger Wider- und Einspruch gegen die gravitas von Nazi-Geschichten, retrospektive Rechtfertigung des Credos der Filme, wie sie die Helden des Films machten: Der Ernst der Lage ist so unbestreitbar, dass die zur Albernheit fähige schwarze Komödie bei hellem Bewusstsein eine legitime Umgangsform ist. Und so fährt die Kamera durchs Gewusel, unten Studio mit knappem Filmmaterial (und fast nichts zu essen), oben Bomben und Flak, hier Drohung mit Zensur, Gefängnis, Lager und Tod, dort Flirt hoch fünf, Akte der résistance in Drehbuch und Fotografie sowie Entwendung der Akten, dann wieder Dreh, ein Denkmal für Jean Devaivre, der den Film noch sah. Die letzten Sätze spricht als Voiceover Tavernier selbst, sagt auch Ich, als bezeugendes Siegel für die (cum grano salis der Nacherfindung) Wahrheit der geschilderten Begebenheiten. (78cp) 

(Bertrand Tavernier)

 

Leichensache Zernik (Helmut Nitzschke, DDR 1972)

Einen Mord bekommt man direkt zu Gesicht, der Mann in der Uniform steigt mit der Frau, die Schwarzhandel zu treiben versucht, in Berlin-Buch aus dem Zug. Im Wald erwürgt er sie, ihr Gesicht wird mit Säure entstellt. Andere Morde fanden, ähnlich ausgeführt, statt. Wir schreiben das Jahr 1948, Berlin ist omnia divisa in partes quatuor, die Sympathien liegen bei den Polizeikräften der SBZ, das versteht sich von selbst. Über die zugrundeliegende wahre Geschichte des Serienmörders Willi Kimmritz (der, anders als im Film, auch ein Vergewaltiger war) kann man lesen, dass gerade die SBZ bei den Ermittlungen eine unrühmliche Rolle gespielt hat, was hier anders aussehen muss. Im Zentrum stehen die Grenzen (sichtbar auf der vielfach ins Bild gerückten Karte), steht das Kompetenzgerangel (bis zur Unübersichtlichkeit), steht die Geschichte des Anfängers Kramm (Alexander Lang, der nachmals berühmte Theaterregisseur), stehen aber auch Ellipsen, die Tempo erzeugen, und stehen, das ist wohl vor allem Wolfgang Kohlhaases Verdienst, die Ränder: kleine Begebenheiten, Manierismen, schnippische, auch schroffe, auch komische Dialoge (von Regisseur Nitzschke, der Assistent war und einsprang, als Gerhard Klein plötzlich verstarb, allerdings mit manchmal allzu viel Druck inszeniert), besonders liebevoll behandelt wird die Tonspur - in der Umgebung ist immer was los, Klopfen und Zwitschern, Geräusche der Stadt und des Landes, das man nicht sieht, aber hört. Reizvolle Mischung also aus Zwischenmenschlichem, das bis ins Verschrobene geht, Mord, Verfolgungsjagd durch die Trümmer, Razzia im Bordell, Nachkriegsnot und Besatzungspolitik. Sehr schillernd und farbig, wenn auch schwarz-weiß. (72cp)

 

2.4. The Scarlet Hour (Michael Curtiz, USA 1956)

Die Femme ist blond und fatal, Carol Ohmart ist es, der ein Immobilienverkäufer verfällt. (Schwer zu glauben, dass ein Klotz wie Tom Tryon auch nur ein Apartment verkauft.) Sie ist die Frau seines Chefs, der bald etwas ahnt. Mit dem Eifersuchtsplot ist ein anderer, selbes Genre, ganz andere Sache, als schöne Verwicklung gekreuzt: Beim Stelldichein am Rande der Straße erfährt das Paar in flagranti von einem Juwelenraub-Plan; und plant den Überfall auf die Diebe - die Frau mit Herkunft aus Armut (sie zeigt dem Geliebten den Ort) will Zukunft in Reichtum, das ist ihr wichtiger als der Mann. Mondän genug ist ihr Leben, im Nachtclub singt Nat «King» Cole. Interessanter als die Haupt- sind Nebenmotive: die tapetengroße Karte der kalifornischen Küste an der Wand des Büros; der riesige Anrufbeantworter, dessen Erase-Schalter rechtzeitig und doch zu spät umgelegt wird. Das Anwesen mit dem Swimming Pool, der ominöse Fremde, der dort und dann auch anderswo auftaucht. Eine Szene im Plattenladen zwischen «Just Jazz» und Popular Music. Verblüffendster Credit: Frank Tashlin ist einer der Drehbuchautoren. Late Noir, Paramount-Produktion, handwerklich sehr gekonntes B-Movie, oder auch ein A-Movie auf der Suche nach dem gewissen Etwas, das dann doch hinter keiner Tür steckt. (67cp)

(10 x Michael Curtiz)

 

Ecologia del delitto (Mario Bava, I 1971)

Wenn dieser Film, der Ur-Slasher, ein Subjekt hat - und nicht nur durchbohrte, gepfählte, gehackte, erdrosselte oder sonstwie vom Leben zum Tode gebrachte Leichenobjekte (13 davon) -, dann ist es der mobilisierte Kamerablick; natürlich steckt Mario Bava selber dahinter, vielmehr darin. Fahrten über die Bucht, wie sie daliegt, und das Gehölz, wie es für diese Fahrten aufgestellt wurde. Aus der Unschärfe in die Schärfe gezogen, Zooms hinein und Zooms hinaus, wieder und wieder, und auf allen Wegen, hinein und hinaus, lauert nicht wirklich Spannung, dafür wird das rasch sowohl zu seriell als auch zu mechanisch, aber es lauert unbedingt: Suggestion. Dieses Subjekt in Bewegung zieht dem Whodunit, das man vermutet, mindestens so sehr den Boden unter den Füßen weg wie die Geschichte von der Naturparadieskauf-Spekulation, die die Bewegungen von Hackebeil, Lanze etcetera sehr behelfsweise motiviert. Und weil dieses Subjekt die Spannung und das Whodunit - hier kann man es wirklich mal sagen: - dekonstruiert, löst sich der Film immer wieder auf in bloßes Rauschen der Bildsuggestion. Dazwischen aber Dialoge und Schauspielerei wie ein Auffahrunfall, da kommt so viel zu Schaden, das machen die schärfsten und spitzesten Äxte und Lanzen nicht wieder heil. (65cp)

 

Jesus Christus in Flandern (Honoré de Balzac, F 1831)

Ein Ich-Erzähler, der für die Verlässlichkeit des Erzählten lieber nicht bürgt. Eine Fähre, die übersetzt von einer Insel in Richtung Ostende, kein Narrenschiff, aber doch Allegorie der ganzen Gesellschaft: Alle sind sie versammelt, die Selbstgerechten und der Bischof von bigotter Statur, die Armen, die Reichen, der Soldat, die junge Frau mit ihrer alten Mutter und die Mutter mit Kind. Außerdem der Steuermann, der Kurs zu halten versucht, als Sturm und Unwetter aufkommen, beinahe gelangt das Schiff auch ans Ufer, und kentert dann doch. Zuletzt: Christus, no less, charismatische Gestalt, dem die, die zu retten und zur Rettung bereit sind, folgen, er geht, und sie hinter ihm, über das aufgewühlte Wasser, während die Sünder, der Bischof besonders, ertrinken. Dieses wundersamen Geschehens wurde durch die Errichtung eines Konvents gedacht, die Fußspuren Christi im Sand waren lange zu sehen, wurden im Zuge der französischen Invasion 1793 anderswohin verbracht. Nun aber - es ist ein Nun kurz nach der 1830er-Revolution, ist der Ich-Erzähler vor Ort, in einer Kathedrale, wo ihm das Skelett einer Frau begegnet und die Kirche sich in einer Art Drogenrausch halluzinatorisch in Bewegung zu setzen beginnt. Die Frau wird schön und vergeht, Christus am Kruzifix blickt den Erzähler mit einer Mischung aus Bösartigkeit und Wohlwollen an, die Säulen und Bögen und die Figuren aus Stein tanzen, dann ruhen sie wieder. Der etwas gewaltsame Schluss aus dieser Vision: «Glaube, sagte ich zu mir, ist Leben! Ich habe soeben den Untergang einer Monarchie erlebt, nun gilt es die Verteidigung der Kirche!» (67cp)

 

1.4. Il magnifico cornuto (Antonio Pietrangeli, I 1964)

Ein geräumiger Film. Souverän und mit geradezu alta-modesker Eleganz bewegt sich die Kamera durch Zimmer und Flure, auf Partys, um Betten, gibt mehr Platz als sie nimmt und fühlt sich ganz wie zuhause, selbst im Hotel, in das sie Andrea Artusi (Ugo Tognazzi), nicht sehr großem Mann mit Hutfabrik, zum Seitensprung folgt. Er ist es, der seine Frau, jung und schön, so jung und schön wie Claudia Cardinale (Kleider und Frisur: sehr variabel), betrügt, den aber die Eifersucht plagt. Er wird zur komischen Figur, wenn nicht tragisch, lauert ihr auf, belauscht heimlich mit dem mobilen Separattelefon ihre Gespräche, rast hinter ihr her durch die leeren Straßen der majestätischen Stadt im gar nicht majestätischen winzigen Alfa, dessen Lenkradschloss ihm an anderer Stelle Probleme bereitet. Macht sich zum Horst vor den Gästen der Party, hat Fantasien, denen die Kamera wiederum mit Begeisterung folgt, unscharf verschleiert im mysteriösen Untergeschoss des Hotels, sehr scharf dagegen der Striptease im Bett, es werden Nummern gezogen, dann Streifen des raffinierten Unterkleids von Maria Grazia gerupft. Allzeit zum kühlen Spott bereit und auf sehr eigenen Pfaden unterwegs dazu die Musik, die Armando Trovajoli komponiert hat, jazzig pfeifend, den komischen Helden aufziehend, wenn nicht trollend. Es endet mit einer Versöhnung, an der alles falsch ist, heiß wird getanzt zu Jimmy Fontana, Andrea ist geheilt von der Krankheit, die nun erst ihre selbsterfüllenden Wirkungen zeitigt. (73cp)

(5 x Antonio Pietrangeli)

 

Seraphita (Honoré de Balzac, F 1834)

Natureingang, schroff sind Norwegens Fjorde, Klippen und Küsten. In diese Gefilde, keine höheren, vielmehr höchste, hat es Balzac verschlagen, hier will er ekstasebereit vom Jenseits berichten. Hinan schon zieht es die liebende Minna mit dem Mann, Seraphitus, der wundersam den eigentlich unbesteigbaren Faltberg mit ihr an der Seite erklimmt. Für Wilfrid, ein heroischer Tunichtgut, der die Weltgeschichte von Indien her aufrollen will, ist das Wunderwesen an Norwegens Küste jedoch kein Mann, sondern eine Frau, als solche will auch er sie für sich gewinnen: Seraphita. Androgyn schillernd ist Seraphitus/Seraphita vor allem eines: unendlich belesen, der menschlichen und göttlichen Weisheiten voll, in jeder Hinsicht nicht ganz von dieser Welt, die es zuletzt per Himmelfahrt und Seelenwerdung hinter sich lässt. Zwischendurch sitzt man, der Handlung ist durchweg nicht viel, beim Pfarrer, es wird, lang und breit, über die Grenzen der Wissenschaft diskutiert, vor allem aber Swedenborgs Theologie ausgeführt, als deren Verkörperung, vielmehr verkörperte Entkörperung, Seraphitus/Seraphita sich erweist. Statuesk und durchsichtig zugleich hindrapiert sind diese Figuren, Allegorien, denen endlos gewundene Bänder der zusammengelesenen Theosophie aus den Mündern flattern und rattern. Am Schluss Apotheose, man sehnt sich sehr nach Paris oder in die Provinz, jedenfalls nach Frankreich und unter die Menschen zurück. (34cp)

 

 

MÄRZ

31.3. Angels With Dirty Faces (Michael Curtiz, USA 1938)

Hinein in eine quirlige Welt, Menschen auf der Straße, auf den Treppen, auf den Balkonen, die Kutschen, die nach dem Zeitsprung von 1920 in die Film-Gegenwart von Automobilen abgelöst sind. Es ist Rocky Sullivans Welt, im Zeitraffer handelt Curtiz ein Verbrechen, dann Knast, dann Verbrechen, dann wieder Knast ab, bis zur Entlassung in die quirlige Welt, in der die Dead End Kids bereits darauf warten, dem Vorbild zu folgen. Klein, energetisch, whaddaya say, whaddaya now, mit viel woise (für worse) im Akzent, strahlend noch, wo er als betrogener Betrüger Humphrey Bogart um die Ecke bringt, weil er muss. Recht verloren steht Ann Sheridan im Bild, die Dead End Kids overacten, als ginge es um ihr Leben (oder als wären sie auf der Bühne), der Film macht Tempo in den statischen Szenen, er eilt mit Schnitten, Blenden, Zeitungsausschnitten voran und gibt dem moralischen Konflikt des Helden zum Tode dann zehn lange Minuten, tatsächlich in der Anstalt von Ossining gedreht. Am Ende ist der wahre Held der, der stark genug ist, durch turning yellow Schwäche zu zeigen, auch und gerade da, wo gar keine ist, spielt dem Priester, der Moral und dem Hays Code in die Karten. Aber verkehrt ist es nicht. (65cp)

(10 x Michael Curtiz)

 

M3GAN (Gerard Johnstone, USA 2022)

Ein Film über Sucht. Die Frage nach der Screentime stellt sich noch kurz vor dem Autounfall. M3GAN erweist sich als das Gerät, das sich nicht mehr weglegen und ausstellen lässt. Ein neuronal teuflisch schnell lernender Chatbot im Körper einer Puppe aus dem Uncanny Valley, dessen Graugans-Prägung auf die erste beste Bezugsperson im Ernstfall der Reprogrammierung nicht widersteht. Nicht unplausibel: Das passiert, wenn die Algorithmen sich per Sinnesperzeption in die Welt einkörpern lassen. Sie scannen und reimen sich, was ihnen widerfährt, im Zweifel egoistisch zusammen. So weit so gar nicht verkehrt. Chef und Hund, Dialoge und Action sind aus der schönen Prämisse dann leider von einer Art ChatGPT ausgedacht, aus Versatzstücken gebastelt, die so vielleicht noch nicht zusammengebaut worden sind, aber alles auf die schlechte Weise vertraut. (43cp)

 

30.3. Glück im Hinterhaus (Herrmann Zschoche, DDR 1980)

Buridans Esel hat es nicht aus dem Titel von Günter de Bruyns Roman in den der Verfilmung (nach Drehbuch von Ulrich Plenzdorf) geschafft. Was es gibt: eine Erzählerstimme, wenngleich recht rudimentär, die von Dingen weiß, die man nicht sieht. Und es gibt natürlich Karl Erp (Dieter Mann), der eine Frau (Jutta Wachowiak) hat und auch zwei Kinder und einen Job als Chef in der Bibliothek, und der sich zur jungen attraktiven Mitarbeiterin hingezogen fühlt, nein, sich zu ihr hindrängt, als gäbe es da ein Recht, das ihm zusteht. Der Frau eröffnet er, ohne Diskussion, dass er sie ohnehin nie geliebt hat, sie balgen, ein letztes Auflodern, am Weihnachtstisch will der Schwiegervater mit ihm über die Mauer argumentieren, wenn Strauß sie gut findet, dann tu ich das auch, meint Erp, dann springt er auf und zieht aus, sein Glück im Hinterhaus zu suchen, wo Fräulein Broder (Ute Lubosch), bis eben Studentin noch, lebt. Und zwar so: mit Außenklo, der Putz platzt von der Wand, der Raum ist knapp, das Mobiliar karg, der Kollege ist entsetzt, als er das sieht. Umgepflügt wird so das Leben, auch der Garten des Hauses, an dem Erp nach dem Auszug keine Rechte mehr hat. Auch stirbt der Vater, da sieht er seine Frau wieder. Es ist die Geschichte von einem, der sich nimmt, was er will, egal, was das für die ihm Nächsten bedeutet. Es ist auch die Geschichte einer Gesellschaft, der die Ordnung wichtig ist auf Kosten der Frau. Immerhin bekommt diese, Bruch den bis dahin geltenden Regeln des Films, das letzte Wort direkt in die Kamera spricht. Es ist jedoch: nicht kämpferisch, sondern resignativ. (71cp)

 

More Than I Love My Life (David Grossman, Israel 2019, Hörbuch, Sprecherin: Gilli Messer)

Das Buch schraubt Erinnerungsbewegungen ineinander. Über Generationen hinweg, Großmutter, Tochter, Enkelin, die Männer in Nebenrollen, nicht degradiert, so ist Vera, die Großmutter, auf Miloš, den Mann, den sie liebte, sie, die Jüdin, ihn, den Serben, auf immer fixiert. Er ist nach der Gefangennahme durch die Anhänger Titos durch Selbstmord gestorben, Vera weigert sich, ihn zu verraten, wodurch sie ins Straflager (auf die Insel Goli Otok) kommt und ihre gerade sechs Jahre alte Tochter Nina verliert. Das macht ihr deren Tochter, Gilli, die die Erzählerin ist, zum Vorwurf, die einerseits durch die Erzählperspektive privilegiert ist, aber auch hier gibt es Brechungsmomente. Schon weil Gili ihr Erinnern im nachhinein immer schon reflektivert, während sie von der Reise, die die Familie (Vera und Nina und Gilli und Rafi, Gilis Vater) in Richtung Vergangenheit unternimmt. Und zwar als buchstäbliche Reise, sie endet in Goli Otok, aber auch als Film, der alles festhalten soll. Der wird am Ende, brutal, zugleich eine Überlebensaktion, vernichtet und durch die Worte der Erzählerin Gili, die in diesen festhält, was der Film in Bildern und Worten festzuhalten versuchte. Motive, die sich, Schraubenbewegungen vorwärts und rückwärts, wiederholen: das Verlassen, Vera, die Nina verließ (und sich dadurch treu blieb, selbstbezogen in der Liebe, die sie nicht aufgeben kann); Nina, die Gilli verließ, die Rafi verließ, sich in ein gestörte Beziehung stürzte und fremden Männern zum anonymen Sex an den Hals warf. Grossman macht daraus keinen Erinnerungsstrom, sondern bei allem Mäandern ein Zusammenfließen einzelner Flüsse, ein In- und Gegeneinander der Positionen, zu dem man sich beim Lesen auch positioniert, aber nie so, dass es sich zur Gewissheit einer einzigen Haltung verfestigt. (75cp)

(International Booker Longlist 2022)

 

29.3. Nigorie (Tadashi Imai, J 1953)

Am Ende der ersten Geschichte verabschiedet sich die junge Frau, die aus einer arrangierten Ehe zurück zu ihrer Familie zu fliehen versucht, von dem Rikscha-Mann, den sie, wie sich herausstellt, seit ihrer Kindheit gekannt hat. Zuvor gehen sie hintereinander her, im Gespräch, Großaufnahmen der Gesichter in Bewegung, sie hinter ihm, dann auf gleicher Höhe. Ein kurzer Flashback in der dritten Geschichte, Oriki, die Protagonistin, erinnert sich an einen demütigenden Moment in ihrer Kindheit, als ihr auf dem Weg nach Hause im Inlet of Muddy Water (so einer der englischen Titel des Films) bei einem Sturz die Schüssel mit dem Raus auf den Boden gefallen ist. Nun, in der Gegenwart, beugt sie sich von etwas links in die Mitte des Bildes, der Mann, mit dem sie im Raum ist, verschwindet hinter ihrem Gesicht, macht den Weg frei für die Rückblenden-Erinnerung, die nun folgt. Tadashi Imai ist kein Formalist, vieles ist pragmatisch, Story-dienlich gefilmt, aber in entscheidenden Momenten inszeniert er äußerst präzise. Drei Geschichten der Meiji-Zeit-Schriftstellerin Ichiyo Higuchi sind hier verfilmt, Geschichten von Frauen, von Armut, die Heldin der zweiten Geschichte leidet unter einer launischen Herrin, stiehlt in höchster Not Geld und hat am Ende doch Glück. Ganz anders Oriki, ein Freudenmädchen, das sich aus seiner Lage herauszuheiraten hofft, am Ende aber von der Vergangenheit mit einem anderen Mann eingeholt wird. Ein Femizid mit Selbdstmord des Mannes. Beinahe lakonisch ist der Fund der Leichen gefilmt, umso tiefer sitzt dieser Schock. (78cp)

 

Konzert Robert Forster (Festaal Kreuzberg, Berlin)

Ein intimer, nicht klar definierter Raum, zunächst noch von einer Art dunkler Irisblende umschlossen: Hier macht die Familie Forster Musik, die Kinder an Bass und Gitarre (wobei Sohn Louis auch Einkaufswagen traktiert), Karin Bäumler, mit nach der Chemotherapie kurzem Haar, am Marimbaphon (oder dergleichen), Robert Forster steht, ohne Instrument, oft nicht einmal singend, in einem Daneben, das ein Drinnen bleibt. Das ist das Video zu She’s a Fighter. Noch familiärer: The Tender Years, ein Erinnerungs-Song, der sich um sie als Paar dreht (I see her through the ages / She’s a book of a thousand pages / That you can thumb /Images of her are vivid /Her beauty has not withered / From her entrance in chapter one), da steht Robert Forster in der Küche und bereitet in zwei Schüsseln ein Müsli, zwischendurch tanzend, so steif-elegant, wie er es eben tut. Kein Wunder also, dass auch auf der Tour alles intim und in der Familie bleibt. Robert Forster an der Gitarre, Sohn Louis sitzend daneben, an Gitarre und E-Bass. Zwei, die aufeinander eingespielt sind, sich blind verstehen, nur einmal geht der Vater nach einem Song zum Sohn, um dann auch dem Publikum zu erklären: Beste Version auf der Tour, endlich haben wir es genau getroffen. Auch sonst immer wieder Ansagen in australischem Deutsch, etwas gewundene Erklärungen zu Songs, viel Deutschlandbezug, auch in der Auswahl der Songs, die langen Fahrten durchs tiefe Bayern auf dem Beifahrersitz, von Geiselhöring nach Dingenskirchen. Wunderbar episch die Version von Danger in the Past, vom in Deutschland entstandenen ersten Solo-Album gleichen Titels, die Hände von der Gitarre, sie müssen die Emotion akzentuieren, oder auch vom Forster-Körper aus hinein ins Publikum kneten. Keine große Gesten, große Gesten sind ohnehin nicht sein Ding, am Ende der Zugabe kommt Surfing Magazines vom Go-Betweens-Reunion-Album Friends of Rachel Worth, da singalongt das middle-age- bis late-midle-agge-Publikum die Da-das gerne mit. Und dann kommt er, das Licht war schon an, sogar noch ein weiteres Mal. (80cp)

 

28.3. Saint Omer (Alice Diop, F 2022)

Kristallklar, reduziert und effektlos sind die Bilder, fast Fotografien, wenn nicht Gemälde, von Claire Mathon. Das Gericht als Raum und Dispositiv, dessen Vorgaben die Einstellungen aber mit größter Insistenz keineswegs folgen. Vielleicht ist der Film das vor allem: eine radikale Re-Installation der vom Recht, aber auch den Konventionen der Gesellschaft vorgegebenen Schnitte. Als Unruheherd wird, selbst unheimlich, ja bis ins Enervierende still, Rama gesetzt, die Autorin, die einen Vortrag über Duras hält (und wie sie den geschorenen Kollaborateuren deren Menschlichkeit wiedererstattet), Rama, die als Stellvertreterin der Regisseurin agiert, aber auch zum Spiegel wird, in dem wir die zentrale Figur, die Kindsmörderin Laurence Coly, zu sehen bekommen. Nur wird alles sehr komplex spekulär dadurch, dass dieser Spiegel keine neutrale Projektionsfläche ist, sondern sich auf seinerseits nicht auslotbare Weise mit der Täterin zu identifizieren beginnt: Auch sie ist schwanger, auch hier ist der Vater ein Weißer, auch sie hat ein schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter. So wird also, aus den Gerichtsprotokollen, der reale Fall der realen Frau, die, hoch eloquent und hoch intelligent, an ihrem Ehrgeiz scheitert, zugleich von Rassismen umstellt ist (flagrant die Philosophie-Professorin, die nicht glaubt, dass Wittgenstein für eine Frau, die aus dem Senegal kommt, das Richtige ist), die tausenduneinmal «Ich weiß es nicht» sagt, und mindestens ebenso oft doch wissen muss, dass sie lügt. Gerade dass sie so selbstbewusst auftritt, so bestimmt, so wie ihrer doch trotz allem gewiss, macht Laurence Coly zu einem einzigen Rätsel. Die Richterin, der Ankläger tragen Deutungen an das kaum erklärliche Geschehen heran. Dann der Auftritt der Verteidigerin, die, als spräche sie hier unvermittelte Wahrheit, direkt in die Kamera blickt und die Angeklagte als Wahnsinnige sieht, eine ins bedenklich Biologistische gehende Theorie der unauflösbaren Bande von Müttern und Töchtern (ja, nur Töchtern) entwickelt als Schimärenbeziehung. Sie löst die Frau aus den Banden des Rechts, was der Film dann auch noch mit einer Art Pieta-Darstellung quittiert. Es fragt sich, ob das als die eine Wahrheit gegen die anderen installiert werden soll. Das wäre dann doch ein zu einfacher Schnitt. Vielleicht geht es aber in erster Linie doch um die Geste eines unbedingten Verstehens, in die sich noch das Eingeständnis des Nichterklärbaren fügt. (75cp)

 

Il Decameron (Pier Paolo Pasolini, I 1971)

Berühmte letzte Worte: Warum ein Kunstwerk schaffen, wenn es doch so viel schöner ist, es nur zu träumen? Sagt sich der Maler, gespielt von Pasolini himself, der in der Tat kurz zuvor ein wunderschön kitschiges Heiligengemälde geträumt hat. Fertig ist aber nun, wie auch, es ist das Ende, der Film, das Gemälde in der Kirche, an dem er, der Maler, Pier Paolo Pasolini, als bindendes Glied der robust frivolen Geschichten, die ganze Zeit hindurch gearbeitet hat. Einmal überkommt ihn beim Essen die Inspiration, es sieht aber aus, als hätte er Dünnschiss. Keine Hundert, nur rund zwei Handvoll Geschichten hat Pasolini narrativ episodisch, atmosphärisch zusammenhängend als Feier des Lebens vor allem der Körper verfilmt, nicht Florenz, sondern meistens Neapel, nicht die vor der Pest geflohenen Reichen sind hier versammelt, sondern die Laien als Volk, Charaktergesichter, schief sind die Zähne, so noch vorhanden, lüstern die Körper, auch die der Greise, sehr sexpositiv kommt einer, der sich zu Tode gevögelt hat, mit froher Botschaft kurz aus dem Jenseits zurück: Es ist gar keine Sünde! Schon springt der Empfänger der Botschaft zur nackten Geliebten ins Bett. Außerdem sind da Nonnen, die sich hintereinander glücklich an einem vergreifen, der es, als er sich als taubstumm verstellte, darauf nun wirklich nicht angelegt hat. Einer bindet einem Paar einen Bären von der Verwandlung der jungen Frau in ein Lastpferd auf, um sie höchstselbst zu besteigen. Eine junge Frau zieht sich zum ersten Sex aus dem Zimmer der Mutter auf die Terrasse zurück, der junge Mann, mit dem sie dort schläft, wird sie zur Frau nehmen müssen. Das kommt den Eltern so recht wie dem Paar, das, in flagranti ertappt, sich sogleich wieder ans nächste Flagranti begibt. Ein Film als Feier der Schönheit, die das Hässliche, das Irdische nicht weniger einbegreift als die Träume des Malers, das Wunder der Kunst. (78cp)

 

27.3. The Fabelmans (Steven Spielberg, USA 2022)

Geschichten davon, was der Film als Aufzeichnung bannt und entdeckt, oder grundsätzlicher noch: dass er eben dies tut, ein Festhalten in zwei Richtungen, ein Unter-die-Decke-Bringen und ein Entdecken. Die Urszene (und für den späteren Filmemacher muss das die erste Urszene sein): das Zugunglück auf der riesigen Leinwand, das Stürzen von Metall über Metall, ein Malmen und Quietschen, das im eigenen Kleinen wiederholt und in der Wiederholung entschärft werden muss (was nicht möglich ist, nicht wirklich möglich, und nicht nur weil der Ton fehlt, das Quietschen und Rattern). Das andere, das Blow-Up-Moment, zweite Urszene, und hier geht es dann wirklich um Sex: Die Mutter, die die Augen falsch aufschlägt, zum falschen Mann hin, ihre Hände in seinen, der Onkel, der keiner ist, offenbart sich als das Gegenteil des besten Freunds seines Vaters, als Konkurrent um die Liebe der Mutter. Soweit recht orthodox Freud, mit der Sublimierung ist das allerdings, und auch das gehört sich so, eine komplizierte Sache. Der Familie wird Film als 24 mal Lüge pro Sekunde präsentiert, heile Welt, heile Familie, heilige Mutter. Und die Mutter bekommt die Sondervorführung im Schrank, Tür zu, Licht an, reine Wahrheit, die ihr zuletzt offenbart, dass sie das falsche Leben nicht zusammenhalten kann, da hilft kein Affe, da hilft kein Klavier, da hilft einfach gar nichts, nur die tabula rasa. Weiter komplizierend dazwischen gerät der Onkel aus Hollywood, von dessen Kunst-ist-das-größere-Herz-in-der-Brust-Ideologie man halten kann, was man will; was auch der Film selber so sieht, denn die Trauer, das Zerreißen des Hemds, daran ist viel, wenn auch nicht alles: Show. (The Greatest Show on Earth oder so.) Aber mit der Show ist es doch ernst, das wird Sam Fabelman lernen, Kunst heißt: Ich muss, es führt kein Weg anderswo hin, und zwar gegen den Willen, aber doch im Namen des Vaters, der ja selbst einer ist, der tun muss, was er muss. Und dann wird, bevor die Karriere des Filmemachers beginnt, noch das Filmemachen, der Antisemitismus und die erste Liebe in einer alle Klischees übersteigende Prom-Variante geknotet, mit einem Film, dessen vom Macher undurchschaute Intention beim Betrachter unerwartete Wirkung zeitigt, verstörend und versöhnend zugleich. Außerdem der größere Plot nebenan: Während die Familie ihre Dramen ausagiert, mit großartigen Nebenrollen in der älteren Generation (Jeannie Berlin!), während die Schwestern nur ferner laufen, revolutioniert der Vater, das läuft ständig mit (aber nur mit) als Computer-, Transistor- und IBM-Mann mal eben die Welt. Das ist vielleicht die Ironie der Geschichte, aber apropos Ironie: David Lynch als John Ford, das ist nicht nur ein Coup und eine Hommage, es ist auch die Krönung dieses Films, der alle Selbstreflexion in Erzählformen gießt, die alles Banale ins individuell Typische aufheben. Ziemlich vollendetes klassisches Kino. (87cp)

 

Punishment Park (Peter Watkins, GB/USA 1971)

Zwei dokumentarische Fiktionen schiebt Peter Watkins in die eine, die dieser Film ist. Eine von beiden ist nur zu realistisch, ein Tribunal, bei dem die konservative Seite der Vereinigten Staaten, alle weiß, das versteht sich von selbst, Gericht hält über junge Dissidenten, weiße und schwarze, bürgerrechtsbewegte, radikale, die auf ihre Rechte als Bürger, auf die Verfassung pochen. Sie sind dabei gefesselt, die Situation ist asymmetrisch, für die eine Seite stehen Freiheit und Leben auf dem Spiel, die andere Seite: nur selbstgerechte Paraden. Das Dokumentieren durch die Kamera ist neutral, auf den ersten Blick jedenfalls. Da ist allerdings der Sprecher, Peter Watkins selbst, der Brite, auch das Team des Films ist (in der Fiktion) wohl von der BBC: Es wird immer klarer, dass sich in einer derart asymmetrischen Situation etwas wie Neutralität nicht aufrechterhalten lässt, ja unmöglich ist. Überdeutlich wird das in der zweiten dokumentarischen Fiktion, als die sich die dystopische Science-Fiction hier maskiert: Es ist die Strafe, die als Alternative zum Gefängnis gewählt werden kann, ein Spiel auf Leben und Tod, der Weg durch die Wüste, die Verurteilten werden von Polizisten bewacht, bedrängt, bedroht - und auch getötet. Einerseits ist das Dokumentarische minutiös treffend, improvisiert von Menschen, die mehr oder weniger ihre Überzeugungen ausagieren; andererseits ist das seinerseits Anklagend-Agitatorische der Watkins-Methode darin gerade so sehr verschleiert, dass sein Rechthaben in der eigenen Form nicht auf Widerstand trifft, ja, treffen kann. Die Karten sind also doppelt und dreifach gezinkt. Der Schein der Wahrheit ist bloße Behauptung. Mit seinen Behauptungen jedoch hatte, und hat Watkins auch mehr als fünfzig Jahre später, wohl nur zu beängstigend recht. (67cp)

 

26.3. Léon Morin, prêtre (Jean-Pierre Melville, F 1961)

Zeit der Besatzung, die Italiener kommen und gehen, die Deutschen kommen und gehen. Barny (Emmanuelle Riva)  hat eine Tochter, der Vater, ein Jude, ist tot, sie schickt sie zu zwei alten Damen, aber ihr Leben dreht sich bald vor allem um einen: Léon Morin, Priester (Jean-Paul Belmondo). Ihm beichtet sie, im Beichtstuhl sind die Gesichter durch die Maschenwand getrennt, die Kamera aber fasst sie in ein gemeinsames Bild. Barny beichtet dem Priester, dass sie die Chefin im Büro der Schule begehrt; es ist nicht die größte und nicht die letzte Sünde, die sie zu begehen begehrt. Wenn sie den Priester, nicht im Beichtstuhl, sondern in ihrer Küche, fragt, ob er sie zur Frau nehmen würde, lägen die Dinge nicht, wie sie liegen, spielt die Montage mit mehrfachen Achsensprüngen verrückt. Nach dem letzten ist sie alleine im Bild. Die Beziehung zwischen den beiden: ein Ringen, um den Glauben, um die Liebe, Barny konvertiert, nicht zur katholischen Kirche, sondern zu Leon Morin, der sie reizt, der sie nicht zurückweist, ein Verführer, bei dem es unklar bleibt, ob ihm das Verführerische seines Körpers und seines Geistes bewusst ist, der Fels, an dem das Begehren der Frauen abprallen muss, aber fast, als suchte er sich diese Herausforderung, ein sehr selbstbewusster und selberdenkender Mann Gottes, ganz von dieser Welt, und doch ganz auf das Andere in ihr fokussiert, einer dem es um Auslegungen des Glaubens geht, der seine Gemeinde ermahnt, nicht zu lange auf den letzten Silben der Worte beim Singen zu verweilen, dafür ist auf Erden zu wenig Zeit. Andere Frauen: Eine, die mit den Deutschen kollaboriert, Barny bleibt mit ihr befreundet, nimmt sie mit zum Priester, derselbe Gang wieder und wieder, die Treppe wendet sich nach oben, die Wand fast ohne Verputz, ein Schrank für die Bücher, ein Tisch für die Gespräche, das Klavier, beim Spiel sind Belmondos Hände nicht zu erkennen, ein dampfende Teekessel steht im Vordergrund. Ein Film, in dem sich der Glaube und die Liebe als existenzielle Kräfte begegnen. Melville inszeniert die Räume als offenes Kraftfeld, in dem das Ungesagte nicht weniger schwer wiegt als das Gesagte (sogar das von Barny als Erzählerin aus dem Nachher Gesagte). Kurze Schwarzblenden beruhigen, aber so kurz, dass die widerstreitenden Kräfte niemals erlöschen. Sie tun es am Ende, beinahe sinkt Barny, der Ohnmacht nahe, zu Boden. (83cp)

 

Severino (Claus Dobberke, DDR 1978)

Gojko Mitic ist Severino, der zu seiner Indianer-Ethnie in den Anden zurückkehrt. El condor pasa, oben am Himmel, Severinos Vater ist gestorben, angeblich auf der Suche nach dem Kondor-Pass in den Bergen. Das sind die schönsten Szenen des Films, wenn der Sohn sich auf seine Spuren begibt, der See in den Bergen, abgenagte Knochen, haufenweise, getöteter Rinder, der Schnee auf den Gipfeln Rumäniens, das hier Argentinien gibt, als Knochensäge fährt immer wieder ein in den Geist von Disco gebettetes E-Gitarren-Motiv unter die Bilder. Severino kommt aus den Vereinigten Staaten, hat Geld dabei für eine Pfirsichplantage, gerät aber nun unter den Streit zwischen Indianern und weißen Siedlern. Nicholas, der Häuptling, beharrt auf dem Kampf gegen den Weißen; Weiße sind es, die Rinder stehlen und den Verdacht auf die Indianer lenken. Viertelliter heißt der großzügige Betreiber einer Kneipe (es ist kein Saloon). Severino ist ein Mann der wenigen Worte, nur im Notfall der Fäuste, aber auch einen Wachswalzen-Phonographen bekommt er schnell repariert. Er fügt sich in die bis zur Gemächlichkeit ruhig atmenden Landschaftsaufnahmen, er wird zum Medium der Vermittlung und Friedfertigkeit. Das Alte muss sterben, der Mann, der auszog und zurückgekehrt ist, wird bleiben, um den immer neu auszuhandelnden Frieden zu wahren. (61cp)

 

25.3. Let's Scare Jessica to Death (John D. Hancock, USA 1971)

Im Nebel liegt das prächtige Haus, in das die Frau und die zwei Männer nun ziehen. Es liegt auch in Hick-Country, die alten Männer an der Kreuzung Maple und Main wünschen die hippiesken jungen Leute zum Teufel. Still liegt nicht fern vom Haus mit seinem Obstgarten der See, hic jedoch sunt nicht leones, aber vielleicht doch Leichen und/oder Geister und/oder Vampire. Vielleicht aber auch nicht, denn Jessica, mit der wir die Geister sehen und auch die Leichen und am Ende Vampire, war in der Psychiatrie, nun geht es ihr wieder gut; womöglich auch nicht. Der Horror kommt als Maulwurf daher (eine Rolle, in der eine Feldmaus nur bedingt überzeugt), als alter Provinzmann, als Wiedergängerin einer hundert Jahre zuvor gestorbenen Frau, als Frottage-Bild von Gräbern, kurzum: Es sind der Andeutungen viele, der Komponist arbeitet hart am Schrecken, der sich schon auch gerade darum nicht recht einstellen will. Bleiben dokumentarische Bilder von Dorf und Natur und Connecticut im öfter sonnigen als nebligen Herbst. (57cp)

 

Paradais (Fernanda Melchor, Mexiko 2021, Übersetzung: Sophie Hughes, Hörbuch, Sprecherin: Fabiola Stevenson)

Paradise, Pa-ra-dais, nicht Pa-ra-dee-sey, ist der Name der Gated Community, in der der so belehrte Polo als Gärtner arbeitet, wobei er den mickrigen Lohn an seine Mutter abdrücken muss. Sein Cousin Milton ist Gangster, hat sich den Ausweg aus dem Armutselend ins Drogenelend gesucht, seine Cousine ist schwanger, womöglich von ihm, aber es kommen auch sehr viele andere Männer infrage, sein bester Kumpel ist Franco, ein dicker, pickliger, reicher, hässlicher, pornosüchtiger junger Mann, el gordo, fatboy ist Polos Name für ihn, der sich eine der reichen Frauen, die mit einem Fernsehmoderator verheiratet ist, zum Objekt seiner schmutzigen Fantasien erwählt. Er zählt Polo mit rein, in diese Fantasien, und Fernanda Melchor zieht uns da mit rein, gnadenlose Subjektive, erlebte Rede, erlebte Gedanken, erlebter Dreck und am Ende wird auch das Blutbad, auf das alles zulaufen muss, durch Polos Augen erlebt. Ganz frei von Elends- und Verkommenheitspornografie als Ungleichheitsallegorie ist das nicht, was nicht heißen soll, dass sich Fernanda Melchor das weit abseits des Realen ausgedacht hat. (67cp)

(International Booker Longlist 2022)

 

24.3. Romance on the High Seas (Michael Curtiz, USA 1948)

Alles wird hier solange verwechselt, bis New York am Zuckerhut liegt. Bis die Frau, die nicht singen kann, in Rio alle mit ihrer Stimme und Performance bezirzt. Der Mann, der die Falsche geliebt hat, wird mit der Richtigen glücklich. Zwei Männer an der Bar werden sturzbesoffen vom Alkohol, den sie nicht trinken. So geht das zu. Zu Lande, auf dem Wasser und in der Luft. Auch Türen gehören zum Verwechslungsboulevard, eine geht links zum Aufzug hinein, einer kommt rechts aus dem Aufzug heraus. Im Bett liegt diese und jener. Misstrauen bringt alles in Gang, Busby Berkeley bringt es mit recht unspektakulärer Eleganz immer mal wieder zum Stillstand, die Musik will Nummern, die sich mehr oder weniger fügen. Sonst regiert der Unfug anderer Art, Innuendo und Sarkasmus, Oscar Levant wieder der, der am Klavier unglücklich liebt, es ist aber, wie alles hier, keine ernst zu nehmende Sache; der Detektiv, der sich beim Job in die Blondine verguckt, die die Regeln der gehobenen Gesellschaft so wenig beherrscht wie er selbst. Und so turteln sie, overdressed und overtipped, Doris Day besitzt die Magie forscher Naivität, die sich in aller Unschuld nimmt, was sie bekommt und es, genau so, am Ende natürlich verdient, so leben sie denn happily ever after. (81cp)

(10 x Michael Curtiz)

 

Kennen Sie Urban? (Ingrid Reschke, DDR 1971)

Hoffi war anderthalb Jahre im Bau, weil er einem älteren Herren, der der Clique mit ihrer lauten Musik dumm kam, den Kopf schmerzhaft verdreht. Nun Berlin-Verbot, er zieht mit seiner Keule, also dem jüngeren Bruder, auf der Suche nach einem Job von einer Großbaustelle zur andern. Und zwar auf der Suche nach einem Vermessungsingenieur namens Urban (Manfred Karge), den er im Krankenhaus kennengelernt hat, wo der ihm Geschichten aus Algerien erzählte. Das ist in Rückblenden zu sehen. In der Gegenwart wird hingegen Gila (Jenny Gröllmann) ins Auge gefasst. Die arbeitet hier, es wird sich verliebt, nach der Aufhebung des Berlin-Verbots sind sie in Berlin, Gila wird schwanger, es wird Wohnung gesucht, es wird Wohnung gefunden, Umzug, Party, alles immer in Breitleinwand und schwarz-weiß, nach wahren Geschichten von Gisela Karau, Ulrich Plenzdorf hat mit Regisseurin Ingrid Reschke das Drehbuch geschrieben, die Musik von Rudi Werion (einem der erfolgreichsten Schlagerkomponisten der DDR) ist hier eher in Richtung Krautrock orientiert. Das ist in der Nähe dessen, was im Westen ein Gammler-Film wäre, es werden Sprüche geklopft, wenngleich nicht sonderlich lässig, wie überhaupt immerzu weniger angeleiert als abgewürgt wird, die Zukunft ist nicht sonderlich offen, Zirkus für Keule, Militärdienst für Hoffi. Große Sprünge werden keine gemacht, Urban taucht tatsächlich noch einmal auf, und ist schon wieder weg. (68cp)

 

23.3. Süden (Julien Green, Regie: Andrea Breth, Schauspielhaus Bochum 1987, Nachtkritik-Stream)

Südstaatenatmosphäre: Sie baden Ihre Sinne darin. Für die Ohren gibt es erst, von ferne her, Kirchenmusik, dann ein Zirpen und Quaken zu getragenen Klängen, alles durch die geöffneten Terrassentüren hinein, in den Salon das Anwesens in der Plantage Bonaventura. Es ist durch und durch Vorkrieg, unmittelbar steht der Ausbruch bevor, alles, die Worte, die Körper, sind schwanger mit der Erwartung dessen, was kommt. Wer hier aufeinandertrifft: Ein Mann aus Polen, ein Leutnant, der Uniform trägt, Objekt der Begierde, Subjekt aber auch, sein Name ist Ian Wizcewski, schlank, ja hager steht er im Raum, Wolfgang Michael als Statue eines Mannes, der überall fremd ist, des Mannes, der so unglücklich liebt, dass er ins Unglück verliebt scheint, und in den Tod. Da ist Regina, die die Sklaverei und den Süden verachtet, den Kirchengang auch, also das Milieu, in dem sie lebt, die Familie, aus der sie kommt, die den Leutnant will, so wie Angelina, ihre Schwester, es auf einen anderen abgesehen hat, Eric Mac Clure. Vielleicht ist es auch komplizierter, denn zwar wird sehr viel geredet, aber keineswegs nur geradeheraus, Körper stehen herum, aus deren Mündern Andeutungen fallen. Und zwar fallen sie höchst kontrolliert: Das Stehen, das Setzen, das Abwenden, das An-die-Wand-Schmiegen, das Sitzen im Stuhl, das Zu-Boden-Rutschen, wenn Wiczewski ihn schaukelt, alles ist ganz genau choreografiert, in der vibrierenden Atmosphäre zur Scheinlebendigkeit balsamiert. Jede Geste sitzt hier und jedes Wort auch, es ist Tag, es wird Nacht, der Salon ist leer, man sieht einen im Hintergrund lauern, der Krieg lauert auch, muss sich im sinnlosen Duell der Männer entladen. Es ist eine Art Tschechow im Süden, die schwarzen Figuren (das N-Wort wurde nach Protesten aus dem Stücktext getilgt) existieren am Rand, es sind die Weißen, um deren standesgemäße Seelenzergliederung es hier vor einem ins Existenzielle entschärften politischen Hintergrund geht. (76cp)

 

Love in the Big City (Sang Young Park, Südkorea 2019, übers. Anton Hur, Sprecher: Daniel K. Isaac)

Der Ich-Erzähler hat den Namen und manches andere mit dem Autor, Sang Young Park, gemeinsam: Recht jung, hat französische Literatur studiert und mit einem ersten Band mit Erzählungen reüssiert. Young, der Erzähler, ist schwul und berichtet, ausgehend von einer Highschool-Reunion, dann chronologisch vor und zurück, von sich und vor allem den Menschen, mit denen er Beziehungen hat. Da ist die Mutter, ein mehr als kompliziertes Verhältnis, die an Krebs erkrankt, geheilt scheint, dann liegt sie im Sterben. Da ist die beste Freundin Jaehee, mit der er zusammenzieht und sich über die Männer lustig machen kann, mit denen sie jeweils was haben. (Bis sie heiratet, da ist Schluss mit lustig.) Und dann vor allem die Männer: der eine aus der Provinz, mit dem er zusammenlebt, nur mit dem Sex ist es schwierig, denn Young hat HIV und mit Kondom kriegt der Freund keinen hoch. Da ist ein großer Mann, zum Glück nicht begabt. Da sind ungezählte Tinder-One-oder-ein-paar-Nächte-Stands, unter denen Habibi der Protagonist des letzten Teils ist, wenngleich sich die Erinnerung an einen vorherigen Bangkok-Besuch mit der großen Liebe seines Lebens, die und den er im Erzählen wiederzubeleben, heraufzubeschwören zu rekonstruieren versucht. Was, natürlich, nur scheitern kann, noch da, wo es für Momente gelingt. (68cp)

(International Booker Longlist 2022)

 

22.3. Female (Michael Curtiz, William A. Wellman, USA 1933)

Im Draußenfilm vor dem Fenster hinter dem Chefinnentisch qualmt es aus Schornsteinen, meist mehr, manchmal weniger schwarz: Dies ist, immer präsent, die Autofabrik, in die wir qua Montage (von Wagen, von Film) gleich in den ersten Bildern eingeführt wurden. Am Schreibtisch vor dem Fenster und in der Runde der Management-Männer sitzt: Ruth Chatterton als Alison Drake. Strikt professionell im Büro, Männer, die ihr gefallen, lädt sie abends ins Anwesen (im Außenbereich ist das in Frank Lloyd Wrights Ennis House gedreht), das über alle Schikanen verfügt, Bibliothek, Swimming Pool, Hausorgel, alle per Knopfdruck übermittelten Befehle erwartende und ausführende Männer. Die eine Sphäre, der Arbeit, ist ohnehin männlich kodiert, aber auch im Privaten ist die Frau, die sich die Männer nach ihrem Gusto als Gigolos holt, nicht weiblich genug. Am Schießstand als Ort der Exterritorialität gerät sie an einen Mann, der erst nicht weiß, wer sie ist, und sie darum als Frau zu nehmen versteht, während er, als er es weiß, trotz reichlich Wodka gegen die Rollenverkehrung (sie aktiv, er passiv) Widerstand leistet. Am Ende rast sie, aktiv genug, ihm hinterher, um sich, ihren Kopf und ihr Begehren und überhaupt ihren Körper auf den Beifahrersitz zu verfügen, auf den sie, selbstbewusst und von der Konvention doch kujoniert, auch in einem gar nicht braven Pre-Code-Film wie diesem zuletzt gehört. (73cp)

(10 x Michael Curtiz)

 

Macbeth (Roman Polanski, USA/GB 1971)

Da sind die blutigen Szenen, natürlich, gerne biografisch gedeutet, alles vor Augen geführt, noch das, was Shakespeare im Off lässt: der Tod von Duncan, von Macduffs Frau und Kind, die brutale Verwüstung von Körpern und Seelen. Das alles auf die breite Leinwand gemalt, der Wald von Birnam macht sich auf und quert die Hügel von Haughterslaw, sonst aber viel abgelegenes Wales. Intimer jedoch ward der Text von Macbeth (oder überhaupt Shakespeare) selten gesprochen, nie deklamiert, mehr agil als aufdringlich rückt die Handkamera nah ans Geschehen, das manchmal Getümmel ist, ein Dolchstoß, die Schlafwandelszene, das Blut, das sich nicht mehr abwaschen lässt, flackernd und dunkel, durchtränkt von natürlichem Licht und den ihm eigenen Schatten. Vor allem aber ist es immer die Sprache, die sich mit den von der Kamera geschaffenen Innenräumen verbindet, die sich ins Fluidum aus Atmosphäre und Körper fügt, als wäre es ganz natürlich, dass Menschen, und sei es in ferner Zeit, jemals so sprechen. Die Hexenversammlung, die sichtbaren Geister, die Macbeth nach seiner Tat halluziniert: Auch das sind Innenspektakel, Horrorfilm-Szenen, die die Shakespeare-Verfilmung wie Blut und Sprache in ihrem intimen Breitleinwand-Atmosphären gebiert. (78cp)

 

21.3. Die Architekten (Peter Kahane, DDR 1990)

Die Wohnblocks im Plattenbau bei Regen, bei Nacht, schön sind sie nie. Hier wohnt der Architekt Daniel Brenner (Kurt Naumann), der als hoch begabt gilt, aber er hat mit beinahe vierzig noch nichts als Trafohäuschen und Bushaltestellen entworfen. Das ist, weil die Verhältnisse sind, wie sie sind: Es ist die DDR in ihren letzten Zügen, noch steht die Mauer, noch glaubt hier keiner, dass sie jemals fällt. Sie fiel dann während des Drehs, der Film, 1988 geschrieben, von 1989 bis 1990 gedreht, wurde von den Ereignissen überrannt. Mit dem Wiedersehen von Vater und Tochter über die Mauer hinweg sollte der Film hoffnungsvoll enden; nun aber stürzt Brenner betrunken zu Boden auf dem Baugrund, für den er mit seinem Team eine Zukunft entwarf. In diesem Entwurf, in der Gruppe des Jungkollektivs, das so jung nicht mehr ist, wird sich an ihrem Ende die DDR und womöglich die DEFA vollends allegorisch: Etwas soll aufgebaut werden, das nicht Typus und Schema, sondern kreativ, anders und lebenswert ist. Nur sind da all jene, die von Anfang an nicht mitmachen wollen, in ihre Nische hinein resigniert; ist da die Ehefrau, die in der Platte versauert und kein Projekt mehr hat und keines mehr sieht in diesem Land, an dem sie mitwirken wollte; ist da eine Bürokratie, deren böser Wille sich als Beharren auf dem Herkommen manifestiert. Es ist von der Stasi die Rede, es ist die Mauer zu sehen, ein DEFA-Film, der die Karten auf den Tisch zu legen versucht, aber dann war der Tisch selbst schon nicht mehr da. (74cp)

 

Cursed Rabbit (Bora Chung, Korea 2022, Übersetzer: Anton Hur, Hörbuch, Sprecherin: Greta Jung)

Der Kopf aus Fäkalien, der aus der Kloschüssel lugt, der spricht, der zur lebendigen Gestalt heranwächst und am Ende die Erzählerin in der Welt zu ersetzen verlangt; der Mann, der aus den Wunden erst eines Fuchses, dann auch von Menschen Gold zu schürfen beginnt; das junge Monster, das von einem kahlen Mann zu Kämpfen mit anderen Monstern gedrängt wird und mit Narben bald ganz übersät ist; das Ehepaar, in dessen Haus eine Ein-Mann-Firma einzieht, in deren Machenschaften der Mann verwickelt ist, wie überhaupt grundsätzlich etwas nicht stimmt; der Mann in Polen, der sich fesseln lässt, nicht nur beim Sex, um etwas wie Leben zu spüren, der, wie die Ich-Erzählerin erfährt, Nachkomme eines KZ-Überlebenden ist. In allen Erzählungen gibt es Verschiebungen des Wirklichen in Richtung Sprung in der Schüssel, finster komisch, manchmal auch nicht. Ein Hinaussetzen aus dem Erkennbaren in dunklere Gründe, märchenhaft, science-fiction-haft, verwunschen-unheimlich-fantasmagorisch in der Bruno-Schulz-Tradition, den die Slavistin Bora Chung zu ihren Vorbildern zählt. Ein Gleiten vom Alltäglichen in seiner Banalität in Darunter, Daneben, Darüber, in dem etwas wiederkehrt, zu verschwinden sich weigert, in dem das Entsetzliche lauert, wispert und spricht, als Mal und als Trauma. Nie ist der Bezug zum Realen eskapistisch gekappt, der gewonnene Spielraum ist voll dunkler Spiegel, in denen sich Wirklichkeit, und vor allem die Wirklichkeit von Ehefrauen und Müttern so fürchterlich transformiert zeigt, wie sie sich oft realiter anfühlt: Entsprechung des alltäglichen Lebens. (74cp)

(International Booker Longlist 2022)

 

20.3. The Kennel Murder Case (Michael Curtiz, USA 1933)

Die Kamera und die Fassade des Hauses, sichtlich Modell, haben gleich mal was miteinander: Hinter einem der Fenster kommt einer zu Tode, die Sache ist verwickelt, auch wenn sie zunächst nach Selbstmord aussehen mag. Philo Vance weiß es besser, und weil er der Detektiv ist, den sich S.S. van Dine ausgedacht hat, muss es sich, das ist dessen Spezialität, ein locked room mystery sein. William Powell ist mit vertraut sympathischer Süffisanz Vance, hat leider keine Myrna Loy an seiner Seite, ein schwarzer Terrier ist nicht wirklich Ersatz. Als immerhin recht dicker Mann darf Eugene Pallette weniger smart sein als Vance, der gegen Ende an einem Architekturmodell vorführt, wie sich, was sich abgespielt hat, abgespielt hat. Es ist kompliziert, er nimmt die Stockwerke ab, hier eine Tür, da eine Verbindung, dieses Fenster und jene Lage im Raum. Ein chinesischer Koch, der ein Porzellan-Kenner ist, gerät in Verdacht, aber gerade dieser Verdacht wird des rassistischen Untertons überführt. Dann sind da ein weiterer Hund, die eine und die andere Dame, ein Dolch, die Auflösung des Locked-Room-Rätsels am nicht ganz seidenen Faden. Außerdem eine Leiche, die noch aus eigener Kraft die Treppe hinaufsteigt und das Fenster schließt. Michael Curtiz tut mit Reißschwenks synthetisch, die zusammenführen, was nicht zusammengehört, und er tut analytisch mit Blenden aller Art, die die Bilder trennen, die sie verbinden; noch dazu wird der Kamera in der Auflösung schwindelig subjektiv, aber das eine wie das andere und auch das dritte ist vor allem dazu gemacht, Tempo ist eine verwickelte Geschichte zu bringen, die andererseits durch mehr als eine Verdachtsmoment-Diskussions-Stehkonferenz ausgebremst wird. Der wahre Hergang ist wirklich enorm ausgetüftelt, Curtiz tüftelt mit Kamera und Montage hinterher, weil man bei einer Geschichte, die nicht ernst zu nehmen ist, doch mit dem Nicht-Ernstnehmen ernst machen kann. (73cp)

(10 x Michael Curtiz)

 

Liebe mit 16 (Herrmann Zschoche, DDR 1974)

Liebe mit 16, und dann in Schwerin. Fast schon in der Tram, dann in der Tanzstunde finden Ina und Matti zusammen, der Lehrer (Herbert Köfer) gibt den entzückend schmierigen Conférencier. Einerseits klar, dass es um Paarbildung geht - auf dem Abschlussball werden stolz die Verlobten (ein anderes Paar) mit roten Rosen bedacht -, andererseits werden die beiden, Ina wie Matti, von den Eltern mit Skepsis beäugt, mit Herumreden um den ersten Sex so sinnlos bedruckst, dass sie, als es in der Hütte am See schließlich wirklich passiert, aufs Kondom verzichten, so dass nun wirklich die Schwangerschaft droht, die alle die ganze Zeit fürchten. Zwischendurch ist Matti bei der Ferienarbeit in der LPG schon mal mindestens kussweise ausgebüxt, und Ina stellt fest, dass der Sex ihr so gar keinen Spaß macht, jedenfalls nicht mit diesem jungen Mann, dem keiner was beigebracht hat. Stattdessen schon lieber Schwimmenlernen mit 16, im See, in Schwerin. Häusliche Szenen mit Bügeln und ungelenken Erziehungsversuchen, ländliche Szenen mit der FDJ draußen im Land, schulische Szenen zur Frage des Unterschieds zwischen Rebellion und Revolution (Rebellieren ist dagegen sein, Revolution ist, wenn man weiß, wie man es besser macht), im Hintergrund wird Solidarität mit Chile gefordert, es läuft am See und in der Tanzstunde sowieso viel mehr oder weniger schmissige Schlagermusik, es fahren Schiffe auf dem See in der Stadt, die Tram ruckelt, der Impressionismus des Ganzen passt nicht so richtig zur Nachsynchronisation, andererseits ist das schon alles dufte, lässig und schön. (73cp)

 

19.3. My Reputation (Curtis Bernhardt, USA 1946)

Die Mutter trägt schwarz, viele Jahre nach dem Tod ihres Mannes. Jessica Drummond (Barbara Stanwyck), die Tochter, fährt Ski am Lake Tahoe, da ist ihr Mann, der lange krank war, noch nicht lange tot. Der Ski bricht, da wedelt, Spuren ziehend im Neuschnee, ein Mann heran: Major Scott Landis, er ist auf Urlaub vom Kriegsdienst. Sie schlingt die Arme um ihn als Ski-Mitfahrerin, sie greift nach dem Hut, Sturz, Skibruch, auf diese erste folgt weitere Annäherung. Da ist ein Mann, den sie heiraten könnte. Sie liebt ihn nicht. Das ist die Mutter, die die Konventionen der Gesellschaft vertritt und im Lebemann Landis den «scallywag» sieht, der er ist. Genau dieser «scallywag» ist es, den Jessica will, wohl wissend, dass die Gesellschaft es nicht gerne sieht. So entzieht sie sich seiner Annäherung, und steht bald darauf vor seiner Tür. Und geht hinein, Blick in einen Raum, in dem ein (ungemachtes) Doppelbett steht. Da fährt ihr und dem production code der Schreck in die Glieder. Es folgt elegantestes Pendeln, halb sinkt sie hin, halb schafft sie wieder Distanz. Aussprache mit den Teenager-Söhnen, die in einer Parallelaktion erste, unschuldige Liebesbeziehungen proben. Einschreitende, verbietende Kräfte auch sie, im Namen des Vaters, gegen das lose Wollen der Mutter, die für die lose Bindung (also, unaussprechbar: Sex ohne Ehe) an den Major zu kämpfen versucht. Sinnbild der Sorgfalt, mit der Bernhardt inszeniert: Ihre Erklärung vor den Söhnen, die beiden hinten zur Rechten und zu Linken im Licht, während sie vorne frontal am Tisch ganz im Dunkeln steht. Vom Schein der Freiheit im Neuschnee zum Kampf gegen die haltenden Kräfte der Gesellschaft, für die die Familie steht. Am Ende steht, am Bahnhof ein Kuss, die herbeigezwungene Versöhnung von Willen zur Unbändigkeit und Gesellschaftsbeharren in Form eines Heiratsversprechens. Jessica Drummond jedoch geht erhobenen Hauptes nach hinten davon. (75cp)

 

Die Übergangsgesellschaft (Volker Braun, Regie: Thomas Langhoff, DDR 1988/1990, Nachtkritik-plus-Stream)

Nach Moskau führt hier kein Weg mehr. Hinten, ganz hinten, geht es ins Grüne. Im Mittelgrund lamellierte Flügeltüren, am Anfang, am Ende, die dann verschwinden, Spielfläche freigeben im fluchtenden Raum. Die Familie Höchst ist hier im Namen Tschechows versammelt, drei Schwestern, der Alte guckt in die Röhre, dann auch in die Kamera, die Zuschauer an. Dann schälen sich die anderen aus ihren Kokons, sprechen wie probeweise Tschechow, dann finden sie schärfere Töne, sind Menschen der DDR der siebziger Jahre, von 1982 ist das Stück, in der DDR erst 1988 aufgeführt (vorher, 1987, in Bremen). Sie träumen von Rom, sprechen von Grenzen, es ist ein Reden in Paradoxien, Andeutungen, vieles geht ins Leere, findet keinen Anknüpfungspunkt. Eine der Schwestern hängt über den Tisch, wird ermahnt, erhebt sich halb, dann fällt sie erneut. Ein Kommen und Gehen und Kommen ohne Entwicklung, vorne eine Sandkastengrube, darin Wasser und Matsch, fürs Kinderspiel ist alles zu spät, und für Planspiele auch. Mettes Aufruf zur Traumproduktion führt in keine Zukunft, nur zur Abrechnung der Versammelten mit sich selbst. Der Alte imaginiert sich in die Rolle des Sklaven, buchstäblich per Blackface, eine Demaskierung, die selbst aufs rassistischen Dispositiv zurückfällt. Am Morgen darauf sind die Flügeltüren zurück, dahinter lodert ein Feuer, Irina hat es gelegt, keine Aussicht, nirgends, auf das, was kommen könnte, wenn das Herrenhaus abgebrannt ist. (74cp)

 

18.3. La femme infidèle (Claude Chabrol, F 1969)

Im Vordergrund, und überhaupt fast protagonistisch: die Bäume. Bäume, die auf dem Anwesen stehen, in dem Hélène und Charles Desvallées leben. Und mit ihnen der Sohn. Eher von ferne ist die Kamera auf dem Grundstück und hinter den Bäumen unterwegs, nimmt die Familie, die glücklich sein könnte, aus der Warte der Beobachtung in den Blick. Rückt dann näher heran, folgt Charles und Hélène, ihm ins Büro, wo die Assistentin Brigitte als Karikatur der Verführung schon auf ihn wartet. Nicht er aber geht fremd, sondern Hélène. Klein ist das Schlafzimmer, viel kleiner als das unendliche eigene Haus die Wohung des Mannes, mit dem sie noch nicht lange alle paar Tage schläft. Es kommt per Detektiv die Wahrheit ans Licht. Der eine Mann klingelt beim andern und spielt ihm etwas vor, und sich selbst vielleicht auch. Die Atmosphäre ist nicht weiter bedrohlich.. Man sitzt und spricht und trinkt Whisky. Im Schlafzimmer scheint es nicht das Bett, sondern ein monströses Feuerzeug, bei dessen Anblick bei Charles etwas klickt. Darauf: Nofretete und zack. Das Problem wird entsorgt. Gepflastert ist der Weg zur Wiederherstellung der Ehe-Normalität mit kleinen Chabrol-Bösartigkeiten: das allzu langsame Versacken des Körpers im grünlichen Wasser; ein Auffahrunfall mit Leiche im Fond; die Polizei kommt einmal und zweimal und dreimal; dingsymbolisch ein Puzzle, bei dem obstinat ein letztes Teil fehlt. Alles geht gut, und dann doch nicht. Alles schien sauber gelöst, das Puzzle, die Beziehung als Gleichung, in der einer zu viel war, die Polizei als Doppelfigur performt die Wiederkehr des Verdrängten. Menschen und Bäume. Sie versteht und nimmt die Tat als Liebeserklärung. Menschen in Gruppen. Bäume, die im Bild herumstehen, ein Busch, hinter den sich die Kamera am Ende verkriecht. Die Musik hat von Anfang an leichten Frost über die keineswegs kristallklaren Bilder gelegt. Erzählen vom Bürgertum als Ikebana mit Leichen und Bäumen. (78cp)

 

The Book of Mother (Violaine Huisman, F 2018, englische Übersetzung, Hörbuch, Sprecherin: Toscs Hopkins)

Die Mutter ist, bipolar, sich selbst ein ständiger Unruheherd, und erst recht den Männern und Töchtern. Die eine, die jüngere, ist das Ich, das davon erzählt: Auftakt beim Mauerfall, die Vorwürfe, die Psychiatrie, die Mutter stets nackt, die Ballettschule, die Beziehung von Mutter und Großmutter, tiefenverstört. Mehrere Ehen, noch sehr viel mehr Männer, eine eingeschlafene Geliebte auf der Toilette. Es geht in der Erzählung vor und zurück und hin und her, Vorgeschichten, an denen nicht alles stimmt. Das Buch ist eine Anordnung in Autofiktion: In Teil eins und Teil drei dominiert das Register von Memoir/Autobiografie. Der zweite Teil aber ist Entzug dieses Ich, Verschiebung ins Schein-Objektive der dritten Person (der Mutter), die Details sind in ihren Realismuseffekten romanhaft, das Arrangement mit dem Vater, der das Geld verschwenderisch hat, der Mutter, die es verschwendet, Claude, der Frau, als Dritter, die die Mutter aufrichtig liebt: Die Erzählinstanz weiß in diesem Teil einfach zu viel, kennt alles übergenau, motiviert psychologisch, es ist darum, und wenn alles bis ins Einzelne aus der Wirklichkeit käme, Fiktion. Dann die Rückkehr zum Ich der Autobiografie, der Tod der Mutter, fast märchenhafte ihre Existen nun in Dakar. Wie sich daas Bild der nackten Mutter eingebrannt hat, ihre Hahnenkamm-Vulva, nun das Bild der aufgebahrten, schon im Verfall befindlichen Leiche, die Violaine, die Tochter, in Saxifrage, dem Buch, das die Mutter veröffentlicht hat, nicht wiedererkannte. Nun hat sie sie, zur Kenntlichkeit für sich selbst, ihr eigenes Leben, entstellt. (74cp)

(International Booker Longlist 2022)

 

17.3. Possessed (Curtis Bernhardt, USA 1947)

Eine Frau wankt orientierungslos durch die Straßen, «David» ist das einzige Wort das sie sagt. Sie kommt in die Psychiatrie, es ist wie eine Rückwärtsgeburt, der Wagen, das Bett, Blicke himmelwärts, dann nur noch Decke. Die Ärzte - Männer, versteht sich - um sie versammelt, leer das Gesicht, enorm die Augenbrauen von Joan Crawford, die sich wie Balken biegen. Eine Droge bringt sie zum sprechen, der Film übersetzt es in verschwimmende Wasser, eine weitere Rückwärtsgeburt, Noir-Style: Flashback-Erzählung. Da haben wir «David» (Van Heflin), er spielt am Klavier und wird von ihr, der Frau, Louise, vergöttert. Sie fleht um seine Liebe, aus seinem Mund immer nur Sätze und Wörter mit Witz und mit Stacheldraht, die Trennung, die Wiederverbindung, mit dem Boot landet die Geschichte an einem Anwesen an, wo eine andere Frau eines anderen Manns, die Mutter einer anderen Tochter, auf ihre Krankenschwester, Louise, krankhaft eifersüchtig ist. Die aber bleibt besessen von David, wird begehrt vom anderen Mann, den sie nicht lieben kann. Fehlgeleitete Wünsche, wohin man auch blickt, die Stimmung, die Bilder, die Musik: ein Noir-Melodram, vor dem Fenster das Wasser, idyllisch und bedrohlich zugleich. Vor dem Fenster zur Frau: Männer in Kitteln mit Fachdiagnosen, Schizophrenie, Psychose, Rückblenden als Anamnese, in der sich ein Schuss löst. Schlusseinstellung: Kamerafahrt rückwärts, der Flur so leer wie das Gesicht von Joan Crawford, der Schrecken, der in ihm geschrieben stand, jedoch ausgetrieben. (74cp)

 

Ich liebe dich - April! April! (Iris Gusner, DDR 1988)

Die Prüfung beim frisch ernannten Professor des Scheidungsrechts zeigt sofort: Mit ganz ernst zu nehmenden Dingen geht es nicht zu. Die Konstellation, stellt sich heraus, und zwar so gemächlich, wie es hier überhaupt zugeht, ist folgendermaßen: Nicht nur ist der Assistent der Gatte der Studentin, hinter des Professors Rücken. Sondern es ist auch der Professor der Ex-Mann von deren Mutter, mithin, wie sich kombinieren lässt, ihr Vater. Um die Mutter scharwenzelt, in einer Szene nur, ein Mann, den sie nicht heiraten will. So sind die Dinge für die Komödie bereitet, so dass nun, immer wie in Zeitlupe, kommt, was kommen muss. Retardierend ein nächtlicher Schwimmbadbesuch. Retardierend Konflikt um Schwangerschaft. Komisches vor aller Augen und hinter der anderen Rücken. Ein Mann, der den Arm voller Stofftiere am Straßenrand vor dem Nikolaiviertel steht. Ein anderer Mann steht, in einem poetischeren Register, mit der Angel am Ufer, der Palast der Republik da, wo heute die Schloss-Ungestalt thront. Eine Sache der Gewöhnung das Timing, auch die Synchro der nicht-deutschen Darsteller killt jeden Anflug von Spontaneität. Wenn man sich ins Pomadige eingegroovt hat, gewinnt gerade das einigen Charme. (65cp)

 

16.3. Il gatto a nove code (Dario Argento, I 1971)

Karl Malden blind in den Straßen von Turin, der Stadtraum wie der Plot ein Labyrinth, in dem etwas lauert, wartet, überfällt, egal, auch etwas ausbricht, zusticht, Gift in die Milch tut, ob man nun schleicht oder rast; auf dem Friedhof, über den Dächern (nun ist es Rom) und auch im Bett. Subjektive ist gar kein Ausdruck für das, was die Kamera als aufgespannter Schreckhorizont hier kreiert, für das generalisierte Vom-Bösen-Gemeintsein, das die Figuren, die sich durch das Labyrinth (die Labyrinthe) bewegen, verfolgt. Recht arhythmisch sind Momente der Verplottung, die recht wahllos Hardboiled- und Wissenschaftsthriller-Motive verrühren, und Momente der Verdichtung zum Horror, der den Plot gar nicht bräuchte, aneinander gereiht. Die Geschichte ist vom Erzählen gelöst wie die Kreuzworträtsel, die Karl Malden entwirft, von der Semantik der alltäglichen Sprache, das sie einzig als Medium braucht, in das es sich zentrums- und ruhelos einnisten kann. So hängt es, an das Blicken geheftet, eine Attraktion nach der anderen an die neun Haken seiner Plotkonstruktion. Es ist rasante Verfolgungsjagd drin, man sieht Frauenkleider und Menschenkörper: geschlitzt, eine Bar mit Menschen sehr diversen Geschlechts, attraktive Frau hinter Milchtütenvordergrund, die Nacht und der Friedhof, Ennio Morricone bis tief in atonale Register, und auf dem Friedhof die Leiche im Sarg im Grab, zu dem die Tür zufallen muss. (77cp)

 

After Sun (Jonas Eika, Dänemark 2017, englische Übersetzung von Sherilyn Nicolette Hellberg, Hörbuch)

Am Anfang steht ein ziemlich fiktive Flugreise, aber die Unmöglichkeit, das Fiktive vom Wirklichen zu unterscheiden, ist vom ersten Satz an gesetzt. Mit magischem Realismus hat das aber gar nichts zu tun, denn vom Krater der Bank in Kopenhagen zur Verschmelzung des Menschen mit einem Sender in der Wüste Nevadas über Tod und Auferstehung und sehr strangen Sex von Strandboys am Strand von Cancún: Es ist, in präzise, harte Sprache gefasst, alles noch in seiner konkretesten Unmöglichkeit als unbedingt wirklich zu nehmen. Auch die Three-and-then-some-Verbindung von Aurora und Rory und dem fluide sich weniger dazu- als hineinfügenden, wenn nicht zum Paar hinzufließenden «Ich», das hier spricht. Fünf Geschichten, sehenden Auges wird von einer UFO-Gesellschaft erzählt, mit Derivaten gehandelt, es geht um Ausbeutung aller Art, aber auch das Genießen von Verhältnissen, in denen jeder Freiraum hart erarbeitet und von diesen Verhältnissen immer schon deformiert ist, bis hin zur Lust sogar genau daran, an der Deformation, der Verbindung des ganz Eigenen mit dem ganz Fremden, im Queeren der Materie wird das Fremdeste eigen, das Eigenste fremd, Halleluja Sonnenschirmsex, technoid verpilzt ist das Leben. (83cp)

(International Booker Longlist 2022)

 

15.3. Die Frau, nach der man sich sehnt (Curtis Bernhardt/Kurt Bernhardt, D 1929)

Im Schmelzwerk, wie eine Sinfonie der Fabrik beginnt der Film, der sich dann aber ganz anders und ganz anderswohin bewegt. Auf geht die Tür in die Geschichte der Firma, der Kontrolleur geht über die Bücher und schreibt «Pleite» auf die Scheibe des Fensters, die er mit seinem Atem angehaucht hat. Es geht dann so weiter, dass der Erbe die Tochter des Kontrolleurs heiraten will, wozu sie mit knapper Not den Segen des Vaters erhalten. Firma und Ehe gerettet, wäre da nicht, aus heiterem Himmel, der coup de foudre an einem anderen Fenster: Marlene Dietrich blickt aus dem Zug, trifft den Blick des Erben, sein Blick trifft den ihren, es ist eine Dreiecksgeschichte (am dickeren Ende: Fritz Kortner), die Geschichte einer Liebe, die alles zerbricht, eine Räuberpistole, denn es gibt einen Mordhintergrund. (Zugrunde liegt ein Roman von Max Brod.) Höhepunkt, neben dem Huschen von Lächeln, dem Erschrecken, dem Ahnen, dem Eineandereseinwollen in Marlene Dietrichs Gesicht, eine wilde Silvesterparty, das Jahr 1929 nähert sich, und zwar gewaltig, die Zeiger der riesigen Uhr im Hintergrund werden von weiblichen Händen verrückt. Mitten ins Gewusel aus Tanz, Luftschlangen, Sekt fährt die Kamera wie das Skalpell in einen zuckenden Leib, sortiert nicht auseinander, was ineinander gehört. So kommt keine Ordnung in die zueinanderstrebenden Körper, eine Drohung mit sehr kurzem Lauf steht im Raum, damit wird der Liebe und der Dreiecksgeschichte der Garaus gemacht. Wie aus einem bösen Traum erwacht nun der Erbe, Zugfahrt nach Hause, als könnte es nach all dem etwas wie ein Zuhause, und sei es ein Schmelzwerk, noch geben. (80cp)

 

Irrlicht (Joao Pedro Rodrigues, PT 2022)

taz-dvdesk (73cp)

 

14.3. Traumnovelle (nach Schnitzler, Regie: Sebastian Hartmann, Schauspiel Frankfurt am Main)

Ihr naht euch, tanzende Gestalten. Einer trompetet. Frack und Zylinder, Glitterkleid, Schlagzeug, und alle im Kreis. In der Mitte der riesigen Bühne ein Kreis aus welligem Sand. Rechts hinten etwas, das ein Tonarm sein könnte, wäre das Kreisrund eine LP. Der Tonarm hebt sich und senkt sich, gekurbelt, funktioniert dann als Rechen, der den gehäuften Sand wieder geradestreicht. Die Gesellschaft nämlich stolpert hinein, kriecht darin herum. Erst aber sitzt sie an der Rampe, später wieder, eine Art Rondostruktur. An der Rampe etwas wie Dialoge, aneinander vorbei jedoch eher, ins Leere, dann Gehen im Kreis, dann Monologe. Mit Hochdruck fasst Annie Nowak (MVP dieses Abends) das Geschehen von Schnitzlers Novelle zusammen, mit Hochdruck und zugleich wegwerfendem Gestus. Der Strand von Dänemark, auch dafür steht der Sand in der Mitte, ruft Dänemark auf, aber auch die Gesichte der Nacht, die am Tage vergehen. Und ein Wunderblock ist der Sand überdies, im Verbund mit dem Rechen, der (aber nicht mehr vollständig) glattstreicht, was die Körper unlesbar hineingeformt haben. Die stolpernden Körper, auch die fallenden, denn ziemlich am Anfang werden sie alle erschossen, wieder und wieder, von anonymen Schützen am Rand, gelb ist das Mündungsfeuer, und eine Dame der Gesellschaft steht ein ums andere Mal wieder auf. Was da auch ist: eine große weiße Kugel, schön, raumfüllend, aber wie gar nicht schwer schwebt sie von der Decke, hängt da, dann mit ihr wieder nach oben. Später da capo. Ebenfalls: Nebel. Vom Rande her: grelle Lichter, sie tauchen die Gesellschaft und ihre Schatten in Traumlandschaften mit scharfer Kontur. Links hinten ist noch ein Flügel, darum versammelt sich die Gruppe recht früh zum Gesang. Zwei Drittel lang hat das alles Zauber, hat einen Rhythmus, der Zwangsverhalten und Freiheit durch das Lose seiner Assoziationen offen verbindet; wunderbare Slapstickeinlage mit Blut, das am Hend klebt und ab ist und dann wieder dran. Und dann beginnt das alles, im Sand und im Schnitzlertext zu versacken. Wie Blei senken sich die Wörter in die Körper hinein. Die tun, was sie können, was sie können, ist Sprechen, aber das Schwerelose, der Zauber ist irgendwann hin. Es hilft da auch nicht der Schlussmonolog an der Rampe. Alles ist, unmerklich ist das vor sich gegangen, nur noch gekonnt. (74cp)

 

Rotation (Wolfgang Staudte, SBZ/D 1949)

Von der Gegenwarts-Rotation der Druckmaschinen und den Kämpfen um die Befreiung Berlins, die Hand eines Toten fällt vom rand her ins Bild, von hier geht es, der Rahmen ist knapp, gleich zwanzig Jahre zurück. An einer Bahnschranke begegnen einander Lotte und Hans, finden, im Grase liegend, zum Du, ein Kind ist gleich unterwegs. Und darauf: Depression. Jobverlust, Jobsuche, Jobverzweiflung, Hans dreht mit anderen Männern mit Muskelkraft ein Karussell. Er findet Arbeit beim Völkischen Beobachter, Rotation, Hitler kommt an die Macht, Schlagzeile, der Schwager geht in den Untergrund und flieht in die Tschoslowakei. Die Salomons, die im selben Haus wohnen, werden abgeholt, Hans leistet sehr passiv Widerstand, hängt das Hitlerbild nicht sofort auf, geht nicht sofort in die Partei, dann aber doch. Und hilft, Rotation, Flugblätter gegen Hitler zu drucken, es ist der eigene Sohn, Hitlerjunge par excellence, der ihn am Ende verrät. Staudte erzählt das ohne Vertun, findet schlagende Bilder, die Kamera fährt die Liste der Toten hinunter, die Orte des Sterbens, bis da nur noch Stalingrad und noch einmal und noch einmal Stalingrad steht. Bei der Befreiung Berlins werden Brücken gesprengt, ein S-Bahn-Tunnel geflutet, Menschen ersaufen, und auch ein Hund. An der Bahnschranke schließt sich der Kreis, an der Gabelung eines Pfades in freier Natur der Aufruf, nie wieder den Weg des Krieges zu wählen: Wir haben es in der Hand. (71cp)

 

13.3. Die Buntkarierten (Kurt Maetzig, SBZ/D 1949)

Die ersten fünf Minuten, der Vorspann, erzählen fast schon die ganze Geschichte. Der Rest ist zugleich hektische und überdeutliche Amplifikation. Der Vorspann: Ein Rahmen ums Bild, die Fotografie setzt sich in Bewegung, und zwar als Kamerafahrt, die über die Generationen hinweg die Figuren und ihre Darstellerinnen und Darsteller vorstellt. Vom Kaiserreich in die Gegenwart, von der Urgroßmutter (über ihre Arbeit gebeugt) zur Urenkelin (später: am Eingang zur Humboldt-Universität), die Heldin als roter Faden ist Auguste (Juste, wo G ist, soll Jott werden), die den Ersten Weltkrieg übersteht, ihr Paul kehrt zurück, glaubt aber ihren Warnungen vor dem nächsten Krieg, den Hitler bedeutet, so wenig wie ihr gemeinsamer Sohn, der mit seiner Familie in den Bomben umkommen wird. Heute würde eine lange Serie aus dem Stoff, der recht konsequent von den unteren Rändern der Gesellschaft erzählt, dafür allerdings einerseits den Schnellduchlauf wählt. Und andererseits immer wieder knirschend zum Stillstand kommt, trotz Tanz und Jahrmarkt in Treptow, um didaktisch für Gewerkschaft zu werben, um mehr als einmal das Bündnis von Krupp und Hitler Marxismus-konform in Anschlag zu bringen. Ende dann: der Zukunft zugewandt. Es muss keinen Krieg mehr geben, wenn wir ihn nicht wollen. (62cp)

 

High Wall (Curtis Bernhardt, USA 1947)

Robert Taylor als Protagonist, dessen Erinnerung flackert. Fest steht, denn das sieht man gleich zu Beginn: Er fährt mit seiner toten Frau neben sich einen Abhang hinunter in einen Fluss. Er steht unter Verdacht, und zwar auch bei sich selbst, sie zuvor ermordet zu haben. Der Moment selbst jedoch ist aus dem Gedächtnis gelöscht, aus dem Krieg hat er eine Verletzung im Hirn, die die beträchtlichen Verwicklungen des Plots möglich machen. Erst kommt der Held in die Psychiatrie, es ist eine Frau, die ihn rettet. Nach längerer Weigerung zeigt er sich bereit, die Erinnerung unter Einfluss der Wahrheitsdroge zurückzurufen: Ein Flashback als wirklicher Traum, die Rückkehr, das Erschrecken der Frau, umgestürzte Stühl, ihr Hals, nach dem er greift. Dann Filmriss. Ansatz an anderer Stelle, bei einem anderen, sinisteren Mann. Es ist keine Frage der Spannung: Hier ist der Täter. Ihm eine Falle zu stellen, mit Umwegen über Liebe und Flucht, Ermittlung in eigener Sache als Mister Kimble avant la lettre; den Mann, der der Geliebte der Ehefrau war, in den Raum des Erinnerns in einem komplementären Flashback zurückzubewegen, auf die Schließung dieses Kreises kommt es hier an. Es ist kompliziert, ein Sohn ist auch mit im Spiel, was die Besiegelung der neuen Familie im Schluss-Kuss möglich macht. (73cp)

 

12.3. Conflict (Curtis Bernhardt, USA 1945)

Humphrey Bogart ist ein Mann zwischen zwei Schwestern, von denen er, wie er findet, die falsche, die ältere geheiratet hat. Die das längst ahnt, so subtil ist ihr Ehemann nicht. Zum fünften Hochzeitstag fasst er den Beschluss, die Gemahlin um die Ecke zu bringen, um so den Weg in eine glückliche Zukunft mit der anderen, einer unschuldigen frei zu machen. Er stürzt sie in dunkler Nacht im Gebirge mit dem Wagen einen Abhang hinab, worauf an der Unfallstelle eine Art Zeltkonstruktion aus Bäumen entsteht. Was wichtig ist, denn dieses Bild (eher: seine abstrakte Struktur) wird ihn verfolgen, indem es, psychoanalytisch verschoben, in anderen Gestalten wiederzukehren beginnt. Überhaupt ist Wiederkehr des (durch Mord) Verdrängten das Szenario des restlichen Films: Die Tote schreibt Briefe. Sie ruft an, ist dann jedoch nicht zu sprechen. Sie hat ein Schmuckstück bei einem Pfandleiher versetzt, den es beim nächsten Besuch nicht mehr gibt. Der Irrsinn beginnt in Bogarts Augen zu flackern, an seiner Unterlippe zu nagen. Als Analytiker, Arzt, Ermittler, Regisseur des Geschehens ist Sydney Greenstreet sein Gegenspieler von formidabler Statur. Mithilfe seiner Lenkung kehrt der Täter an den Tatort zurück, wo er zur Einsicht gelangt, dass er nicht die treibende Kraft, sondern der Getriebene war: Die Rose, die Rose Hobart bei ihrem Tod trug, wird ihm zum Verhängnis. (69cp)

 

The Abominable Dr Phibes (Robert Fuest, GB 1971)

Die Orgel hat Telefon, Doctor Phibes hat am Hals ein Metallkabel, das ihn mit der Sprachausgabe verbindet. Er ist als Vincent Price kaum zu erkennen, trägt Perücke und Maske, unter denen, als er sie abreißt, die im Film als bare Münze zu nehmende Maske eines Verbrannten und Verstümmelten zum Vorschein kommt. Zur Orgel gehört das Orchester der Automaten, sie spielen auf der Zwischenempore Musik. Doctor Phibes, dessen Frau im Sarg auf ihn wartet, hat noch einen Job zu erledigen, bevor er sich zu ihr legt: Nach dem Muster der biblischen Plagen will er all jene töten, die er als die Schuldigen am Tod seiner Frau sieht.  Darum, Motivation des Irrsinns Gialli-artig von hinten, zerschrammen dem einen die Fledermäuse das Antlitz, begegnen einem andern Ratten am Himmel, wird eine andere von grünem Gallert überzogen, von Riesenheuschrecken zerfressen. Sind so aufwendige Konstruktionen, Eine andere Frau, jung, lebendig und schön, heißt Vulnavia, trägt Pelzmütze oder etwas Rotes mit Drähten und spielt die weiße Geige dazu. Die Männer von Scotland Yard legen Stirnen in Furchen und tappsen in einem anderen, etwas biederen Film mit aber gleichfalls interessanten Raum-Design-Architekturen den Mordtaten hinterher. Es ist Wahnsinn, es hat auch Methode, es treibt Blüten der abstrusesten Art, ein wenig schade nur, dass Robert Fuest sich als Regisseur zwar reichlich bemüht, aber kein Meister ist. (71cp)

 

11.3. Der Würgeengel (nach Buñuels Film, Regie: Johan Simons, Schauspiel Leipzig, Leipzig-Premiere)

Keine Schafe, kein Bär, auch kein zum Eindringen unfähiges Außen. Keine Kirche, keine Straßen, keine Schüsse. Es sind auch nur fünf Figuren existenzialistisch versammelt, sie wollen den Raum, der ein Klassenzimmer ist, immer verlassen, was immer unmöglich ist, bis dann auch der Wille zu schwinden beginnt, alles in Wiederholungsschleifen gerät. Die Sehnsucht, wenn sie anderes wäre als die Nachgiebigkeit gegenüber einem Drängen, das nicht aus dem Eigenen kommt, diese Sehnsucht, wenn es hier überhaupt eine gibt, zielt nicht Richtung Schlaf. Man sitzt, erstarrt, hysterisiert, käut die Dialoge des Films wieder, das Unglück im Nizza-Zug, die Reise nach Lourdes, auch das Auftun einer Quelle nach dem Versiegen des Wassers, all das spielt, man weiß nicht warum, aus dem Prätext in den Theatertext hinein und hinüber. Anderes kommt aus dem Inneren der Szene hinzu: Der Name Sandra für die von Sandra Hüller gespielte Figur (falls es etwas wie Figurenkonstanz gibt, einmal werden auf der Bühne die Kleider gewechselt). Das Adressieren der Lage als eben: Theater. Es gibt auch Film, aber nicht aus den fünfziger Jahren, sondern aus der - gut abgehangenen - Gegenwart von Voxi Bärenklau live. Die Kamera fährt sehr langsam (dann steht sie) vorne an der Rampe entlang, fixiert hier und da die ihrerseits durch Text und Existenzialismus Fixierten, das wird auf eine hängende, später sich drehende, später eine weitere Leinwand an der hinteren Seite der Bühne offenbarende Leinwand projiziert. Die meiste Zeit aber ist sie, diese Leinwand, ein unbeschriebenes Blatt. Ganz von außen, als Jugend und als gegenwärtigste Gegenwart akzentuiert, tritt durch eine Tür ganz links hinten eine junge Frau und hält Referate: Über das Perlboot, das vom Aussterben bedroht ist; über die Bienen als kollektive Arbeiterschaft; zuletzt werden Ameisen krabbeln, nicht live, eingespielt, auf der Leinwand. Außerdem links eine Orgel, rechts ein Keyboard, Ausbrüche in Psalmen und Popsongs, die sich auf die Lage nicht immer deutlich beziehen. Dem Buñuelschen Existenzialismus ist das Surreale genommen, die lebende Hand, die Gesellschaftskritik. Es wird ihm ein Referat und die Deutbarkeit als Biodiversitätsausrottungsparabel übergeholfen. Nicht dass das eine zum anderen passt. Aber weil Simons sein Handwerk versteht, fällt es immerhin noch, was es von Rechts wegen sollte, voll und ganz auseinander. (57cp)

 

Geschlossene Gesellschaft (Frank Beyer, DDR 1978)

Solo für Jutta Hoffmann als Ellen. (Im Leopardenrock. In der Strickstrumpfhose. Im von den Kindern beklecksten Mantel.) Solo für Armin Müller-Stahl als Robert. (Mit dem Kamm im Überkämm-Haar. Im Pullover. Am Krankenbett, wo ihm der verunfallte Freund erzählt, dass er des anderen Frau vögeln wollte.) Solo für die Kamera von Hartwig Strobel, die in hyperklaren Bildern das Paar in der Krise in Szene setzt. Ganz buchstäblich: Sie sitzen, nebeneinander, symmetrisch die Komposition, verfahren die Lage, die Betten auseinandergeschoben, staunenswert, wie Hoffmann und Mühler-Stahl die außerordentlich geschriebenen Dialoge theaterhaft, aber im Theaterhaften ganz und gar nicht deklamatorisch sprechen. In Räume hinein. Zum Fenster hinaus. Tisch, Stuhl, Wand, Farbe, Körper: Trocken, sehr trocken, ein Kreisen, ein Suchen nach wunden Punkten, die Ursachen für diese Krise liegen eher im teuflischen dialogischen Kreisen als in anderen, tieferen Gründen. Brutal und blutig und schmerzhaft und Dasein zum Tode ist, grandios verschoben, alles, was außen begegnet: Der Unfall, der elliptisch und repetitiv als Bildpochen die Normalität gleich zu Beginn perforiert. Das Kind, mal wie verschwunden, mal unheimlich redupliziert zur Nachbarschafts-Horde, das Kind mit den schmerzenden Beinen, eine Wunde, die unsichtbar bleibt. Die Begegnung mit dem jungen Mann, den Ellen einst betreut hat, jetzt fast surreal in einer Bodybuilder-Sequenz, und die mit dessen Bruder, der Ellen, wie soll man sagen, zu reißen versucht. Dazu der Nachbar, Sigfrit Steiner, dessen Tiefsinn und dessen Katatonien fast wie aus einem Wenders-Film scheinen; durch seine Umarmbarkeit wird die Figur doch gerettet, Hinaussprung aus den Nahen in größere Fernen. Außerdem Äpfel, an die Bäume geknotet wie in künstlichen Paradiesen. Und im Kinderzimmer wächst das Rettende doch. (80cp)

 

Der Würgeengel (Luis Bunuel, Mexiko 1962)

Existenzialismus in der besten Gesellschaft (geschlossener als sie denkt), surrealistisch grundiert, hier kommt eine Hand aus dem Schrank, da sinken sie, müde, so müde, zu Boden und schlafen. Ismus und istisch, das Leben ein merkwürdiger Traum, der sich, wahrhaft erstaunlich, an einer spät, aber doch ins Bild kommenden Außenwelt scheinbar objektiviert. Zwischen Hier und Da und Da und Hier eine Wand, die, keine ist, die vielleicht ganz aus dem Innen gestülpt ist, an der sich so oder so der Spaten des Verstehens umbiegt, wenn auch auf die meiste Zeit sanfte, müde, sich im Tanz wiegende Weise. Gestorben wird, langsam, Prognosen, die sich erfüllen, Auflösungszustände, Resignation, die reale Wand wird aufgehackt, es wird um Wasser gekämpft, die Zeit ist nicht vergangen, die Zeit ist ein Vergehen und Nicht-Vergehen, ein Eingeschlossensein in der Hölle, die die anderen sind. Oder zu der die anderen spätestens werden, wenn sie nicht gehen, und immer weiter nicht gehen, obwohl längst alles gesagt ist. Die Würde, ohnehin gestohlen, ist hin; das Entkommen bleibt Schein, außer für die Schafe vielleicht und den Bären, der, anders als die Menschen, keinem was tut. (71cp)

 

10.3. Feuer unter Deck (Herrmann Zschoche, DDR 1979)

Am Ende wirft Otto Scheidel (Manfred Krug in einer überaus  Manfred-Krug-haften Rolle) sein Binnenschifffahrtskapitänspatent aus dem Bullaugen-Fenster, das ihm die Lizenz zum Transport bis nach Hamburg und Belgien erteilte. So weit ist die Welt, von der man in Feuer unter Deck allerdings vor allem Magdeburg sieht, Dresden auch und weiter die Elbe hinunter, gelegentlich eindrucksvoll in Totalen, ins Elbstandsteingebirge. Scheidel ist Kapitän auf einem Schaufelraddampfer namens Jenissei, der bessere Tage gesehen hat und nun auf letzte Fahrt geht, bevor er zum am Ufer festgetäuten Restaurantschiff werden soll. In der Stadt wartet auf den Kapitän seine Liebste, Name: Caramba (Renate Krößner, zu hochenergetisch für Carola, wie sie eigentlich heißt), beziehungsweise hat sie vom Warten nunmehr genug. Sie übernimmt als Chefin des Restaurants Ottos Schiff, schickt ihn davon, er blickt von ferne, aber mit den alten Jungs, hat einen Job auf dem Bau. Robust und vulgär geht es zu, Männerbund, Seeleute eben, der Sex ist eine mitunter grobe, jedenfalls keine feierliche, eher eine schön komische Sache, Herz kennt dennoch Schmerz, ein Binnenschiff läuft auf die Sandbank, letztes Hurra für die Jenissei und ihren Käptn. Ins Kino kam der im DDR-Maßstab weltläufig burleske Film denn leider nicht, denn Manfred Krug hatte inzwischen realiter den Pass weggeschmissen und rübergemacht. (66cp)

 

Maigret und die alte Dame (Georges Simenon, F 1950, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Nun wieder Frankreich, Maigret jedenfalls, denn Simenon schreibt das Buch im idyllischen Kalifornien, in Carmel-by-the-Sea. Und nun wieder gerade nicht Paris für Maigret, sondern der Ruf der Provinz. Doppelt gleich ist er erfolgt, dieser Ruf, ins Seebad Étreta nahe Le Havre. Die alte Dame des Titels, Valentine, Witwe eines einst mit einem Akne-Mittel zu Geld gekommenen, dann pleite gegangenen Herrn, sucht Maigret auf am Quai d’Orfèvre, ihre Bedienstete wurde mit einem Gifttrank ermordet, der, denkt sie, eigentlich ihr galt. Die Tote, Rose, war ein Bauernmädchen, das zu viel las, Freud nur zum Beispiel - Simenon weist solchen Ehrgeiz als falschen klassistisch in seine Schranken. Dann ist da Charles, Stiefsohn Valentines Nummer eins, ein Politiker von lokaler Bedeutung, auch er ruft, wiewohl telefonisch, den berühmten Pariser Kommissar zu Hilfe. Der kommt, beobachtet, brütet, geht allen auf die Nerven, spricht mit der Tochter der alten Dame, einer Arlette, die zu ihrem Unglück sexsüchtig ist, wovon ihr Mann, den sie liebt, nichts wissen soll. Dann ist da Theo, der zweite Stiefsohn, der sich kleidet wie der Herzog von Windsor und auch nichts anbrennen lässt. Hinter allem steckt eine fast rätselkrimihafte Geschichte, Schmuck, Geld, Erbe, Arroganz und so weiter. Maigret malt sich eine Selbstjustiz-Lösung aus, übergibt die Täterin dann aber doch den Gerichten, die Recht sprechen, aber Gerechtigkeit bringen sie nicht. (70cp)

(Maigret 33)

 

9.3. The Band Wagon (Vincente Minnelli, USA 1953)

Was den Film zusammenhält, sind die fahrenden Züge. Hier sitzt Tony Hunter (Fred Astaire) hinter der Zeitung, im Off seines Karriereherbsts, mit dem es erst nach der Tour durch die Provinz (Boston, Baltimore und so weiter) wieder vorbei ist, weil mit der Erfolgs-Premiere in New York einer neuer Frühling beginnt. Aus dem Flop wird ein Hit, das ist cum grano salis überhaupt die Geschichte, durch Kuss und Liebe besiegelt, Zugfahrt, Backstage und Hintertreppe, davor und dazwischen die Nummern, als deren Revue der Film insgesamt doch eher denn als narrativer Zusammenhang funktioniert. Souverän ist Astaire als zu alter und zu kleiner Mann, souverän ist er neben den anderen als die Geschwister hassender Baby-Drilling auf Knien. Und mehr als hinreißend die längste der Nummern, ein Hardboiled-Krimi in nicht fürs Theater, sondern für den Film gebauten Kulissen, mit denen die Kamera auf eine Weise verfährt, dass die theatral eingerissene vierte Wand als kubistische Räume-Revue wundersam immerzu wiederaufgebaut wird. Von der Komik zu schweigen, die in der Verbindung von Erzählerstimme, die den Ton der einschlägigen Topoi haargenau trifft, mit Knarre und Femme Fatale liegt, wenn dieser Genreverbund sich plötzlich im Tanz wiederfindet, wirbelnd (die Kamera wirbelt mit) und schießend und mit Stock und Hut. Weniger hartgekocht dann das glückliche Ende, aber es ist verdient, erschossen, erküsst. (74cp)

 

8.3. Nebel (Joachim Hasler, DDR 1962)

Eine Boje im Hafen von Rocksmouth markiert die Stelle, an der die Princess of India sank. Vor genau zwanzig Jahren, ein britischer Kindertransport nach Kanada, von einem deutschen Unterseeboot torpediert. Nun sieht man sich wieder: Bill Smith (Eberhard Esche), eines der Kinder, das einst überlebt, und der undurchsichtige Westdeutsche Eberhard Wedel, einst Verantwortlicher für den Angriff, heute Vertreter von Interessen des militär-industriellen Komplexes. Sein Tod und der Verdacht, der auf Bill Smith fällt, machen den Film zum Krimi bis hin zum Gerichtsfilm, auch wenn er mit einem überzeugend hingesmashten Auftritt von Manfred Krug und den Jazz-Optimisten beginnt: Oh when the saints go marching in; dann sofort Abgang. Auch eine Liebesgeschichte spielt mit, der Vater der Braut ist hin- und hergerissener Polizist. Schauplatz ist Hydes Hotel, dessen Besitzer sich bei den Finanzmachenschaften Wedels verkalkuliert. Es ist sehr sichtbar der Film eines Kameramanns, Joachim Hasler baut jedes Bild mit einiger Sorgfalt, Untersichten, Großaufnahmen, Transparenzstaffelungen in Scheiben, Blicke von droben, Gesicht links, Gesicht rechts, eines dazwischen. Das hat Eleganz, leider sind die ideologischen Versatzstücke, die das Drehbuch in seiner Krimi-Geschichte verpackt und verschiebt, doch eher schlicht. Wer die Verbrechen der Vergangenheit vergisst, wird sie wiederholen. Bill Smith holt vom Grund des Meeres die Trümmer herauf und verschafft dem Film, von der Rückblende unterstützt, bei der Tötung des Schurken ein geschichtspolitisch gutes Gewissen. (62cp)

 

7.3. Play Misty For Me (Clint Eastwood, USA 1971)

Nicht zuletzt ist das: ein Werbefilm für das Monterey Jazz Festival. An den Wänden der Wohnungen hängen die Poster, superlässig ist mit aller Zeit der Welt ein Auftritt gefilmt. Das geht zwanglos, weil Dave (Clint Eastwood mit viel und welligem Haar) ein Radio-DJ ist, von einschmeichelnder Stimme und mit gutem Geschmack, davon zeugen auch die attraktiven Goldwischputzwände, die Kunst und das kleine Paradies an der kalifornischen Küste, genauer: in Carmel-by-the-Sea, wo neue Häuser um Bäume herumgebaut werden müssen und wo Eastwood in den Achtzigern dann zwei Jahre lang Bürgermeister war. Es ist ein sehr schöner Ort, muss man sagen, von rauher Sanftheit das Meer und Felsen, atemberaubend, wie Bruce Surtees mit langen Brennweiten den aufgewühlten Hintergrund fast bedrohlich an das spazierende, liebende Paar heranschiebt. Es ist, in langen Überblendungen werden Muster von Baum und Natur fast abstrakt, das Paradies am Atlantik. Vor nicht zu wildem Wasserfall nackt bis zur Hüfte im Wasser wie fast vom Playboy geschaffen Donna und Clint, aneinander gepresst, skulpturale Sexkörper mit Bögen und Knoten aus Rippen und Fleisch. Und in dieses Paradies dringt, tödlich vernarrt, die Stalkerin ein, Blicke wie Messer, aber auch Messer wie Messer, rammt dies in die Brust, schlitzt das einfach auf. Zwischen supersmooth und ritzend und rasend ist Eastwoods Regiedebüt ein einziger mood swing. Es muss natürlich Kalifornien siegen, die Sonne, das Meer, die Musik: Play Misty For Me. (74cp)

 

Die Beunruhigung (Lothar Warneke, DDR 1982)

Der Rahmen gibt der Beunruhigung, von der Helga Schuberts Drehbuch erzählt, eine Beruhigung vor: Blick auf die Brust der Protagonistin, Inge Herold (Christine Schorn), Mittdreißigerin, ein Schnitt, ein Schock, eine Brust fehlt, Mastektomie. Es sind seitdem drei Jahre vergangen, die Nachuntersuchung steht an, da ist ein Mann in ihrem Bett, mit dem sie sich sichtlich versteht. Der längste Teil des Films ist dann Flashback, ein normaler Arbeitstag im Büro, sie ist Psychologin, ein Ehepaar vor ihr auf dem Stuhl, das sich ganz elend streitet. Dann Anruf beim Arzt, ein OP-Termin wird vereinbart, ein wenig Inge de 5 à 7, Blicke von oben auf Wege in der Stadt, schwarz-weiß gefilmt, fast verloren liegt das Marx-Engels-Forum in Thomas Plenerts Kamera-Bild-Kompositionen. Erzählt wird der Diagnose-Schock als Zäsur, Wegen führen in die Vergangenheit, in die BE-Kantine (Cox Hobbema mit einem kurzen, intensiven Auftritt), aber nicht ins Theater, sie besucht eine Klassenkameradin, sucht den Mann auf, den sie einst, zu Schulzeiten, liebte, er hat eine Tochter, auch bei ihr zuhause ja Mike, der Teenagersohn, die Küche voll Freunden, eine erste Freundin, laute Musik. Bei dem Mann, den sie aufsucht, wobei sie zunächst in den innigsten Alltag der Nachbarwohnung gerät, bei diesem Mann, den wir aus dem Rahmen schon kennen, da wären, im Fall einer Zukunft, von der wir schon wissen, Anknüpfungspunkte. Hinreißend nebenbei ist das alles gespielt, low budget und teilweise improvisiert, Christine Schorn die zugleich weiche und toughe Anti-Pathetikerin, immer schon nicht mehr jung, dem Leben zugewandt, es geht, und gar nicht so schlecht, erst einmal weiter. (75cp)

 

6.3. Vanishing Point (Richard Sarafian, USA 1971)

Ein Mann fährt um sein Leben, nein, er fährt sein Leben an die Wand. Das Fahren, bei dem er ganz cool bleibt, als letzter Exzess, als Inbegriff des Lebens, eine Raserei über die Straße, durch die wüste, von Nevada nach Kalifornien, aber geografischer Art ist das Ende, auf das er hinauswill, ganz sicher nicht: Die Ausweglosigkeit ist das Ziel. Der Vanishing Point: Tod, Feuer und Flamme. Nicht wie bei Monte Hellman das Zerschmurgeln der Repräsentation, sondern das Brettern gegen den Bagger, konkretes Spektakel als Abschluss eines Kinos der Attraktionen, deren Mischung ist von schöner Bizarrerie: ein Korb voller Schlangen, in der Wüste singende Christen, ein blinder, schwarzer Radio-DJ, der zum quasi-göttlich inspirierten Einflüsterer des rasenden Kowalski wird, und dann, nicht zuletzt, eine splitternackte Blonde auf dem Motorrad. Der: Ex-GI, Ex-Cop, Ex-Rennfahrer, jetzt nur noch ex und dann hopp. Mehr als cheesy die Flashbacks, die, etwa mit Charlotte Rampling, erklären, was gar keiner Erklärung bedürfte. Sowas kommt nicht von sowas, sondern von der Lust am Spektakel, Auto und Jagd und Verfolgung, Geschwindigkeit, Konfrontation, Ausweichen, sich leer erstreckende Landschaft und Wüste, eine Lust, die sich auf der Tonspur mit fast schon zu viel Musik unterstreicht. Und weil Kowalski nicht psychologisch, sondern attraktionstheoretisch zu nehmen ist, endet der Film im Triumph: Mehr Knall geht nun nicht. (74cp)

 

Maigret in Arizona (Georges Simenon, F 1949, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Nun die Umkehrung: Nicht der Kollege von Scotland Yard bei Maigret, sondern Maigret als Beobachter in den USA unterwegs. Wobei es zum Unterwegssein erst am Ende, mit dem Flug nach Kalifornien, kommt. Zuvor sitzt der Mann aus Paris in Tucson, Arizona, buchstäblich fest. Und zwar bei einem Prozess. Eine junge Frau, mit 17 schon einmal geschieden, nun verdient sie ihr Geld in einer Bar und als Gelegenheitsprostituierte, verschwindet in der Nähe der mexikanischen Grenze, ein Zug hat sie zerstückelt, der Kopf wird vom Rest des Körpers getrennt. Fünf Männer von der Airforce-Base, mit denen sie unterwegs war, werden verdächtigt, sie womöglich vergewaltigt und getötet zu haben. Der Roman folgt, mit und durch Maigret, der Befragung, bei der es zu widersprüchlichen Aussagen kommt. Maigret sitzt, wie so oft, macht Beobachtungen, der Personen, aber auch, nicht von Klischees frei, der amerikanischen Sitten (warum fragt der Coroner nicht nach dem, was auf der Hand liegt, dem Sex?), doch im Frage-und-Antwort-Spiel will sich die von Simenon sonst so virtuos erzeugte Maigret-Trance nicht einstellen: Es bleibt der Kommissar und mit ihm das Milieuwahrnehmungsdrama stillgestellt, passiv, verhockt. (60cp)

 

5.3. An American in Paris (Vincente Minnelli, USA 1951)

Ein erträumtes, erbautes, gemaltes, halluziniertes Paris, Toulouse-Lautrec was here und ist als bewegliche, verlebendigte Kulisse geblieben. Eine Welt der reichen Prinzessinnen, die sich in Maler vergucken, der armen Maler, die im nicht unanzüglichen Tanz-Kaleidoskop vorgestellte junge Frauen so lange anstarren, bis sie zurückbegehrt werden, eine Welt also, in der es nur Spurenelemente von Wirklichkeit gibt. Die Kamera und die Stimmen setzen auktorial ein, Wände entlang, sehen zu Fenstern hinein und landen da, wo sie landen sollen: bei drei Männern der Kunst. Einer malt, Gene Kellys erster Auftritt als alltägliches Bewegungsballett in die winzige Dachgeschosswohnung hineinchoreografiert. Einer spielt das Piano, erfolglos, und träumt sich in den hyperauktorialen Triumph, in dem er dirigiert und das Klavier spielt und auch die Geige und sich am Ende selbst zujubeln darf. Der Dritte ist der, der in der Wirklichkeit reüssiert, darum wird er zuletzt die Frau, die den anderen liebt, den von einer anderen zugleich Begehrten, aus dem zur Hochzeit fahrenden Auto aussteigen lassen; es hat ihn dazu eine furios durch die Szenerien gleitenden, springende, einen Brunnen aus künstlichem Wasser umtanzende, die Zeiträume und Rhythmen sprengende, in diesem Sprengen alles, was es an Restwirklichkeit noch gegeben haben mag, an sich reißende Sequenz nachgerade gezwungen. Es ist hier das Hinreißende ohnehin von einiger Brutalität, Gene Kelly als Figur, die mehr smug als verführerisch ist; wäre da nicht seine Kunst der Bewegung, die, als wäre es gerade nicht seine, es aussehen lässt, als tanzte nicht er, sondern als würde er selber getanzt, von einem lebendigsten Element, das diesen Körper bewohnt, als eine Beherrschung, die sich der Beherrschbarkeit durch ihren Darsteller als das eigen nicht ständige, sondern als Eigentanz widersetzt. (82cp)

 

Die Schauspielerin (Siegfried Kühn, DDR 1988)

In der Garderobe: nicht ein Spiegel, sondern drei. Links unten ein Foto, die Dietrich. Auf der Bühne ist auf der Bühne, aber nicht auf der Bühne ist, anders, auch auf der Bühne. Zuhause wird gespielt, wird verbrannt, wird das Foto des geliebten Mannes, es sind die frühen dreißiger Jahre, verbrannt. Sie (Corinna Harfouch) darf spielen, blond, sie darf auf Bänken sitzen, die nur für Arier sind, Schiller und Kleist, sind so deutsche Stücke. Sie steht da, deklamiert, in der Rüstung, die Bühne dreht sich ins Dunkel. Er (André Hennicke) wird als Jude existenziell ins Dunkle gedreht. Noch gibt es in Berlin ein Theater, von Jüdinnen und Juden für Jüdinnen und Juden. Sie geht nach München, sie wird gefeiert, sie färbt sich die Haare, besorgt sich einen falschen, einen jüdischen Pass, sie gilt als tot. Harfouch und Hennicke geben Theater-, wenn nicht Opernfiguren (die Musik spielt das mit), von der Bühne in ein fantastisches Draußen, Licht und Dunkel im Wald, sein Gesicht noch geschminkt. Die Historie ist hier kein zur Illusion geschlossener Raum, sondern eine Kulisse, modernistisch ganz ernst genommen, die Figuren sind Gestalten, die sich selbst, zutiefst auftrittsfähig, nicht durchsichtig sind. (74cp)

 

Licht, Schatten und Bewegung. Mein Leben und meine Filme (Volker Schlöndorff, D 2008)

Volker Schlöndorff ist einer, der Erstaunliches erlebt hat: als Schüler das Gehen nach und Bleiben in Frankreich, Abiturklasse am Pariser Elitegymnasium mit Bertrand Tavernier, in dessen vollgerümpeltes Bildungsbürgertum es ihn hineinzieht. Lehrjahre und Freundschaft mit Louis Malle, Assistenz bei Jean-Pierre Melville, der immer ganz, ja engstirnig, genau weiß, wie man es macht (und was gar nicht geht), Assistenz bei Resnais in Marienbad. Sturzstart in den Neuen Deutschen Film, Zusammenhocken mit Werner Herzog und Fassbinder, der Törless als erster großer Erfolg, der Kohlhaas als erstes großes Desaster (der eine oder andere Unhold wird folgen), Liebe zum Zusammenarbeit mit Margarethe von Trotta, deren berüchtigtem Wort über ihn, Schlöndorff, er sei ein «Monument der Schwäche», er ausdrücklich zustimmt. Ausführlich wird das Tagebuch zum Dreh der Blechtrommel buchstabiert, nun ist er weltberühmt, in Hollywood unterwegs, Freund Dustin, Freund John (Huston; auch Malkovich), Faye Dunaway Diva, er schüttelt allen die Hand, alle schütteln die seine, Leben mit zwei Frauen zugleich, Affäre mit Lemper, dann eine, die die ejaculatio praecox für immer heilt. Aufs und Abs, die Studio-Babelsberg-Übernahme, angefeindet von allen außer, naja, Freundin Angela Merkel, mit den Filmangeboten wird es hinterher dünner, aber berühmt ist berühmt. All das, und vieles mehr, schildert das Ich dieses Buchs nach Art eines ziemlich unbeteiligten Protokollanten. Es hat Ansichten, aber die sind handlich, verpackt, verschnürt. Kein origineller Gedanke, nicht einmal eine unerwartete Leidenschaft für diesen Film oder jene Figur ist zwischen die Zeilen geraten. Man sollte annehmen, dass der, der hier berichtet, bei all den aufregenden Dingen, die ihm widerfuhren, dabei gewesen sein muss. Aber es liest sich nicht so. (52cp)

 

4.3. Bis dass der Tod euch scheidet (Heiner Carow, DDR 1978)

Im Anfang sind Ton und Bild, und zwar sind sie geschieden. Ein Paar, das sich mit der gängigen Formel die Ehe verspricht, wir sehen nur Laub, es bewegt sich im Wind. Dann eine Party, Feiern und Trinken, die Schwester des Bräutigams ist in einen Nebenraum ausgeschert mit einem Mann, der nicht ihr eigener ist. Was nun folgt: Szenen einer Ehe. Der Sex, der gut ist und gut bleibt und als Versöhnungssex wieder und wieder das Ende der Beziehung verhindert. Das Kind, das nie ins Zentrum gerät, nur als Zankapfel, weil der Mann nicht will, dass die Frau, Katrin Saß in ihrem Debüt findet für das Leiden wie das Kämpferische schön übergangslose Register, wieder an der Kasse der Kaufhalle arbeiten geht. Hinter seinem Rücken macht sie einen höheren Abschluss. Prügel, heftige Reißschwenks. Er scheitert, hat nicht die Worte zu sagen, was ihn überkommt; klassischer Fall des Schlägers, der, wenn es zu spät ist, bereut. Klassischer Fall der Frau, die nicht einmal, sondern viel zu oft alles verzeiht, bis sie glauben muss, dass gegen den toxischen Mann nur Gift helfen kann. Ein Film der Ellipsen, die wie Schlaglöcher sind. Feierszenen der abgründigen Art, ein Mann demütigt seine Frau und alle schauen nur zu, DDR noir, der Alltag dazwischen. Am Ende der Mann zum Schweigen gebracht, Heulen, draußen vor dem Fenster wird wieder freudlos gefeiert, und Schnitt. (78cp)

 

Monde vor der Landung (Clemens J. Setz, D 2023)

Peter Bender, den es gegeben hat, ist ein Irrer, jedoch der - zumindest in dieser erfolglosen Variante - harmlosen Art. Clemens J. Setz zeichnet, sehr ausführlich und dokumentengestützt und übergenau, seinen Lebensweg nach. Von Worms in den Krieg, fast tödlicher Absturz, das Hineindenken in Thesen der absonderlichen Art, zu Geld und zu Geschlechtern, vor allem die Hohlwelten-Theorie und dann was mit Monden, das hat es in den Titel des Buches geschafft. Auftritte, Traktate, ein Roman, Gründung von Gesellschaften, vieles aus zweiter Hand, ein Privatgelehrter, dem nicht das Eros der Wissenschaft, aber die Fähigkeit zur Überprüfung des Unsinns fehlt, den er verzapft. Setz folgt ihm brav, natürlich nicht gläubig, auch nicht auf psychologische Fassbarkeit reduzierend, aber so, als wäre an dem Mann und seinen windschiefen Gedankengebäuden mehr als nur das eine oder andere interessant: nämlich alles. Die Ehe, die Affären, meist in der Nähe der erlebten Rede geschildert, aber nur in ausgewählten Szenen fast ganz subjektiv, etwa in der Verstörung nach dem Absturz. Sonst aber von einer Beschreibungsredundanz recht ausmalrealistischer Art, in der Irrenanstalt, in der Nazi-Gesellschaft der alles andere als harmlosen judenhassenden  Irren, die ihn, der sich zwischendurch für den wiedergeborenen Hohlweltenentdecker hält, und seine jüdische Frau immer weiter bedrängen; am Ende wird er im Konzentrationslager sterben. Historienroman, der von der sich nicht vermittelnden Faszination für seinen Gegenstand übermannt bleibt. (58cp)

 

3.3. Die dicke Tilla (Werner Bergmann, DDR 1982)

Zwei Mädchen, Tilla und Anne-Sophie, etwa zehn Jahre. Schauplätze sind der Unterricht, wo der Lehrer nicht sehr streng die Ordnung aufrecht erhält. Zum Konflikt kommt es draußen, wo sich Tilla als die Bestimmerin aufspielt, die eigensinnige und kluge Anne mit ihrer Briller, unterstützt vom Kreis der Getreuen (immer dabei: Knutschi), mitten in der Stadt (es ist Potsdam) kujoniert. Bei anderer Gelegenheit hat Tilla einen Fisch aus dem Wasser geangelt, Anne entreißt ihn ihr und wirft ihn ins Wasser zurück. Darauf demoliert Tilla den Vorderreifen am Fahrrad der Kontrahentin, das ziemlich Bonanza-haft ist. Werner Bergmanns Kamera folgt dem Geschehen manchmal ganz nah, strudelt sich in Gesichter und das Zusammenstehen der Körper hinein, manchmal fährt sie auch am anderen Ufer auf Abstand beobachtend mit. Ganz und gar aber lässt sie sich auf die nächtliche Fantasie Anne-Sophies ein: ein fliegender, sprechender Fisch vor dem Fenster, hinaus und hinauf und davon, die kindlichen Gemälde werden zu Wirklichkeitsgrund. Toll, wie die Darsteller*innen hingestemmt stehen, den Text so sprechen, dass er nicht aufgesagt ist, sondern wirklich ihnen gehört. Bezaubernd die Vorgedanken zum ersten Kuss, der dann wie hingetupft wirkt. Am Ende Versöhnung, hoch oben, die Leitern zur Seite gestoßen, auch da geht es ums Küssen und die wirklich wichtigen Dinge des Lebens. (75cp)

 

2.3. Die Kuckucks (Hans Deppe, SBZ/D 1949)

Diese Kuckucks sind die Unschuld hoch fünf: Kurz nach dem Krieg, die Mutter ist tot, der Vater vermisst, die älteste, Inge, führt das Regiment über die drei Jungs und die kleine Schwester. Sie werden von einem Unterschlupf in den anderen geschubst, das ganze Haus ist froh, als sie weg sind, die ältere Dame, in deren puppenstubenartigen Wohnung sie landen, trauert um ihren ebenfalls im Krieg vermissten Sohn und kriegt Zustände, wenn es lärmt oder auch nur ein Möbel verrückt wird. Das ist, zunächst mal, die ältere Generation, später kommt noch ein Herr Schulze als Schurke dazu, dessen Verbrechen aber nichts mit denen der Nazis zu tun haben: Der Neubeginn, von dem dieser Film erzählt, verschweigt fatal und komplett Drittes Reich, Holocaust, überhaupt Schuld; im Tresor im Keller liegen Papiere, dabei geht es aber nur um Eigentumsbetrug. Dafür bauen sich die Kuckucks (eigentlich: Kuckerts) in einer zerstörten Villa ein neues Zuhause, mit Schwung und Pressebegleitung (der Nachbar, jung und fesch wie die Jungen hier alle, arbeitet bei der Berliner Zeitung), über die Beschwerden und Bedenken der Alten hinweg. Ein Nestbauwunder, die Bahn ist frei, der Blick in die Zukunft gerichtet. (65cp)

 

1.3. Lissy (Konrad Wolf, DDR 1957)

Quick heißt das Schnellrestaurant in Berlin, in dem Lissy die Kasse bedient. Sie verliert ihren Job, als sie sich, schwanger, gegen die Zudringlichkeit ihres Chefs wehrt. Auch ihr Mann, der Vater des Kindes, wird arbeitslos, treppauf, treppab geht in Überblendungen die vergebliche Suche  Es ist das Jahr 1932, Vorlage F.C. Weiskopfs 1937 veröffentlichter Roman. Eine Totale, in der am damaligen Bahnhof Danziger Straße die U-Bahnen und Trams kreuzen, wimmelndes Leben mit Autos und Menschen, auch Züge durchschneiden mehr als einmal das Bild. Man sieht sie wieder, diese Kreuzung, scheinbar unverändert, am Ende, aber da haben die Nazis die Macht längst übernommen, davon sprechen auch verkantete Winkel beim Gang hinaus auf die Straße. Auch in Lissys Leben regieren die Rechten, der Mann schleppt bald den feisten Goebbels-Kumpel Kaczmierczik ins Haus, dem Werner Bergmanns Kamera von hinten und unten Züge des Vulgär-Dämonischem gibt. Zum Schaudern ein besoffenes O Tannenbaum am Klavier, das Schnapsglas hüpft bedrohlich dazu. Später ein dunkler Monolog von Kaczmierczik im spiegelnden Glas eines Schranks, Lissys Bruder, erst links, dann Ganove, dann Nazi, wurde, weil er den Reichen weiter ans Leder will, von den eigenen Leuten gemeuchelt. Von Zeit zu Zeit meldet sich eine berichtende weibliche Stimme, kommentiert, ordnet ein, während die Titelheldin Lissy, von der man zunächst noch erfährt, dass sie die Männer liebt und die Liebe, immer passiver wird. (73cp)

 

L'Envol (Pietro Marcello, F 2022)

cargo #57 (73cp)

 

 

FEBRUAR

28.2. Die Brücke (Arthur Pohl, SBZ/D 1949)

Die Umsiedler kommen, man steckt sie ins Lager jenseits des Flusses, über den eine wacklige Brücke geht, die die neuen und die alten Bewohner verbindet und trennt. Groß ist das Ressentiment, am Stammtisch vor allem, in der Kneipe Zur goldenen Kugel, größer wird es, einerseits, als in der jüngeren Generation erotische Energien von der einen zur anderen Seite zu fließen beginnen. In deren Zentrum: Hanne, gerade mal achtzehn, Tochter des Umsiedler-Sprechers Michaelis (exzellent zerknautscht: Karl Hellmer), von gleich zwei Männern umworben, was, weil der eine, Neffe des Bürgermeisters, bereits eine Affäre mit der verheirateten Gastwirtin hat, für zusätzlichen Unfrieden durch Eifersucht sorgt. Zum Beispiel beim Tanz. Andererseits bedeute Liebe natürlich Annäherung, der Bürgermeister ist ohnehin von Anfang an um Ausgleich besorgt. Es hilft dabei der Wacholderschnaps, den Michaelis aus dem Osten mitgebracht hat. Alles Politische übersetzt sich so wie von selbst ins Private. Die Katharsis verlangt dann nach doppelt tragischer Aufgipfelung: Zerstörung der Brücke und ein Feuer, das als Ergebnis von Eifersuchts-Reibungs-Energie vom Schicksal/Drehbuch gelegt wird, schwimmen die Umsiedler über das Wasser solidarisch zu Hilfe, die Bewohner des Dorfes sind unversehens zur Gemeinschaft geformt. (70cp)

 

27.2. Eolomea (Herrmann Zschoche, DDR/Sowjetunion/Bulgarien 1972)

Acht Raumschiffe, die verschwinden; ein Frühlingsplanet irgendwo draußen im All namens Eolomea, das sind die Science-Fiction-Prämissen. Wichtiger aber der Roboter für alles mit dem rechteckigen Kopf, ich küsse Ihre Hand, Madame; der Salz-und-Pfeffer-Norweger-Pulli, der sich im Weltraum gut macht; das Schild über dem Fenster des Gleiters, das vor dem Öffnen vor Halt des Zugs warnt; der Spurt ins Meer, die Kamera fliegt nach hinten oben davon; der Wein, auf der Terrasse am Meer vor den Palmen auf die weiße Hose gekippt; die Schildkröte und die Galapagos-Motive, am Schwarzen Meer in Bulgarien gedreht; das sexy Ringe-Kleid von Cox Hobbema, deren leichter holländischer Akzent für eine der vielen Noten leiser Fremdartigkeit sorgt; das Auditorium der Raumagentur, gefüllt mit mehr People of Color, als man sie in sämtlichen US-Science-Fiction-Filmen der Siebziger überhaupt findet; die dazwischenflirrenden Szenen am Wasser, es könnte Brandenburg sein; das Gleißen der Raumschiffmodelle vor der Schwärze des Raums; die Gespräche vor wilder Bergkulisse mit Schnee, die gezackten und farbigen Felsen des fremden Planeten; die abstrakten Schlierenbilder dazwischen als schiere schöne Anderewelthaftigkeit; alles ist hier heimelig fremd, die DDR fern, nur dass die Synchronsprecher nach ihr klingen, die Körper und ihre Bewegungen von ihr zeugen, wenngleich noch mehr von der ganz und gar einheimischen Sehnsucht, die sich in den Bildern der Ferne nicht versteckt, sondern als entspannte Psychedelik in bewegender Offenheit zeigt. (77cp)

 

Treffpunkt Aimée (Horst Reinecke, DDR 1956)

Deutsch-deutscher, genauer: Ost-West-Berliner Kriminalfilm um einen Mann, der die Verschiebung von PVC orchestriert. Das Weich-PVC trägt, noch von der I.G. Farben her (so ragt die Vergangenheit hier hinein), den Namen Igelit. Beim Grenzverkehr der LKWs von Westen nach Osten geht es zum Schein nur um Gips. Da stimmt aber etwas nicht in den Bilanzen, ein gemütlich scharfsinniger Ermittler von der Volkspolizei gerät auf eine Spur, da räumt man ihn aus dem Weg, oder versucht es. Seine Tochter ist unschuldig mehrfach in alles verwickelt, amourös bindet sie sich ebenso wie beruflich an die ganz Falschen. Der Treffpunkt Aimée ist eine Tanzbar, die Bilder sind atmosphärisch schwarz-weiß, das Schaubild erklärt, wie das Weich-PVC hergestellt wird. Und Gisela May verkörpert das Böse nicht weniger als der Drahtzieher namens Wespe sehr elegant, auch wenn der Plot und das Bild der Zeit nichts Besonderes sind. (63cp)

 

26.2. Träum’ nicht, Annette (Eberhard Klagemann, SBZ/D 1949)

Wo sind wir hier? Alles irgendwie Wien, Operettenfilm, dreißiger Jahre, rollendes Bühnen-R Jenny Jugo. Wie geträumt muss schon diese Wirklichkeit im Deutschland anno 1949 erscheinen, die junge Frau als Französischlehrerin zwischen erst zwei Männern, dann sind es drei. Der eine Diplomat, der andere Wissenschaftler, der dritte spielt nebenan das Klavier. Sie alle wollen von Annette (ohne e zu sprechen) das eine, nämlich die Ehe, sie bemühen sich, auf indirekte Weise zuerst, dann sehr direkt. Annette wirbelt auf einer drehenden Scheibe, sie fährt auf einem Boot durch eine Lustgrotten-Attraktion. Dazwischen realiter U-Bahn, aber vor allem, dem Imperativ des Titels zum Trotz diese Träume. Und die sind, man muss sagen: spektakulär. Träume von Schlössern, sie schrumpft zum Däumling, der Wissenschaftler hat ein Gerät zur Stummschaltung der Menschen entdeckt. Kann aber auch Menschen aus ihren Anzügen zaubern, die stehen als leere Jacke herum. Schlusstraum vom Konzert, bei dem das Publikum sich verdrückt, alles verstummt, Rückkehr in die realitätsferne Wirklichkeit der Liebesromanze. Entscheidung am Bahnhof, Züge fahren nach Paris oder Salzburg, die beiden Verlierer sind galant genug, sich nicht weiter zu grämen, dem küssenden Dritten wird verziehen, dass er der sonst sehr selbstbewussten Annette (immerhin war er besoffen) den Hintern versohlt hat. (70cp)

 

Berichte aus der Ukraine 2 - Tagebuch einer Invasion (Igort, Italien 2023)

cargo #57 (74cp) cargo

 

25.2. Bis ans Ende der Nacht (Christoph Hochhäusler, D 2023)

Shiny objects, im Hellen, im Dunklen, nie ganz hell und nie ganz dunkel, halb durchsichtig alles. Die Räume, in denen semitransparente Barrieren den Blick auf meist attraktive Weise nicht und doch auch versperren. Die Kamera fährt, unruhig, aber nicht aufgeregt, nach rechts und nach links. Sie tigert. Sie nimmt, Küche, Zimmer, Balkon, eine Gesellschaft in den Blick, queer, trans, in der Küche ein Mann, der ist cis. Und doch undercover. Leni, die blonde trans Frau, ist Lockvogel und Liebesobjekt. Hier wird es, ist es von Anfang an kompliziert. Die Szenen sind für die Betrachter*in guesswork. Was ist es, das sie mit ihm und ihn mit ihr verbindet. Beruflich/privat, cis/trans, hetero/queer, um diese Achsen ist alles, und zwar mehrfach, gespiegelt. Es steht das private Glück, die Zukunft und sogar die Vergangenheit auf dem Spiel. (Die Frage, was man füreinander am Ende gewesen sein wir. Blick in die Kamera, zynisches Ende.) Das klingt alles ausgedacht kompliziert, auf dem Papier. Und ist noch komplizierter, als Film. Auf allen Ebenen Brechungen, Spiegel. In den Psychen, Anziehung, Abstoßung, Anziehung, die Unsicherheit, gespielt oder nicht, das zitternde Lächeln von Thea Ehre, das Aufwallen von Timocin Ziegler, Hin und Her und Auf und Ab im Begehren, im Genre-Plot, in den Kamerafahrten, den Bildern. Tolle Kompositionen, hinreißendes Licht, shiny objects als Scherben, an denen sich das Denken und Fühlen schärft, bis es abgestumpft ist. So kommt das Melodram nicht vom Boden, man sieht das Blut, nur wird der Puls des Films mit jeder weiteren Wendung schwächer, nicht stärker. (67cp)

 

O estranho (Flora Dias, Juruna Mallon, Brasilien/Frankreich 2023)

Garulhos ist eine große Stadt im Staat São Paulo, aber was man der Film zeigt, ist zweierlei: Flughafen und Natur. Statt eines Erklärtexts zur Geschichte des Landstrichs Annäherung in Großaufnahmen an Boden und Grund, Jahreszahlen, 1492 zum Beispiel, eine nackte Frau hockt am Fluss. Hier haben Indigene gesiedelt, hier war Land, das man ihnen genommen hat. Auch für den Flughafenbau wurde Boden geraubt, hat man aus Häusern und Straßen Flugscharen gemacht, die Vergangenheit ist nur noch als Erinnerung jener präsent, die man vertrieb - der Titel des Films spricht jedoch nicht von der Vertreibung, O estranho beschreibt die Gegenbewegung: das Eindringen in einen Raum, eine existierende Welt. Manche sind noch da, an diesem nun neuen, anderen Ort, arbeiten in den Jobs, die der Flughafen schuf. Die Szenen, in denen der Film die Geschichten dieser Figuren zeigt, schillern zwischen Dokumentarischem und Fiktion, die Frauen und Männern spielen sich selbst, aber in diesem Spiel gibt es ein Moment der Freiheit durch Treibenlassen, Erfinden, der Eigendynamik, für die der Zwischenraum zwischen der, die man spielt, und der, die man ist, genug Platz ist: Dieselbe und nicht dieselbe. So kehren auch Indigene in ein Dorf in der Nähe zurück, treu ihrem Glauben, treu ihren Sitten, aber es sind nicht nur die, deren Vorgeschichte dort lag. eine Rückkehr, die auch ein Eindringen, wenngleich ins Eigene (ins «Eigene») ist. (73cp)

 

24.2. Llamadas desde Moscú (Luis Alejandro Yero, Kuba/Deutschland/Norwegen 2023)

Vier Kubaner, queer alle, in Moskau gestrandet, in Wohnungen, Zimmern, Betten, denen aller Charme fehlt. Sie kommunizieren, vom Film stets vereinzelt, über ihre Handy, mit Bekannten, mit Freunden, im Hintergrund Geräusche von Wohnung und Stadt (weitab vom Zentrum). Einer vertickt am Rechner teure Quacksalber-Medizin, einer sieht einem irren kubanischen Einpeitscher auf einem Bildschirm zu. Es geht in den Gesprächen auch um den Krieg, der in der Stadt erst gar nicht zu spüren ist, und dann sehr. Draußen liegt Schnee, darunter ist monoton anschwellend dräuende Soundscape gelegt. Über die Einsamkeit der Männer hinaus wird sehr wenig klar, zum Beispiel ihr Verhältnis zur Person, die das filmt; zur Inszeniertheit der einzelnen Szenen. Zu woher und wohin, zu Vorgeschichten, Zusammenhängen, Vergangenheit, Zukunft. Vermutlich fängt gerade das die Situation treffend ein, aber das Gefühl, man werde hier doch etwas angestrengt im Dunkeln gelassen, stellt sich ebenfalls ein. (54cp)

 

Beschreibung eines Sommers (Ralf Kirsten DDR 1963)

Das mit dem Huren und dem Saufen müsse er, Tom Breitsprecher (Manfred Krug), sein lassen, wenn er auf der Baustelle arbeiten wolle, mahnt ihn sein langjähriger Freund. Er sagt es zu und macht sich als Anleiter und Aufseher idealistischer sozialistischer Jugendlicher ans Werk, deren Idealismus er auf knorrige Weise nicht teilt. Und die Jugend hat er mit seinen dreißig Jahren auch hinter sich. Als ihm Grit (Christel Bodenstein) mit dem FdJ-Ausweis kommt, wischt er ihn weg. Nicht wegwischen lässt sich dagegen Grit, die Kamera nähert sich ihren Köpfen, blendet dunkler, blendet wieder hell, da kommt auch, der einen Nacht zum Trotz, keine Lilo dazwischen. Schön und satt und warm ist das schwarz-weiße Bild, am Tag im blühenden Feld, aber auch in der Nacht auf der Brücke, und ganz besonders, als im Wald ein Feuer ausbricht Aufgebaut wird handwerklich ordentlich, kein Gezweig im Beton, Grit wird Haupt-, der Sozialismus bleibt Nachgedanke. So wird der Sommer, der kam, wieder gehen, der Freund mahnt als Stimme der Partei; das Ende hält das Glück, das nicht verweilen kann, noch einmal, und lässig, fest. (73cp)

 

23.2. Roter Himmel (Christian Petzold, D 2023)

Ein Hausfilm. Zwei junge Männer auf dem Weg zum Ferienhaus auf dem Darß: Mit einem Knall explodiert was im Automotor. Kein Netz. Das Haus ist wider Erwarten bewohnt. Zwei schlechte Nachrichten und ein Achsensprung in der Küche: Hier ist noch mehr, als es scheint, aus dem Lot. Es dauert, bis die Frau sich materialisiert: erst als Geräusch, beim Sex, dann, wie direkt der Fantasie entsprungen, im roten Kleid, draußen. Das Spielfeld ist übersichtlich, ein weiterer Mann kommt hinzu, dann noch einer, es ist eine Geschichte, die warten kann, die mit Erwartungen spielt, die Omen früh streut, quiekende Schweine, am Horizont Feuer, eine Erzählung die aber mit sich zurückhält, sich selbst als unzuverlässige Erzählung markiert (ob das mit dem zitierten Werner Hamacher ein Beben der Darstellung ist, ist eine andere Frage; das Feuer vom Darß ist nicht das Beben von Chili, Petzold schlägt sich auf die Seite des ironischen Romantikers Heine). Ohnehin legt sich Roter Himmel nicht fest auf ein Genre. Da ist ein Araber mit Teppich unter dem Arm, in Tausendundeiner Nacht sind wir auch, das Erzählen als die Kunst, ein überzeugender bullshit artist zu sein. Der Protagonist, der Schriftsteller ist, hat bullshit geschrieben, zum artist muss er noch werden, der Film erweist sich, per finalem Achsensprung anderer Art, als sein ganz persönlicher Selbsterkenntnisroman: Erzählbar geworden als comedy of embarrassment des beschränkten Horizonts und klassistischen Blicks. Und so hat der Film ein doppeltes Ende, die Tragödie, die Schlag auf Schlag und ziemlich eiskalt serviert wird; obendrauf das romantische Erlösungs-Happy-End, mit dem sich Petzold selbst als ultimativer bullshit artist erweist. Der Tod muss warten, die Liebe darf vorläufig siegen. (73cp)

 

Mein Freund Maigret (Georges Simenon, F 1950, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Porquerolles, Insel der Seligen vor der französischen Mittelmeerküste, hierhin flieht Maigret aus dem kühlen Paris und hat dabei seinen Kollegen von Scotland Yard, Inspektor Pyke, im Gepäck. Der ist auf der Spur der Methoden des berühmten Kommissars, der sich allerdings seinerseits im Spiegel betrachtet und kaum glauben kann, dass ihn nicht das Kind anblickt, an das zu sein er sich so gut erinnert, sondern der in die Breite gegangene, kahl werdende erwachsene Mann, als den ihn alle Welt auch behandelt. In Porquerolles ist einer gestorben, nachdem er behauptet hat, Maigret sei sein Freund. Der kann sich nur mit Mühe erinnern, lernt, dem süßen Nichtstun nur unter Anstrengungen nicht erliegend, Existenzen kennen (redend, sinnend, sitzend), die das Weite gesucht haben, vielmehr das Enge: die Überschaubarkeit einer Insel. Ohne dass der Inspektor eine Methode erkennt (das tut er erst im Finale, in der Verhörsituation, und macht sich intuitiv klein), schieben sich die Puzzlestück zusammen zu einem Bild, das von van Gogh zu sein scheint, aber nicht ist. Ein Kunstfälschungsroman, der schlimmste Schurke bekommt auf Maigrets Wunsch mal wieder einen Schlag ins Gesicht. Es ist aber eine ganz und gar Unschuldige, die am Ende stirbt. (73cp)

 

22.2. Music (Angela Schanelec, D 2023)

Der Nebel, in einem langen ersten Bild, versetzt nicht den Berg, den man kaum sieht, aber er setzt etwas aus, oder, wie sich dann zeigen wird, neu: die Zeit und den Raum, das Verhältnis von Körper und Geist, den Zusammenhang von mythischer Vergangenheit und einer Gegenwart, die sich davon Welten entfernt sieht. Der Ödipus-Mythos, der hier licht und verdeckt wie der Nebel in unsere Gegenwart dringt, impliziert ein Walten der Götter, aber es sind andere Kräfte, die hier walten als die gewalttätigen Schicksalsmächte der Griechen. Dabei sind das Blut und das Töten im Spiel, die blutigen Füße des Jonathan-Ödipus, das Sterben, mit dem schon alles beginnt, und die Neugeborenen, mit denen alls nicht endet. Ein dunkles Zimmer, in dem man das Licht draußen nur ahnt, und die leisen, fast enden wollenden, aber nicht, hier noch nicht endenden, Laute eines Säuglings. Urlaute, noch keine Sprache. Sprache als Kommunikation ist auf ein Weniges reduziert, fast nur Nennung von Namen, mit kargen Worten ist, was zu sagen ist, schon gesagt. Selbst der Chor, der im Bild steht, blickt nur und schweigt. Ins Innere, in die Mitte gerückt sind nicht die Worte, sondern die Körper, die Füße und Beine vor allem, sie streifen den Kothurn von sich ab, noch die Blendung des Ödipus ist eine unsichtbare Transformation, man erkennt sie am schleppenden, tastenden Gang seiner Füße eine Treppe hinab. Es geht nicht um ein Denken oder Bewusstsein im Sprechen der Menschen, sondern um das Elementare, das sie mit der Natur und der Mitwelt verbindet (und von ihr trennt): Beim Gehen und Schwimmen, sie umarmen einander und töten einander, elementar ist das, aber ohne jede Schwere, die Bilder vom Menschen unter den Menschen und in der Welt sind mit schöner Selbstverständlichkeit leicht, noch wo sie Last und Tod in sich tragen. Das Verblüffende ist: Das Elementare ist einfach, alltäglich, banal, nicht bedeutend, symbolisch, abstrakt, oft eher hässlich, jedenfalls kaum je ausdrücklich schön, es geht um die Anfangsgründe der Wirklichkeit, nicht um Metaphysik. So ist das Entkernen der Granatäpfel zu sehen, das Tischtennisspiel (und noch dazu schlecht), das Gebanntsein vom italienischen Tor in der Verlängerung bei der Fußball-WM, die Blendung findet auf dem zutiefst funktionalen Polizeirevier statt. Nicht einmal der Potsdamer Platz, kahler Stadtraum, wenn es je einen gab, darf hier fehlen als Ort, an dem ein Politiker stirbt. Dagegen aber steht, gegen das Banale, das Funktionale, das Elementare in seiner Sprachlosigkeit, die Musik, die Barockmusik, einmal eine Anrufung der Namen von Pergolesi bis Händel, aber vor allem, vom Band erst, dann von Menschen, etwa in der Küche, gesungen, die Musik selbst, die nun tatsächlich, eingebettet in die Welt, diese doch, wenngleich in strikter Innerweltlichkeit transzendiert. Wobei über die Art und Weise, wie sie das tut, lange zu sprechen wäre, denn das Transzendieren ist kein Überwinden und kein Entheben, sondern eine Abart des Fügens, das kein Einfügen ist, aber es ist die Musik mit der Wirklichkeit (der Welt und der Mitwelt) im Fugen verbunden, als etwas, das eine Form hat, die (und darum Barock und darum zuletzt auch nicht nur Barock) ein tiefstes Ausdrücken ist in so einfacher wie elaborierter Mittelbarkeit. Und genau darum ist es Schanelec auch zu tun, das Finden einer Kinosprache, deren Barock (via Ozu, Angelopoulos, Bresson/Green, wer auch immer) die Kunst seiner Mittel im offen zutage liegenden doch auch zugunsten des Einfachen wieder verbirgt. (90cp)

 

Le mura di Bergamo (Stefano Soldano, I 2023)

Die Bilder von Beerdigungen kommen nur aus dem Archiv, in das der Film zwischendurch ohnehin greift, ohne zu sagen, was man hier sieht und warum dieses, nicht jenes. Die Bilder aus den Hospitälern greifen tief ins Leben und Sterben, bleiben um Pietät dabei sehr bemüht. Man kommt Menschen und Schicksalen nahe, auch wenn der dokumentarische Betrachter seine Anwesenheit ganz heraushält und jede Rede darum bis ins Irritierende indirekt bleibt. Dass einer, der filmt, dass eine Kamera, die, was man sieht, für nicht Anwesende festhält, sich geben, als gäbe es sie nicht, dass sie intervenieren, als intervenierten sie nicht, und zwar in privateste Räume, ins Sterben, ins Trauern, in Dinge weit jenseits allen Begreifens, auch in ein Sprechen, das nicht nur das Leben, sondern den Tod hinter sich hat, das ist aber doch eine Form dokumentarideologischer Ungerührtheit, die das, was geschehen ist, radikal unterläuft, auch wenn ihm vielleicht gar nichts angemessen sein kann. (57cp)

 

21.2. Le Gang des Bois du Temple (Rabah Ameur-Zaimeche, F 2023)

Großer Schwenk über die Häuser zu Beginn eines Films, der durchs Genre ins Offene sieht. Der Sehnsucht zu Gehör bringt, und sei es die Sehnsucht des Mörderprinzen nach Freiheit beim Tanz, sei es der Wunsch nach einer Prothese auf dem Stand der medizinischen Dinge, der Wunsch nach Gemeinschaft mit Menschen, die sich nehmen, was ihnen, anders als anderen, nicht geschenkt worden ist. Mitten unter ihnen ist dieser Film, unter denen in den Siedlungen draußen, mit den Tauben in den Grünflächen, die nicht viel hermachen, mit den kleinen Wohnungen mit Billiglaminat und den Wannen, in denen man würdelos stirbt, vom Schicksal erdrosselt. Unter jenen ist der Film, deren Unterhaltung in den Wetten auf Pferde besteht, die Prinzen gehören, aber wer die Ordnung der Dinge eigenmächtig, nein, nicht auf den Kopf stellt, sondern ihr nur kurz in die Speiche zu greifen versucht, kommt unter die Räder. Es ist nicht das Genre, das das so will, sondern eine Realität, die Ameur-Zaimeche nicht verleugnet. Das Recht wird dabei um ein Haar gar nicht beteiligt, es richtet nichts wieder ein, es schützt vor der Übermacht nicht. Die Gerechtigkeit, die der Film herstellt, eher mit Hilfe des Genres als der Realität, kann nur eine bittere, poetische und zuletzt doch nur falsch befriedende sein. (79cp)

 

White Teeth (Zadie Smith, GB 2000)

Ein Gesellschaftsroman, dessen präzise geplanter Grundriss immerzu durchscheint, beschreibungs- und ausspracheselig, es wird hineingepackt, was ich hineinpacken lässt, das ist bestürzend virtuos und belesen, eine Geschichte, die mit festem, nie zierlichem Schritt durch die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts spaziert. Themen werden zu Figuren und ihren Konstellationen, zu Familien- und Freundschaftsverhältnissen, eine waltende und zwischendurch sich einschaltende Erzählinstanz gibt es auch. Dickens spricht mit, ein bisschen magischer Realismus blinkt, etwa bei Münzwürfen, auf, es geht um Herkunft und Ökonomie und Rassismus und das Clonen. Es ist, mithin, eine Form von Literatur, an der alles gekonnt ist. Bewundernswert also, und langweilig auch. (60cp)

 

20.2. This is the End (Vincent Dieutre, F 2023)

Kommt ein Mann nach L.A. Vielmehr: ein von einem Auto bewegter Kamerablick fährt hinein in die Stadt. Autos, Lichter und Straßen. Und Sprache. Die des Ichs, das hier spricht, das sich der Stadt annähert und in der Stadt, unter dem Hollywood-Zeichen, einem Mann namens Dean. Mit dem ihn eine Vorgeschichte, eine New Yorker Affäre oder Beziehung, verbindet, sie liegt vierzig Jahre zurück. Auf Facebook haben sie sich wiedergefunden. Nun ist das Ich, mehr oder weniger Vincent Dieutre, im Haus dieses Mannes, und dann auch im Bett. Dazwischen die Fahrten, drive by shooting von Menschen, Straßen und Szenen, Malls sieht man, die Zelte von Obdachlosen, Brachen und dann doch, der Pandemie zum Trotz, sehr viel Leben. Und auch dazwischen, wieder und wieder, Auftritte in einer Poetry Lounge, Jean-Marc Barr oder Elina Löwensohn und viele andere sprechen Texte im Bühnennebel, Bewegtbilder im Hintergrund projiziert, die Stimmung ist so elegisch, wie sie es auch sonst in diesem Film ist, der in seinen Texten das Gefühl einer Endzeit beschwört. Der Text will, zitiert, ist emphatisch L.A.-Theorie, Philosophie zur Konglomeration, die das Stadtsein verweigert, in der nur Riots, aber keine Revolutionen möglich sind. Der Text ist, wie es die Bilder auch sind, vor allem ein Fluss, der Gedanken und Worte, vom Privaten ins Weite, die Wörter oft übergroß, aber man kann sich ja auch auf den Blick konzentrieren, die Fahrten, von schöner Endlosigkeit, durch die Stadt und das, was sich an ihr im Vorbeigleiten festhalten lässt. Und dann auch, als Kern vielleicht, die immer mehrfach geloopten Szenen der Körper, Dean und Vincent, Vincent und Dean, einander streichelnd, einander küssend, viel Begehren, heißt es einmal, ist nicht mehr da, aber etwas, und etwas von allem, in Endzeiten doch. (74cp)

 

Ingeborg Bachmann. Reise in die Wüste (Margarethe von Trotta, D 2023)

Reise in die Wüste, vor allem aber in ein Niemandsland. Ein Max Frisch, der nicht nach Schweiz, eine Ingeborg Bachmann, die nicht nach Österreich klingt. Eine Abstraktion, aber nicht einmal eine halbe, denn einfühlen in ihre Körper, in ihre Figuren sollen Vicky Krieps und Ronald Zehrfeld sich doch. So zehrt die Geschichte von der ziemlich notorischen Wirklichkeit, der sie nachstellt, es werden Texte zitiert und in Münder gelegt; es werden Körper gestellt, gesetzt und gebettet in meist schön ausgeleuchteten statischen Bildern (zu denen es Ausnahmen gibt), beim Sex zwischen Bachmann und Frisch bleibt es andeutungsweise. In der Beziehung mit Adolf Opel, den sie als dagegen montierten Heilungsprozess in die Wüste begleitet, hilft der Sex nicht zum Du; in der mit Hans Werner Henze viel Liebe und Du, aber kein Sex, er ist ja schwul. Da hat man also die Geschichte zweier mehr oder minder bedeutender Literat*innen, die es privat nicht packen aus Gründen, die man so und so sehen kann, Eifersucht hier, zu große Strenge da, Schreibmaschinengeräusche wie Schüsse, sie hasst die Schweiz, sie flirtet mit aller Welt. Dazu entschlossen Zeitkolorit (wobei die Farben der Wände in Frischs Haus aussehen wie von Farrow & Ball). Kaum eine Frau, die sich bei der Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden im Publikum findet. Der schreckliche Ernst, mit dem Bachmann über Wort und Sprache philosophiert. Darin platziert der zarte und der massige Körper, noch die Verbindung zwischen Körper und Sprechen bleibt, ist es Methode oder These, abstrakt. Interessant wäre es als individuelle oder als exemplarische Sache. Seltsamerweise hat von Trotta einen Mittelweg zwischen beidem gefunden: Er führt in die Wüste, aber nicht die, die ihr vorgeschwebt hat. (58cp)

 

19.2. Irgendwann werden wir uns alles erzählen (Emily Atef, D 2023)

Die Leinwand kann gar nicht groß und weit und hoch genug sein für die spätsommerlich hingebreitete Landschaft. Und sie gibt den intimen Szenen in engen Innenräumen die emotionale Weite, auf die die Geschichte hinauswill. Eine amour fou von eminenter 19-Jährigkeit, eine Gefühlsberschiebung zwischen den Höfen, hineingelegt in den Nachsommer der DDR, die nachdrücklich, aber nicht überdeutlich (höchstens überdeutlich untermarkiert) präsent ist, präsenter wird, wenn der an den Westen verlorene Sohn wiederkehrt, alle, und noch der grummelige Großvater, ins Lied von den Moorsoldaten einfallen müssen, als musikalisches Bild dafür, wie eine Gesellschaftsform tief in allen steckt. Und doch verbindet sich das eine, die vergehende DDR, mit dem anderen, der großen, großen Liebesgeschichte, dermaßen kontingent (oder alternativ: als Aufbruchs-Allegorie so platt), dass zur Beliebigkeit wenig fehlt. Und diese Beliebigkeit ist es, die Atef mit Qualitätskinobildern und Streicher-Ost-inata auf der Tonspur in einen Ernst überführt, der Kitsch werden muss, weil er sich vom Trivialen seiner Grundsituation Bild für Bild distanziert. (61cp)

 

Orlando, ma biographie politique (Paul B. Preciado, F 2023)

Paul B. Preciado nimmt Virginia Woolf, nimmt ihre Orlando-Figur, nimmt den Orlando-Roman und rennt mit ihm in die offene Form. Der dokumentarische Grund wird jederzeit performativ überformt, die trans Personen, die hier ins Bild treten, die sprechen, sind, ganz genau wie sie es eine*r nach der*m anderen sagen, namentlich sie selbst und zugleich auch mit Orlando gequeert. In Kostüme gesteckt, in denen sie als Orlando sich selbst kenntlich machen, mit Worten, die ihre eigenen und übergangslos solche aus der Vorlage sind. Preciado greift nach Motiven, verrückt, was im Roman noch nicht hinreichend verrückt ist, Istanbul etwa, hier gegen Osten, lässt sprechen (eröffnet via Woolf Räume zum Sprechen), lässt performen, ohne dass man die Hand einer Regie dabei spürt: Es ist alles nur für die Selbstrepräsentation arrangiert, in der sich Unerwartetes zutragen darf. Ob das jeweils gelingt, ob jedes Bild, jedes Arrangement überzeugt: mal mehr so, mal mehr so, aber im Grunde egal. Nur konsequent, dass dieses Öffnen und Queeren auch komische Bilder erzeugt, Cameo Pierre und Gilles nur zum Beispiel, auch Rilke, der Hund, mit Orlando-Kragen, die Medikamentenfrage wird in Song transformiert, die OP-Frage (neben stolz getragenen Narben) in die Operation eines Buchs umgeschrieben. Eine Ermächtigung, die soviel Spielerisches wie Selbstverständliches hat. Und Virginie Despentes höchstpersönlich darf am Ende als Richterin die neuen Pässe verteilen, in einer Utopie der Passage in die politische Realität. (75cp)

 

The Adults (Dustin Guy Defa, USA 2023)

Das Bild ist scharf und unscharf zugleich. Der nicht mehr ganz junge Mann kommt an, wird in ein Hotelzimmer gesteckt, Rechner auf Soundbox an, er ist zurück in der Hometown, es werden Termine gemacht, ein Scott hat nunmehr ein Baby, den Pokerfreund sucht er auf, der scheint nicht unmittelbar erfreut, aber es wird eine sich absturzfähig steigernde Nebengeschichte daraus. Im Zentrum aber das Verhältnis des jungen Mannes zu seinen Schwestern, der Kontakt ist, so scheint es, seit Jahren schütter, dennoch bleiben nur ein paar Stunden Zeit, erst, es ist aber kein großes Ding, Pläne über den Haufen zu werfen, oder eher scheinen die Dinge, denn das ist die manchmal enervierend nonchalante Manier des Films, vom Haufen zu rutschen. So ist auch das Geschwister-Dreieck als Tragödie oder Komödie eines Rutschens der Rede, und zwar ins eingespielt Regressive: Alle drei wissen sich nicht anders zu helfen, als ins Stimmenverstellen zu geraten, was ein Ausweichen ist, und da, wo es ihnen mit anderen widerfährt, nachgerade verstörend. So weit so Mumblecore-psycho-erratisch. Defa belässt es bei Skizzen, verlässt sich darauf, dass sich die Figuren im Rutschen, und durch Ellipsen, aufschließen lassen. Es ist programmatisch so wenig zu Ende gedacht wie zu Ende erzählt, man könnte auch sagen: auf frustrierende Weise mit der eigenen Unausgegorenheit zu schnell zufrieden. (58cp)

 

18.2. Die Alleinseglerin (Herrmann Zschoche, DDR 1987)

Obstinates Dingsymbol: das Segelboot, das Christine vom Vater geerbt hat. Sie will es verkaufen oder auch nicht. Sie macht es den Winter über mühselig fit für den Einsatz im Frühling. Eine Plane zum Schutz findet sie nicht, wenngleich einen Georg mit blonden Locken (Götz Schubert, sehr jung), mit dem sie im Segelboot schläft. Er ist dennoch der Richtige nicht. Es gibt auch den Vater des Kindes, der on and off auch in ihrem Leben präsent ist. Beruflich beschäftigt sich Christine mit Literaturwissenschaft, sie kommt mit ihrem Teilprojekt, es geht um das Frauenbild in der Literatur, nur unzureichend voran. Nicht jeder nimmt sie für voll, die Ministerin nennt sie Mädchen. Eine Freundin sucht, findet auch, Männer und lästert über deren Annoncen. So prekär ihre Aussichten sind, niemand muss hier verhungern, sagt jemand an einer Stelle. An einer anderen steht eine lange Schlange vor einem Laden auf der Schönhauser Allee. Stolz präsentiert einer eine Tüte ziemlich grüner Bananen. Nüchterner Alltagsproblemfilm, der sich mit Bildern vom Segeln auf der Müritz erfrischt. (66cp)

 

Ming On (Soi Cheang, HK 2023, Berlinale Special)

Es braut sich etwas am Himmel zusammen, und braut sich und braut sich, da sind Schicksalsmächte am Brodeln. So auch auf Erden. So auch im Kopf der Männer, die in den Straßen und auf dem Dach und in winzigen, vollgestellten Apartments, vielleicht eher Höhlen, immerzu aufeinander prallen. Oft ist ein Messer dabei. Alles sehr blutunterlaufen. Frauen gibt es auch, Prostituierte, vor allem müssen sie sterben, es ist ein Killer unterwegs. Aber auch in einem anderen Mann steckt ein schrecklicher Trieb, er agiert ihn aus an räudigen Katzen, während der andere Mann, für den das Schicksal den Gang in den Wahn vorgeplant hat, ihm und überhaupt aller Welt nur das Schlimmste vorhersagt, Kalamitäten aller Art, oder gleich Tod, das dann meist tatsächlich eintritt. Viel Theaterdonner, Beethovens Fünfte (unter anderem auf der Gitarre) und der Colonel-Bogey-March (schmetternd) kommen zum Einsatz. Immer wieder macht der Film, nie farbecht, sehr Regen-affin, Anstalten, jetzt aber loszulegen, tut es dann jedoch nicht, kommt nur auf die eigenen Manierismen zurück. Zum Finale pfeift er sich eins, hinein in die Gassen, das ist sehr hübsch. (64cp)

 

17.2. Sweet Sweetback's Baad Asssss Song (Melvin van Peebles, USA 1971)

Gleich die ersten Bilder bleiben einem im Halse stecken: Mario van Peebles, gerade mal vierzehn, beim etwas ratlosen Sex mit einer älteren Frau. Ganz der Sohn seines Vaters, Regie und verrückte Ideen und Musik und Hauptrolle und überhaupt, as independent as it gets, alles: Melvin van Peebles. Der agiert als männlicher Prostituierter, Sweet Sweetback, beim Sex von Menschen umringt. Die Bilder so explizit wie dunkel wie immer wieder recht psychedelisch farbverzerrt, weiße Cops jagen African-American-Männer. Roh, brutal, blutig, Gewalt, Mord und Verfolgung, dazu ein zwischen wildem Jazz und Blues hetzender Soundtrack mit atonal ins Ohr schneidenden Spitzen. Bilder-Geschnetzel-Montage, es gerät so manches unvorhersehbar dazwischen, oft nicht ganz klar, wo oben und unten, wo hinten, wo vorne, nicht nur die Figuren blutunterlaufen, aber dann kommt alles ein wenig zur Ruhe, paradoxerweise, wenn Sweet Sweetback, von Cops und Hunden gehetzt, zu laufen beginnt: Erst durch die ausgetrockneten Kanäle der Stadt (die Los Angeles ist), dann hinaus in die Wüste, sich schleppend, verwundet, die Wunde verbindend, zur Tarnung noch Sex zwischendurch, ein endloser, unermüdlicher Lauf, der kein Ziel haben kann, die Hunde, nicht der Gehetzte, zu Tode gejagt, Auflösung des immer mehr als körnigen Bilds fast ins Abstrakte, es bleibt nur die Drohung: «Watch Out. A Baad Asssss N***** is coming back to collect some dues.» (71cp)

 

Das Mädchen Christine (Arthur Maria Rabenalt, D 1948)

Erst scrollt in altertümelnder Schmuckschrift ein Schiller-Zitat über den im (Dreißigjährigen) Krieg zum Soldaten verwilderten Menschen über die Leinwand. Und dann: «1641, im 23. Jahre dieses schrecklichen Krieges, begab sich abseits der großen Heerstraße Folgendes:» Doppelpunkt, Übergang von der Schrift und ihren Zeichen in den Film und seine Bilder. Innen Studio, außen Kloster Chorin. Ein Anführer namens Merian, Wolfgang Lukschy schneidig schön anzusehen, sein Bursche Christian, der eigentlich eine Christine (Petra Peters) ist. Die Courasche (Tilly Lauenstein), Marketenderin, sieht das gleich, bei den anderen fällt der Groschen sehr langsam. Die Geschichte näher an Conrad Ferdinand Meyer (Gustav Adolfs Page) als Brecht, dem Gender-Spiel zum Trotz ein leichtes Historiendrama, keine Klamotte. Christine als Christian liebt Merian, der sich Gespielinnen hält, die auch nicht immer sind, was sie scheinen. Spät, zu spät, eine false-cover-Liebesnacht zu spät, erkennt Christine den Rohling im Mann und bringt ihn, versatil in vielen Männern vorbehaltenen Dingen, beim Fecht-Duell zur Strecke. Hinreißend der Prozess, den man ihr darauf macht, ganz buchstäblich von zwei Seiten. Die Militärjustiz und das Stadtrecht sprechen ihr Urteil über den Leutnant, der sie war, und entlassen die Frau, das Mädchen Christine, das in ihm gesteckt hat, ins Freie. (67cp)

 

16.2. Nachtspiele (Werner Bergmann, DDR 1978)

Potsdam, das Inter-Hotel, diesen Raum verlässt der Film recht eigentlich nicht. Es gehen aber Blicke nach draußen, mit dem Aufzug bewegt sich die Kamera nach oben und auch nach unten, hinten hinaus liegt wenig Stadt und viel Wald und viel See. Vorne, man sieht es durch die Foyer-Fenster, die Straßenbahn und reger Menschenverkehr. Drinnen bedient eine Frau am Empfang ein riesiges Pult. Zwei Paare, um die geht es. Die einen sind jung, ein Jahr verheiratet, das Kind ist zuhause, sie gönnen sich, auch zur Überwindung von Beziehungsproblemen, die Nacht im Hotel. Und haben da Sex. Wobei zwischendurch der Fernseher explodiert. Am Ende verlängern und vergrößern sie das Gemälde zum Wandbild. Es wird draußen Nacht. Das andere Paar, er mittelalt, sie nicht mehr ganz jung, eine Zufallsbegegnung. Ihr Skoda ist in der Werkstatt, sie weiß nicht, ob sie den Zug nehmen soll, vielleicht wird auch noch ein Zimmer frei im Hotel. Da begegnet sie einem Mann, den sie kennt, ein Bruno, man ist zunächst noch per Sie. Sie sitzen im Foyer, einmal kurz draußen legt er einen sehr übermütigenr Tanz auf den Parkplatz, später geht es in den 17. Stock, ins Café, wo sie der Zufall an den Tisch mit dem jungen Paar setzt. Die einen nehmen die anderen in den Blick, sie tanzen, beim Partnertausch kurze Erinnerungsfetzen von schräg unten an wildere Tage. Ein Kind kommt nach Mitternacht weinend ins Café, die Eltern eilen herbei und davon. Auch bleibt der Aufzug zwischendurch stecken. Das L des Hotel-Schriftzugs hat einen Wackelkontakt, das dient optisch und akustisch als lässiges Zäsur-Instrument. Am Morgen kommen die Reparateure. So nahe die nicht mehr ganz junge Frau, von Christine Schorn gespielt, auf ihre eigene Übermütigkeit zögerlich und doch freudig wartend, und der etwas ältere Mann, Horst Drinda, einander auch kommen, bis ins gemeinsame Zimmer, so sehr er mit ihr schlafen will und sie den Gedanken nicht von der Bettkante stößt: Es bleibt bei der Versuchung. Und nicht weil der Film prüde wäre, vielmehr ist alles sehr direkt, dann aber wieder verspielt. Das Buch und die tolle Kamera schütteln aus dem Handgelenk unerwartete Dinge. Die ORWO-Color-Farben sind unglaublich siebzigermäßig, aber auf die schönste und unaufdringlichste Weise, die Mütze ist rot, aber es ist nur die freundliche, bescheidene Schwester der Röte des Rots von Technicolor. Kleiner Film ganz groß, Charme ohne Ende. (79cp)

 

Bedknobs and Broomsticks (Robert Stevenson/Ward Kimball, USA 1971)

Das ist ein Film, der weiß vor Überfluss an Ideen nicht wohin mit sich. Es ist die Zeit des Zweiten Weltkriegs, in England, das wird dann am Ende sehr wichtig. Da nämlich tritt ein Heer aus Ritterrüstung, menschenlosen Fanfaren und hohlem Pferdegeschirr an, die soeben angelandeten Nazis zurück auf das Meer hinauszutreiben. Damit war nicht zu rechnen, obgleich man da schon gelernt hat, dass alles möglich ist, im Guten und auch im Bösen. Bieder geht es los, ein paar Kids geraten aufs Land, ins Haus einer Frau, die bieder scheint, aber (Angela Lansbury) eine Amateurhexe ist. Das Bett lernt fliegen, Funkenflug, farbverfremdete special effects. Der Zauberlehrer, ein Dilettant vor dem Herrn, stößt zur Truppe hinzu, die auf eine verwunschene Insel und zwar als Animationsfilm gerät. Davor noch eine doch recht grandiose Song-and-Dance-Einlage, auf der Portobello Road sind diverse Ethnien zur schmissigen Musik aus dem Häuschen. Zwischendurch ist auch jederzeit die Rückverbiederung möglich, die Irrsinnsrevue als weißes Kaninchen. Unter Wasser jedoch Fischemusik und Körperflugtanz. Im Inseldroben der Fußball der Tiere, das ist wieder ein ganz anderer Film, dem seinerseits von den heranrückenden Nazis nichts schwant. Disney hat erst einmal und dann nochmal zwanzig Minuten gekürzt, das Werk bleibt ein Bastard, bei dem einem Hören und Sehen vergeht. Immer abwechselnd reißt man die Augen auf, dann werden die Lider sehr schwer. Wechselbad im Gewühle. (73cp)

 

15.2. The Bad and the Beautiful (Vincente Minnelli, USA 1952)

Wo drei in seinem Namen versammelt werden, ist ER nur per Telefon unter ihnen. Er: Jonathan Shields, einst erfolgreicher Hollywood-Produzent, ein getriebener Mann, von Kirk Douglas, was passt, abgefeimt narzisstisch gespielt. Schon Vater Shields war so wenig beliebt, dass der Sohn für die Beerdigung Darsteller casten musste. Hier macht er die Bekanntschaft des Mannes, mit dem er, erst in der Poverty Row, das Filmgeschäft von der Pike auf lernt. Im Moment des Erfolgs lässt er ihn schnöde im Stich. Opfer Nummer eins, sitzt am Tisch, von dem aus die die Rückblenden eine schön nach der anderen organisiert sind. Nummer zwei ist der weibliche Star, Lana Turner, Bilderbuch-Blondine, Shields hat sie aus der Trunksucht errettet und hinter ihrem Rücken betrogen. Und dann Dick Powell als Professor, der Romane mit viel Sex schreibt und seine Frau (Gloria Grahame! Oscar für einen Auftritt von 9 min 32 Sekunden) unter Mithilfe von Shields an einen Gaucho verliert, mit dem sie dann abstürzt. Shields übernimmt bei der Verfilmung des Romans selber Regie und bringt den Film, sein Scheitern erkennend, nie ins Kino. Das Drehbuch spielt nicht zu knapp Schicksal und schiebt die Schuld immer auf Shields; also ein Geschäft, dessen Teil der Film, wie er weiß, selber ist. Sehr schwarz-weiß setzt Minnelli das ins Bild, seinem Drang zur gemächlich diffundierenden Charakterisierung kommt das Bündige der Flashback-Episoden nicht recht entgegen. So rasant sich das beim Aufstieg durch Set Design und Studiobauten bewegt, elegant sie zwischen Licht und Dunkel gesetzt sind (von Lana Turner sind beim ersten Auftritt nur die Beine zu sehen), so suggestiv die eine neben dem einen, oder gegen ihn, sitzt, geht und steht, so wenig beginnt hier etwas eigenständig zu atmen, nicht der Mensch, nicht der Ort. Keine schwülen Seitentriebe am Plot, alle im Dienst der Zentralfigur, die weitestgehend Konstrukt bleibt, auch wenn sie noch als abwesende die drei Opfer zu einem hinreißenden Schlussbild vereint. (70cp)

 

Ray Donovan. The Movie (David Hollander, USA 2022)

taz-dvdesk (67cp)

 

14.2. Broker (Hirokazu Kore-eda, Korea 2022)

Klar, Kore-eda dreht auch in Südkorea - Busan - einen Film, der nichts so sehr wie einem Kore-eda-Film gleicht. Auf nicht ganz unkomplizierte Weise wird eine alles andere als konventionelle Familie zusammengeführt. Zwei Männer im Zentrum, die von einer Babyklappe hier und da einen Säugling abzweigen und auf dem Adoptions-Schwarzmarkts verkaufen, des Zuverdiensts wegen. Was, wie es Kore-edas Law will, noch lange nicht heißt, dass sie schlechte Menschen sein müssen. Der eine wuchs selbst in einem Waisenhaus auf, als sie dort vorbeikommen, kommt als blinder Passagier ein Junge gleich mit. Wahlfamilien wachsen recht schnell, was auch daran liegt, dass sie instabil sind: Das Happy End ist zeitlich und relational entsprechend komplex. Auch die Mutter des Säuglings ist längst mit dabei, sie hat einen ermordet, der es vermutlich verdiente, es haben alle ihre guten Gründe, nicht zu gut, nicht zu schlecht, es regiert der entsprechende Mittellagen-Humor. Das familiäre Humanitätsunternehmen ist diesmal, über Busan hinaus, ziemlich mobil, über Stadt und Land, Straßen und Buchten. Die Polizei, zwei Frauen als nebenprotagonistisches Team, eine Partnerschaft gar nicht so anderer Art, beobachtet die Verbrecherbande lange genug, um sich, wie die Zuschauer auch, in sie hineinzusympathisieren. Das ist das außergerichtliche Verfahren, für das sich Kore-eda gemächlich viel Zeit lässt. Dann kommt er zum Schluss. Das Urteil ist freundlich. (69cp)

 

Seitensprung (Evelyn Schmidt, DDR 1980)

Zum Internationelen Frauentag wird im Betrieb in der Theorie über Beziehungen und Partnerschaft diskutiert. Am Abend geht der Mann zu Frau und Kind, die aber nur seine Zweitfamilie sind. Die Ehefrau mit dem jüngeren Sohn wartet zuhause, er bringt spät am Abend Geschenke und lügt. Zwar weiß seine Frau von der zwölfjährigen Tochter, hält aber diese Affäre für lange zurückliegend und beendet. Sie täuscht sich. Kurz darauf sitzt das Mädchen vor der Tür, ihre Mutter ist tot. Dass der Mann die Affäre fortgeführt hat, fliegt schnell genug auf. Es stellen sich Fragen. Ob das klappen kann, die uneheliche Tochter in die eheliche Familie zu adoptieren. Oder ob die Frau mit ihrem Kind den Mann nicht verlässt. Das steht, nur drucksend besprochen, in der mittelprächtigen Wohnung. Lösungsversuch: Die Tochter kommt ins Heim, Henry Hübchen balanciert als Erzieher in der Strickjacke über ein Seil. Dabei wird es nicht bleiben. Evelyn Schmidt erzählt das sachlich, mit gelegentlichen - klar begrenzten - musikalischen Ausbrüchen ins Stillgestellt-Operatische, sonst aber vielleicht etwas allzu sediert. Schön ist der ins Versöhnliche tendierende Schluss, eine Serie von freeze frames aus der Bewegung, am Meer. (60cp)

 

13.2. 1-2-3 Corona (Hans Müller, D 1948)

Vorspannsequenz in Sütterlinschrift, einer der jugendlichen Hauptdarsteller stellt die Schauspieler und zuletzt die Corona-Darstellerin mit frischem Mut vor. Auf den Sommer 1945 datiert ist das, was sich dann abspielt - der Krieg ist erst gerade vorbei, die Schulen bleiben vorerst geschlossen. Angesiedelt ist die Geschichte auf einem Stück Trümmerberlin in der Stadt, Kinder, spielen hier, bekämpfen einander in Banden, treiben schwunghaften Schwarzhandel mit Zigarettenstummeln, Kohlen und anderem mehr. Vollkommen unsichtbar ist die Elterngeneration, so unsichtbar wie Völkermord und Verbrechen. Die unbelasteten Jungen knüpfen bei den Großvätern an, die denn auch in mehrfacher Ausfertigung auftreten dürfen: der Lehrer, nicht unkorrupt, streng, aber belehrbar; als durch und durch positive Identifikations- und Erklärer-Figur der noch ältere Arzt, der auf die selbstorganisierende Kraft der Jungen vertraut, die sich denn auch, die inneren Kämpfe befriedend, als männliche Corona und die weibliche Heldin Corona scharen, nachdem sie sie mit ihren Zwillen-Attacken im Zirkus zu Fall gebracht haben. So beginnt das Wiedergutmachungs-, Wiederaufbau-, Heilungsprojekt. Nun ist Corona, die gestürzte, von den unschuldig Schuldigen aufzupäppelnde Zirkusfrau, sicher nicht nur oder ganz die Allegorie Deutschlands, aber der heitere Ton des Ganzen, der Optimismus der Erneuerung, des direkten Anküpfens an die Großvätergeneration, der sehr flotte Die-3-Coronas-Triumph, der aus der wackligen Utopie der von Schule und Autoritäten befreiten Jungmänner sich wie Phoenix aus der Asche erhebt, all das ist gut gemeint, gut gemacht ist es auch, aber die Verdrängungsleistung ist nicht weniger groß. (72cp)

 

Blood on Satan's Claw (Piers Haggard, GB 1971)

Der Teufel geht um, seine Klaue, haarig und plump, greift nach (den Fantasien der) Menschen. Eine junge Frau wird entführt, zur Bande der Teufelsjünger*innen in den Wäldern gebracht, Vergewaltigung findet statt, und Mord, und Rituelles mit Dornenkronen-Einsatz und Landei-, Mittelalter- und misogynen Hexen-Klischees. Der Pfarrer wird von einer Nackten verführt und widersteht, wird falsch verdächtigt und bekommt am Ende sein Recht. Das Stück Fell, das den vom Teufel Befallenen wächst, ist etwas zwischen Schamhaar und Tumor, so oder so etwas abjekt. Das aber alles in Wäldern und Fluren, in Räumen gefilmt in Fernsehmanier, so dass sich das Spiel wie die Szenerie eigentümlich naturalistisch ausnimmt. Oberammergau als Horrorspektakel. Klingt auf dem Papier interessanter, als es in der Regie von Piers Haggard dann ist. (50cp)

 

12.2. Mystery of the Ordinary/Floridas (William Eggleston, Anastasia Samoylova, c/o Berlin)

Revisiting Eggleston: Die Serie, die nun unter The Outlands firmiert, ist eine Serie von Outtakes. Dasselbe Konvolut, aus dem John Szarkowski mit der Eggleston-Ausstellung im MoMA die Geschichte der künstlerischen Fotografie revolutionierte, Tausende Fotos aus dem US-amerikanischen Süden, nun mit anderen, bislang (bis zur Veröffentlichung der drei Bände im vergangenen Jahren) unbekannten Aufnahmen. Manches Motiv ist vertraut, das rote Zimmer, in dem einst ein nackter Mann stand, Schrift - etwa: GOD - an der Wand, ist nun enger gerahmt Blick in die Ecke, da steht eine große Gasflasche, vielleicht ein Sauerstoffgerät, der Mann ist verschwunden. Zum längst Ikonischen nun also Varianten. Im Drive-In-Kino wird schon lange nichts mehr gespielt, sehr verblichen ein Plakat von John Hustons The Bible. Die Leinwand, massiver Aufbau, von hinten: durchlöchert. Die leicht verschobenen Akzente, die Tassen und Kotflügel, das Banale im Zentrum, die alltägliche Wirklichkeit, die nicht einfach dokumentiert, sondern ins Unheimliche überführt wird. Und sei das Rätsel nur die Frage, warum dies, das nichts als das Banale, wenn nicht Schäbige zeigt, bewahrt wird, als wäre es zu bewahren auf ewig. The Mystery of the Ordinary, der Titel der Ausstellung, ist das geronnene Klischee der Eggleston-Bilder. Und dieser Vertigo-Effekt der Eggleston-Fotografie, die Entzeitlichung des Ephemeren durch die Kompositionen, durch die noch das Banalste lackierende Farbe, er hat sich erhalten, auch wenn die Fototheorie den Schock von einst längst verdaut hat. (So sehr verdaut hat, dass es schwierig ist, ihn überhaupt noch für möglich zu halten. Bilddatenverarbeitungsprobleme ganz vergangener Zeiten.) Von hier führten Wege zu Gregory Crewdson, aber auch zu Anastasia Samoylova, mit deren Florida-Bilder (Floridas) die Eggleston-Revisite (die am Ende eine Handvoll Berlin-Bilder zeigt, nichts aber aus den Afrika-Serien, auch keine Blumen) hier kombiniert wird. Sie forciert an Florida das Klischee, zieht die Farbigkeit hoch, lässt die Fläche, gerne in Rosa, überhand nehmen, zeigt den Pink Flamingo im Wasser, wie überhaupt die Verläufe und Grenzen zwischen scharfen und verschommenen Umrissen absichtlich fließen. Ein Mann, kein Gesicht, aber Wampe und Jeans, zwei Pistolen auf den Bauch tätowiert, deren Läufe in Richtung Schwanz zielen. Venus Mirror: Raffiniertes Spiegelbild, in dem sich Vorder- und Hintergründe collageartig durchdringen. Die Farben sind bunter und greller, das dokumentarische Moment kommt immer leicht ironisch daher. Hier wird zugespitzt, was Eggleston, wenn auch mit hellem Sinn fürs Absurde, festgestellt hat. (78cp)

 

Mein lieber Robinson (Roland Gräf, DDR 1971)

Robinson, mutterlos, ist 19, kurz vor dem Abitur, will Medizin studieren, sammelt als Krankenwagenfahrer schon Erfahrung: Ein alter Mann, zuhause zusammengeklappt, eine junge Blonde, ein Motorradunfall auf der Straße. Er bringt sie, mit seinem kinosüchtigen Kollegen, ins Krankenhaus, das bleibt fast ausnahmslos ganz episodisch, in Robinsons Leben, so auch im Film. Der das zur Methode macht und noch die Geschichte, die er erzählt, bewusst episodisiert. Robinson lernt eine junge Frau kenne, Studentin, sie landen im Bett, sie wird schwanger, sie ziehen in eine kleine gemeinsame Wohnung, Robinson verschweigt die Sache dem Vater, der doch sein bester Kumpel sein will. Einmal führt er, der Vater, eine kubanische Delegation durch eine Ausstellung im Haus des Lehreres, da schweift der Film bereitwillig ab, Richtung Alexanderplatz und Musik. Es folgt daraus nichts. Er schweift ins Schwimmbad, kurze Anfälle von Farbe, meist ist er schwarz-weiß. Baustellen in der Stadt, Weißensee, Mitte. Robinson Luftikus, am Ende renkt sich das alles auch ein. (68cp)

 

11.2. Die Frau im Nebel (Park Chan-wook, Südkorea 2022)

Busan und Ipo, Südkorea und China, Sex einmal die Woche, ein aufgeräumter Swimmingpool-Mord, Sprachnachrichten, Textnachrichten, der Blick auf das Handy, der Blick aus dem Handy (ein Kühlschrank oder Kamin ist gar nichts dagegen), die Wand mit den Fotos, eine von der Katze getötete Krähe wird begraben, am Ende verschwindet jemand spurlos im selbst gebuddelten Loch, die Lichtstimmung sandig bis gelb. Kurz eilt die Erzählung sich selbst voraus, holt sich wieder ein, rechte Tasche, linke Tasche, es bewegt sich Haken schlagend voran oder zurück, nicht immer gleich ist das eine vom anderen unterscheidbar, verausgabt sich die Treppen hinauf ziemlich abseits des Plots, findet zurück. Es ist also allerlei unterwegs in dieser Geschichte, Objekte, Personen, Lebende, Tote, etwas wie eine romantische Sehnsucht, vom Edel-Sushi-Begehren auch nicht zu schweigen. Ob das alles einen inneren Zusammenhang hat oder eher nach Lust und Laune auch noch hineingestopft ist: Schwer zu sagen, auch wenn man es sich bei einem der nicht so wenigen Durchhänger fragt. (66cp)

 

Meet Me in St. Louis (Vincente Minnelli, USA 1944)

Alles an diesem Film: Locke und Rüsche. Judy Harlands gebügeltes Haar, Innenräume von äußerster Etuihaftigkeit, Gaslicht, das zum charmantesten Beleuchtungsschummer abgedreht wird. Reizend die Übergänge in den Gesang, der Mann, der sich räuspert, worauf die Frau am Klavier noch einmal ansetzt. Die Schneemänner stehen als tönerne Körper auf tönernen Füßen, die Trolley-Bahn clang-clang-clang vor verschwommen ahnbarer Rückprojektion. In irgendeine Wirklichkeit hinaus geht es nicht, das Telefon verbindet in ein inneres, kein äußeres, angekündigtes, aber nie aufgesuchtes New York. Die Straße wie in den MGM-Backlot gemalt (#3, stand noch sehr lange), vom Ketchup zum Braten kulinarisch alles versammelt, noch Halloween ist auf erschreckende Weise gemütlich. Das Liebespaar schlägt sich und küsst sich, Weihnachten selbst wird zum merry little Christmas verniedlicht, alles nur, ganz buchstäblich, Verlebendigung eingefrorener Postkartenidylle. Wir schreiben das Jahr 1944, es ist Krieg, in der Fiktion aber World Fair, Film als Zuhause in höchster Steigerungsform. (61cp)

 

10.2. Ca commence aujourd'hui (Bertrand Tavernier, F 1999)

Ein Städtchen, das seine Bergarbeitervergangenheit hinter sich hat. Der Vater liegt im Bett mit COPD. Der Sohn, Daniel Lefebvre (Philippe Torreton mit ganz anderen Tönen auf einem ganz anderen Schlachtfeld), der unter ihm viel zu leiden hatte (man erfährt es, wie manch anderes, recht nebenbei), ist Lehrer und Direktor einer Vorschule, die Kinder sind klein, hier starten sie in ihr gesellschaftliches Leben. Manche tragen schweres Gepäck, Eltern, die trinken und arbeitslos sind, denen der Strom abgedreht wird. Einmal stürmt Daniel aufs Amt, wo ihm der Bürgermeister die schwierige soziale Lage des Ortes erklärt, die Probleme, die Tavernier eines ums andere sehr konkret vor Augen führt, sind systemisch. Zwischen dem Engagement Tag für Tag und einer Lösung klafft ein Abgrund, der gerade die Engagiertesten an den Rand der Verzweiflung bringt. Also Daniel, der tut, was er kann, der ertragen muss, dass zwei Jungs in die Schule einbrechen und sie verwüsten, Blindgänger der Gesellschaft; der kaum ertragen kann, dass eine Mutter keinen anderen Ausweg sieht, als sich und die Kinder zu töten; der sich mit allem, was über ihm steht, anlegt, Schuld sucht, wo im schlimmsten Falle Resignation ist. Tavernier und Alain Choquart filmen das al fresco, oft quasi-dokumentarisch, dazu abrupte Szenenwechsel, die Übergängikeit von Beruf und Privatem (Daniel ringt mit dem Sohn seiner Freundin), selbst die Musikspuren schlieren manchmal unversehens ineinander. Slices of life, in gekonnter Unordnung serviert, gelegentliche poetische Abstandhalter dazwischen. Nahe an Ken Loach, aber loser verpackt. (74cp)

(Bertrand Tavernier)

 

Chemie und Liebe (Arthur-Maria Rabenalt, D 1948)

Wo anfangen? Mit der Erzählinstanz, erster Auftritt am Anfang des Films, eine kleine Overhead-Projektion, gemütlicher älterer Herr als eine Art Gott, der von der Chemie und der Liebe berichtet. Der die Geschichte, die folgt, in einem nicht ganz realen, aber den USA sehr ähnlichen Staat situiert, der eines vor allem ist: kapitalistisch. Der Herr, also Gott, tritt im weiteren auf, kommentierend, peripetierend, aufhaltend, wo der Held, erotisch vor allem, auf einen Abweg geriete. Der Held: Doktor Alland, gerade dabei, eine ungeheure Erfindung zu machen, nämlich die Butterherstellung aus Gras ohne den Umweg über die sieben Mägen der Kuh. Die beiden Großkonzerne Nitro und Zellulose bekommen Wind von der Sache, via einen Herrn da Costa, der als Agent ein Einfädler und derjenige ist, der die Preise hochzutreiben versteht. Es schwirren diverse Frauen um Alland, beziehungsweise werden zum Schwirren gebracht. Er ist die Unschuld selbst, landet aber schnell im Bett einer blonden Aimée und wird von Georgia Spaldi, Psychoanalytikerin, durch Mark und Bein analysiert. Männer sitzen an großen Tischen und rauchen, in ihrer Fantasie (und in den Bildern des Films) schweben halb und ganz nackte Frauen, zum Beispiel als Hörer über der Telefongabel. Ein Krieg wird angezettelt, weil es einen nur im Nordland verfügbaren Stoff als Katalysator der Gras-Butter-Reaktion braucht. Gerannt wird, gesucht, Tempo ist drin, Anzüglichkeiten sind es auch, und böser Witz, explizite, aber doch eher in den Beinahe-Screwball hineingebutterte Kapitalismus-Kritik. Eine Mixtur von erstaunlicher Weltläufigkeit. (73cp)

 

9.2. Gesicht der Erinnerung (Dominik Graf, D 2023)

Salzburg also, ein überschaubarer Ort, Begegnungen und Wiederbegegnungen jederzeit möglich. Auch im metaphysischen Sinn: Eine Frau erkennt im neuen Lover (er spielt ihr ein Lied, sie massiert ihn, eins führt zum andern) den alten, der allerdings – Kreuz und Grab bezeugen es doppelt und dreifach – seit zwanzig Jahren tot ist. Die Frau, Christina (Verena Altenberger), sitzt auf der Couch beim Therapeuten, sie nimmt Tabletten – neue, wünscht sich die alten zurück –, sie ist in jeder Hinsicht auf der Borderline unterwegs. Also passende Graf-Protagonistin (Buch Norbert Baumgarten, nach Idee des Regisseurs), deren Gesichte der Erinnerung Graf zwischen Wahn und Realität schillern lässt. Es schillert mitunter arg deutlich, mit Spinne und Gespinst, als Seelenwanderungs-Männer-Vision. Zwischendurch geht es weit hinaus ins konservative Geschäftserfolgs-Wohlstands-Milieu wie zu Derricks Zeiten. Eine andere Frau kommt, es ist ein Dorf, bei der Massage, in der Apotheke ins Spiel und tritt mit Wucht ins Leben des verlassenen Lovers. Die Zeichen des Anfangs, eine kleine Schlucht im Gebirge, kommen am Ende zu sich, sie waren ein Omen, dessen Vorausdeutung sich nun erfüllt. Die Auflösung ist schön, weil haarscharf auf die Kante zwischen Erklären und Nichterklären gesetzt. Graf im Spökenkieker-Modus, gebremst frenetisch, doppelt romantisch, Hauptsendezeit-Metaphysik. (65cp)

 

Maigrets erste Untersuchung (Georges Simenon, F 1948, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Es geht, im dreißigsten Fall, mehr als dreißig Jahre zurück, Maigrets erster Fall, noch ist er nicht Kommissar, sondern Kommissariatssekretär, wir schreiben das Jahr 1913, den 15. April, Maigret ist 26, auch wenn sich das mit den wenigen anderen genauen Zeitangaben der Serie nicht deckt. Als Erzählposition schimmert die Zukunft gelegentlich durch, der Erzähler weiß, dass Maigrets Rückzug in den Schweißgeruch seines Betts eine Gewohnheit sein wird, hier ist es das, wie er auch weiß, noch nicht. Der Fall ist, hier schon und wie so oft später, fast wie geträumt. Ein Schuss ist gefallen, durch ein offenes Fenster, oder jedenfalls behauptet das ein Flötist, der unten auf der Straße vorbeiging. Maigret soll ermitteln, schnell stellt sich heraus, dass beste Gesellschaft verstrickt ist, sein Vorgesetzter ist mit den Verdächtigen nur zu bekannt, heikel und schwierig das alles, am Ende gibt Maigret, der doch eigentlich Arzt werden wollte oder Priester, «Schicksalsflicker» jedenfalls. Das wird er, das ist er, der Alkohol hilft, das Herumsitzen in der Kneipe, das Umschalten in den brütend erkennenden Modus, auch wenn das alles, nicht zuletzt er selbst, schmächtig, mit gezwirbeltem Bart, noch nicht seine Vollgestalt hat. Der Ausblick in die Zukunft am Schluss geht dreißig Jahre voraus, allerdings auch in ein Alternativuniversum: Die Wiederbegegnung mit der Familie Balthazar findet in den Maigrets, die wir haben, nie statt. (70cp)

 

8.2. The Andromeda Strain (Robert Wise, USA 1971)

Science-Fiction als Procedural: Gesetzt den Fall, es käme tödlicher Staub aus dem All. Das Dorf, ein kleines Pompeji der Zukunft, mitten aus dem Leben gerissen liegen hier vor allem die Toten. Und zwar stillgestellt im Split-Screen der fotografischen Bilder: die Unbeweglichkeit ist final. Das Rieseln des zu feinem Sand geronnenen Blutes. Der Rest ist dann die Wissenschaft als Fünfstöckigkeit, farbcodiert, mit einer Desinfektion nach der anderen geht es hinab. Das Team ist angenehm frei von Glamour, auf die Sache fixiert, verschwiegen wir die Rotlicht-Epilepsie. Die slicken Geräte, Greifarme, Helme (weißer Sand vs. Glitzermetall), Oberflächen von Tickern, Monitoren, noch die Bauchbinde, die die Uhrzeiten angibt, ist elegant im Design. Gil Mellés Sound dazu ist Jazz aus Stahl, muss wirklich Zukunftsmusik sein. Sie tut nicht viel und dadurch gerade genug. Lebensbedrohlich grünes, pulsierendes Lebendkristall. Genauer und genauer und genauer: Faszination mikroskopisches Vergrößerungsbild. Punktgenau auch grünes Licht dann der Laser, Aufstieg im Treppenhaus aus Metall. Ein Film über das Slicke, Glatte, Aseptische, Wissenschaft als die Kunst, der Messiness zu Leibe zu rücken. Die Körper sind fast keine Körper, weshalb der Film auf Flirt und Erotik verzichtet (Ausnahme: Altherrenklaps durch den Schutzanzug auf den Po), alles Leben als Wachstum und Blutwert auf Computer-Bildschirme bannt. Letzteres ist hier mit großer Eleganz lustbesetzt, ersteres nicht. (78cp)

 

Die seltsamen Abenteuer des Herrn Fridolin B. (Wolfgang Staudte, D 1948)

Die Knattermimen sind nun in die Verwaltung gegangen, unabsehbar die Decke, riesengroß die Augen hinter den Gläsern der Brille, eine Leiter ohne Ende, die Paragraphen als Argument, mit dem sich alles, und also die Liebe, totschlagen lässt. Als wäre es eine Geschichte von Kafka (allerdings mit Aszendent schätzungsweise Heinz Erhardt), tritt das Dilemma paarweise auf: Es gibt den echten Fridolin B. und den falschen. Die Blonde dazu und auch die Brünette. Alles fängt an, weil die eine, die Blonde, gerne offiziell den Beruf der Künstlerin zu ergreifen verlangt. Als Unverheiratete darf sie das nicht, das verbieten die Sitten. Sie sucht sich, selbst ist die Frau, einen Schwindler als Mann. Das scheint sehr einfach und wird unendlich kompliziert, es kommt der Falsche in den Knast und die Richtige in den Schrank. Eher gegen Ende bricht der Film dann auch noch aus in Gesang. Wolfgang Staudte lässt einen an der Decke hängenden Engel im Mittel- und Vordergrund schweben, rückt, als hätte er zu tief in den Expressionismus geschaut, Gegenstände nach vorne, fokussiert dräuend dies und schlagschattenscharf jenes. Es ist und bleibt ein bisschen zu viel unseliges Geknatter hinter der angenehm lockeren Front aus Axel von Ambesser und Ilse Petri; ein bisschen viel Lust am müden Wortspiel, aber sehr viel mehr als eine Bürokratie-Klamotte ist diese Komödie doch. (70cp)

 

7.2. Un peu de soleil dans l'eau froide (Jacques Deray, F 1971)

Da ist Gilles (Marc Porel), Journalist bei Agence France Press in Paris, da sind die Nachrichtenticker. Da ist Nathalie (Claudine Auger), verheiratet in Limoges. Da ist der coup de foudre, als Gilles, wegen Depressionen aus Paris nach Limoges zu seiner Schwester geflohen, auf einer Party Nathalie sieht; und sie ihn. Ihr Blick harrt auf ihm, der Blick der Kamera harrt mit ihr mit, eine Sekunde zu lang oder zwei, sie wendet sich ab, es ist um die beiden geschehen. Dann Gänge zu Fuß durch die Natur, ein See, sind so unendlich blühende Blüten. Und da ist, immerzu, verführerisch duftend, aber immer etwas zu stark, die Musik von Michel Legrand, die so süß ist, oder eben auch süßlich, wie diese Bilder, die unschuldig tun, die einerseits gerne ein wenig zu lange verharren (oder eher verweilen), bevor dann andererseits die Dinge in Windeseile geschehen, aber ausgelassen oder im Vorübergehen erwähnt, hier nur kurz eine Brust, da ein schneller Tanz, und jedenfalls nicht dramatisiert, sondern untermarkiert. Und doch hat das alles ein Timbre, das den schrecklichen Ausgang im Süßen, im Flirrenden, in dieser leicht aseptischen, den Überschwang nur behauptenden Liebe stets vorausahnen lässt. Er tritt dann tatsächlich ein, der Ausgang. Da war ein coup de foudre, aber er hat sehr in die Irre geführt. (69cp)

 

Real Life (Brandon Taylor, USA 2020, Hörbuch, Sprecher: Kevin R. Free)

Wallace, schwul und schwarz und aus Alabama, kommt an das nicht wahnsinnig berühmte College in der Stadt im Mittleren Westen, studiert Biologie und ist mit Nematoden, also transparenten, für Experimente darum bestens geeigneten Würmern befasst. Er ist Außenseiter, als Schwarzer unter sehr vielen Weißen, ein schwules Paar ist aber auch im Freundeskreis, den er findet. Außerdem: Miller, der attraktive, vielleicht oder eigentlich nicht schwule Mann unter den Freunden, dessen Begehren er, der sich nicht schön finden kann, dennoch weckt. Zwei Felder sind es, die Brandon Taylor bespielt, die Wissenschaft mit Labor, kollektiven Experimenten, Nematoden, Ehrgeiz, Konkurrenz auf der einen, das der Freundschaft, des Begehrens, der Liebe, der Eifersucht und auch des Hasses auf der anderen Seite. Als Einzelgänger, der Wahlverwandtschaften sucht und zugleich stört, fungiert Wallace, in dritter Person, aber dichtester erlebter Rede als Seismograf, über den kaum zu sagen ist, ob er korrekt oder überempfindlich justiert ist, wenn es um seine Wahrnehmung des Rassismus der anderen geht. Sehr gezielt steuert Taylor Wallace in Konflikte, im Labor und mit Miller, Höhepunkt eine beinahe zerstörerische Indiskretion am Essenstisch. Die Beobachtung über Bande ist dabei nicht kühl, die Erzählinstanz sucht nie Distanz, immer Nähe, das gilt auch für die Aufladung mit philosophisch nicht ausgereiftem existenziellen Pathos, die Wallace, aber vielleicht doch auch das Buch mehr als nur gelegentlich überfällt. (65cp)

 

6.2. Capitaine Conan (Bertrand Tavernier, F 1996)

Tavernier kehrt zurück auf die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs, nun im südeuropäischen Osten, die Kämpfe gehen zu Ende, ohne dass Frieden einkehren will, im Krieg nach dem Krieg mischen sich die Allierten noch in den russischen Krieg. Die Szenerie ist in Zwielicht getaucht, im moralisches Zwielicht steht auch der Protagonist, Capitaine Conan, Philippe Torreton mit ungebändigter, nicht zu bändigender Energie als Held, der Fleisch ist vom Fleisch des Krieges, der die Regeln des Militärs überschreitet, weil ihre Einhaltung den Erfolg auf dem Schlachtfeld unwahrscheinlicher macht. Tavernier und sein Kameramann Alain Choquart stellen das Geschehen, das Warten und das Morden, die Schlacht und den von der Scheißerei konterkarierten Hymnentriumph (wie das Kreatürliche hier ohnehin als Rückseite des Heroischen immer im Spiel ist) in natürliches Licht, davon nicht selten recht wenig, Explosionen, Bajonette, Schüsse, die Kamera ist beweglich, stürmt mit, mobilisiert, und fast sticht sie auch zu wie der Capitaine und seine Leute, vor die er sich noch stellt, als sie in Bukarest zu Räubern werden und morden. Eine Welt, in der die Maßstäbe heillos verrutscht sind, in der Frauen nichts als bei Gelegenheit Gespielinnen sind. Ein anderer, ein kategorial anderer Mann namens Norbert (Samuel le Bihan), wird gerufen, ein Freund und Bewunderer Conans, einer, der nicht ganz Wolf war und nun wieder ganz Hund ist, einer, der nicht die Strenge, sondern die Milde des Rechts zur Geltung bringen soll. Er ist das Zivile in der herrschenden Barbarei, ein Mann der Literatur, nach dem Krieg wird er Lehrer. So kommen die Mörder davon, ein Feigling wird zum Tode verurteilt, da können die Interventionen seiner Mutter nicht helfen, die als Einspruch der zivilisierten Welt gegen das Morden der Wölfe nicht gehört werden kann, denn es ist diese zivilisierte Welt, aus der das Morden kommt. Im Epilog ist die alte Ordnung wiederhergestellt, der Wolf spielt mit den alten Männern in der Kneipe noch Karten, dann geht er sterben, einen alles andere als heroischen Tod. (73cp)

(Bertrand Tavernier)

 

Die Geschichte der Dreizehn - Ferragus (Honoré de Balzac, F 1833, Print)

Im Prolog ist gut munkeln, über das Erzählen, und über die Fäden, die dreizehn Männer ziehen, eine Bande, die so perfekt verschworen, dass keiner sie kennt. So sind sie kaum mehr als Schemen, keine Turmgesellschaft, dunkel leuchtender Hintergrund einer Stadt, in der selbst keineswegs alles Vordergrund ist. Als beinahe lebendiges Wesen wird Paris zu Beginn lange und genau beschrieben, als Ort aus Orten, manche sind hell, und an anderen ist es so dunkel, dass keiner, der auf sich hält, sie aufsuchen kann. Ausgerechnet hier aber begegnet Auguste de Maulincour der Frau, Clemence Desmarets, die er im gesellschaftlichen Droben, in den Salons der besten Gesellschaft, so verzweifelt wie aussichtslos liebt: Sie gehört einem anderen, in mehr als glücklicher Ehe, ein gegenseitiger Anhimmelungstatbestand, wenn es je einen gab. In dieses Glück führt Balzac nun den Verdacht ein, als Wurm, der alles verdirbt. Der Liebende konfrontiert die Geliebte, sie leugnet, auch dem Ehemann gegenüber wird sie schweigen, das dunkle Geheimnis, das sie und ihre Besuche in der schlechten Gegend umgibt, strahlt so stark, dass der Gatte in Zweifel gerät. Ferragus ist die dunkle Gestalt, deren Nähe Clemence sucht, suchen muss, denn er ist ihr verlorener Vater. Das vollendete Glück aber ist, vom leisesten Zweifel berührt, sofort zerstört. Und so kennt Balzac kein Pardon, das Conclusions überschriebene letzte Kapitel dieser schauerromannahen Geschichte bringt Tod und bringt Père Lachaise. Auch und gerade der Friedhof ist Teil von Paris, hier findet die Erzählung ein Ende, dreizehn Kutschen fahren vor, sie sind jedoch zum größten Teil leer. (73cp)

 

5.2. Der Zauberberg (Thomas Mann, Regie: Bastian Kraft, Burgtheater Wien)

Der Berg ist, bühnenbildtechnisch, ein Fels, auf den, als Film, Thomas Manns Roman projiziert wird. Leinwand und Fels, in und auf dessen Vorsprüngen die Darsteller*innen sitzen, stehen, klettern und liegen. Und sprechen. Die Körper sind doppelt, als reale auf der Bühne im Fels, zugleich aber als projizierte, vorher gefilmte, kostümierte, deren Bild, ihm beispringend und von ihm gelöst, die unprojizierten, real anwesenden Körper und Stimmen synchron, ja synchronisierend, eine andere Form von Präsenz verleihen. Und zwar hochvirtuos präzise und in die Quere zugleich: genderquer nämlich, Frauenstimme mit Bart, Settembrini und Naphta, Joachim und erst recht Castorp, von dem es, ewig nur Besucher, lange kein Aufzeichnungsbild gibt. So quer das ist, so sich selbst synchronisierend technisch originell, so brav ist es dann leider als Digest des Romans. Eine Auswahl, als dürfe nichts und niemand von Bedeutung fehlen, ein Schnelldurchlauf, dessen Höhepunkt eine Stillstellung ist: Sieben Minuten lang kein Film-Bild, kein Text, hier einmal unverlaberte Zeitphilosophie, Herumlungern im Fels, die Inszenierung misst sich das Fieber: um diesen Moment herum bei aller beflissenen Geschäftigkeit keine erhöhte Temperatur. (62cp)

 

Now is the Time (Kiki Kogelnik, Kunstforum Wien)

Die Anfänge, in den USA vage abstrakt expressionistisch, ohne eigene Note, dann drängt sich als Ahnung ein erster Körper hinein. Später steht schwarz in Umrissen The Painter als Figur im Bild, der Pinsel menstruiert Blutprobe Farbe. Ein Selbstporträt, mehr oder weniger, selten im Werk, dessen Körper sonst andere, auseinandergenommene, zusammengesetzte, ausgeschnitten sind. Letztere sind am ehesten noch berühmt, schlapp hängen sie, aus Latex, über den Bügeln, Körper ohne Volumen, wie Modezeichnungen, die zu schlappen Herumhängenachleben erweckt sind. Oder doch tot. Auf anderen Gemälden nur Teile, Torsi und Arme, von Popartfarben oder auch robotischen Signalen und Stücken umspielt, teils entzwei, selten ganz, aber das Entzweisein hat kaum je den Effekt von Zerstörung. Daran ändert auch, ja erst recht, das Auftauchen von Scheren im Bild selbst nichts. Sie scheinen eher Instrumente der Ermächtigung als der Bedrohung, selbstbewusst steht die Schere einmal als Wesen für sich neben dem Model im Bild. Das passt zu den anderen Ambivalenzen, der Präsenz der Technik und ihrem Potenzial zu Vernichtung wie Rettung. Im Zweifel fliegt Kiki Kogelnik mit einer Rakete aus Muffinformen zum Mond. Beim Moonhappening filmt sie Neil Armstrongs erste Schritte auf dem Mond am Fernseher mit und setzt sehr selbstbewusst und gar nicht Kontemplation ihre eigenen Siebdruckabdrücke dazu und daneben ins Bild. 

 

4.2. Wozzeck (Georg C. Klaren, D 1947)

Als Wozzeck Marie dann getötet hat - ein echter Mord, ein schöner Mord - spiegeln sich die Wellen des Wassers in seinem Gesicht. Eine Unruhe im Bild, sie hat an der Stelle weder Anfang noch Ende. Sind so viele Schleier, von den Bildrändern her, sind fast immer gekantete Bilder, ist alles von Anfang an, wiewohl grau, blutunterlaufen. Auf gemäßigten Expressionismus setzt Georg C. Claren, schließt an eine Vergangenheit an, zu deren nicht wegzudenkenden Vorläufern Büchner gehört, mit seiner Sprache aus Rasiermessern und blutigen Eisen, mit dem Großmuttermärchen vom Kind, das bis ans Ende des Universums keine Eltern mehr fand. Der Großmutterkopf tritt in, wiewohl grauem, Strahlenkranz auf, so sehr das Zentrum des Ganzen, dass die dem Drama für den Film imputierte Büchner-Figur, die versteht und erklärt, was des Erklärens so wenig bedarf wie es ihm in seiner eigenen Sprache auch widersteht, jenes Zuviel ist, das anders als das intensiv expressive Spiel von Kurt Maisel tatsächlich stört. (67cp)

 

Die Eingeborenen von Maria Blut (Maria Lazar, Regie: Lucia Bihler, Akademietheater Wien)

In der Mitte, groß, rot und ragend: die Jungfrau. Zur Rechten und Linken die Engel, die abbaubar sind wie auch die Marienstatue in der Mitte. Am Ende tragen Männer sie raus. Am Ende, wenn in Maria Blut der kommende Sieg der Nazis absehbar ist, im prophetischen Roman, den Maria Lazar 1935 verfasste (und der erst 1958 dann auch erschien). Lucia Bihler hat die Prophetie nun nachholend auf die Bühne gebracht, mit Figuren, die im vagen Niemandsland zwischen Individuum und Typus liegen, zwischen Karikatur und Dämonisierung, allerlei Handlung verbindet sie, die einerseits in kurzen eingesprochenen Zeilen aus dem Roman erzählend mindestens angedeutet wird, andererseits aber (vielleicht durch die Verkürzung) aus mancher Plattheit besteht. Weil alle in organenen Kleidern mit gelblich-schmutzigen Überhängen einander so gleichen, erst recht, wenn sie die riesigen Köpfe überstülpen (dann sprechen sie nicht, sondern werden von zwei Sprecher*innen am Rand her gesprochen, vielleicht lässt Susanne Kennedy hier grüßen, aber besonderen Sinn macht es nicht), wird das ganze ein allegorisches Spiel, das zeigt, was alle heute längst wissen. Lichtblitz/Dunkelheit als Szenenbegrenzung, es geschieht nur, was vorhersehbar ist. Und dann doch zu viel. Investiert werden kann hier nur ins böse Bekannte, ein Lehrstück, aber alle V-Effekte drehen sehr hohl. (49cp)

 

3.2. Home From The Hill (Vincente Minnelli, USA 1960)

Vor den Söhnen sterben die Väter, aber das ist auch das einzige, das in dieser Texas Town so ist, wie es sich nach den Sitten gehört. So befindet sich das Ehepaar Hunnicutt (Eleanor Parker, Robert Mitchum) seit achtzehn Jahren im Krieg. Seitdem hat er sie nicht mehr berührt. Auch über die Erziehung des gemeinsamen Sohns Theron (George Hamilton) liegen sie in heftigem Streit. Der wird von den Männern der Stadt als zu weichlich verspottet, der Vater drückt ihm ein Gewehr in die Hand, hetzt ihn mit seinen Hunden in den Wald auf die Jagd. Nun liegt er im Wald und klappert, lange vergeblich. Im Wald ist der Sumpf, wer in ihn gerät, kommt darin um. Hier wird am Ende, nach fast zweieinhalb Stunden, einer liegen, ein anderer Vater, dessen Hass auf das falsche Objekt zielte. Er hat getötet, er muss nun sterben, es ist durchaus das Schicksal, das als giftig gelblicher Nebel von den Sümpfen her weht. Viel Raum ist hier wieder, viel Zeit für das Ausagieren verfehlter Leidenschaften, von Kriegszuständen und auch für das Schweigen über das, was allen präsent ist. So viel Zeit lässt Minnelli den Dingen und den Figuren, drinnen und draußen, im Haus, in der Natur, auf dem Dachboden, im Wohnzimmer mit den vielen Trophäen auf dem Boden und an der Wand, so viel Zeit, dass sie sich, in satten, warmen, zu warmen Farben mariniert, langsam, aber sicher zersetzen. Am Ende: ein riesiger, hässlicher Grabstein. Eine Form von Erlösung, die Entstehung einer neuen, besseren Familie, eine andere Mutter akzeptiert einen anderen Sohn, als läge in der Familie jemals das Heil. (72cp)

 

Johnny Got His Gun (Dalton Trumbo, USA 1971)

Eine Stimme und dazu ein Körper. Zusammen kommen sie nicht. In den Abgrund füllt Dalton Trumbo, nach seinem eigenen Buch, in seinem einzigen Film, eine Suada aus Bildern und Tönen und Texten, eine Suada gegen den Krieg. Mit der Vorgeschichte des Körpers als junger Mann, der sich verliebt, der in den Ersten Weltkrieg zieht, beginnt es. Kaum kann man den Menschen, den man sieht, auf das beziehen, was - in Schwarz-Weiß noch dazu - im Bett liegt, zunächst von einer Art Zelt und einer Art Maulkorb noch zusätzlich deformiert. Es ist da nur ein schrecklicher Rest, taub und blind, die Arme sind ab, die Beine sind ab, nur ein Torso mit Kopf ohne Mund (ein Torso mit Schwanz, an dem später eine Krankenschwester wie in einer handelsüblichen Fantasie handgreiflich wird). Die Stimme, die aus dem Voiceover kommt (ein ganz anderer Körper als der, den man sieht), konstatiert das Schicksals dieses Subjekts, das sie ist, das sie nun beinahe restlos verkörpert, mit einem Schrecken, dem Trumbo Erinnerungen, Fantasien (Donald Sutherland als eine Art Jesus) fiebrig hinzufügt, als gälte es, diesen Abgrund zwischen Körper und Stimme mit Bildern nun aber ganz restlos zu füllen. Eine Überproduktion, ein Kratzen am Surrealen, ein Darstellungs-Furor, der von der Unmöglichkeit, eine solche Situation in die Subjektive zu bringen,  durch die fast verzweifelte Hilflosigkeit seiner Potenzgesten zeugt. (65cp)

 

2.2. Ehe im Schatten (Kurt Maetzig, D 1947)

Zwischen Kabale und Liebe und der Jungfrau von Orléans erstreckt sich der Film, von der Bühne des Jahrs 1933 in die private Wohnung, wo Hans Wieland (wie der Abspann ausdrücklich sagt: nach dem realen Joachim Gottschalk modelliert, nach Hans Schweikarts Novelle Es wird schon alles nicht so schlimm) seiner Frau, der Jüdin Elisabeth Maurer, und sich tödliches Gift in den Kaffee gemischt hat: «Kurz ist der Schmerz und ewig währt die Freude». Musik und Großaufnahmen, durchaus umflort, es ist ein Melodram, als das Kurt Maetzig die Geschichte des Dritten Reichs, der Judenverfolgung hier in UFA-nahe DEFA-Form bringt. Brecht hat es gehasst, vermutlich weniger die gelegentlich allzu didaktischen Dialoge als das, was als Drama tatsächlich funktioniert: die Verdrängung und falsche Hoffnung, die Angst und der Schrecken, das erst schleichende, dann offene Grauen, die Bilder der Pogromnacht, die Überblendung-Fantasie von Deportation, Lager und Tod; der Ernst und die Würde, mit der das, nah an einem Brecht sehr fernen Theater, gespielt ist. (70cp)

 

Le départ (Jerzy Skolimowski, Belgien 1967)

Schöner Quatsch neben anstrengendem Quatsch, und alles von vorne bis hinten durchhysterisiert. Im Zentrum: Jean-Pierre Léaud, Friseur in Brüssel, der von der Teilnahme an einer Autorallye träumt und dafür einen Porsche braucht, und zwar nicht irgendeinen, sondern den 911 S. Das ist Vorwand für diese Geschichte, in die dann der schöne Quatsch hineingeräumt wird (und eine schöne Frau, Catherine Duport), etwa Er und Sie lässig im aufgeschnittenen Auto (auf sehr ähnliche Weise hat Tati in Trafic wenig später Spaß im Salon), Er und Sie, die einen Spiegel durch die Stadt transportieren, surreal spiegelt er sich als sie, noch surrealer geht der Spiegel zu Bruch und wird durch rücklaufenden Film wieder ganz. Schöner Quatsch sowieso: perspektivisch sehr divers gefilmte Raserei per Auto oder Motorrad (Kamera: Willy Kurant). Der anstrengende Quatsch sind allerlei Faxen, zu denen Léaud ohne Unterlass und ohne (narrativ oder anders) zwingenden Grund aufgelegt ist. Am Ende wird dann nicht mehr gefahren, es gibt Diabild-Schmelze und zum Schluss brennt, mit Aussichten auf finalen Sex, Jean-Pierre Léaud realiter durch. (62cp)

 

1.2. La femme bourreau (Jean-Denis Bonan, F 1969)

Hart stoßen sich die ästhetischen Dinge im Raum: die radikale Handkamerasubjektive, in die der Film immer wieder zurückfällt, und ein nüchtern berichtender Voiceover-Kommentar, der die Daten nennt und die Namen, die Namen der Prostituierten, die ein Serienkiller ermordet, die man zuvor, meist mehr oder weniger nackt, auch zu sehen bekommt. (Einmal beim Sex von unter einem engmaschigen Bettgitter nach oben gefilmt; ein paar seltsame Ideen hat der Film, nicht immer schlecht.) Mal hört man angenehm atonalen Free Jazz, noch etwas irrer jedoch sind die sehr spröden und schrägen und an ihren Melodien entlangschrammenden Chansons von Daniel Laloux, der etwa die Schönheit der Guillotine besingt. Dazu wird auf einen See raus gerudert, der Mörder (er hat die Mordserie sozusagen von einer nun hingerichteten Vorgängerin übernommen) ist bekannt, mit einer Frau unterwegs, die am Ende seine Nemesis wird. Das alles ist inmitten der 68er-Unruhen gedreht, irgendwas zwischen Nouvelle-Vague-Imitat und Genre-Dekonstruktion (und darin aber auch Nouvelle-Vague-Imitat) und radikalerem Experiment, Jackie Raynal von der Zanzibar-Gruppe spielt mit, Jean Rollin in einer kleinen Rolle auch, Regisseur Jean-Denis Bonan hatte zuvor schon großen Ärger mit der Zensur gehabt, war Mitgründer der Gruppe Cinélutte; La femme bourreau ist (trotz der Bemühungen des Produzenten Anatole Dauman) nie ins Kino gekommen, war eher nicht existent als vergessen, wurde ein bisschen wiederentdeckt. Kein großer Wurf, aber interessant zwischen diversen Stühlen gelegen. (64cp)

 

Raw Meat (Gary Sherman, GB 1973)

taz-dvdesk (70cp)

 

 

JANUAR

31.1. Men (Alex Garland, GB 2022)

Ein Mann im freien Fall, unten dann ein toter Christus am Zaun: Selbstmord, vermutlich, und die Frau, die den dann toten Christus vom Weltgebäude an der Themse herabstieß (so lautet sein Vorwurf, sie hat ihn verlassen, er hat sie geschlagen, sie hat ihm die Tür zugeschlagen), steht mit blutiger Nase und starrt auf seinen Zeitlupenflug. Ihr Name ist Harper und sie flieht vor dem Trauma, das der Anblick und die Schuld ausgelöst haben. Sie flieht aufs Land, ein einsames, riesiges Haus, sie kann es sich leisten, sie spielt Klavier und ist amüsiert über Geoffrey, fast die Karikatur eines exzentrischen Landadligen. Er führt sie herum, sie erkundet die Gegend. Da ist ein Tunnel, Harper ruft, sie hört, sie ist Echo, es ist, als rufe sie damit die Gestalten herbei, die Männer, die sie von nun an verfolgen. Ein Nackter, ein Priester, ein Polizist, einer mit Maske, im Pub versammeln sie sich. Auf der Tonspur Klänge wie Klingen, dann auch eine Klinge, unterarmspaltend, das noch nicht recht Verdrängte kehrt sogleich wieder, ist da, wandelt seine Gestalt, die Äpfel fallen vom Baum, schweres Zeichen, Licht an und Licht aus. Dann die Geburten, die Männer, die nicht nur aus der Vagina schlüpfen, auch aus dem Rücken, auch aus dem Mund, Inbegriff von Ausgeburten, immer derselbe, mit sich nicht identisch, hinter dem am Ende der eine steckt: der untote James, aus Blut und Schleim auferstanden, nicht tot zu kriegen, zur Befriedung setzt sich Harper - wie der Film stets an der Grenze zum freiwillig oder unfreiwillig (schwer entscheidbar) Komischen balancierend - die Axt in der Hand neben ihr ganz persönliches Trauma auf die Couch. (73cp)

 

Razzia (Werner Klingler, D 1947)

«Wir machen Musik» steht auf einem der Panzer, der in den Trümmern neben anderen steht. Hier spielen die Kinder. Ernst geht es zu bei der Polizei, die auf der Jagd sind nach Kriminellen, die auf dem Schwarzmarkt Waren, nicht zuletzt wertvolle Medikamente verschieben und so an der Not der Menschen verdienen. Einer ist die Spinne im Netz des Verbrechens, sein Name ist Noll, er betreibt einen Nachtclub namens Ali Baba, der Weg zum Eingang von Haufen aus Steinen gesäumt, innen jedoch der Glanz einer anderen Welt. Eine Chanteuse namens Yvonne singt Lieder, die Männer im Saal genießen das Licht, die Musik, den Alkohol und die Abwesenheit der Zerstörung. Als der Kommissar dem Ganoven auf die Schliche kommt, räumt man ihn beiseite, ein Schlupfloch hinter dem Wandteppich führt in den Luftschutzkeller als Räuberhöhle, da liegen die Waren, da kann man die Leiche entsorgen. Zuvor noch hat die Frau des Kommissars Geburtstag gefeiert, zwei Söhne starben im Krieg, ein Dritter kehrt, fast war die Hoffnung schon aufgegeben, zurück. Die Tochter ist mit einem Polizisten liiert, der zurückgekehrte Bruder findet als Musiker keinen Job und gerät auf die schiefe Bahn Richtung Ali Baba. Fast ist der Film eine Ali-Baba-Mise-en-abyme. In die Trümmer und zwischen die Panzer und den vor dem Reichstag blühenden Reichstag baut Werner Klingler eine Genre-Schwarz-Weiß-Welt mit viel Studioatmosphäre, Ganoven aus dem Bilderbuch und auf den Flügeln des Gesangs eine Ahnung von mondäneren Welten. Mit acht Millionen Besuchern der erste große DEFA-Erfolg. (71cp)

 

30.1. Filmzeit, Lebenszeit (Edgar Reitz, D 2022, Print)

Der Vater ist Uhrmacher im hunsrückischen Morbach, der Sohn Edgar Reitz beschreibt sich als einen, der zuerst mit den Händen denkt. In München studiert er bei Artur Kutscher, vom Theater kommt er bald ab, als er an Willy Zielke gerät, der Kameramann für Riefenstahl war, von dieser als Konkurrent (so vermutet er und so vermutet auch Nina Gladitz) in die Psychiatrie abserviert wurde, wo man ihn zwangssterilisierte und erst nach fünf Jahren wieder entließ - damit er bei Tiefland wieder die Kamera führen konnte. Reitz wird, ein glücklicher Zufall, Assistent dieses unglücklichen Mannes, der, aus der Zeit fallend, auch wenn er noch lange lebt, an die Industriefilme, die er produziert, die höchsten künstlerischen und technischen Ansprüche hat. In Oberhausen gehört Reitz zu den Unterzeichnern, das Verhältnis zu Alexander Kluge ist freundschaftlich, bleibt aber ambivalent und bekommt einen Knacks, als dieser Reitz den Film Der starke Ferdinand gegen die Abmachung wieder aus der Hand nimmt. Das aber erst sehr viel später. Weiterer glücklicher biografischer Zufall: Reitz bekommt einen Job bei einem erfolgreichen Werbefilmproduzenten namens Handwerk, der sich überzeugen lässt, den jungen Regisseur zum Chef einer Avantgarde-Abteilung zu machen, in die Reitz Kollegen aus Ulm holt, wo er an der Hochschule für Gestaltung in der vor allem von Alexander Kluge auf die Beine gestellten Filmabteilung auch lehrt. Es entstehen experimentelle Filme, Höhepunkt eine sechzehn-Kanal-Montage für die Bahn. (Und den Werbespruch Alle reden vom Wetter. Wir nicht. hat Reitz nebenbei auch erdacht.) Schlimm scheitert ein von Kluge vermitteltes Treffen deutscher Filmemacher mit der Gruppe 47, für seinen Anspruch, Film als Autorenfilm zu begreifen, wird Reitz namentlich von Günter Grass und Ingeborg Bachmann beschimpft und verlacht. (Das Kunstreligiöse als Avantgardebewusstsein allerdings steckt Reitz in den Knochen und hält das Lässige, den Pop aus seinem Werk fern.) Er lernt Ula Stöckl kennen, eine Studentin dortselbst, und lieben, trotz Frau und Kind, er tritt in Neun Leben hat die Katze kurz auf, das anarchische Kübelkind-Projekt ist eine gemeinsame Sache. Für die man das Fördergeld, das es nach dem zweiten Film Cardillac gab, auf den Kopf haut, die 22 Episoden werden in Kneipen-Kinos gezeigt. Für Die Reise nach Wien will er Romy Schneider besetzen, sie macht zur Bedingung des Treffens, dass er ihr ein starkes Psychopharmakum besorgt; das klappt, es wird eine durchzechte Nacht, aber am Morgen fällt ihr ein, dass sie keine Filme mehr dreht, in denen sie nicht die alleinige Hauptdarstellerin ist. Mit Heimat bricht dann der Welterfolg über den deutschen Autorenfilmer herein, der glücklich ist, nach der Zweiten Heimat und erst recht angesichts der Qual mit der Dritten viel mit dem deutschen Fernsehen hadert, dabei weltweit gefragt ist, Professur in Karlsruhe, glückliche Ehe mit Salome Kammer, Einladungen immer wieder nach Venedig, faszinierend noch die Geschichte seines jüngeren Bruders Guido, der zurückgezogen in Morbach das Uhrengeschäft des Vaters weiterbetrieb; erst nach seinem Tod entdeckt Reitz die riesige Linguistik-Bibliothek und Tausende Blätter mit Notizen zum Hunsrücker Platt und den Sprachen der Welt, der schweigsame Bruder als outsider scholar, der sein Wissen in sich gekehrt hat. (74cp)

 

The Deceptions (Jill Bialosky, USA 2022, Hörbuch, Sprecherin: Elisabeth Rodgers)

Die Ich-Erzählerin: mittelalte Lyrikerin, Dozentin an einer Akademie für männliche Schüler, anerkannt, aber nicht so berühmt, wie sie es gerne wäre, mit Hoffen und Bangen sieht sie der avisierten Rezension ihres jüngsten Bands in der New York Times entgegen; die wird ein Desaster, das erzählerisch von recht langer Hand vorbereitet sein will. So lernen wir den Gatten kennen, Mediziner, in anderen als den New Yorker Kunst- und Literaturwelten unterwegs. Nach zwanzig Jahren haben sie kaum noch Sex, der Sohn ist aus dem Haus, im privaten College, es bleiben Sorgen. Da ist die Nachbarin, die später mit dem Yoga-Lehrer durchbrennt, der ihr Sohn sein könnte; ihre Tochter dagegen wird zur Intellektuellen, der Ich-Erzählerin bis zur Schlusspointe sehr nahe. Überpräsent sind die Bezüge zur griechischen Mythologie, Homer, im Met besucht die Erzählerin die Antikenabteilung, wieder und wieder; überdeutlich ins Zentrum gerückt: die Geschichte von Leda und dem Schwan, dessen Gestalt Zeus annimmt und so mit ihr schläft. Oder: Sie vergewaltigt, so jedenfalls die Deutung der Erzählerin, der dann im wahren Leben eine gleich doppelte Vergewaltigung widerfährt: ein Dichter hat an der Akademie eine Gastprofessur, sie begehrt ihn, vielleicht, liebäugelt mit einer Affäre (die letzte Chance womöglich, denkt sie), dann bedrängt er sie, wie der Schwan, und münzt die Quasi-Vergewaltigung noch dazu in einen literarischen Missbrauch um. A bit too much schon das, aber es kommen noch misogyne Kollegen und manches Böse mehr obendrauf. Alles gut mythosgestützt, bei allem konstruierten Doppel- und Dreifachsinn am Ende doch von verblüffender Einsinnigkeit. (59cp)

 

29.1. Minnie and Moskowitz (John Cassavetes, USA 1971)

Männer, die monologisieren, auf engem Raum, den die unruhige, abstands- und schon gar totalenunfähige Kamera immer noch enger macht. Die Enge sorgt für Druck von außen, aber auch von innen scheinen alle geladen, nicht nur Seymour Moskowitz, der Autoeinparker, der sehr stark etwas will, das er eher behelfsweise als Liebe begreift. Im Restaurant sitzt einer, leicht schwammig, und klagt über das Leid, das ihn traf, der Tod der Frau, wer weiß, ob das stimmt, vielleicht hat er, als Rechtfertigung für das Leid, oder vielmehr die Klage, das auch nur erfunden, denn einen Grund haben muss, was man tut. Es sind aber Grundlose, die in diesem Film aneinandergeraten, und Nervenzusammenbrüche nie fern. Nicht nur die Ehefrau, die sich die Adern aufschlitzt, worauf der Mann namens Jim (John Cassavetes selbst, ohne Credit) seine Geliebte, die Frau namens Minnie (Gena Rowlands) verlässt. Vor dem Sohn, im Museum der zeitgenössischen Kunst, da arbeitet sie, blond ist sie, sehr blond, mit schwarzer, sehr schwarzer Brille. Was zwischen den beiden war, außer Sex: Schläge, wie überhaupt die grundlosen Körper sich hier nicht anders zu helfen wissen, als zu prügeln und geprügelt zu werden, wo von Liebe die Rede ist, oder sein sollte wie zwischen Mutter und Sohn, sind Aggressionen nicht weit, in der Rede nicht und nicht in den Körpern, beides ohnehin durch ständigen Kurzschluss verschaltet, der zu Druck und Gewalt führt, oder zu Stocken oder Monoloisieren oder hysterischem Lachen, noch vor dem Altar. Der Bart ist dann ab, vorher schon eine Küche in Rosa, nun quietschbunter Kindergeburtstag im Garten. (74cp)

 

Irgendwo in Berlin (Gerhard Lamprecht, D 1946)

Durch die Trümmer und Ruinen der Stadt, es glotzen die Räume durch Wände, die fehlen, flieht ein Mann, der Zaubertricks kann. Was er auch kann, ist stehlen, er kann auch den jungen Gustav beschwatzen, der mit seinem Freund Willi und andern mit ihrerseits gestohlenen Feuerwerkskörpern in den Trümmern und Bunkern den Krieg nachstellt, der auch für einen traumatisierten Ex-Soldaten noch lang nicht vorbei ist: Er sitzt katatonisch im Sessel, dann steht er auf und salutiert auf dem Balkon, stundenlang. Die Polizei ist auf der Jagd nach schwarz gehandelten Waren und den Hehlern und Händlern, ein älterer Herr malt ein Bild, die Mutter von Gustav hat die Hoffnung nicht aufgegeben, dass ihr Mann aus der Gefangenschaft heimkehrt. Dies geschieht, gegen dieses Glück rennt Willi, eine Hauswand hinauf, in Richtung Unglück und Sturz. Verlorene Seelen in defigurierten Straßenzügen, die Oberbaumbrücke steht noch, Zusammenrücken und Aneinandergeraten, eher halbgeformt in Dialogen und Bildern, was nicht ganz schlecht passt. (64cp)

 

28.1. Die Reise nach Wien (Edgar Reitz, BRD 1975)

Geschichten von der Heimatfront: erste Begegnung mit Simmern im Hunsrück, da kommt, wie man heute weiß, aber Reitz damals noch nicht wusste, noch mehr, auch von einem Hermann Simon ist schon die Rede. Zwei Frauen, deren Männer im Krieg sind, mischen bei heimlichen Schlachtungen mit (ein Kapitalverbrechen im Krieg) und eilen zurück auf die Tanzfläche, die Blicke schweifen herum, auf der Suche nach brauchbaren Männern. Toni (Elke Sommer) hat mit dem Ortsgruppenleiter (Mario Adorf) was laufen, das sich mit Blick auf potentielle Bredouillen rentiert. Außerdem findet sie im Keller Geld, es ist schmutzig, der Gatte hat Juden erpresst, sie haut es auf den Kopf mit der Freundin Marga (Hannelore Elsner, eine Rolle, für die Reitz gerne Romy Schneider gehabt hätte), auf einer Reise nach Wien mit Grand-Hotel-Übernachtung. Der Ton streift schon im Simmern fast das Burleske, auch später wieder, als es um die Wurst und den Tod geht, in Wien wird es erst recht turbulent, und mondän, Robby Müller zieht massiv Weichzeichner drüber, die beiden verlieren ihr Geld an einen undurchsichtigen Pseudo-Rumänen, gewinnen es wieder, durch zwei  Galane in Uniform protegiert (der eine muss aber nächsten Morgen zurück an die Front und kriegt keinen hoch, der andere aber schon). Ein Film über weibliche Lebenslust trotz Widrigkeiten. Die beiden gehen zur Not über Leichen, kurzer Schwenk an die Front. Jeder Schritt führt ins Dunkle, dann lieber Tanz und Sex und Hausmacher-Wurst, die Gatten, die nicht zurückkehren werden, juckt es ohnehin nicht. (67cp)

 

Remote Control (Nnedi Okorafor, USA 2021)

Sankofa ist ein Engel des Todes, die adoptierte Tochter des Todes, genauer gesagt, und erinnert sich, rückwärts, wie es dazu kam, und nähert sich, vorwärts, dem Ort wieder, an dem sie von einem Kind, das gerne im Garten im Baum saß, zum Mädchen wurde, das auszieht, die Welt das Fürchten zu lehren. Diese Welt ist ein etwas zukünftiges Ghana, in dem sie Männer auf der Straße bedrängen, in dem sie in einem Ort namens Robotown eine Frau kennenlernt, die technische Geräte vertreibt (und mit Stromkreisen tätowiert ist), und eine andere, die Gattin des Imam, die die Erfinderin des Robo-Cop ist, der mit seinen Drohnen die Stadt kontrolliert. Sankofa hat einen Fuchs als Begleiter, der nach einer Hotelkette den Namen Mövenpick trägt. Sie tötet, wenn sie glüht, und sie zerstört alles technische Gerät in der Nähe. So übt sie Rache am Morder an ihren Eltern, an einer Welt, die für eine junge Frau wie sie ständige Lebensgefahr birgt; eine Gefahr. Die Geschichte schließt sich weder zur Allegorie noch hält sie eine Botschaft parat. Sie bringt Dinge zusammen, das Kind und die Macht, Fleisch und Metall, Mensch und Tier, Magie, Religion, Science Fiction, deren Überlagerung eine immer wieder faszinierende, in die Fantasy hinüberschillernde Landschaft hervorbringt. (70cp)

 

27.1. Escape From the Planet of the Apes (Don Taylor, USA 1971)

Fish out of water, Affen aus der Zukunft, in der die Erde zerstört ist. In einem Raumschiff landen sie an, 2000 Jahre zurück, zum Drehzeitpunkt seinerseits leichtes Futur: Es ist das Jahr 1973, Umweltverschmutzung, Atomkrieg und nun die sprechenen Affen, die über das nicht allzu ferne Ende der Mensch- und der Affenheit informieren. Die Politik wird mit komödiantischem Akzent vorgeführt, human und humaner als die meisten Menschen sind, als liebendes, in der Liebe miteinander scherzendes Paar Cornelius und Zira. Das Buch verbindet mit leichter Hand Apokalypse und komisch schillernde Verfremdungseffekte, die Kleider-Shopping-Tour durch downtown L.A., ein Schaumbad, die heftige Abneigung Ziras gegen Bananen. Präsdidentenberater Hasslein trägt im Namen, was er im Herzen trägt, warnt vor dem Ende der Menschheit und sieht die inhumane Vernichtung der Affen als einzige Lösung. Mit Jerry Goldsmiths fast abstrakter Spannungsperkussion endet es auf einem Schiffsfriedhof, wie es enden muss, nämlich finster, auch wenn, ins Dunkle der Schwarzblende hinein, ein erstes und letztes, verzweifeltes Hoffnungswort bleibt: Mama … Mama. (67cp)

 

Freies Land (Milo Harbich, D 1946)

Der Vorspann verkündet: «Dieser Tatsachenbericht schildert die wahren Erlebnisse deutscher Flüchtlinge, Bauern und Siedler nach dem Zusammenbruch im Mai 1945. Sie selbst haben in diesem Film mitgewirkt und waren die Darsteller ihres eigenen Schicksals.» Eine Dokumentation im strengen Sinn ist dieser zweite DEFA-Film aber nicht, wenngleich er seine erzählende Fiktion in ein Bild- und Personanematerial einträgt, das der Fiktionalisierung die selbstbewusste oder ungelenke Sturheit seiner Körper, seiner Dialekte, seines Stehens und Blickens und Sprechen darbietet, entgegenstellt, sich dem Spielfilmhaften, das die Kamera evoziert, immer auch widersetzt. Dazu aus dem Off eine Wochenschau-Stimme, die von Bodenreform berichtet und Gegenseitiger Bauernhilfe, die in Spielszenen dargestellt wird. Aus der Mühsal des Daseins der Bauern, der Geflüchteten, der Fremdheit, der Ablehnung auch wird kein Geheimnis gemacht. Neorealismus auf deutschem Boden, in der Landschaft um Lebus stehen in freier, befreiter, wieder zu unterwerfender Natur die Ruinen. Hier wird gerodet, gepflügt, das Stroh gedroschen, der Mensch im Sinne des Sozialismus instruiert. (63cp)

 

26.1. Deux hommes dans Manhattan (Jean-Pierre Melville, F 1959)

Der französische UN-Botschafter ist verschwunden, ein Reporter von Agence France Press (Jean-Pierre Melville, Ringe unter den Augen) und ein Fotograf machen sich auf die Suche. Von der UN-Versammlung geht es hinaus, ins niemals endende Rattern der Agenturmeldungen, in die Straßen New Yorks, noir wie die Nacht, die Nacht als Schauplatz von Noir, die Namen der Filme und Stars auf den Boards der Kinos, die Lichtreklamen blinkend, zuvor Pigalle, nun also Manhattan, und auch nach Brooklyn wird es die beiden Reporter als Gumshoes noch führen. Das Genre ist aber nichts weiter als Vorwand, Melville spricht Hollywood mit starkem französischem Akzent, will gar nicht auf das Finden der Leiche hinaus, gefunden wird sie, aber eine Tat gibt es nicht, und also auch keinen Täter. (Gäbe es einen, es wäre der Fotoreporter, drinking and driving, bis er zuletzt sein Gewissen wiederentdeckt.) Was Melville will, und sich nimmt, sind Hinterbühnenbesuche, Blicke durch Fenster auf Frauen, über spanische Wände auf Brüste, Abgang des brünetten Stars von der Bühne des Mercury Theater in die Garderobe, Gesang des blonden Stars im Studio, Livemusik, Jazz, ganz bei sich ist Melville, ist sein Kino, wenn die Kamera wie automobil durch die nächtliche Stadt streift, dazu auf der Tonspur Musi, und vielleicht noch mehr bei sich ist dieses Kino, wenn die Kamera die sehr genau weiß, von wo aus sie blickt, in Räumen Aufenthalt nehmen kann, in denen Menschen an ihren Instrumenten sitzen; Plattenspieler in wohnlicheren Räumen tun es auch, zur Not sogar das leere Rauschen am Ende der Rille, tschkrktschkrktschkrk. (65cp)

 

Maigret und sein Toter (Georges Simenon, F 1948, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Maigres Toter ist ein Mann, den er nicht kennt. Von dem Anrufe kommen, er fühlt sich verfolgt, und er ist es, und bevor Maigret ihn finden kann, ist der Mann tot. Der Kommissar liegt mit Erkältung zuhause, als ihn der Richter besucht, stopft Madam Maigret dem Gatten die Pfeife, als der Richter weg ist, bringt sie ihn auf die richtige Spur. Die führt auf Umwegen zu einer tscheschischen Bande (Simenon macht ein Wortspiel mit Scheck), sie führt in ein einfaches Restaurant, Petit Albert, das der Tote mit seiner Frau, der schielenden Nine, betrieb, bis er start. Nine, die keiner für hübsch hält, nur ganz am Ende Maigret beinahe doch, Nine lebt, sie ist in Sicherheit, das Bild, das andere von ihr zeichnen, hilft Maigret dabei, sich seinem Toten, der rundum beliebt war, zu nähern. Halb Falle, halb Reenactment als Annäherung: Die Polizei übernimmt für ein Paar Tage das Restaurant, Maigret hinter dem Tresen, die Frau des Kollegen kocht, und sie kocht gut. Ein zweiter Toter fällt an, eine Mittäterin mit Säugling übt sich im Schweigen, Maigret hat Geduld und das Petit Albert macht nach kurzem und erfolgreichem Nachleben dicht. (73cp)

 

25.1. The Beguiled (Don Siegel, USA 1971)

Der Mann ist lädiert, nicht kastriert, zunächst jedenfalls, und er wird in der Schule der Frauen mitten im Bürgerkrieg sofort zum Objekt diverser Begierden, durchaus um ihn als einzigen verfügbaren Phallus zentriert; die Frauen (mit mindestens einer Ausnahme) dagegen sind, was der Titel verspricht: die Betörten. Die Bäume hängen voll Bärten, Bruce Surtees gewinnt dem Außenraum, mit altmeisterlicher Lichtsetzung erst recht den Innenräumen seinerseits Betörendes ab. Das Südstaaten-Haus bekommt Augen und Ohren und Zungen und Hände und Clint Eastwood als John McBurney verführt um sein Leben, mit sanfter Stimme und Augenaufschlag und nimmt, was er kriegt: Sex und Amputation. Und Pilzgericht auch. Es präsidieren Bilder an Wänden, die Anstaltsleiterin Martha (Bühnenstar Geraldine Page weich und stahlhart zugleich) mit ihrem verschwundenen Bruder, mit dem sie wohl mehr als Bruderliebe verband. Nachgestellt wird ein Gemälde mit Eastwood als Christus, zwischen Kreuzabnahme und Pieta. Geschmackvoll sieht das aus, wie alles andere auch, etwa eine per Montage ins Bild gesetzte Threesome-Fantasie; dabei wagt sich Siegel, nicht nur in der Szene, in der ein Bein abgesägt wird, weit ins Groteske, in Southern-Gothic-Register. Ein Film, der Frauen alles zutraut, nur nicht, einen gegen den Anschein sehr mobilen Mann zu durchschauen. Wäre vielleicht einfach nur misogyn, gäbe es nicht noch eine Schlüsselfigur, als Sklavin, wie man im Rückblick sieht, vergewaltigt und durch symbolische Ordnungen unverführbar zu Realismus verdammt: Mae Mercer als Hallie, die nicht nur dank Rasur das wahre Gesicht der Beteiligten kennt. (74cp)

 

Black Noon (Bernard J. Kowalski, USA 1971)

Der Reverend und seine Frau drohen in der Wüste zu sterben. Ray Milland und seine sprachlose Tochter Deliverance (unfassbar Barbie-esk: Yvette Mimieux) kommen zur Rettung und bieten Kirche und Bett im Städtchen San Melas. Zu denken gibt eine Klapperschlange, die sich beim Anblick der Frau lieber verzieht. San Melas ist ein Westernort wie aus dem Klischee, einst gab es Gold, nun nur noch Terror, den ein Mann in Schwarz namens Moon ausübt. Auch nicht ohne: Deliverance, die in ihrer Kammer Wachskerzen dreht und die Gattin des Reverend in effigie quält. Ihre Katze ist vom ersten Bild an unbestimmbar satanisch. Nach einer flammenden Predigt wirft ein junger Mann die Krücken von sich und kann wieder laufen. Der Reverend wird in Visionen vor dunklem Hintergrund von einem blutigen Mann mit nacktem Oberkörper verfolgt. Das alles geht in aller Ruhe vonstatten und steht unsubtil da, eine Fernsehproduktion, auf die das Licht in nichts schattierender Gleichmäßigkeit fällt. Und hat gerade deshalb einen Schrecken, der nicht aus der Finsternis kommt, die Bilder sind einem taghellen Alptraum entsprungen und greifen in ihrer ungeschliffenen Art tief in die Fantasie des Betrachters. (74cp)

 

24.1. Die Mörder sind unter uns (Wolfgang Staudte, D 1946)

«Der Mann, den ich töten werde», so der ursprüngliche Titel, aber nach Selbstjustiz-Bedenken der sowjetischen Zensurbehörde tötet er ihn am Ende nicht. (Die Zuständigen der anderen Zonen wollten von deutschen Filmen vorerst nichts wissen.)  Das Ich ist der Mann, den der Krieg traumatisiert hat, den so sehr wie der Krieg die Barbarei eines anderen Mannes verstört hat, Hauptmann Brückner (Arno Paulsen sieht Himmler recht ähnlich), der Unschuldige töten ließ und sich selbst, O du fröhliche singend, unschuldig fühlt. Es klingt nach einer zu privaten Geschichte. Das Uns wiederum von Die Mörder sind unter uns sind die Deutschen des Nachkriegs, als ob sie Unschuldige wären, von den Mördern geschieden. Sonst aber nimmt das Buch kein Blatt vor den Mund: Auf dem Tisch die Zeitung, die von zwei Millionen Vergasten in Auschwitz berichtet. Ein Judenstern wird zerdrückt. In den Trümmern der Geschichte erzählt Staudte im ersten deutschen Nachkriegsfilm nun Geschichten, vom Monster, das überlebt und mit seiner Frau und seinen Söhnen am Tisch sitzt; vom alten Mann in seiner Werkstatt, der auf den Brief seines Sohns hofft, der ihn dann zu spät erreicht; vom Wahrsager, der den Leuten erzählt, was sie hören wollen und vor allem von der jungen Frau, die aus dem Lager zurückkehrt und in der Wohnung den Mann findet, mit dem sich eine Zukunft vorstellen lässt. Gefilmt in einem neorealistisch-expressionistischen Stil, der Anschlüsse in Weimar sucht, mit riesigen, einander verschlingenden oder ins Groteske gehenden Schatten, in ragenden, stürzenden, liegenden Trümmern, die vom Untergang zeugen. Schwer diese Zeichen, schräg sind die Bilder, dagegen das leise Klingen der Glockenstäbe am Eingang. Die Vergangenheit präsent, als Zerstörung, aber auch als Instanz, die mit schlechtem Timing Botschaften schickt: Der eine Brief ist liegengeblieben und erreicht den Mörder als schlechter Scherz, der andere Brief ein Nachgedanke der Vergeblichkeit. Großaufnahme des Gesichts, das Heulen des Krieges darunter. Die Erlösung zum Arzt per Luftröhrenschnitt. Viel Pathos, aufgehoben in Stil, ein Versprechen, das das deutsche Kino, auch der DEFA, dann nur noch sehr gelegentlich hielt. (79cp)

 

Fata Morgana (Werner Herzog BRD 1971)

Ein Flugzeug landet, und noch eins und noch eins, die Brennweite schmilzt den Grund zu flirrendem Licht. Ankunft, Ankünfte, fragt sich nur wo. Afrikanische Bilder, Wüste und streunende Häuser, man sieht keine Menschen, dazu erzählt Lotte Eisner mit charismatisch schartiger Stimme den Maya-Schöpfungsmythos von Popol Vuh, der Mensch gelingt erst nach mehreren Würfen. Das ist, die afrikanischen Bilder, auch auch einmal Eis, Teil eins, Eisner plus Mythos plus klassische Klänge, Überschrift: Schöpfung, darunter macht Herzog es nicht. Teil zwei kennt dann Menschen, hier lernen die Bilder das Fliegen, es wird auch weiter gefahren, durch Wüste hindurch, an Siedlung vorbei, drei Songs von Leonard Cohen laufen betörend dazu. Es mischt sich auch der Irrsinn darunter, der Text, nun von einem Mann, nicht mehr Lotte Eisner, aber auch nicht von Herzog, gesprochen, ist poetisch, indem er Risse in den logischen Zusammenhang fügt. Afrikanische Kinder, die deutsch vom Blitzkrieg sprechen, erst einzeln, dann chorisch. Auftritt auch ein Mann mit dunkler Fliegerbrille, ein Mann, wie es Männer nur bei Herzog gibt, voll von nüchtern klingendem Wahn, in den Händen einen Waran, der sich windet, der züngelt, Echo (oder Fata Morgana) von weit her aus der Zukunft, die Echse in Herzogs Bad Lieutenant, so viel und so vieles später. Und dann folgt Teil drei, Das Goldene Zeitalter, aber hier sitzt nun auf einer engen Bühne wie in einem Wirtshaus erhaben ein Mann am Schlagzeug und singt, unverständlich, vom Mikrofon verzerrt, eine ältere Frau spielt, ernst blickt sie dazu, recht brutal das Klavier. Auch sieht man Menschen in Löchern im Sand, eine alte Frau ein alter Mann ringend, als wollte er vielleicht fliehen und sie wollte ihn vielleicht daran hindern. Auch ein Taucher mit Flossen, eine große Schildkröte in den Armen, sie gehte dann ins Becken, er hinterher. Ankünfte, Abflüge, woher und wohin, spätestens in Teil zwei hebt das Ganze ab, stürzt in schönstes Delir, geht in Herzog-Gangart mit Aszendent Achternbusch über den Verstand. Was soll man sagen. (80cp)

 

23.1. Neun Leben hat die Katze (Ula Stöckl, BRD 1968)

Die Katze hat neun Leben, und dieser Film hat sehr viel mehr als nur eins. Von Dingen der Liebe erzählt er, von Ehe und Sex, vom Protest auf der Straße, vom Verspeisen der Blumen im Feld, er hört zu und legt Worte in nicht sprechende Münder, eine Frau kommt an aus Frankreich (und einer französischen Idee vom Film sicher auch), eine andere Frau nimmt sie in Empfang, sie sitzen auf einer schwingenden Bank und Edgar Reitz sitzt da auch, drängt sich zwischen die beiden, weil er, ironisch und nicht ironisch, die Ordnung der Welt, in der der Hahn im Korb zwischen zwei Frauen gehört und nicht an den Rand, wiederherstellen will. Die eine Frau, Liane Hielscher, ist Journalistin und testet ihren Marktwert selbstbewusst in einem Bewerbungsgespräch. Sie porträtiert einen Schlagerstar, worauf sich Ula Stöckl auf eine Weise einlässt, die den kritischen Impetus, der nicht nur hinter dem Artikel steht, weit überschießt. Zwischendurch hebt ein Flugzeug ab aus dem Stand, kurz wird über die Utopie des Flugverkehrs diskutiert, der keiner Start- und Landebahnen bedarf, dann aber knickt dem kuriosen Flugzeug beim Landen das Rädergestellt weg, und das war es dann wohl. Außerdem verwandelt eine Kirke Männer zu Schweinen, geschlachtet wird, gelacht wird und getanzt wird und es ist ein Film, der sich mit so großer Selbstverständlichkeit Freiheiten nimmt, dass man ihm und den beiden Frauen überallhin folgt, in die Natur, ins Bett, ins Hängemattenbett in der Natur, zu Flugzeuggeschichten, Widerstandsgeschichten, Feminismusgeschichten und Arbeitsgeschichten. Neun Leben hat die Katze, der Mensch hat nur eins, in dem aber geht es um alles, nicht wenig davon, also von allem, findet in Ula Stöckls Debüt seinen Platz. (80cp)

 

Bob le flambeur (Jean-Pierre Melville, F 1956)

Sacré-Coeur oben, Pigalle unten, Deauville am Meer, das Apartment in Montmartre, fast alles von Melville im Studio erträumt. Das Flanieren, oder eher Streunen, des Blicks, Bobs Blick, der auf eine junge Frau fällt, unschuldig, weil ohne Prinzipien, von deren Aufstieg in der Nachtwelt von Paris der Film auf der einen Seite erzählt. Sie fängt die Männer, Paulo vor allem, aber lässt sich nicht fangen, sie hält ihren Körper für geldwert, was er auch ist. Auf der anderen Seite: Bob, der Spieler, so süchtig, dass er in einer Kammer seines Apartments einen einarmigen Banditen verwahrt und, wenn er hereinkommt, bedient. Er, der vom Verbrechen kuriert war, zur Polizei freundschaftliche Beziehungen unterhält, er, der durch die Kasinos und der durch Pigalle streunt (nicht unschuldig, nur zum Schein souverän), lässt sich nicht durch die junge Frau (oder überhaupt Jugend), aber durch das doppelte Versprechen des Geldes und, vielleicht mehr noch, der Beinahe-Unmöglichkeit seiner Pläne verführen. Melville setzt seinen Film auf die Gleise des Heist-Films, aber spätestens wenn er im Bild die Tat selbst antizipiert, ist klar, dass diese Geschichte darauf nicht hinauslaufen will. Sie wird auf parallele Gleise gesetzt, ernst und doch, in den (leise, aber doch) aufmerksamkeitsheischenden Blenden (nicht oft, aber doch), und den insistenten Großaufnahmen zum Trotz, mit großer Eleganz auf Abstand gebracht - ein Abstand, der die Bindung zu den Figuren nicht löst, aber als Abständigkeit so sehr eine Markierung von Objektivität ist wie die Stimme des Erzählers, die zwischendurch den Stand der Dinge weniger kommentiert als notiert (nicht allwissend, aber doch). Und so kommt, was kommen muss, aber nur unter diesen Voraussetzungen kommen kann, eine leise Verschiebung ums Ganze, hinreißende Ironie, fast komödiantisches Finale, in das sich, als Name, Plakat und Porträt Juliette Greco, der Star von Melvilles vorangegangenem Film, sanft hineindrängt. (80cp)

 

The Banshees of Inisherin (Martin McDonagh, Irland/UK/USA)

Heavy lifting: die Augenbrauen von Colin Farrell. Schnipp-schnapp: die Finger sind ab. Gibt so kleine Esel, gibt so sture Männer, gibt eine Insel, die Martin McDonagh sich ausgedacht hat. Eine Insel, von der aus der Bürgerkrieg des Jahrs 1923 nicht mehr als Wetterleuchten vom Festland her ist, eine Insel, auf der eine alte Frau als Banshee umgeht, ein Polizist erst nackt im Suff daliegt, dann seinen Sohn schrecklich verprügelt. Es bleibt nur, und nur für die Frau, weil sie lesen kann und Mozarts Geburtsdaten kennt, als einziger Ausweg die Flucht. Mythischer Quatsch das alles, durch Totalen einer Landschaft besiegelt, die schweigt, aber sie schweigt mit einer Größe, die Menschliches klein macht. Few and far between Dialoge von grimmiger Komik, im Beichtstuhl vor allem, für Augenblicke die Hoffnung, dass McDonagh das alles weit weniger ernst nimmt, als es gleich darauf wieder daherkommt. Bewundernswert aber doch der Einsatz von Brendan Gleeson (zerfurcht), Colin Farrell (geknickt) und Kerry Condon (ausharrend, up to a point), die sich dem Unfug nicht beugen, die ihren Esel begraben, ihre Geige mit Fingerstümpfen noch spielen oder besser doch die erpresserischen Verhältnisse fliehen, denen McDonagh, der hier die Scheren führt und die Fäden zieht, mit leichter Hand kurz vor Schluss noch den jungen Dominick opfert. (52cp)

 

22.1. Some Came Running (Vincente Minnelli, USA 1958)

Das Schicksal fährt Bus und lädt Dave Hirsh (Frank Sinatra) in seiner Heimatstadt aus, Parkman, Indiana. Er trägt Militäruniform, hat in seiner letzten Nacht in Chicago eine lose Bekanntschaft gemacht, Ginnie (Shirley MacLaine), kann sich, er war völlig betrunken, kaum noch erinnern. Sie steigt mit aus und wird bis zum bitteren Schluss bei ihm bleiben. Das Breitleinwandbild ist geräumig, Zeit nimmt Minnelli sich auch, und zwar, um Parkman im Großen und Kleinen auszumalen. Im Kleinen liegen auf Sofas Kissen herum, auf einem ist ein menschlicher Grashüpfer drauf; im Hintergrund eines malerisch vor dem recht majestätisch breiten Fluss gelegenen Hauses unübersehbar ein Kraftwerk. Am Ende ein Friedhof, ein Engel, Schwenk auf den Fluss, das Schicksal zieht sich mit dem Segen der Toten aus dem Leben zurück. Das Kleine ist, wie man sieht, bereits groß; das Große ist medioker. Der Bruder, der es in Parkman zu Geschäftserfolg und Familie gebracht hat, mit Daves Ankunft beginnen die Fassaden zu bröckeln. Das Große, das nun klein ist, ist der Schriftstellerehrgeiz von Dave. Zwei Romane hat er veröffentlicht, die Dozentin für Creative Writing, Gwen French, Tochter seines Professors (von früher, ein mythisches, ein nicht wieder einholbares Früher), verehrt sie und verehrt, und verehrt nicht, den Mann. Der trinkt und spielt und begegnet beim Spielen einem Trinker und Spieler, Bama (Dean Martin), der den Hut nie vom Kopf nimmt. Das Begehren ist unterwegs, die Eifersucht auch, Heiratsanträge aus heiterem beziehungsweise wolkigem Himmel, das Wünschen ist selbst wie betrunken, die Objektwahl instabil, Küsse und Wünsche verrutscht, Motive verschwommen, Gründe aus Ankern gerissen, der eine haftet am Hut wie bekloppt, der andere haftet nicht, dafür klebt an ihm das Verderben. Herzensklug und naiv und zu allem entschlossen nur Ginnie, die nicht weiß, wie ihr geschieht, aber was ihr geschieht, das fühlt sie genau. So konfrontiert sie Gwen, die in Ansehen und Verstand unendlich überlegene Frau, in deren Revier, ist siegreich, auch wenn nicht klar ist, ob da überhaupt ein Widerstand war. So rennen sie weniger, als dass sie rutschen, und rutschen, auf Unglücke zu, aus Parkman davon. Es ist Raum, es ist Zeit, aber es gibt keinen Halt für diese Figuren. (76cp)

 

Le souffle au coeur (Louis Malle, F 1971)

Einmal schneiden sie den Corot aus dem Rahmen und ersetzen ihn durch eine Kopie. Die wird später vor den entsetzen Augen des Vaters zerstört, der von der Sache nichts ahnt. So sind sie, die Kinder, drei Söhne, zu bösen Pranks aufgelegt. Der Vater: Gynäkologe, die Mutter, viel jünger als er, längst läuft nichts mehr zwischen den beiden, dafür läuft bei ihr viel nebenher. Lea Massari ist als diese Mutter vital und lose, liebevoll und ahnungslos, eine Frau, die keine Hemmungen kennt und als sie, betrunken, mit dem eigenen Sohn schläft, findet sie, nüchtern, wenig dabei. Der Ort ist Dijon, das Milieu ein Großbürgertum, das die Bediensteten liebevoll quält, in dem der Sohn, unser Held, Laurent Chevalier, in vieler Hinsicht Louis-Mall-autobiografisch, Jazz hört, Platten klaut, von einer Prostituierten entjungfert wird, jedenfalls fast, einen titelgebenden Herzschaden hat und im Sanatorium die Erziehung seines Schwanzes fortführen darf. In dieser Welt, die Malle mit scheinbarer oder tatsächlicher Nonchalance schildert, mit einer Fluidität erzählt und montiert, einer Fluidität als Flucht vor jedem Nachdenken oder Beharren,  ist die Übergriffigkeit Regel und bleibt in jedem Fall straffrei. Alle Türen sind im Zweifel offen, das Herz murmelt, aber es wird daraus keine Mördergrube gemacht. Von Geld ist nur anlässlich des Corot mal die Rede, ansonsten wird geschwiegen über das, was jede Unmöglichkeit möglich macht. (63cp)

 

21.1. Leonce und Lena (Georg Büchner, Regie: Ulrich Rasche, Deutsches Theater Berlin, Premiere)

Hier wird keine Komödie gespielt. Es geht schon los mit Friede den Hütten und Krieg den Palästen, also politisch. Dunkel ist die Bühne, und hell wird sie nicht. Es hängt, schwebt, richtet sich auf ein Sechs-mal-Sechs-Lichtschienen-Raster, das weniger Beleuchtung als Lichtstimmungen gibt, rot und gelb und blau, aber nicht bunt, da die Farben sich in der Schwärze verlieren. Es ist der abstrakte Kontrast, sich senkend und hebend, der das Dunkel, den Nebel nicht erhellt, sondern erst recht modelliert. Aus dem Dunkel der sich endlos drehenden Bühne (keine Scheiben mehr, keine monströsen Bauten) nahen langsam, mühsam, auf die von Rasche bekannte Weise, mit Atemholidirigat chorisch sprechende Figuren, Schemen nur, und viel mehr als Schemen, als helleres Dunkel im dunkleren Dunkel werden sie nicht. Die Bühne dreht sich, aber langsam. Individuen schälen sich heraus, aber gerade mal so, es fällt alles immer auch wieder zurück in den Chor, alles Sprechen ein Pressen, ein Anschreien gegen eine namenlose, gegen eine dunkle Last. Auch das Gehen wie von Tonnen niedergedrückt, ein Schreiten und Scheren, Bewegung gegen Bewegung, aber niemals voran, nur das Standhalten, mühsam, gegen den Strom. Wenn später, aus dem diffusen Hinten und Dunkel unter der Lichtraster-Schräge Leonce und Valerio erscheinen, wie in einem Alptraum, in dem man geht und geht, und doch nicht vorankommt, wobei der eine den anderen Huckepack trägt, dann ist da kein Band, das sie bindet, aber sie könnten auch Lucky und Pozzo sein (und die Schräge ein einsamer Baum). Rechts und links, ohne Unterlass, nur einmal zu leisem Klopfen erstickt und verlangsamt, die Musik, sie beginnt technoid elektronisch, steigert sich zu gusseisernem Schmerzens-Inferno, ist eher Wand, die sich schließt als Weg, der sich öffnet. Und so dreht sich alles in der richtungslosen Lichtraumskulptur ewig im Kreis, langsam, unendlich langsam, Gehen als Ächzen, Sprechen als Pressen, der Büchner-Text und sein Irrsinn mit dem Pathos dieser Langsamkeit, dieses Leidens und oft auch beinahe Flehens freigestellt und herausmodelliert, die Nase, die in der Wiese erblüht, die Hochzeit der Automaten, hier, gegen Ende, sind schon alle (in hautfarbene Kostüme) entkleidet, nackt gehen sie da, gebückt gehen sie, schreitend, es ist, nicht nur hier, schon mehr Tanz als nur Gehen, mehr Singen vielleicht auch als Sprechen, das Pathos verdichtet die Prosa zu gebundenen, ächzenden Formen. Komödie wird nicht gespielt, auch nicht, wenn sich in der Hochzeit am Hof, mit Almut Zilcher als König, die den Rascheschen Intonationen den eigensten Individualstil abringt (aber auch sonst ist es nie eintönig, nie monoton), wenn sich in diesen Minuten, zum tupfenden Klopfen, das expressive Pathos verschlankt. Es folgt darauf ein Aufbäumen, ein mächtig anschwellendes chorisches Sprechen, Lichtstimmung rot, die Vision vom Zerbrechen der Zeit, eine Schlaraffenland-Utopie vom Ende des Unterdrückungs- und Ausbeuterstaats. Die Vision ist mächtig, aber auch finster, sie dreht sich in der Wiederholung im Kreis und führt zu nichts, oder doch, der eiserne Vorhang geht nieder. (80cp)

 

Maigret macht Ferien (Georges Simenon, F 1938, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Das Zentrum bleibt leer, hinter verschlossener Tür: Odette, die Ehefrau des Arzts Bellamy, die dieser, hoch geachtetes Mitglied der Gesellschaft von Les Sables-d’Olonne, mit den eisernen Spangen seiner Eifersucht liebt. Maigret, in diesem Roman wieder Kommissar, ist in dem Atlantikörtchen im Urlaub, als Madame Maigret ins Krankenhaus kommt, akute Blinddarmentzündung. Dort stirbt eine junge Frau, ein Mann verschwindet, Maigret, im ganzen Land berühmt wie schon lange, beginnt zu ermitteln und geht von sich öffnender Tür zu sich öffnender Tür. (Nur die zu Odette bleibt geschlossen.) Er fragt, bekommt Antwort, er kreist und sucht den Zusammenhang zwischen dem Tod der einen, dem Verschwinden des andern und dem Tod, er gibt sich einen Teil der Schuld, einer Dritten. Der Arzt Bellamy wird ihm zum ebenbürtigen Andern, ein so vernünftiger Mann, dessen Kehrseite die blanke Unvernunft ist. Es ist dieser Abgrund, in den sich Maigret, der in allen Abgründen zuhause ist, aber selbst keine hat, für die lange Schlusskonfrontation, die ihm wie stets zugleich Leiden und Lust ist, begibt. (73cp)

 

20.1. Avec amour et acharnement (Claire Denis, F 2022)

Klar ist nichts, und unklarer wird alles noch, wenn die Liebenden einander versichern, dass alles jetzt klar sei. «Mon amour, mon amour», sagt Sara (Juliette Binoche) beim Sex mit Jean (Vincent Lindon), sie sagt, flüstert, fleht es emphatisch, und es ist wahr in diesem Moment, es ist wahr, aber klar ist es nicht. Denn da war François, von dem sie sich für Jean trennte; und nun ist François, neun Jahre später, wieder da, als neuer Geschäftspartner Jeans, so viel an der Vorgeschichte ist, nun ja, klar, aber warum genau Jean im Knast war, warum genau es zur Trennung kam, Sara schildert einen Abend, einen Impuls, das bleibt im Dunkeln. Dunkel, verschattet, ist die Szene, in der die Intensitäten des Films kulminieren, die Annäherung, die Wiederannäherung von François und Sara, Gesicht an Gesicht, die sich flächig und geduldig und doch immer insistierender sich steigernde Tinderstick-Musik umspült den Moment, wie am Beginn das Meer die Körper von Jean und Sara, und die Musik auch dazu, wie Wasser es tut, diesen Auftakt umspült, es ist, schon hier, kein fester Grund unter dem Boden. Dieser feste Grund schwindet, und den Figuren schwindelt es, auf dem Balkon hoch oben, Blick über die Dächer, Paris. Jean, der festen Grund sucht in seiner Vergangenheit, er fährt dafür drei Stunden lang zum Einkaufen nach Vitry. Da lebt seine Mutter, große Altersrolle für Bulle Ogier, bei ihr lebt sein Sohn, der schwarz ist, die Mutter ist schon lange verschwunden, hier nimmt Denis einen von zwei Abzweigen in Richtung Identitätspolitik, später noch ein Radiogespräch Saras mit dem Ex-Fußball-Profi Lilian Thuram. Eine Predigt des weißen Vaters für den weißen Sohn, er müsse um Freiräume kämpfen, er dürfe sich nicht fesseln lassen durch die ihm von der Gesellschaft auferlegte Identität. Thuram zitiert im Gespräch mit Sara Fanon, auch hier geht es um den Widerstand, nicht nur den äußeren, sondern viel wichtiger um den Widerstand gegen das, was internalisiert ist, was sich wie ein Eigenes anfühlt, das einen ohnmächtig macht. Was einen ohnmächtig macht, das ist auch die Liebe, ein Behaupten von Klarheit, wo nichts, gar nichts klar ist. Sara liebt den einen und den anderen auch, sie lügt um dieser Wahrheit willen, sie hängt sich mit der Macht der Verzweiflung an den Kuss, der nicht stattfand, aber es fand ja, unter und neben und über dem Kuss, ganz anderes statt, in Gefühlen und Blicken, ob sie es nun, vor Jean und, schwieriger noch, vor sich selbst anerkennt oder nicht. Aus diesen Dramen des Bindens, ja Fesselns, und Lösens, ja Losreißens, gibt es keinen einfachen Ausweg, keinen Weg in die Klarheit, es sind die Körper, es sind die eigenen Gefühle im Weg, die sich von Worten und Gedanken so wenig sagen lassen, die die Wörter, kaum sind sie ausgesprochen, geschrien oder geflüstert, verdorren lassen; da hilft nur, und hilft wieder nicht, der Cut, die Klarheit der Gewalt, der Löschung der Daten, der Neuanfang, der, hilfsweise: Ende, niemals einer ist. (76cp)

 

Quand tu liras cette lettre (Jean-Pierre Melville, F 1953)

Schwenk vom Meer herüber nach Cannes, Schwenk von Cannes übers Meer Richtung «Fin»: So hält Melville diese Geschichte, ein Melodram sondergleichen, umklammert, als wüsste er, dass nichts sonst das, was sich hier dicht gedrängt zuträgt, Hals über Kopf, Herz, Schmerz und Unfall und Tod, zusammenhalten kann. Da ist Thérèse, Juliette Greco, die einen Heiligennamen trägt, und tatsächlich ist sie anfangs im Kloster. Sie kehrt in die Welt zurück, und weltlicher als nun in Cannes wird es nicht, als ihre Eltern sterben und sie an Eltern statt die jüngere, die nicht volljährige Schwester Denise, in ihre Hut nehmen muss. An anderer Stelle in Cannes, an einer Tankstelle genauer gesagt, braut sich bereits Unglück zusammen, ein Unglück, das den Namen Max Trivet trägt und das Engelsgesicht von Philipp Lemaire. Er ist der Mann, der sich ohne nachzudenken nimmt, was er kriegt, eine Frau nach der anderen, etwa Irène, die mit ihrem schnittigen Wagen an deren Tankstelle vorfährt, deren Fahrer er wird, und Liebhaber auch, aber im Nachtclub greift er sich ebenfalls, was ihm gefällt. Und so nimmt er sich auch Denise, die kleine Schwester von Thérèse, vergewaltigt sie, worauf sie sich ins Wasser stürzt, überlebt, und Thérès hasst nun, mit einer Inbrünstigkeit, die schon Liebe ist, diesen Max, der nun seinerseits ihr, der weltlichen Nonne mit streng gescheitelter Frisur, verfällt, auf fast schon hündische Art. Sie fängt, buchstäblich, Feuer, er löscht es, buchstäblich, aus, so sind, reines Melodram, die Musik schlägt ebenfalls hoch, die Zeichen und Wunder des Films, der mit dem Plot und mit den Wendungen sich selbst kaum hinterherkommt und fürs Hinterherkommen auf erzählerische Kurzschlüsse, nämlich Unfälle, setzt. (Zwischendrin, gegen Ende, filmt Melville wieder einen atemberaubenden Raum: Von tief hinten und unten gegen das Licht und das Fenster, an dem Juliette Gréco die Jalousie herunterlässt, das Licht an der Wand in Hell-Dunkel-Streifen gefächert, und geht, sehr langsam, auf die Kamera zu. Kurzes Verharren im Auge des Sturms, der der Plot ist, und dann sofort weitergeht, weiterweht. So sind schon die Eltern, um die Sache in Gang zu bringen, gestorben, so serviert Max/der Film die reiche Irène ab, weil er sie nicht mehr braucht. Und so setzt ein Unfall auch Max selbst ein Ende, schwarz und bitter ist es, er liegt dann auf dem Bahnsteig, Decke drauf, der Zug, und Irène darin, fährt wieder an, sie Richtung Kloster, der Film Richtung Meer, Richtung «Fin». (74cp)

 

19.1. Aftersun (Charlotte Wells, GB 2022)

Bilder, die die Erinnerung gibt: der Vater im Zentrum, der Vater am Rand, am Himmel die Glider, das Billardspiel, der Junge, den sie küssen wird, auf dem Motorrad beim Videogame. Nichts ist, nichts wird dabei jemals ganz: scharfe Ränder, der Blick gleitet ab, die Impressionen sind zu kurz oder zu lang, verschwinden, kehren wieder, sind real oder sind wie geträumt, nicht immer ist das eine vom anderen klar zu unterscheiden. Die Bilder der Erinnerung bleiben, wo die technischen Bilder der Kamera enden, es sind diese Bilder der Erinnerung, zu denen der Film Zugang findet und sucht. Subjektiv sind sie nicht im technisch ganz engen Sinn, eher sind es Bilder der Subjektivität selbst, zu der auch das Einbilden und Fantasieren gehört, das Verschieben, das Aus-dem-Zusammenhang-Reißen, das Vermischen und Wiederholen. Für all diese Aktivitäten findet Charlotte Wells Korrelate, der Stimmung, dazu über Vorder- oder Untergründe verbunden Musik. Markiert ist der Abstand, kurz sieht man die erwachsene Sophie, damit ist das Konstruktive, das Nostalgische der Konstruktion ausgesprochen, ist aber nicht die tiefe Unruhe, das Drohende, die Trauer, die unter allem liegt, wirklich erklärt; der Vater ist tot, wenn nicht real, dann symbolisch, um diesen Tod geht es, der sich so oder so mehr als wirklich anfühlt. Es geht um das Aufsuchen eines Erinnerns, das wie eine Wunde den Übergang zum Erwachsensein sucht, groß die Szene, in der die virtuose Frankie Corio schauerlich, fast schon komisch schlecht singt, trotzig, vom Vater verlassen, sich von ihm lösend, losing my religion, ein öffentlicher Akt, an dem alles schmerzt, und zwar beide, eine Szene der Verletzungen im generischen türkischen Ferienort. Die Fülle der Bilder in ihrer Balance von Präsenz und Absenz, der Entzug eines letzten Zusammenhangs, dem die aus Fragmenten gebaute Totalität von Tönen und Stimmungen trotzt, der präzise kalkulierte Impressionismus: Von welcher Seite man schaut, ein erstaunlicher Film. (80cp)

 

Whose Body? (Dorothy L. Sayers, GB 1923, Hörbuch, Sprecher: B.J. Harrison)

Eine Leiche zu viel und eine, die fehlt: Frivol die Konstruktion von Sayers’ erstem Wimsey-Roman. Frivol auch die Wimsey-Figur, der Hobby-Detektiv am Rand zur Karikatur. Sein bester Freund, Parker, als zu den Hebeln von Recht und Gesetz verlängerter Arm. Sein Diener Bunter, rechte Hand und Watson, aber der verständigen Art. Wimsey liest Dante, kennt Raffles und Holmes, das ist Kriminalliteratur, die sich selbst von Anfang an als schöne Kunst betrachtet. Realia finden immerhin Zugang, Wimsey durch die Kriegserlebnisse posttraumatisch belastungsgestört, dazu Börsenspekulationen, das aber als Bild, das die Dowager Duchess of Devonshire alliterativ quert, in das auch ein locked room mystery passt, mit Pincenez auf der Nase und einem mad scientist in den Kulissen, der die Leichen beruflich zerstückelt, über die er im Selbstversuch geht. (62cp)

 

18.1. Vampyros Lesbos (Jesús Franco, BRD/Spanien 1971)

Wo sind wir: Istanbul, das Meer, ein Schiff, das vor dem Himmel und den Augen verschwimmt. Aber auch: in einem Nachtclub, eine Strip-Performance, in der eine nicht ganz nackte Brünette mit sehr rotem Schal einer nackten Blondine ihren Slip und BH überstreift, worauf sich die Blonde mit abgehackten Roboterbewegungen zu beleben beginnt. Diese Szene gibt es, abgewandelt, ein weiteres Mal. Wie auch die beiden Frauen zueinander in fantasmagorischen Körper-Übertragungsverhältnissen stehen, ein paar Männer dazwischen, Morpho mit den blau getönten Brillengläsern, Doktor Seward, stämmige Verkörperung einer Vernunft, die von der Wahrheit gar nichts versteht, die Frau aber umso entschiedener einsperrt. Die Männer aber stehen am Rande, werden umstandslos beiseitegeräumt, dann geht es wendeltreppenförmig ins Unbewusste hinab, auf dem roten Bett geschehen vampirische Dinge, wie überhaupt rot dominant ist, der Schal, das Kunstblut am Fenster, das Kunstblut am Hals nach dem Kuss-Biss der Vampirin, wobei der Film nicht so sehr auf die Bisse hinaus will, auf Sex ebenfalls nicht, von Penetration ganz zu schweigen, eher sind es die traumwandlerischen Übergänge, das rabiate Gleiten des Zooms, das Sieh-Hier und das Schau-Da der Großaufnahmen. Und darunter, daneben, darüber, alles entscheidend, der auf völlig eigenen Wegen vor sich hin improvisierende elektrojazzrockpsychedelische Soundtrack von Manfred Hübler und Sigi Schwab. Zu dieser Musik ist alles möglich, das Gleiten der Bilder und Körper, Skorpione im Pool, Vampirmythos, der das Männliche eliminiert. (75cp)

 

The Big Boss (Lo Wei, Hongkong 1971)

Bruce Lee: Blicke und Posen. Die Füße, die Beine, der Körper in den Boden gerammt und doch, ohne dass sich etwas verselbständigt zum Tänzeln bereit. Das Erschrecken beim Anblick der Hände, das Lecken des Bluts, sehr buchstäblich, der Flug über den vierköpfigen Schäferhund-Zerberus im Garten des Bosses. Verwurzelter Luftgeist Bruce Lee, Körper, der blutet, Körper, der die Schwerkraft mit Leichtigkeit überwindet. Details, Details: Der Umriss, der bleibt beim Flug durch die Wand wie im drastischen Zeichentrickfilm. Der Schnitt auf die Beine, eine leichte Drehung des Fußes, der eine leichte Drehung des Gegner-Fußes korrespondiert. Die Kamera rast Richtung Gesicht, aber leicht rechts versetzt, in letzter Sekunde zieht sie nach links. Der Vogel im Käfig, der Käfig, der wie von Geisterhand im Baum landet. Der eiskalte Boss, die noch eiskältere Glut in den Augen Bruce Lees. Zum Schluss wieder Pose, vom rasenden Töten zu halb erhobenen Armen erstarrt; Siegerpose, die sich in erhobene Hände verwandelt. Abgeführt wird der Held, das gebrochene Versprechen an die Mutter, sich Ärger vom Leib zu halten, aus der fernen totale als Gegenteil des Triumphs ad absurdum geführt. (71cp)

 

Hinter den Augen die Dämmerung (Kevin Kopacka, D 2021)

taz-dvdesk (64cp)

 

17.1. Godzilla vs. Hedorah (Yoshimitsu Banno, J 1971)

Schmutz, Schlamm, Müll, Smog, Gift, tote Fische, das ist die eine, die schmutzige Seite, hier frisst sich Hedorah, wiewohl im Kern aus dem All importiert, zum für die Menschheit lebensgefährlichen Monster heran. Erst als Schiffezerstörer im Meer, dann als eine Art fliegende Sepia mit glotzroten Augen, aber vor allem als Zottelwesen im elefantösen Duell mit Godzilla, in dessen Echsenhaut Haruo Nakajima oft mehr ungelenk beinahe tanzt als irgendjemandes Fürchte erregt. Auch das Godzilla-Signaltrompetenmotiv sorgt für verlässliches Erbeben des Innern, durchaus erhaben, nur dass es eine kleine, feine Erhabenheit ist. Das ist alles sehr schön, wenn nicht rührend. Getanzt wird auch sonst, vor popbuntem Blasenhintergrund in der Disco. Und auf dem Berg, wo die Jugend erst demonstriert, dann auf Hedonismus umschaltet. Zuhause der Wissenschaftler mit Experimenten vor Aquariumshintergrund. Zwischendurch vervielfältigen sich die Nachrichtenbilder erst zum Chor sprechender Köpfe, dann zu nur noch popartbuntem Discogeflacker. Selbst Hedorah wird bei der Elektrokution (die Menschen versagen, Godzilla schüttelt melancholisch das Haupt und schreitet zur Tat) zum grellroten Farbblitz-Spektakel. Umweltzerstörungs-Sludge meets Elektropop, der Weltuntergang hat einigen Drive. Und findet zuletzt, Godzilla sei Dank, dann doch noch nicht statt. (74cp)

 

Die Muse des Departements (Honoré de Balzac, F 1843, Print)

Eine Königin, aber nur der Provinz, und dort von den Frauen beargwöhnt, ist Madame de la Baudraye. Schön und belesen hält sie Hof in Sancerre, aber auch der Erzähler mischt immer wieder Sarkasmus unter seine Beschreibung, beschreibt sie als Frau von nicht urbanem Geschmack, die sich selbst zur Salon-Intellektuellen dressiert hat, ihr Geist ist einer, der über das Wiederholen nicht wirklich hinauskommt, und ihre Texte in Versen, denn sie hat unter anderem Namen Bücher veröffentlicht, Auszüge gibt es zu lesen, sind Subliteratur. (Wie der Wein von Sancerre mit den besseren Weinen nicht mithalten kann.) Balzac bricht die Regeln, wie er, oder der Erzähler, auch zugibt, indem er Prosa mit Versen vermischt. Eine Hybridisierung, die als Spiel noch einmal forciert wird, als aus Paris der Arzt Bianchon und der Feuilletonist Lousteau in Sancerre sind, der Provinz, aus der sie kommen, aus der sie in die Sicherheit der Hauptstadt entkamen. Nun kehren sie also ohne Risiko und auf Zeit nur zurück, aber voller Neugier auf Madame de la Baudraye, von der man, jedenfalls als Mann aus Sancerre, auch in Paris schon gehört hat. Lousteau will eine Eroberung machen, es werden Anekdoten erzählt, auch die aus der Zweiten Frauenstudie wird erwähnt (am Rande nur, denn die Erzählung weiß: Sie ist schon bekannt). Bei der großen Abendeinladung führt er im ironischen Umgang mit trivialliterarischen Fragmenten aus Einwickelpapier (auch sie werden als Brocken in den Text eingeschoben mehr als -gewoben) die Provinzborniertheit der Versammelten vor - von der Madame de la Baudraye hier allerdings frei ist. Bianchon kehrt zurück nach Paris, Lousteau jedoch ist bald zu verstrickt, halb zieht sie, Dinah, Didine, ihn, halb sinkt er hin, mehr Nutz als Frommen im Sinn, er wird zum verehrendsten, aber moralisch unwürdigsten ihrer Verehrer. Auch den Gatten gibt es, klein und alt und geizig und in seinen Berechnungen bis zuletzt immer nur andeutungsweise durchschaubar. Er bleibt in Sancerre, als Dinah mit Lousteau nach Paris geht, das Idealbild, das sie von ihm hat, nur mit Mühe aufrecht erhält, zwischen Fronten laviert, Kinder gebiert, absteigt und dank des sie immer weiter stützenden Anwalt-Verehrers und des Gatten, der immer gesunder wird und voller Absichten steckt, auch wieder aufsteigt. Die Katastrophe, die von Anfang an im Hintergrund dräut - die Katastrophe bleibt aus, oder ist zumindest, als auf Dauer gestellte, entschärft. (72cp)

 

16.1. Les enfants terribles (Jean-Pierre Melville, F 1950)

Ein Raum, erneut, den zwei Menschen sich als Zuhause erschaffen haben, in den Fremde, Fremdes eindringen. In diesem Raum, mit zwei Betten, mit Postern an der Wand, mit einem gemeinsamen Bad, leben quasi-inzestuös die Geschwister Lise (erneut: Nicole Stéphane, nun alles andere als stumm) und Paul (der für die Rolle viel zu alte Geliebte Cocteaus, Edouard Dermithe). Eindringlinge: Natürlich die Kamera selbst, jede Einstellung eine Setzung, Artifizialität bis zum Manierismus (sich steigernd). Ein zugleich aufdringliches und distanzierendes Außen: die Stimme des Erzählers, der sich allwissend gibt, gesprochen von Jean Cocteau höchstpersönlich, Autor des Romans und des Drehbuchs. Ein und aus gehen: Ärzte, dann der noch als Dritter akzeptable Gérard, zur Konkurrenzfigur wird Agathe, in der Dargelos, der Paul mit einem Schneeball ins Herz traf und so in einem nicht nur übertragenen Sinn verwundet hat, wiederkehrt. Übertragene Sinne, sehr wörtlich genommene Dinge, die Einstellungen nie fluide (Truffaut, großer Bewunderer des Films, hat das ästhetische Konzept, das Aufwallende der Musik, übernommen und, man könnte sagen: fluidisiert). Eine Geschichte, die wilden, fast märchenhaften Setzungen und Umschwüngen gehorcht, Willküreinfällen eines Erzählers: die Reise ans Meer, die Verschiebung von Dargelos zu Agathe, das Lied Michaels, die Hochzeit, das Erbe, die Rekonstruktion des Ausgangszimmers im Schluss, nun mit viel Hall, eine Schließung, die bei aller Anstrengung nicht mehr gelingt. Wie ja eigentlich von Anfang an alles leck ist: das Herz, das Begehren, der Kampf gegen seine Unmöglichkeit, das Tabu, das auch der erklärfreudige Erzähler mit jeder weiteren Wendung immer nur weiter umkreist. (68cp)

 

Carnal Knowledge (Mike Nichols, USA 1971)

Jules Feiffers, neben Little Murders, zweiter Drehbuch-Streich im Jahr 1971. Eine Männer-Studie, alle Frauen nur passager. Susan, zum Beispiel, zum Anfang, Candice Bergen, ein Dreiecksverhältnis, von dem Sandy (Art Garfunkel) nichts ahnt. Er darf ihre Brüste berühren, dann darf er mehr, er berichtet dem weltläufigeren Jonathan (Jack Nicholson) brühwarm vom Stand der Dinge. Der ist bald weiter, und bleibt doch, weiter treibend, zurück. Eine Serie der locker room talks über Vorlieben bei Hintern und Brüsten, beginnend im gemeinsamen Wohnheimzimmer im College, dann, Jahre später, am Rande einer Eislaufbahn, eine Frau dreht freigestellt Pirouetten, dann kommt Bobbie (Ann-Margret) ins Bild. Von Mike Nichols, dessen Ambitionen übers Kammerspielhafte des Drehbuchs weit hinausgehen, in Pirouetten im Weißen, die ins ganz Weiße blenden, geradezu freigestellt. Spektakulär, wenngleich nur bedingt sinnhaft, ein Diner im Restaurant, bei dem sich der Vordergrund (Jonathan/Tisch/Bobbie) vom Hintergrund (das Restaurant) wie schwebend ablöst. Und es geht weiter. Bei aller Liebe zu Bobbies Brüsten: Sich durch Heirat verhaften lassen will Jonathan nicht. Spurlos wird Susan, die Sandy geheiratet hat, in den Ritzen der vergehenden Zeit verschwinden, Cindy taucht auf und ist wieder weg. Die Markierungen der vergehenden Zeit bleiben vage und in der Tat ändert sich wenig, das ist der Kern des Syndroms, um das es dem Film geht. Erbärmlich eine Dia-Show, bei der Jonathan die Frauen, die er begehrt hat, buchstäblich vorführt, es kommt, was passt, zur ersten Verwendung des Worts «cunt» im Hollywoodfilm. In seinen Fixierungen auf das Sprechen und Erleben seiner auf je eigene Art im arrested development gefangenen Männer bleibt der Film, mehr carnal als knowledge, natürlich Teil des misogynen Syndroms, das er beschreibt. (65cp)

 

15.1. The Cobweb (Vincente Minnelli, USA 1955)

Die psychiatrische Anstalt als Reforminstitut, es ringen die Instanzen um Kompetenz, exponiertes Dingsymbol in der Mitte: die Frage, wer für die neuen Vorhänge zuständig ist – die Leitung oder die Patienten. Alles verwirrend mischt sich die zu junge und fast schon gewaltsam nach Anerkennung lechzende Gattin des Chefarzts dazwischen (eigentümliches Paar: Gloria Grahame und Richard Widmark). Alles wird neben der offiziellen auch auf erotischen Ebenen gespielt. Besonders gilt das für den Leiter der Anstalt, dem es an Autorität wohl, aber an Lastern – neben den Frauen der Alkohol – keineswegs fehlt. Aber auch der liberale Arzt folgt einer anderen Ärztin, Lauren Bacall, die mit einem Verlust ringt, in deren Wohnung und sehr liberal auch in deren Bett. Ein junger Mann, John Kerr, steigt ins Auto von Gloria Grahame, dann liegt er auf der Couch ihres Mannes, dann entwirft er Designs für die Vorhänge, dann läuft er in suizidaler Absicht auf und davon. Minnelli hält die Breitleinwand für das rechte Format, fürs Rennen und Liegen, für Sitzungen auch, mehrfach treten die Instanzen zur Beratung zusammen. Das sind die zentripetalen Momente, aber an zentrifugalen Momenten und Szenen, und schierer Hysterie, zu der die Musik sich mühelos mit hochschaukeln kann, fehlt es ebenfalls nicht. Am Ende sind die Probleme eher erschöpft als gelöst, alles scheint fürs erste befriedet, in gelber Handschrift fürs Schlussbild überdeutlich bestätigt: the trouble was over. (69cp)

 

Maigret in New York (Georges Simenon, F 1948, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Ein junger Mann reißt Maigret, der nicht widerwillig scheint, aus dem Rentnerdasein. Sein Vater, sagt der Mann, schreibe sehr beunruhigende Briefe, sein Leben sei womöglich bedroht. Da bucht Maigret sehr kurzerhand ein Ticket fürs Schiff, das nach Amerika fährt, verlässt, eine Premiere, Europa, landet an in New York. Hat mit Sprachproblemen zu kämpfen, ist mit einem befreundeten Polizeikommissar und diversen Privatdetektiven zugange, einem stets betrunkenen Reporter und vor allem dem Vater des jungen Manns, der im Nobelhotel logiert und reich geworden ist als im ganzen Land, und in Südamerika auch, tätiger Jukebox-Verkäufer. Worauf Maigret nach und nach stößt, worein er sich nach und nach bohrt: ein Verbrechen, das in der Vergangenheit liegt. Aber auch in der Gegenwart kommt es zu einem Mord. Maigret deduziert, wie in Frankreich gelernt, auch in Amerika nicht, sondern versenkt sich in die andere Person, fühlt sich und identifiziert sich hypnotisch hinein. Am Ende wieder eines der langen Verhöre, diesmal mit Telefonleitung nach Frankreich. Was gewesen ist, klärt sich, aber zu retten ist nichts. Leer aus geht das Recht, auch wenn die Gerechtigkeit Kollateralsiege mitnimmt. Zurück auf das Schiff, die Bar, Melancholie. (70cp)

 

14.1. Tár (Todd Field, USA 2022)

Cate Blanchett trifft einen Ton, von Anfang an, im selbstgefälligen Gespräch mit Adam Gopnik (himself, no less) auf einer Bühne, als bis zur Karikatur erfolgreiche Star-Dirigentin-cum-Komponistin und feministische Vorkämpferin im Klassikbetrieb, vor Kulturbürgerpublikum. Es ist ein Ton der Inauthentizität; sie ist eine Frau, die sich abschirmt, die glaubt, Lydia Tár performen zu müssen. So sitzt sie und spricht, agiert und bewegt sich im Vollgefühl ihrer eigenen Bedeutung. Nicht nur in New York, auch in Berlin. Nicht nur vor diesem Publikum, selbst vor ihrer Partnerin Sharon - Nina Hoss in der Nähe ihrer kühlen Petzold-Figuren, aber ungeschützt im Vergleich. Lydia Tár ist exemplarisch, in ihrem Self-Fashioning (sogar auf den eigenen Namen hat sie sich, wie es scheint, selbst getauft), sie ist typisch, als jemand, die sich für eine immer anwesende Öffentlichkeit selbst performt und keine Schwäche zulassen kann. Todd Field hat sie jedoch als Vexierbild entworfen, weil Tár vor allem eins, nämlich ein Vexierfilm sein soll. So legt er, was die Gegenwart umtreibt, hinein: eine lange Sequenz, in der sie als Dozentin einen identitätspolitischen Einwand gegen Bach mit guten Gründen und mit schulmeisterlicher Bösartigkeit attackiert; nicht ganz ohne Ironie (unter der Oberfläche dieses sich selbst mit Ernsthaftigkeit versiegelnden Films) nennt ein alter weißer Ex-Star-Dirigent in einem Atemzug James Levine und Wilhelm Furtwängler als Opfer von Cancel-Kultur. Tár ist manipulativ, hat sadistische Züge, es fehlt nicht an Hochmut, auf den dann der Fall folgt, der keine Tragödie, aber vielleicht auch nicht gerechtfertigt ist: Fest steht nur, dass sich die Angelegenheit mit den Informationen, die man bekommt, nicht endgültig beurteilen lässt. Der Film verfolgt den Sturz der eisigen Figur mit eisiger Kälte, ist dabei seinerseits im ständigen Streuen von Zeichen und Insinuationen immer manipulativ, geradezu manisch (keinesfalls lustvoll) auf den Entzug von Eindeutigkeiten fixiert. So brillant, so enervierend und ungenießbar wie die brillante, enervierende und ungenießbare Protagonistin. Noch das buchstäblich groteske Schlussbild verweigert eine befriedigende Auflösung, setzt bewusst eine weitere Dissonanz. (75cp)

 

Stay True (Hua Hsu, USA 2022, Hörbuch, Sprecher: Hua Hsu)

Hua Hsu, Ich-Erzähler dieses Memoir, Student in Berkeley, Derrida-Leser, der beim unkonventionellen Politologen Micheal Rogin im Seminar sitzt, ist ein selbsterklärter Virtuose der feinen Pop-Musik-Unterschiede und kann einen wie Ken, der die Dave Matthews Band und Pearl Jam hört, nur verachten. Und doch werden sie Freunde, vielleicht schon auch wegen ihres Asian-American-Hintergrunds. Dabei kommen Kens Eltern aus Japan, die von Hua aus Taiwan, was seinerseits einen mehr als feinen Unterschied ausmacht, wenn auch nicht unbedingt in den Augen der Mitwelt. Hua Hsu situiert sich in der Migrations-Vorgeschichte, deren Bedeutung tritt aber (wenngleich sie präsent bleibt, präsent bleiben muss) hinter die der persönlichkeitsprägende Popkultur-Sozialisation und der postmodernen Lektüren zurück. Alles erscheint einigermaßen exemplarisch, für eine liberale Uni, ein progressives Milieu, geradezu generisch die Wiedergaben der für den Hausgebrauch angeeigneten Theorie. Dann aber wird Ken, der beste Freund, zum Opfer eines Raubmords, das Memoir zum Erinnerungsbuch in diesem spezifischen, tragischen Sinn; ein Nachruf, wobei Hsu selbst schreibt, dass Nachrufe die unselige Tendenz haben, das Ich des Überlebenden ins Zentrum zu stellen. Das Memoir ist eine anders schwierige Form, die dann problematisch wird, wenn, wie hier, das sich selbst erzählende Ich, und das Erzählen des Ichs, weder spezfisch noch exemplarisch genug ist, um anderes als auf mehr oder weniger interessante Weise generisch zu sein. (61cp)

 

13.1. Eine alltägliche Geschichte (Iwan Gontscharow, Russland 1847, Hörbuch, Sprecher: Gert Westphal)

Beginn: in der Provinz, vor dem Aufbruch. Alexander Fedorytsch Adujew, Augapfel und einziger Sohn der Witwe Anna Pawlowna, will weg aus der Enge der Herkunft, hinaus in die Weite der Zukunft, von der er sich Gott weiß was verspricht. Einundzwanzig Jahre alt ist er, sein Diener Jewsej kommt mit und lässt seine Liebste Agraphena zurück. Nach St. Petersburg geht es. Hier stößt Alexander auf den wohlhabenden und erfolgreichen, mit einer jungen Schönheit verheirateten Onkel Pjotr Iwanowitsch, der ihm den Weg in die Gesellschaft nach erstem Widerstreben zu öffnen versucht. Er ist das Realitätsprinzip, an dem die Blütenträume und Herzensergüsse und der Schriftstellerehrgeiz des jungen Mannes abprallen und langsam zerschellen. Alles Handeln ist vom Diskurs in Gesprächen begleitet, umwegig ist die Erziehung des Herzens, ist Alexanders Desillusionierungsbiografie. Drei Frauen, drei Lieben, am Ende ist ihm die Leidenschaft ausgetrieben. Die eine will einen anderen haben (das Duell redet der Onkel ihm als immer schon unsinnige Sitte einer nun vergangenen Zeit ausführlich aus), die andere will er dann nicht mehr und bei der Dritten kommt es zum Einschreiten der Vaterinstanz. Gescheitert, abgemagert und weitgehend kahl kehrt Alexander nach acht Jahren mit Depressionen in die Provinz und zur Mutter zurück. Ein Held wird erwartet, es kommt ein geprügelter Hund. Zwei Jahre leidet er, ins Unglück verpuppt, dann schlüpft er als desillusionierter Pragmatiker zurück in die Hauptstadt. Fast sind nun die Rollen zwischen Neffen und Onkel verkehrt: Der will, deutlich gealtert, seiner Frau zuliebe, in den Ruhestand treten. Der Neffe dagegen hat eine Heirat ohne Liebe in Aussicht. Statt Leidenschaft, Ehrgeiz, Liebe und Lust: Einverständnis mit der vorgezeichneten Bahn. (73cp)

 

Una lucertola con la pelle di donna (Lucio Fulci, I 1971)

Orgien finden statt, nebenan. Ob real oder herbeifantasiert, das lässt sich, bevor der Film zur Krimi-Vernunft kommt, kaum unterscheiden. Alles ist hier im Fieber, die Kamera zittert und ist stets auf der Suche nach dem maximalen Effekt. Wenn getötet wird, tötet sie mit. Sie dreht sich und kippt. Gut, dass Ennio Morricone sehr lässig die Ruhe bewahrt, er gibt dem Horror, was des Horrors in dunkler Verfolgungsjagd ist, aber für anderes hat er Swing und das, was Fulci nicht haben will und nicht hat: Sinn für Abständigkeit. Dabei ist die Geschichte ziemlich vertrackt, ihre Auflösung auch. Eine Parade der Verdächtigen, darunter die psychischen Instanzen nach Freud. Florinda Balkan ist Carol Hammond (alles in London, kein Giallo, ein Yellow) ist die Sonde, die in den Strudel aus Begehren und Neid eingeführt wird. Und was findet sich alles darin, in diesem Strudel. Aufgeschlitzte, lebende Tiere. Die Orgel in der riesigen und leeren Kirche. Träume mit dicht gedrängten Gruppen von Nackten in Gängen im Zug. Die verdammten Hippies und ihre Drogen. Fledermäuse im Dunkeln. Die Analytikercouch. Das Tonband der Träume. Das unübersichtliche Team der Ermittler, Derrick und Harry sind gar nichts dagegen. Sprünge von einem Genre zum andern, Sprung in der Schüssel, ein Schlamassel von Psyche und Körper, verdammt elegant. (74cp)

 

12.1. Trafic (Jacques Tati, F 1971)

Eine Studie über Bewegung. Von A nach B, einerseits. Ein vom Autodesigner Hulot einfallsreich mit Gadgets versehener Wagen wird vom Händler zu einer Automesse in Amsterdam transportiert. Er kommt dort auch an, aber zu spät, zu spät, es ist alles vorbei. Also ist Trafic auch, oder in erster Linie, ein Film über Bewegung, die nicht zum Ziel kommt. Da ist schon der Schlenkergang Hulots, aufgescheuchtes Huhn mit Pfeife im Mund, Hut auf dem Kopf, Schirm in der Hand. Passend am Schluss das Wimmelbild mit Schirmen, die zwischen geparkten Autos herumirren. Passend zwischendrin das Chaos, das durch Unfälle entsteht, weil ein Polizist den Verkehr nicht mehr regelt. Visuelle Gags wie der Käfer, der mit auf- und zuklappender Motorhaube einen rollenden Reifen verfolgt. Auditive Gags, herausvergrößerte Geräusche, die Tonspur ausgefeilter denn je. Technophilie-Gags (ohne sehr spürbare kritische Stoßrichtung, im Gegenteil: Es geht im Fernseher Richtung Mond), der Barbecue-Grill vorne am Auto, natürlich geht auch vieles schief. Vieles ist eher Alltags-Phänomenologie, in quasi-dokumentarischer Form, das Nasenbohren und anderes der Männer am Steuer, deren Hände und Finger im Stau nach Betätigung suchen. Aus der Bewegung von A nach B choreografiert Tati, als diesmal sogar sprechender Hulot mittendrin, ein einziges, nein, ein vielfältiges Durcheinander, hängt selbst gar im Geäst. Eine junge Frau braust als Irritationsmoment immer mit und häufig dazwischen; ihr zum Schein toter Hund sorgt für die veritabel komischste Szene. Sonst ist das aber meist fast nicht lustig. Die Gags spitzen nur noch leicht, als Beobachtungs-Form, Wirklichkeit zu, eine Minimaldramaturgie der Pointen, denen es reicht, diese Form zu gewinnen, die nicht mehr als diese leicht Zuspitzung sein wollen. Der Wille, über all das noch zu lachen, geht öfter als nicht leer aus dabei. Man bleibt auf mehr als eine Weise durcheinander zurück. (66cp)

 

Sunday Bloody Sunday (John Schlesinger, GB 1971)

Ein Mann (Murray Head, der Jesus Christ Superstar war), er ist Künstler, steht oder liegt oder bewegt sich zwischen einem mittelalten Mann, Peter Finch, und einer recht jungen Frau, Glenda Jackson. Von Wohnung zu Wohnung, von Bett zu Bett, mit beiden hat er Sex, die eine weiß vom anderen, das ist der Deal. Als Vermittlungsinstanz ist, vom ersten Bild an, eine rein weiblich besetzte Telefonzentrale dazwischengeschaltet, die (prä Anrufbeantworter) Nachrichten weitergibt. Das Buch ist kaum gewillt, sich auf diese Dreiecksfigur zu konzentrieren, sammelt vielmehr, gewollt polyphon, andere Eindrücke ein. Ein beinahe tödlicher Unfall, denn da sind noch die Kinder aus der geschiedenen Ehe; eine Bar Mitzvah, denn da ist der jüdische Hintergrund des von Finch gespielten Arztes; außerdem fängt die Glenda-Jackson-Figur mit einem älteren Mann etwas an, der ihr in einem Gespräch von seinen Botox-Maßnahmen erzählt. In der Londoner Nacht sind marodierende junge Menschen unterwegs. Hinaus läuft es auf den Aufbruch des Künstlers in die Vereinigten Staaten, seine Partner bleiben verlassen zurück. Aus heiterem Himmel Schlussmonolog Peter Finch in direkter Kameraadressierung. Der Film hat Ideen, zwingt sie, nicht so richtig organisch, aber kaum je uninteressant, kantig zusammen. (64cp)

 

Schlachthäuser der Moderne (Heinz Emigholz, D 2022)

taz-Kritik (57cp)

 

11.1. La sirène du Mississippi (Francois Truffaut, F 1969)

Die Insel Reunion, Überseedepartment Frankreichs, bei Madagaskar gelegen. Auf den Feldern arbeiten Menschen, alle sind schwarz, wie man in einer einzigen, mittellang gehaltenen Einstellung sieht. Das aber wird nicht als, und kurz, Hintergrund sein. Denn im Vordergrund steht Jean-Paul Belmondo, ihm gehört ein Riesengelände und ein sehr großes Haus, er ist Teileigentümer einer Zigarettenfabrik. Dann kommt Catherine Deneuve auf einem Schiff namens Mississippi hier an, aus Festlands-Frankreich, moderat verspielt zeichnet Truffaut Karten und Wege ins Bild. Deneuve ist blond, ist schön, auch sie kann immer nur Vordergrund sein. Sie spielt eine Frau, die nicht die ist, als die sie sich ausgibt. Er hat sie per Heiratsannonce gesucht; sie setzt sich an die Stelle der Frau, die er fand. Eine Kriminalgeschichte, auf verschlungenen Wegen, später geht es nach Aix-en-Provence, Lyon, in den Schnee und die Berge. Zwei Morde geschehen, die Liebe fesselt ihn, Belmondo, an sie, Deneuve, die Frau, als Schuldige, die den Unschuldigen zum Schuldigen macht. Für ihn wird sie zwischen Sie und Du changieren, er ist ihr hörig, und sei es in den Tod. Diese Hörigkeit will Truffaut als fatale, aber große Liebe erzählen, im Ton dabei immer leichthin; er nimmt, was Woolrich an Genreelementen ihm bietet, und nutzt es als Sprungpunkt, wirft sich aber nie ganz hinein. Die Absolutheit, die allein ein solches Drama glaubhaft machen könnte, liegt ihm ganz fern. So hat man zwei Stunden mit bei Lichte besehen so banalen und uninteressanten wie schrecklichen Menschen zu tun, von Chemie zwischen Deneuve und Belmondo wenig zu spüren; und der Film besieht sie bei Licht, tut aber so, als täte er’s nicht. (57cp)

 

The Omega Man (Boris Sagal, USA 1971)

Ein Mann, ein Auto, allein unterwegs in verlassenen Los-Angeles-Straßen. Im Kino sieht er den Woodstock-Film, den er schon mitsprechen kann: Vision einer Endzeit, biologische Kriegsführung zwischen Sowjetrussland und China hat die Menschheit weitestgehend vernichtet. Es bleiben neben pittoresk verstaubenden Leichen ein paar Reste, die einen mutiert, mit Wunden und weißen Haaren und heller Iris und hellen Pupillen, Horrorfiguren, lichtempfindlich, aber normalintelligent, von Matthias als Anführer einer in der Nacht durch die Straßen ziehende Bande, die Family, zusammengehalten. In Sachen Waffen sind sie Ludditen, sie kämpfen nur mit Feuer und Schwert. Da ist Charlton Heston als Neville ganz anders. Er hat sich in seinem Apartment verbarrikadiert, an den Wänden Renaissance-Hochkultur, Rembrandt & mehr. Mit einer Puppe in Uniform spielt er Schach. Da ist aber auch ein Arsenal an Schnellfeuerwaffen, mit denen er Mitglieder der Family tötet. Dann stößt in diesem postapokalyptischen Kampf Lisa, eine nicht mutierte schwarze Schönheit, zu ihm. Sie ist Teil einer Überlebendengruppe, für die sich der Film aber nicht weiter interessiert. Vielmehr geht es ihm in erster Linie darum, im weißen Waffenmann Neville, der sich seine Wohnung als Festung mit geklauter Hochkultur dekoriert, das verbliebene Humanum, am Ende gar den Erlöser, und im nächtlichen Kollektiv die Barbarei auszumachen. Es gäbe guten Grund, das anders zu sehen. (65cp)

 

10.1. Pink Narcissus (James Bidgood, USA 1971)

Fantastische, fantasmagorische, falschfarbene Welt, Apartment-Natur, schwelgende Musik von gerne Mussorgsky, schwellende Körper, schmachtende Kamera von unten und hinten, Falter der Animation, Schleier und Sichthindernissse und dann, in your face, eine Ejakulation, das Sperma aber hastenichtgesehen zu Sternenlicht transsubstantiiert. Blau und pink und pink und blau, Mond hinter Busch hinter Spinnennetz, das am Ende als Hauchglas zerspringt, dann wieder Netz ist und wie hier alles, handgemacht, schwülen Wünschen nach Weltraum im Engen entspringt. So ist, sieben Jahre saß Bidgood daran und darin, alles ein Etui, das sich ins Innere öffnet, aber im Inneren Weiten eröffnet, von Begegnungen am Pissoir zur Matador-Fantasie zum Rom- und Lustknaben-Traum. Das Explizite und das Verschleierte, das Verwunschene und das Direkte, Ziegfeld Follies die queere Version, Lichter-Pigalle, farbfrohe Spiegel und leuchtende Tafeln, Radiotöne dazu, es wird orientalisiert, exotisiert, laszive Unschuld nach Outsider-Art, ein Wunschraum und Schutzraum der Hülle, der Fülle. (82cp)

 

1000 Things Falling (Showcase Beat le Mot, HAU 1 Berlin)

Im Anfang ist die Bühne öd und leer. Dann fällt, und zerbirst, ein Skelett. Dann fallen, und rollen, Bälle. Schnipsel, dies, das, eine Matratze, oben zählt eine Anzeige mit, sie zählt die gefallenen Dinge. Gerumpel, es werden Dinge, sie zählen nicht, auf die Bühne gerollt, eine Klebstreifen-Mitzähltafel, zum Beispiel. Aus dem Nichts ein Dialog, Englisch und Deutsch, über Dinge, die auf Deutsch Zeugs heißen können. Wunderzeugs, meinetwegen. Dann erscheinen, während weiter dies und das fällt, auch Menschen, in bunten, harlekinesken Kostümen. Sie zählen ebenfalls nicht zu den Dingen, deren Fallen ein wenig ins Stocken gerät. Der Schnürboden, Füllhorn und Fallhorn, versiegt, eine Weile, während auf der Bühne die Menschen in ihren Kostümen Allotria treiben. Eine Lichtshow, eine Hypnose-Beschwörung, nicht wirklich klar, was das soll. Dann fällt wieder was, wird was gefangen. Fällt Zuckerwatte, fällt Fallobst und wird, beides, das eine direkt, das andere zum Saft ausgepresst, ans Publikum weitergereicht, das Zubereiten und das Zu-Essen-Bekommen gehört bei Showcase nun mal dazu. Vorne, noch etwas später, hangeln zwei Männer an Haken mit Gewichten an Seilen in prekärer Balance. Hinten Wittgenstein an der Wand. Mehr Klirr als Knall beim Fall (an der Schnur): Geschirr geht zu Bruch. Am Ende bühnenbreite Stangen von oben, denen die Menschen als-ob-musizieren. all dies geschieht, es bleibt ein wenig die Frage, ob die schöne Idee der tausend fallenden Dinge die kleinen Einfälle, die sie verwässern, überhaupt braucht. Sie steht im Raum. Der Vorhang fällt nicht. (61cp)

 

9.1. WR: Misterije Organizma (Dusan Makavejev, Jugoslawien/BRD 1971)

Hier kommt so manches zusammen, Wilhelm Reich (quasi-dokumentarisch stapft der Film los), der Kommunismus (mit Stalin im Spielfilm), der Krieg (ein Mann mit stählernem Helm und zotteligem Bart, der ein Gewehr masturbiert), der Eiskunstlauf (Künstler später wie in der Boulevardkomödie im Schrank), ein erigierter Penis (der für einen Dildo-Abguss eingegipst wird), aufgekratzte Musik, Befreiung der Körper (und ihrer Sexualität), der Gesellschaft (durch Befreiung der Sexualität), des Eiskunstläufers im Schrank (es kommt nur zum Kuss). Mal körnig und schmutzig, mal in Spielfilmfarben präzise choreografiert, mal bricht ein Mann durch die Wand, mal erzählt ein Talking Head was von Reich, Orgon-Akkumulator auf, Orgon-Akkumulator zu, mal turnt die eine Frau nackt im Bett, mal verkündet die andere sexualkommunistische Theorie. Episodisch gereiht, ohne Vermittlung, aber nicht zusammengezwungen, eher ein Suggestionszusammenhang, der durch Tempo gutmacht, was ihm an Durchdringung fehlt. (67cp)

 

Maigret regt sich auf (Georges Simenon, F 1948, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Der Komissar ist nunmehr der Gärtner, zumindest denkt das Madame Amorelle, 82, als sie den Pensionär in Meung-sur-Loire aufsucht. Sie bittet ihn, im Todesfall ihrer Enkelin zu ermitteln, und so gerät Maigret nach zwei Jahren Ruhestand in alte Fahrwasser, in einen (fiktiven) kleinen Ort namens Orsenne, an der Seine. Was nicht fehlt, wie fast schon Maigret-leitmotivisch recht selten: Treidelpfade am Rand, am Ende werden Polizeiautos darauf stehen. Zunächst aber, sehr lange, kommt Maigret nicht voran. Trinkt zuviel, noch dazu Kümmel, den er verabscheut, mit der einst attraktiven Wirtin; hat eine Ahnung oder mehr als das, einen Verdacht, wird zudem von einem ehemaligen Schulkameraden, den er schon damals nicht mochte, geduzt. Bald will man ihn loswerden, er aber bleibt, holt gar die alten Kollegen zu Hilfe, Nebenschauplatz ist seine Stadtwohnung an der Place des Vosges (nicht mehr Boulevard Richard Lenoir; Simenon selbst wohnt jetzt auch da). Revolver werden gezückt. Revolver werden gezückt, am Ende geht einer los und bringt, wenn auch nicht auf dem Weg des Gesetzes, den Übeltäter zur Strecke. (68cp)

 

8.1. Le silence de la mer (Jean-Pierre Melville, F 1949)

Abend für Abend, etwas später als neun, kehrt der Gast wieder ein, in die Stube mit dem Kamin und der Uhr, deren lautes Ticken diese Szenen grundiert, nicht wie das Pochen eines Herzens, sondern als drohendes Verstreichen der Zeit. In der Stube sitzt der Mann, nah am Feuer, manchmal wärmt er die Hände daran, Hand in Großaufnahme, jede Einstellung ist, mit den Rahmen, die sie zieht, mit den Perspektiven, die sie wählt, ein Gedanke. In der Stube sitzt, meistens strickend, seine Nichte. Beide sind und bleiben stumm, wenn der Mann wiederkehrt. Sie ist es und bleibt es, mit Ausnahme eines einzigen Worts, ganz am Ende. Er ist es und bleibt es in der Erzählung, dafür spricht er, von außen, als Erzähler, fast vom ersten Bild an bis zum Schluss. (Am ersten Anfang, am letzten Schluss steht das Buch, das Melville hier verfilmt hat, der 1942 im Untergrund veröffentlichte Roman von Vercors.) Der Mann, der in diesem Raum des eisernen Schweigens Auftritte hat, in denen er spricht, sich einen Freiraum nimmt, den das Schweigen lässt, ohne sich aufzudrängen, dieser Mann steht beim ersten Erscheinen als helles Gesicht im Dunkel der Nacht. Er ist, als National-Idealist, die Höflichkeit selbst, Komponist, der Bachs Musik bewundert und für unmenschlich hält, dessen eigene Musik menschlich sein will. Howard Vernon, prononciertes Französisch, kantige Züge, groß, und größer, wenn, wie oft, von unten gefilmt, zwei-, dreimal sogar von hinter dem Feuer, entwirft im Hell-Dunkel des Raums, den der Mann und die Frau ihm lassen, Visionen, sie haben mit der Wirklichkeit nichts und wieder nichts zu tun. Die Fahrt nach Paris, Vernon/Ebrennac von unten im Profil for Notre-Dame, Arc de Triomphe und so weiter, er kehrt mehr als ernüchtert in die Provinzstadt zurück. Film der Kontraste, das Reden, das Schweigen, aber auch der Schutzraum des Innern mit pochendem Ticken, dem Kamin, der Zimmerorgel. Wärme und Zivilisation und dagegen das Äußerste an Barbarei. Die Kontraste, das ist Melvilles Genie, sondern nicht das eine vom andern, sondern zeigen, wie der Idealist in seiner Verblendung in die Barbarei heillos verstrickt ist. (85cp)

 

Utvandrarna (Jan Troell, Schweden 1971)

Der Alltag ist Mühsal, die Tiere, die Ernte, das Land, das zum Leben nur, und höchstens, das Notwendige hergeben will. Gott ist Trost, aber der rechthaberische Pfarrer ist in Konflikte mit den kirchlichen Obrigkeiten verstrickt. Sex ist Trost, aber es ist kaum möglich, immer mehr Münder zu ernähren. Ein junger Mann wird von seinem Arbeitgeber vermöbelt, das ist die Form von Zukunft, die den Körpern eingebläut wird: ein Geräusch und ein Schmerz, die nicht mehr aufhören werden. Die Scheune mit dem Getreide brennt nieder, der Horizont ist eng und wird enger. Keine Erzählstimme kommentiert, was geschieht, man ist einfach dabei, beim Ernten, beim verbotenen Gottesdienst, beim Versuch, sich, es ist die Mitte des 19. Jahrunderts, diese Form des Daseins, bei der die Mühe kaum je belohnt wird, irgendwie zu erklären. Jan Troell hat die Ruhe weg, er bettet seine Menschen in Kleidungen, in Landschaften ein, und in Räume, ohne Angst vor Dauer und ohne Angst vor Ellipsen, manchmal beschleunigt er auch zu schnellen Ausschnitt-Montagen. Die Komposition ist unaufdringlich doch rhythmisiert. Nach den Mühen des Landes dann die Überfahrt ins gelobte amerikanische Land, mit Seekrankheit, Skorbut, Elend und Tod. Auch dafür nimmt der Film sich ausschnitthaft-episch die Zeit, die es braucht. Bis zur Ankunft, an Land Handkamera, Tempo, die Menge, und die Eisenbahn auch: Es stürzt alles auf die Ankommenden ein. Zuletzt der Trek zu den Seen, zum eigenen Grund, dessen Bearbeitung Lohn der Mühen verspricht. Mit der Axt werden Besitzansprüche an Bäumen markiert, als lebte sonst niemand hier. Offener Horizont im Mittleren Westen, die Fortsetzung folgte. (82cp)

 

Zweite Frauenstudie (Honoré de Balzac, F 1848)

Je später der Abend, desto größer die Erzählfreude bei der Salongesellschaft, in der tout Comédie-Humaine-Paris versammelt erscheint, vom Arzt Bianchon über den Journalisten Blondel und den Politiker de Marsay bis zu Madame d’Espard und vielen anderen mehr. Die Runde beginnt, als wäre es die Pest und Boccaccio, mit dem Erzählen kleiner Novellen. De Marsays erstes Liebesabenteuer leitet über zu kritischen Anmerkungen über die elegante Frau, die Heldin des silbernen Zeitalters, in dem man lebt, nur noch ein Abglanz des Adels, schon mit den Eigenschaften der Bürgerlichen vermischt. Es folgt eine Anekdote aus dem Krieg, dann ist Bianchon an der Reihe, dessen Geschichte ins Schauerromantische tendiert. Ein dem Verfall überlassenes Landgut, dessen Geheimnis sich nach und nach erst enthüllt. Eine weitere Dreiecksgeschichte, la donna e mobile und leistet sogar einen falschen Eid auf das Kreuz. Der Liebhaber wird eingemauert zur Strafe, das Landgut ist eine Krypta, deren Betreten testamentarisch auf Jahrzehnte hin untersagt bleibt. (64cp)

 

7.1. Lust For Life (Vincente Minnelli, USA 1956)

Nicht nach dem Leben, sondern nach der Kunst gemalt, in Ansco Color. Spiegelverhältnisse: Minnelli schleppt ein Hollywood-Filmteam nach Auvers-sur-Oise, Kirk Douglas formt Haarfarbe, Bart und Frisur nach dem Bild, das die Welt von van Gogh hat. Die Bilder des Künstlers hängen im Dutzend herum, von Zeit zu Zeit füllt ein Bild, meist eines, das die Welt sehr gut kennt, die Leinwand des Kinos komplett, so geht die Referenz in der Reverenz auf. Ein Film, der der Legende des Künstlers auf den Leim geht, aus Irving Stone gemeißelt, der aber mehr noch eine Wirklichkeit zur Darstellung bringen will, indem er sie aus den Bildern, die man hat, redupliziert. Was noch am originalen Ort des Geschehens nicht passt, wird gelb angemalt, nur zum Beispiel. Ganzkörperangemalt ist die Performance von Kirk Douglas, der das begeisterungs- und verzweiflungsfähige Kind mit dickem Pinselstrich auf- und in seinen Körper auch einträgt; dem steht Anthony Quinn als Gauguin in nichts nach. So entsteht ein Biopic-Melodram als Allover, in dem alles explizit gesagt und gezeigt werden muss. Als Darstellung eines Künstlers, der die Wirklichkeit mit Ausdruck abbilden will, ist der Film ein mimetisch verdoppelnder Versiegelungsakt, der vom Leben und der Lust keine Vorstellung hat. Hinter diesen schönen Farben keine eigene Welt. (58cp)

 

10 Rillington Place (Richard Fleischer, GB 1971)

Der Fall des Frauenmörders Christie war real und berühmt. Berüchtigt als Fehlurteil der Justiz, weil zuerst ein Unschuldiger aufgehängt wurde. Der Film folgt, nach einem Sachbuch, den Fakten, ist sogar am Schauplatz selbst gedreht, wie der Titel verkündet, wenn nicht verspricht: 10 Rillington Place. Hier hat Christie die Leichen mehrerer Frauen, auch eines Kindes, versteckt und vergraben und kam als Zeuge gegen den Mann, dessen Frau und Kind er ermordet hatte, zunächst noch davon. Richard Fleischer inszeniert das als Kammerspiel, mit kunstvollem Naturalismus. Richard Attenborough, der der Figur etwas Schleichendes und Zischendes gibt, saß jeden Tag stundenlang in der Maske, zur Präparation seiner Glatze. Man sieht ihr das an, ein irritierendes Punctum des Films, dessen Sterilität sonst wenige Freiräume lässt. Alles schreitet ohne Gnade voran, die Tat, der Prozess, der Tod am Strang (es wurde sogar der reale Henker als Berater engagiert). Mit der Wirklichkeit, der es nachstrebt, hat das alles so viel zu tun wie eine Wachsfigur mit dem, den sie darstellt. (62cp)

 

Justice est faite (André Cayatte, F 1950)

Im Raum des Rechts - im Gerichtssaal - wird eine Gesellschaft versammelt. Angeklagt ist Elsa Lundenstein (Claude Nollier ist eine eisige Schönheit), sie hat den todkranken Mann, den sie liebte, getötet. Es war, sagt sie, sein eigener Wunsch. Sie wollte ans Erbe, sagt die Anklage. Was sich herausstellt: Es gab einen anderen Mann. Das Sich-Herausstellen ist der eigentliche Prozess, dafür verlässt der Film den Gerichtssaal (und auch den Raum des Rechts), folgt den Mitgliedern der Jury aufs Schlachtfeld der meist familiären Moral. Ein soldatischer Vater, der die Welt seiner Tochter nicht mehr versteht. Eine nicht mehr junge Frau, die das Umschmeicheltwerden von einem jungen Mann zu sehr genießt. Habent sua fata alle in diesen Geschichten, und so haben sie auch ihre Schicksale, Prägungen, die nun ihre Perspektive auf den Fall der Elsa Lundenstein bestimmen. Cayatte nimmt die etwas schematische Konstruktion ernst, aber auch nicht zu sehr, komische Unter- und Obertöne sind ohnehin drin. Die Wahrheit über Elsa Lundenstein, sagt und weiß eine unverortete Voiceover-Stimme, werden wir nie erfahren. Der Prozess, der anders hätte ausgehen können, wurde ihr dennoch gemacht. (65cp).

 

And Now For Something Completely Different (Ian McNaughton, GB 1971)

Zwischen der ersten und zweiten Staffel des Flying Circus entstand dieser Film, auf die Initiative des Playboy-Chefs London, der in den Credits groß rauskommen wollte. In den USA, für die das vor allem gedacht war, kamen die Pythons hier noch nicht, dafür später umso gründlicher an. Auf 35 Millimetern, mit dennoch schmalem Budget, wenn draußen, dann in den Outskirts von London gedreht, werden ein paar der besten Sketche der Fernsehfolgen neu inszeniert: ohne Publikum, das dazu lacht. Der Papagei ist noch immer tot, aber bunter. Der tödliche Witz tötet weiter. Terry Gilliams Animationen sind noch etwas barocker in ihrer Lust am Übergang von einer Absurdität in die nächste. Ein Colonel sitzt amtlich am Tisch. John Cleese geht über Wasser und wird am Spieß gedreht. Gefälle verschafft diverses Autoritätspersonal: Aus dem gemachten Witz wird einer, der fortgesetzt werden muss. Mal wird das Normale, etwa das Fernsehinterview mit dem Filmregisseur, immer abstruser, mal wird das Abstruse immer abstruser: So stolpern und stürzen die Upper Class Wits töricht voran, das Ende setzt dann wie so häufig der Tod. (70cp)

 

6.1. Lo strano vizio della signora Wardh (Sergio Martino, I 1971, Stream)

Attraktives: Die weiß-grün-gestreiften Wände des Apartments, mehr oder minder nackte Körper von Frauen, das Blitzen des Skalpells, eine Kamera, die nicht stillhalten kann, die Musik von Nora Orlandi. Unter anderem. Da ist außerdem Wien, später spanische Küste, sehr malerisch. Wie immer beim Giallo: Die Zutaten stehen fest, daraus wird dann, Smörebröd ramtamtamtam, mit Hilfe sehr gut aussehender Leichen ein noch blutiger Plot. Am Ende: eine Autofahrt zweier Männer, in Kurven, den Berg hinab, sie sehen nicht recht. Davor wird ein dritter erschossen. Diese drei sind, als Ehe- und definitiv Nicht-Ehemänner, in einer Geschichte unterwegs, in der es, in Wohnungen, im Park, aber auch in der Tiefgaragen ausgesprochen gekonnt suggestiv gruselig zugeht. Ein Stück Eis schmilzt wie bei einem cleveren Rätselkrimi geklaut. Viel hilft beim Giallo stets viel, das wird von Sergio Martino beherzigt. Dass er ein echter Könner der dichten Stimmungen ist, am hellichten Tag und in finsterer Nacht, ist des Guten noch längst nicht zu viel. (76cp)

 

5.1. The Last Movie (Dennis Hopper, USA 1971, Stream)

40 Stunden Material hat Dennis Hopper zu einem Film, nun, nein, nicht kondensiert. The Last Movie ist eine Sammlung des Diskontinuierlichen, von der Schießerei auf dem Set (des «realen» Films im Film, real, denn schließlich gibt Sam Fuller hier die Kommandos) geht es in die Berge, in den Bergen singt Kris Kristoffersen von Bobby McGee, Freedom is Another Word For Nothing Left to Lose. Um Goldschürfen geht es, am Anfang und dann gegen Ende noch einmal, es kommt hier wie da aus recht heiterem Himmel, weil anderes kurz in den Vordergrund rückt: der Sex vor dem Wasserfall, die Fahrt in die Stadt, der Besuch des Bordells, alle sind ständig betrunken, bekifft oder mit Kokain aufgeputscht. Die Ebenen geraten ins Rutschen, nicht erst, wenn die Bewohner des peruanischen Dorfs das Kino, das Set als Cargo-Kult nehmen und mit aus Holz gebastelten Kameras und Tonangeln und einem großen Pferd die Fiktion des Films nach Abzug des Teams (nur Dennis Hopper, der Stunman, ist geblieben) als Ritual nachzustellen beginnen. Man spürt das Bemühen Hoppers, aus alledem etwas wie Kritik an Kolonialismus zu destillieren; in der Montage des allzu heterogenen Materials aber streckt er wieder und wieder die Waffen, und gerade in der Aufgabe, die zur Hingabe wird, zur Hingabe an Momente, Stimmungen, ans Lyrische und ans Delirante, im Verlust der Kontrolle noch und gerade und wieder beim Versuch, Ordnung in etwas zu bringen, das nichts als Zeugnis einer fundamentalen Unordnung sein, bleiben, werden, kann, gerade darin gelingt doch recht Großes, mindestens Inkommensurables, ohne dass das Öde, das Grundverwirrte, das Misogyne, ja, das im Grunde Verfehlte dieses Projekts getilgt werden könnte (von Aufhebung ganz zu schweigen). (77cp)

 

4.1. Little Murders (Alan Arkin, USA 1971, Stream)

In einem User-Kommentar der IMDB heißt es: «During a theater viewing it seemed to isolate audience members from each other.» Filmischer Entfremdungseffekt, und ja, der Film ist danach. Ursprünglich ein Theaterstück von Jules Feiffer (er hat das Drehbuch selbst verfasst), das am Broadway 1967 mit Elliott Gould nicht reüssierte (in London zwei Jahre später dann schon). Irgendwann kursierte gar die Idee, Godard könne die Regie übernehmen, es wurde nichts daraus, aber Alan Arkin, der in einer kleineren Rolle auch mitspielt, macht die Sache nicht schlecht. Es ist ein hysterischer, ein sich selbst ständig neu hysterisierender Film. Elliott Gould, pouty mouth and brooding body, ist ein Fotograf namens Alfred, und zwar erfolgreich, Motiv vorzugsweise: buchstäblich Scheiße. Eine Frau schlägt Männer in die Flucht, gegen die sich Alfred nicht wehrt. Es folgt Liebe, Vorstellung bei den Eltern, erster Höhepunkt der Hysterisierung, das Overacting von Mutter, Bruder und Vater, eine große Peinlichkeits-Show, prallt auf Goulds Underacting, mit beträchtlichem Entfremdungseffekt. Es folgt die Hochzeit, ein unvergesslich hirnzerstörender Monolog von Donald Sutherland als gottloser Priester, es gibt keine denkbaren angemessenen reaction shots auf das, was er sagt. Endet alles unvermeidlich in hysterischem Chaos. Weiter im Text. Brüten im Park. Besuch Alfreds bei seinen Eltern, die Fragen nach seiner Kindheit mit psychoanalytischer Fachliteratur kommentieren. Dann ein Schuss, die Heldin ist tot, Alfred nunmehr ganz katatonisch, Bewaffnung, die Fenster verbarrikadiert. Bürger, zückt die Gewehre! Kleine Morde, eine Gesellschaft kommt auf den Hund. (75cp)

 

3.1. Stars at Noon (Claire Denis, F/Panama/USA 2022)

Die Verhältnisse: undurchsichtig. Nicaragua, in den Straßen Männer mit Waffen, in Uniform. Politik wird angetäuscht, für Hintergründe interessiert Denis sich kein bisschen, auch wenn es sie braucht, als dunklen backdrop, aus dem sich drohende Schattengestalten konturieren, verschwinden, wiederkehren, verschwinden. Sie, die Amerikanerin, die als Journalistin arbeiten will, er, der Brite in Weiß, auf ein Spielfeld geraten, dessen Kräfte er offensichtlich nicht mehr kontroller. (Was genau hier der Fall ist: unklar.) Die Amerikanerin lebt nicht von Artikeln, sondern von ihrem Körper, den sie verkauft. Mit dem Briten gerät nun, vielleicht, etwas wie Leidenschaft in den Mix. Artikel-Business jedenfalls deutlich am Ende: Zoom mit John C. Reilly als haarsträubend krissellockiger Chefredakteur - die Karikatur eines Klischees. Wie ohnehin das Pfeifen auf Reales der zentrale Punkt der Geschäftsordnung ist: Karikaturen, Klischees, ein erotischer Polit-Thriller, der sich die vertrauten Momente out of thin air zitiert und erfindet. Im Rückgriff auf den im Jahr 1984 angesiedelten Roman von Denis Johnson, nun in der Pandemie-Gegenwart angesiedelt, die Masken als Realitäts-Marker und Unheimlichkeits-Signale zugleich. Das Szenario bleibt ganz und gar Kulisse, an der alles second hand ist außer die Präsenz zweier zusehends erschütterter Körper ohne Halt (außer, vielleicht, aneinander), von Anfang an auf der Flucht. Pass, Geld, Sex, die ständige Suche nach der Möglichkeit von Passagen. Woher, wohin ist egal, der Film gleitet zwei Stunden lang auf einer von den Tindersticks sehr zurückhaltend mitgemalten Stimmung dahin, als Thriller aus zweiter oder dritter Hand, der im Klischeegewitter nach der Wahrheit von Windstillen sucht. (74cp).

 

2.1.2023 Anleitung, ein anderer zu werden (Edouard Louis, F 2022, Hörbuch, Sprecher: Patrick Güldenberg)

Die Autosoziobiografie, nun als Bildungsroman. Der Wechsel der Instanzen, an die das im Rückblick (sich be)schreibende Ich sich adressiert: Der Vater als Du, an dessen Vorschriften es sich abzuarbeiten, dessen Setzungen es zu überwinden gilt. Dann geraten die Pronomen und Perspektiven ins Wanken: Kurz wird das Ich selbst, Eddy Bellegueule, zum Er, dann zum anderen Ich, im neuen Namen besiegelt. Die wichtigste Instanz des Übergangs heißt hier Elena (und Nadja, der Name der neuen Mutter): Sie öffnet die Tore zum Bildungsbürgertum, zu Brahms, zum Programmkino, zur richtigen Handhabung des Bestecks. Auch sie aber gilt es zu überwinden, weil das Ich auch über diesen Aufstieg, den nach Amiens, noch hinauswill. Der Ehrgeiz akzeptiert nicht die Grenzen, die Elena für sich akzeptiert hat; sie will, bei aller Liebe (nicht mit Begehren zu verwechseln, diese Erziehung folgt als internetgestützte Selbsterziehung noch einmal später), später nicht mit. Edouard (wie er nun heißt) lässt mit Amiens auch die erste Erziehungsinstanz wieder zurück; mit Bedauern, das er allerdings zuletzt noch in die Anmaßung (eine Anmaßung der Gerechtigkeit) transformiert, sich selbst und seinen Aufstieg aus ihrer Perspektive beschreiben zu wollen. Die nächste, die letzte Instanz: Didier Eribon. Sein Vortrag, seine Einladung hinterher öffnet neue Wege und Türen, deren Name als Versprechen: Paris. Schwindelerregend, was hier nun folgt, die Beziehung zum Bürgermeister von Genf, Ludovic im Marais, das selbst auferlegte, von Didier geformte Bildungsprogramm, die Ecole Normale Superieure. Edouard, sich selbst beschreibend, seinen unbändigen Willen zu dem zu werden, der er nun ist, als einer, der sich in Literatur selbst zu beschreiben und zu verstehen versteht. Ob nicht das méthode des Titels (die Anleitung) eine falsche Verallgemeinerbarkeit verspricht, und darum nicht doch auch eine Anmaßung ist, bleibt die Frage. Der Epilog: ein melancholischer Rückblick, keine Bilanz des Verlusts, eher ein Schlussbild, das noch einmal festzuhalten versucht, was uneinholbar für immer vorbei ist. Die Zukunft nun: offen. (76cp)

 

Notizen 2022 | Notizen 2021 | Notizen 2020