notizen

26. Dezember 2023

Notizen 2023

Von Ekkehard Knörer

DEZEMBER

26.12. Maigret und Monsieur Charles (Georges Simenon, F 1972, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Der letzte Fall. Wieder ist es die aus dem Lot geratene (oder eher: die nie im für die Frau erträglichen Lot befindliche) bürgerliche Sexualordnung, die Unheil gebiert. Ein Notar, Mann der besten Gesellschaft, treibt sich privat - als Monsieur Charles - mit Vorliebe in der Halbwelt der Nachtclubs herum. Eine der Animierdamen, mit denen er sich sonst immer nur eine Weile vergnügt, nimmt er zur Frau, die er recht schnell auf hergebrachte Weise betrügt: Ein paar Tage Abwesenheit, im Hotel mit einer jungen Frau. Die bürgerliche Umwelt hat wegzusehen, hat das zu tolerieren, ja, hat, diesen Mann für einen dennoch untadeligen Menschen zu halten gelernt. Wer es nicht gelernt hat: die vielfach betrogene Frau. Sie hat das bürgerliche Leben, mit Zofe, mit Geld, aber sie schüttet enorme Mengen von Cognac in sich hinein, um diese Konstellation ertragen zu können. Einen Monat nach dem unerklärten Verschwinden des Mannes sucht sie Maigret auf, der sich in dieses Milieu, in das Leben der Frau von noch nicht einmal vierzig Jahren, die ihr Leben schon hinter sich hat. Und Maigret begibt sich ins Milieu, beobachtet, fragt, fühlt sich ein, versteht, fast mit Gewalt, das ihm Fremde, aus dem ganz anderen, der ereignislosen, ereignisunfähigen Gegenwelt seines Ehelebens heraus. Nie hat Maigret Sex mit seiner Madame, beziehungsweise ist das ein von Simenon gewahrtes Tabu. Es ist eine Ehe, die aus Umhegt- und Bekochtwerden, Kinobesuchen, Gesprächen, Reisen ins Ferienhaus in der Provinz besteht: all das des Erzählens nur wert, weil es der Gegenhalt zu den durch und durch unordentlichen Beziehungen, Psychen und Strukturen ist, in die sich Maigret, als wäre es seine eigene Sucht, hineinfühlen muss, so tief, bis sich sein eigenes Ich fast völlig aufs reine Verstehen reduziert. Das ist die selbst nie im Lot befindliche narrative Psychostruktur, aus der Simenon diese Erzählwelt Mal für Mal generiert. Zum Beginn dieses letzten Romans lehnt Maigret die Beförderung zum Leiter der Mordkommission ab. Die Macht interessiert ihn nicht, er hasst die Verwaltung. So zieht er als einer, der die Augen nicht von der konkreten Unordnung einer verkehrt eingerichteten Welt abwenden kann, in die ewigen Jagdgründe der Kriminalliteratur ein. Wäre angemessen, ihm zu Ehren eine Pfeife zu rauchen. (72cp)

 

23.12. Maigret und der einsame Mann (Georges Simenon, F 1971, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Das Geschehen des Romans ist ausnahmsweise datiert, rückdatiert nämlich, auf das Jahr 1965. Was eine Rolle spielt, weil es die hier noch in der Mitte der Stadt stehenden Markthallen sind, bei denen sich der Leichnam eines Mannes findet, der ein Clochard war, auch wenn er mit Richelieu-Bart nicht unbedingt aussieht, als ob er es wäre. Der Friseur hat ihn Aristo genannt, seines Auftretens wegen, zu dem auch das Schweigen gehörte. Maigret sucht Spuren dieses Mannes, die ihn von der Gegenwart der Markthallen und seines Verlassenseins in eine Vergangenheit führen, aus der er ins Namenlose verschwand. Es stellt sich heraus, dass er Kunsttischler war, der seine Frau, die ihn deshalb noch immer mit Leidenschaft hasst, und die Tochter von einem Tag auf den anderen verließ, es war im Jahr nach dem Krieg. Diesen Schacht in der Zeit steigt Maigret hinab, per Zeitungslektüre, es sind die Stimmen von Toten und von Lebenden, die er hört. Eine junge Frau war es, damals, mit der man den Kunsttischler sah; Hotels, in denen er lebte, lassen sich eruieren. Und ein Verbrechen von einst, als dessen späte Nachwirkung sich der Mord in der Gegenwart herausstellen wird. Die Zeit tritt hier auf als schwächliche Macht: Nichts kann sie heilen, keine Wunde hat sich geschlossen, die verlorene Liebe war nicht ersetzbar, die Nicht-Ersetzbarkeit hat die Leidenschaft lebendig gehalten, die Erlösung hat den Täter ins Unglück geführt. (69cp)

 

22.12. Maigret und die verrückte Witwe (Georges Simenon, F 1970, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

«Verrückt» scheint die Witwe, 86 noch recht muntere Jahre alt, weil sei glaubt, es seien in ihrer Wohnung die Dinge «verrückt». Sie lungert, dies Maigret mitzuteilen, am Quai des Orfèvres herum, wird zu Janvier vorgelassen, der nicht glauben kann, was sie sagt. Auch Maigret, dem sie auf der Straße auflauert, glaubt ihr - der folle de Maigret des französischen Titels - nicht recht, will sie dennoch besuchen. Aber dann ist sie tot, ermordet, aber wer war das, der oder die erst die Sachen verrückte, dann die alte Dame erstickte? Die Nichte, eine Masseuse, eine Mittfünfzigerin, die vom Sex nicht lassen will und sich einen kleinkriminellen Liebhaber hält und auf das Erbe der Tante gehofft haben sollte? Der Sohn der Masseuse, ein Hippie, der mit seiner Band - Les Mauvais Garçons - nur gelegentlich etwas verdient, allerdings bei einem Konzert Maigret zur Einsicht bringt, dass er, der Alles-Versteher, von Popmusik nun gar nichts versteht. Was nicht dasselbe wie Ablehnung ist, wenn es nach Maigret geht, dürfen die Leute tun, was sie wollen, solange sie nicht alte Frauen ermorden. Die Leiche wird von hierhin nach dorthin bewegt, der Kommissar ermittelt mit seinem alten Kollegen, der dort aber in seinem Element ist, in Toulon und kehrt, einen Western zu sehen, zu seiner Gattin zurück. Am Ende steckte Geldgier dahinter, bei einem, für den das alles eine Nummer zu groß war. Deshalb ist nicht nur eines, sondern noch ein und noch ein Leben zerstört. (68cp)

 

20.12. Brennende Betten (Pia Frankenberg, BRD 1988)

taz-dvdesk (68cp)

 

19.12. Beyond the Wall: East Germany 1949-1990 (Katja Hoyer, GB 2023)

Dieses Buch enthält keinen neuen, keinen originellen Gedanken. Ja, sogar die Episoden, die es berichtet, sind zum größten Teil ziemlich, zum gar nicht so geringen Teil mehr als bekannt. Katja Hoyer erzählt im wesentlichen politische Ereignisgeschichte als Geschichte der Gedanken, Haltungen, Gesundheitszustände in diesem Fall nicht so sehr großer Männer. Mit Alltagsgeschichte ist das alles eher scheinbar versetzt - ein Eindruck, der durch geradezu stupid monoton wiederholte szenische Einstiege in säuberlich chronologisch sortierte Geschehnisse entsteht (oder auch nicht). Das Kino kommt fast gar nicht, die Literatur weniger, das Theater - ausgerechnet das Theater -, wenn ich mich nicht täusche, überhaupt nicht vor (Brecht wird erwähnt, mehr auch nicht). Hoyer geriert sich als allwissende Erzählerin und hat den Finger dabei stets auf der den Schrecken der DDR abmoderierenden Seite. Weniger ein Verschweigen von Tatsachen - die brutale Allgegenwart der Stasi, die Borniertheit der versammelten Herren, die Geburt aus dem Geiste des anpasserischen Duckmäusertums in Stalins Säuberungs-Moskau - als das Verschweigen der gezielten Perspektivwahl; und natürlich fortwährende, viel Furchtbares weg- und real existierendes Kommodes einblendendes Akzentuieren. Es ist eine Perspektive, die man einnehmen kann, von heute aus sicher etwas arg DDR-Quietismus- und Post-DDR-Politikhass-versteherisch (vor allem im Nachwort), aber im Hinweis auf die Lebbarkeit der DDR für die Mehrzahl vertretbar. (Angemaßt allerdings: das implizite Sprechen als «Vertreterin» dieses Teils der DDR-Bürgerschaft.) In der rezensierenden Vernichtungswut scheint jedenfalls oft genug weniger die Kritik an der haarsträubenden Unreflektiertheit des Buches auf als der Wunsch, der DDR jede historische Legitimität abzusprechen. (Die Diskussion darüber wäre ein weites Feld, das Verrückte ist, dass dieses Buch es eigentlich gar nicht betritt.). Und in der viel positiveren linken angelsächsischen Presse eine auch nicht  wirkllich reflektierte Sozialismus-Nostalgie, die nur zu bereitwillig die unerfüllte Sehnsucht nach Dritten Wegen via Hoyer auf die DDR projiziert. Für diesen kontrafaktisch nachholenden Sozialismus ist das selbst in Hoyers Version kein gutes Objekt. (38cp)

 

18.12. Bucket List (Yael Ronen & Shlomi Shaban, Schaubühne Berlin)

Auf der Bühne hinten ein Vorhang, im Mittelgrund eine Binnenbühne, zwei Bögen, an deren Boden ein Steg, zwei getrennte verschiebbare Teile, die sich mal zur Leinwand für VHS-Gebizzel (mit Play-Einblendung) eher fügen, einmal auch zu einer Iris verblenden, dann rücken sie auch ganz auseinander. Links eine Mauer mit Leiter, man kann darauf liegen und stehen und darauf Gitarrespielen, das kann man auch; davor ein weißes Rechteck, Vorderbühne, Sitzgelegenheit, in Grenzen variabel die Elemente, so ist auch der Abend. Rechts, im Übergang ins Off, aber ständig präsent, die kleine Band mit Klavier, Gitarre, auch Geige, und Schlagzeug, die so virtuos spielt, wie auch die vier Darsteller*innen recht bis sehr virtuos singen und tanzen. Ein Musical, eine Revue, ein Potpourri, das in den Songs manches, wenn nicht vieles verwurstet, vom Zeitgeist und Wokeness und Dating-Stress und Missbrauch durch den Vater bis zur wunderbaren Möglichkeit, die Traumata einfach aus dem Gedächtnis zu löschen. Zu allem Überfluss ruft dann auch noch die Wirklichkeit an (auf Englisch, es ist so gut wie alles auf Englisch) und sagt, sie mache jetzt mit diesem Subjekt Schluss. Was aber auch in der Luft liegt, und wirklich mehr in der Luft (aus der leichenweiße Tücher, Hemden segeln, langsam, ohne Unterlass) als im Text, in dem er gleich zu Beginn aber auch platziert wird, das ist der Krieg. Von einer Welt, die von einem Tag auf den anderen zusammengestürzt ist, singt Damian Rebgetz, das als Leitmotiv zu bezeichnen, wäre aber schon wieder zu viel. Es ist eher eine bleibende Interferenz, etwas, das sich von diesem Abend, der mäandert, der vielleicht Zusammenhang sucht, aber doch eher Nummernrevue findet, nie ganz wegdenken lässt. Die Musik ist mal sehr Seventies-Hair-etc.-musicalhaft, dann jazziger, die Texte sind mal mehr witzig, mal mehr sarkastisch, Yael Ronen style, nicht in Moll, aber in einem bei aller Geschmeidigkeit und Virtuosität doch merklich dunkleren Dur. Und es ist diese Virtuosität, bei der man sich fragt, ob sie die Fragilität und den Schrecken, der zu Beginn explizit wird und dann eher im Latenten verschwindet, einfach verdeckt; ob dieses Hin und Her zwischen Thematisierung und Verdeckung eine passende ästhetische Form ist und/oder nicht auch bewusstes oder unbewusstes Symptom der Traumatisierung, die so doch auch weggespielt wird, in schmeichelnde weiße Musical-Tücher gehüllt. Jedenfalls bleibt der Eindruck, dass in diesem Abend mindestens so viel Abdichtung gegen die Wirklichkeit wie das offene Zulassen von Entsetzen und Ratlosigkeit steckt. (67cp)

 

17.12. Nie wieder schlafen (Pia Frankenberg, D 1992)

taz-dvdesk (69cp)

 

10.12. Maigret und der Messerstecher (Georges Simenon, F 1969, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Hier begegnen einander im kalten März ein Tonbandgerät (mit Sehnsucht aus Japan erwartet wird die miniaturisierte Version) und die Rohrpost, ein scharfes Messer und Maigrets in die Tiefe gehender Menschenverstandt. Mit dem Tonbandgerät ist ein junger Mann aus bestem Haus unterwegs, die Kosmetik-Marke des Vaters kennt alle Welt, der Kommissar, anders als seine Frau, allerdings nicht. Die Familie lebt in besten Verhältnissen auf der Isle Saint-Louis, der Sohn nimmt Gespräche in weniger noblen Stadtvierteln auf, die er nur festhalten will und in einem Heft mit dem Titel Meine Erfahrungen sammelt. Es sind auch Ganoven unter den derart Belauschten; auf ein paar von ihnen fällt der Verdacht, als der junge Mann tot auf der Straße liegt, sieben Messerstiche, einer war tödlich, denn auf dem letzten Band waren Gespräche über ein geplantes Versprechen zu hören. Erst mit der Rohrpost, dann mit händisch eingeworfenem Brief meldet sich der wahre Täter, seine Name, ohne Witz, lautet Bureau, empört über den falschen Verdacht, erst bei der Presse, aber dann sucht er auch zu Maigret den Kontakt. Telefonisch zuerst, am Ende sitzt er bei Madame und Monsieur im Wohnzimmer und erzählt seine triste Geschichte. Madame Maigret fährt Auto, sie geht mit dem Kommissar ins Kino, ihm ist nach einem Western. Zuvor war im Fernsehen schon ein Film mit Gary Cooper gelaufen. Mit dem Urteil am Ende ist auch der Richter nicht glücklich. Eine humane Lösung für einen Täter, der inneren Zwängen gehorcht, hat das Recht noch nicht gefunden. (70cp)

 

7.12. Mein Falke (Dominik Graf, D 2023)

Der Falke ist, novellennotorisch, ein Falke, medientechnisch verschaltet mit einem wiederkehrenden Drohnen-Kamerablick. Die Welt von oben: Land, Flur und Wolfsburg. Auf Augenhöhe beweglich: die Türme der Autostadt, das dekonstruktive Automuseum aus dem Hause Zaha Hadid. Vollends pedestrisch: die Einfamilienhäuser in der Wolfsburger Suburbia, groß genug, um, vom Gatten verlassen, dort einsam zu leben, bis dann der Falke ins Haus kommt. Und wieder, gen Rügen, verschwindet. Front and center jedoch: Anne Ratte-Polle, forensische Biologin mit diversen Leichen auf dem Tisch, ein ertrunkener Mann, wobei Mentholgeruch ahnen lässt, dass etwas nicht stimmt. Auf dem Friedhof ein Massengrab, da gilt es einen im Krieg ermordeten Niederländer herauszusortieren, einerseits aufdringliche Falltür in dunkle Vergangenheit, andererseits sind die Dialoge mit dem nordischen Friedhofsmann diese Aufdringlichkeit wert. Nett, wie die Protagonistin die Vorgeschichte vom Verlassenwerden dem Falken an unserer Stelle erzählt. Bewegend der störrische Vater, der so richtig Scheiße baut, das dann aber auch so richtig bereut. Und als komisches Element, ein running gag, der einem als zunehmend sympathische Person ans Herz wachsen soll, und es auch tut, eine Halbschwester, die keine ist und nicht weiß, ob sie es womöglich gern wäre. Einmal bindet Dominik Graf das, begleitet von einem eigenen Song, verdichtend zusammen, Versammlung der Plot Points, die er über den Rest des Films mit sehr leichter Hand ausstreut, eher unter- als übermalt von der immer leicht gegenmarkierenden Musik von Rossenbach/Van Volxem. Was er umso mehr tun kann, als Anne Ratte-Polle als Frau im Widerstreit mit sich und der Welt beim Single-Home-Karaoke eine ebenso widerspenstig gute Figur macht wie den Auseinandersetzungen im Beruflichen wie Privaten, die sie eher sucht als meidet. Das Ende dann: eine Fahrt ins Freie, ein Loslassen der Erzählung, es ist souveräner filmischer Jazz. (75cp)

 

6.12. Maigret und sein Jugendfreund (Georges Simenon, F 1968, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Einmal, aber recht weit vor dem Ende, versammelt Maigret sämtliche der Verdächtigen in seinem Poirot. Pardon, Büro muss es heißen. (Und Pardon ist der Arzt und Freund von Maigret.) Einmal auch, im Auto (Madame Maigret, die noch nicht so lange den Führerschein hat, ist am Steuer), malt Maigret sich bis in die Dialoge hinein die möglichen Varianten des Falls aus - schreibt Simenon, ohne es seinerseits auszuführen. Die Versammlung der Verdächtigen und auch die Parade in der Imagination gehen aber vorderhand aus wie das Hornberger Schießen, keiner rückt mit der Sprache heraus, auch nicht, als das eigentliche Monster dieses Romans, die verstockte, unverschämte, voluminöse Concierge namens Blanche, noch mit dazukommt. Und wieder geht. Den persönlichen Bezug des Kommissars zu dem Fall nennt der Titel, auch wenn Jugendfreund vielleicht etwas zu viel gesagt ist für die Figur namens Léon Florentin, Bäckersohn und Witzbold aus Maigrets Gmynasialklasse einst in Moulins. Freunde waren sie damals schon nicht, jetzt taucht der Mann, nicht zu seinen Gunsten gealtert, in Paris plötzlich auf und hat eine Leiche im Zimmer. Joséphine ist die Geliebte, von deren Geld er lebt, ansonsten ist er Antiquitätenhändler ohne Fortune beziehungsweise ohnehin nur zum Schein. Wobei er eher etwas wie Josées Zuhälter ist, vier Männer sind es, die bei ihr regelmäßig vorbeischauen, und zwar zum Sex. Nun aber hat sie einer erschossen, und zwar mit Florentins Revolver. Briefe sind verschwunden, Geld ebenfalls, ein rotlockiger Freier ist eher Sympath, ein anderer, aus Bordeaux kommend, hinkend, eher nicht. Einer von ihnen ist es am Ende gewesen, Florentin springt zwischendurch in die Seine, nimmt keinen Schaden, der letzte Satz dann: ein Seufzen, dass Maigret nun just mit diesem einstigen Kameraden nach Jahrzehnten konfrontiert worden ist. (65cp)

 

Valeria is Getting Married (Michal Vinik, Israel 2022)

taz-dvdesk (63cp)

 

3.12. Handle With Care - Eine praktische Anleitung (Gob Squard & Nachbar*innen vom Mehringplatz, HAU 1 Berlin)

cargo-Magazin-Text (80cp)

 

 

NOVEMBER

28.11. Maigret und der Weinhändler (Georges Simenon, F 1970)

Oscar Chabut und Gilber Pigou, der Herr und der Knecht. Der Weinhändler und sein kleiner Angestellter, der vom Chef, nachdem der dessen kleine Griffe in die Kasse erkannt hat, nicht nur entlassen, sondern auch mit einer Ohrfeige gedemütigt wird. Chabut kam von unten und hat ich sein kleines Imperium selbst aufgebaut. Zwei Kontore, von denen eines für die Klientel aus der Provinz, ganz altmodisch, das andere, für die Zeit, mit der Chabut zu gehen versteht, mit elektronischem Rechengerät ausgestattet ist. Chabut ist ein sehr schlechter Mensch. Seine attraktive Frau hat sich damit, dass er sie ständig betrügt, arrangiert. Sie betrügt ihn ohne schlechtes Gewissen auch selbst. In Gesprächen mit allen Beteiligten, nicht zuletzt mit Madame Blanche, der ihm guten bekannten Chefin eines Stundenhotels, erfährt Maigret, dass Chabut ein Sex-Maniac war. Der Sekretärin, die er Heuschrecke nannte, hob er, wenn ihm (aber auch ihr) danach war, im Büro schnell mal den Rock. Reihenweise hatte er Verhältnisse mit verheirateten Frauen aus guter Gesellschaft. Gehörnte Ehemänner gäbe es als Verdächtige sonder Zahl. Chabut nämlich ist tot, er wurder erschossen, auf der Straße, vor dem Stundenhotel. Ein anonymer Anrufer legt Wert auf die Feststellung, dass der Ermordete ein sehr schlechter Mensch war. Maigret begreift rasch, wer dieser Mann ist: der entlassene, der von Chabut, aber aber auch seiner dem Fauteuil verfallenen Frau gedemütigt wurde. Er ist verschwunden, in dem, was sein Leben war, ist er nur mehr eine Leerstelle, ein Abwesender, den eigentlich keiner vermisst, schon gar nicht die Gattin. Ein Schatten scheint er, mit Hut, auf der Straße, kurz erhascht, dann verschwunden, ein Gespenst, das die sich selbst auskostende Gewalt eines Mächtigen hervorgebracht hat. Dann blickt Maigret aus dem Fenster, sieht Pigou auf der Straße. Der kommt bald darauf hoch, die flehende Suche nach Anerkennung in Körper und Blick. Der Kommissar soll sein neuer Herr sein, ein Herr, der versteht, ein Herr, der nicht das Böse, sondern die Güte verspricht. Endlich Erlösung, auch wenn sie mit Handschellen kommt. (78cp)

 

24.11. Death Drive (Benjamin Abel Meirhaeghe, Volksbühne Berlin)

Kleines Orchester, nennt sich: The Eye of the Tiger, sechs Blechbläser, ein Schlagzeuger, in grauen Hoodies unter Kapuzen, mit dem Rücken zur Bühne. Sie spielen immer mal wieder. Es zischt Theaternebel, der uns gilt. Der Auftakt, nachdem von rechts oben hellrote Feuerwerkskörper eher segelten, als dass sie flogen: Zwei Männer, nackt, mit einem Tanz, der Sex ist, mit Sex, der Tanz ist, mit wedelnden Händen, eigentümlich sylphidisch, das Sylphidische kehrt auch später immer mal wieder. Ein angeknackstes Ei dreht sich herein, Benny Claessens schlüpft, fällt heraus, die anderen nach ihm dann auch. Da hat er schon in Erde, oder auch Kaninchenkacke gewühlt. Vorhänge fallen, und auch Prospekte, mit Tunnelguckloch darin. Etwas wird mit Hölzern gebaut, Zeug liegt auf der Bühen herum, später irgendwann Regen, Sacre du Printemps als Pathosformel, hochgedrehte Geräusche, Gewurstel bei Tisch, ein Auftritt mit Gesang und ein Abgang von Claessens, der einzige beinahe wirklich komische Augenblick. Gesprochen wird wenig, und wenn dann ein ins Große hinausgreifender Stuss, der bestenfalls als Improvisation, die er nicht ist, zu entschuldigen wäre. Den zwei Männertänzerkörpern sieht man gerne zu, auch wenn sie, wie es die Regie ihnen aufträgt, sehr unkomisch hampeln. Den anderen sieht man nicht gerne zu, egal, was sie tun, schon gar nicht Benny-Claessens, der sein Benny-Claessens-Ding macht und glaubt, das müsse reichen. Die Bläser spielen I dit it my way am Ende. Das mag wohl sein. Aber bitte nie wieder. (30cp)

 

Maigret und der Spitzel (Georges Simenon, F 1971, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Ein berühmter Wirt in Montmartre, der aus der Unterwelt kam, liegt tot auf der Straße. Ein unbekannter Mann meldet sich per Telefon bei einem Inspektor und behauptet, die Mörder zu kennen. Der Inspektor kennt ihn bereits, er ist ein Informant aus Berufung. Maigret findet heraus, um wen es sich handelt. Er verfolgt seine Spur von hier nach da in Montmartre, der Mann, sie nennen ihn Floh, ist seinerseits ein Kleinkrimineller und fühlt sich, zu Recht, von den Tätern verfolgt und sucht an mehr als einem Ort Unterschlupf, unter anderem bei einem ehemaligen Polizisten. Zur Beerdigung fliegt Maigret in den Sünden, in Bandol (zwischen Marseille und Toulon) zeigt sich: Line, die Witwe des Toten, eine Frau, die im Nachtclub getanzt hat, hat ein Verhältnis mit einem der mutmaßlichen Täter: wieder eine habgierige Person aus der misogynen Simenon-Galerie. Die Schlusskapitel spielen dann im Quai des Orfèvres und vor Gericht. Die Täterband wird gegeneinander gehetzt. Das letzte Wort gilt dem Spitzel, der weiter, weil es ihm ein innerer Drang ist, berichtet. (65cp)

 

22.11. Genossin Kuckuck (Anke Feuchtenberger, D 2023)

cargo-Comickolumne (#60)

 

19.11. The Killer (David Fincher, USA 2023)

Das Fenster  zum Hof, drinnen Wework (prä Insolvenz), draußen Paris. Das ostlaternenmilchige Licht, schön digital, das Weltloch, durch das der, leider immerzu seinen menschenfeindlichen Unfug auf die Tonspur hinausdenkende Held, zielt und blickt. Dazu, hier noch nicht so schlimm nervend, die Smiths und später, auch, wieder und wieder, die Smiths, on and off, off and on, das samtige Wehklagen, das die Nerven des Killers beruhigt. Wer es glaubt, wer irgednwas davon ernsthaft glaubt, wird alles, nur sicher nicht selig, die Tantiemen an Morrissey schmerzen mehr als die Wunden, die der Killer sich im New-Orleans-Kapitel dann holt. Kurz noch Bewunderung für den Flug als Aus-den-Wolken-Montage, rasch aber zerlegt sich, was im dichten Beginn Noir-Kondensat war, in Style, Ornament, Gewalt und Besprechen. Mit Todesfolgen und Tücke, Whiskey, on the rocks dann erst draußen, Mülleimer hier, Kopfschuss für Tilda, die Zeichen verstecken sich nicht, sondern stellen sich aus. Das macht sie platt, aber nicht leer, und es ist die Entleerung, die Fincher, der nichts im Kopf hat, für das, was er kann, nun einmal braucht. Stattdessen ist das alles mit nihilistischer Gülle randvoll. (45cp)

 

Maigret in Künstlerkreisen (Georges Simenon, F 1969, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Maigret fährt Bus, den Führerschein macht seine Frau. Im Bus, oben im Freien, rempelt ihn eine Frau mit ihren Einkäufen an, ohne dass er es merkt, stiehlt ihm einer die Brieftasche, auch die Polizeimarke ist darin. Dann aber bekommt er wundersamerweise alles per Post zurück, Geld, Portemonnaie, Marke, und einen Anruf dazu. Vom Täter, der ihn treffen will, der ihn in seine Wohnung führt, zu einer schon verwesenden Leiche, es ist seine Frau. So kommt es, dass Maigret in Künstlerkreise gerät. Der Mann heißt Francois «Francis» Ricain, ist Mitte zwanzig, trägt Rollkragenpullover, lebt mehr als prekär, schreibt Filmkritiken hier und da, sie sind, heißt es einmal, zu scharf, vom Schreiben von Filmkritiken kann keiner leben. Drehbücher will er verfassen, Regisseur werden, die Ambitionen sind groß. Im Restaurant, in dem er verkehrt, verkehrt auch ein Filmproduzent, Walter Carus, der mit Geldern aus Italien, Frankreich und Deutschland jongliert. Der auf großem Fuß im Hotel lebt, der sich mit dem besten Gewissen die Frauen nimmt, die ihn für das Tor zum Ruhm halten, der auch mit Sophie, der Toten, der Frau von Ricain, etwas hatte, obwohl er mit Nora, der bleich Geschminkten, die weniger ihn als sein Geld liebt, eine Freundin hat, die auf die Ehe mit ihm spekuliert. Fremde Welt für Maigret, junge Männer mit Haar bis in den Nacken, Frauen, die freizügig sind, der Täter hat für die ganze Sache, stellt sich heraus, ein ausgetüfteltes Drehbuch geschrieben, das so lange funktioniert, bis Maigret alles begreift. Da hilft dann auch kein Selbstmordversuch. (70cp)

 

16.11. Rose Bernd (Wolfgang Staudte, BRD 1957)

taz-dvdesk (78cp)

 

13.11. Maigret zögert (Georges Simenon, F 1968, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Ein Frühlingsroman. Ein Brief erreicht Maigret, auf Papier, das sich recht schnell als handgeschöpft und einzigartig erweist: Der Briefkopf fehlt, der Inhalt klingt vage bedrohlich; etwas, ein Mord, könne geschehen. Maigret zögert erst einmal: gar nicht. Im Gegenteil findet er sehr schnell die Quelle des Briefs, das Haus des sehr angesehenen und sehr kleinen, aufs Seerecht spezialisierten, nie zur See gewesenen Anwalts Émile Parendon. Einen fünfzehnjährigen Sohn gibt es, eine Tochter (Bambi genannt), die Ehefrau, die elegant, der Gesellschaft zugewandt und dem Gatten entfremdet ist. Außerdem: ein Referendar, ein Bürogehilfe und die junge Sekretärin, zugleich: Geliebte. Alle am Leben, als Maigret dort erscheint. Er diskutiert mit Parendon über dessen Steckenpferd, den Paragrafen 64 des Strafgesetzbuches, in dem es um begrenzte Schulfähigkeit bei Mangel an Zurechnungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt geht. Lapoint und Janvier beobachten das Haus in der Nacht, aber von außen. Am Morgen ist dann aber drinnen doch jemand tot: die Sekretärin, Geliebte, Blut überall, durchgeschnittene Kehle. Maigret sondiert, Maigret zögert, Maigret vernimmt Zeugen, auch vom Haus gegenüber, und hat dann wieder einmal eine Frau, die nicht ganz bei Sinnen ist, als Täterin im Blick. Eine Frau, die ihren eigenen Borderline-Zustand auf den kleinen Mann projiziert. Gut möglich, dass Artikel 64 hier realiter, nicht nur diskutaliter, greift. (66cp)

 

10.11. Maigret in Kur (Georges Simenon, F 1967, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Ein leichter Schwindel, ein Unwohlsein hier und da: Mehr ist es nicht. Und doch schickt Monsieur Pardon, der Arzt und Freund, ihn auf eine Kur. Nach Vichy. Da war Simenon gerade einen Monat im Urlaub gewesen. So lustwandeln der Kommissar und seine Frau zur Erholung viel durch die Gegend, Maigret wird durchgecheckt und behandelt, hält sich an die Regeln, die man ihm setzt. Beim Spazierengehen fällt ihm, und seiner Frau auch, eine Frau auf, lila gewandet. Diese Frau, und dann auch Maigret, ereilt recht bald das Schicksal, das das Genre für sie vorsieht. Sie ist tot, ermordet, erwürgt, genauer gesagt. Zuständig für den Fall ist Kommissar Lecœur, ein einstiger Untergebener Maigrets, der noch immer Chef zu ihm sagt. Klar, dass er dem Kurenden weder den Einblick noch das Dabeisein noch, am Ende, das Führen des Verhörs mit dem Verdächtigen verweigert. Es ist erklärtermaßen eher das Opfer, das ihn interessiert, die Frau, die in Frisiersalon betrieben hat, deren Schwester nach ihrem Tod nach Vichy kommt, vom Geschehenen seltsam wenig tangiert. Die Frau, Hélène Lange, hat sich nach einer längeren Odyssee erst in Vichy niedergelassen, bekam geheimnisvolle Geldüberweisungen, las eifrig Bücher aus der Leihbibliothek, auf die Romantik fixiert - Balzac war ihr entschieden zu hart -, selbst aber keine Romantikerin. Es ist aber der Täter, mit dem Maigret sich identifiziert: ein verheirateter, kurender, dicker, asthmatischer Mann, in Wahrheit eher Opfer als Täter, die Frau, die ihn verführt hat, hat seine Naivität (und seine Lust) scham- und schonungslos ausgenutzt. Simenons misogyner Zug kommt mal wieder zum Tragen: Sie war das Monster. Der Mann: eher einer wie Jules. Der hofft auf Freispruch. (70cp)

 

7.11. Die Theorie von Allem (Timm Kröger, D 2023)

Als dann aus dem Stollen mit Namen Off plötzlich die Stimme von Dominik Graf dringt, fällt noch einmal ein anderes Licht in diesen an Licht wie an Dunkel reichen, ja überreichen Film. Als anderer Sound unter Sounds, denen man die Mühe wie die Perfektion ihrer Erzeugung in jedem Moment anhört. Sie sind der Track, der zu all den anderen Tracks sein bewusstes, gezieltes Overtracking hinzutut. Interessant, wie Hanns Zischlers scharf-trockenes Spiel, Underacting beinahe, neben David Bennents unterkühlt gefistelter Hysterie steht und sich Gottfried Breitfuss, immer am Alkohlisch-Fließen, immer am Entropisch-Zergehen, daneben nicht nur als ideologischer, intimer, sondern eben auch als schauspielerischer Gegenpol ausnimmt. Das dann alles mit Hut. Und mal tot, mal lebendig. Mal im gleißenden Schnee und mal im finsteren Stollen, mal zu Tanzmusik und mal an einer Bassposaune, falls das dieses fast schon unwirkliche Instrument ist. Der Film ist immer am Sich-Zusmmenfügen und Zugleich-Zerfallen, woraus er, wie aus seinem Geheimnis, nie ein Geheimnis macht, sondern ein Spektakel. Eines, an dem alles wahnsinnig retro ist oder tut, ohne dass man bei aller Wischblenderei und Überblendungsfeierlichkeit genau den Finger auf etwas drauflegen könnte. Zauberberg-Vibes kommen dazu. Und mit Dominik Grafs sachlicher Stimme dann der raunende futurische Konjunktiv, der aus dem einschlägig glühend-romantischen Teil seines Werkes vertraut ist, hier aber einen interessanten Temperaturwechsel ins etwas Distanziertere, Summarisch darstellt. Die Bergtraumgeschichte ist eher Guy-Maddin-mäßig manieristisch, eine hochartifizielle Bastelarbeit, die Filmhistorisches aus dem Kühlschrank holt und als affektiv-narrative Mikrowelle zur Delikatesse zwischen den Zeiten, multitemporal, genießbar zu machen versucht. Was einerseits gelingt, andererseits nicht, weil man doch eher darauf gespannt bleibt, was der Film jetzt wieder macht, als dass man sich für die Figuren, den Plot, die spekulative Physik, ja sogar das digitale Filmkorn als solches interessiert. Ja, überhaupt ein Film, bei dem es schon wieder interessant ist, dass er, obwohl so viel an ihm fasziniert, am Ende doch nichts zum Glühen gebracht hat. (71cp)

 

5.11. Maigret und der Fall Nahour (Georges Simenon, F 1966, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Maigret schreckt aus dem Schlaf. Es ist tiefe Nacht, es ist der 14. Januar, am Telefon ist sein Freund, der Arzt Pardon, am Abend noch waren die Maigrets bei den Freunden zum Essen. Erstmals überkreuzen sich jetzt die Sphären: Pardon hat eine Frau mit nicht tödlicher Schusswunde verarztet, die bei ihm aufgetaucht ist, der Fall, der dahintersteckt, fällt in dann in Maigrets Zuständigkeit. Es ist mal wieder eine sehr vertrackte Liebes-, Beziehungs-, Zusammenlebens-Konstellation, auf ein Haus konzentriert, die Villa Nahour. Und es ist eine sehr internationale Affäre: Evelina Nahour, ehemalige Miss Europa, ist Holländerin. Ihr jetziger, beziehungsweise soeben mit einem Schuss ermordeter Gatte, Félix Nahour, ist ein reicher Libanese, der ihr gleich nach der ersten gemeinsamen Nacht einen Heiratsantrag gemacht hat. Sie war kurz davor, ihn zu verlassen, eines Kolumbianers wegen, auch reich, Vicente Alvoredo sein Name. Ein Vierter im Bunde ist Fouad Ouéni, wiederum Libanese, stolzes Faktotum im Hause Nahour, nicht angestellt und mickrig bezahlt. Auch zwischen ihm und Evelina ist etwas gelaufen, was sie, wie manches, lange verschweigt, wenn nicht leugnet, auch weil es ihre kolumbianische Eheschließung bedroht. Zuletzt ist alles auf die Situation in einem einzigen Raum, dem Tatort, verdichtet: Wer war dabei, wer stand wo und wer hat wann auf wen geschossen. Im klassischen Kriminalroman gäbe es womöglich gar eine Skizze der Lage. Bei Simeon hingegen bekommt Maigret vor allem Gelegenheit, gar nichts zu glauben, auch in Ausländern das Allzumenschliche zu erkennen und am Ende zu seufzen, er habe versagt. (71cp)

 

2.11. Maigret verteidigt sich (Georges Simenon, F 1964, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Jemand musste Jules M. verleumdet haben. Genauer gesagt ist die Frage, wer hinter der jungen und attraktiven Nicole Prieur steckt, die Maigret in einer Falschaussage bezichtigt, sie verführt, betrunken gemacht und dann in einem Hotelzimmer entkleidet zu haben. Eine Behauptung, die aus ein paar Stückchen Wahrheit ein Lügenhaus baut. Empörend schräg zur Person steht der dem Kommissar in den Mund geschobene Satz “Die Polizei, das bin ich!” Kurz zuvor, zu Beginn des Romans hatte Maigret mit seinem Freund, dem Arzt Pardon, der in der Reihe immer wichtiger wird, über die Frage des begründungslosen, also reinen Bösen gesprochen. Und die andere Frage, ob wirklich jeder und jedem, wenn die Motivlage hinreicht, ein Mord zugetraut werden kann. In diesem Fall ist es ein Zufall der Kontiguität, der alles ins Laufen gebracht hat. Maigret ermittelt gegen den einstigen, nun im Rollstuhl sitzenden Juwelendieb Palmari (der dann im nächsten Roman wieder auftaucht, ihn allerdings nicht überlebt) - was ein Zahnarzt, der gegenüber wohnt, fälschlich auf sich bezieht. Er hat um ein paar Ecken die Verleumdung ins Rollen gebracht. Um ein paar Ecken kehrt sie nun als sein Verhängnis zu ihm zurück. Maigret stößt dabei auf die Etoile-Bande junger Menschen, zu der Nicole Prieur auch gehört. Er stößt auf einen Club besserer, aber nicht lupenreiner Kreise. Und zuletzt stößt er auf vergrabene Leichen und auf eine Motivkette (bis hin zum Trauma infolge des Kriegs), die das Böse im bösen Menschen nicht rechtfertigen kann, aber erklärt. (73cp)

 

1.11. Die Höhle (Roman Nemec, Tschechien 2022)

taz-dvdesk (63cp)

 

 

OKTOBER

31.10. Collateral (Michael Mann, USA 2004)

Existenzphilosophisch geschulter Auftragsmörder mit Jazz-Affinität sucht und findet Mitfahrgelegenheit. Erst knallt eine Leiche aufs Taxidach, da ist der Romanzen-Faden zum Die-Hard-Zwischenfinale bereits geknüpft. Zwischendurch und überhaupt ist dieses Drehbuch kammerspielhaft, ist das immer auch ein Auto-Interior-Film (nicht so weit von Cronenbergs DeLillo-gestützter Limousinenvariante Cosmopolis), nur eben auch in der Sprawl-Stadt L.A. Auf die Mann, von der scharfen Milchigkeit der digitalen Nacht ohne Ende bezaubert, am liebsten von oben blickt, gleich eine virtuose Zeit-Musik-Schnitt-Etüde am Anfang. Von oben, das heißt einerseits distanziert gottgleich, also Quasi-Identifikation mit Tom Cruise, der sein blutiges Handwerk sub specie aeternitatis ethisch sterilisiert hat; und andererseits die Lust am Abstrakten von Hell/Dunkel, Finsternis/Licht - als riesiges Urban-Ornament immer zugleich in Geraden, die kreuzen und queren, geordnet und in willkürliche Muster zersplittert. Weil das Buch zu viel will, hin und wieder bis zur Lächerlichkeit neunmalklug ist, eine Romanze, ein Buddy Movie, eine Des- und Reillusionierungsgeschichte, ein fincherkühler Killerfilm und via Michael Mann auch noch Digitalbildvideokunst sein will, ist Collateral zuletzt etwas weniger als die Summe seiner Teile. Was bleibt: Tom Cruise, tot in der U-Bahn. Und ein Nachleuchten auf der Netzhaut, das auch. (74cp)

 

28.10. Nationalmuseum Warschau (Besuch am 25.10.)

Stanislaw II. August, Wahlkönig Polens, Aufklärer, gebildeter Mann, Fan des Barock, holte eine ganze Reihe (nicht nur) italienischer Künstler an seinen Hof, der bedeutendste von ihnen wohl Bernardo Bellotto, der in Dresden kein Auskommen mehr fand, nach Sankt Petersburg wollte, auf dem Wag dahin in Warschau am Königshof landete, dort blieb und auch starb. Seine Stadtveduten waren ein wichtiges Vorbild beim Wiederaufbau der Altstadt, die heute das touristische Zentrum der Stadt ist. Im Nationalmuseum also: Bellotto. Und viele Künstler zweiten Ranges, darunter viele Polen, die, weil es bis 1844 keine Akademie im Land gab, in Paris und anderswo lernten; an vielen Wänden hängen nun Bilder, die für das wenig fachmännische Auge eher Ausdruck von Zeitstilen als für sich speziell interessant sind. 

Außergewöhnlich jedoch, und keinesfalls nur, weil sie eine der sehr wenigen Malerinnen ist: Anna Bilinska (1854-1893), die an der Académie Julian in Paris studiert hat, dort lebte, Erfolge feierte, bevor sie kurz vor ihrem Tod nach Warschau zurückgekehrt ist. Sie war bekannt für ihre Porträts, eindrucksvoll ist auch ein Bild, es zeigt den Berliner Boulevard Unter den Linden, aus einem oberen Stockwerk, viel weißes Pastell, ins Nebelgraue gefluchtet, die obere Hälfte ganz in grauen Himmel gehüllt. Auf ihrem Selbstporträt mit Palette (1887) blickt eine Mittdreißigern sich, mir, der Betrachterin direkt ins Gesicht, der Blick in den Hintergrund ist durch ein flächiges, aber nicht strukturloses, sondern vertikale Falten werfendes braunes Tuch verdeckt, das nicht sehr stark mit dem Schwarz des Kleides (es ist von einem Malerkittel weit entfernt, gerüschtes Geschleife über der Brust), stärkert mit dem Inkarnat kontrastiert, dafür fast als mise-en-abyme in der durch einen Gürtel gehaltenen schmutzigweißen Malerschürze wieder auftaucht, die zum floral geschmückten unteren Rand hin sich in etwas stärkere Falten als der Hintergrund legt und nach oben hin, oben Schmickwiederholung, einen recht wilden Wellenkelch aufwirft. Die rechte Hand, ein ganzes Bündel Pinsel darin, liegt auf der Schürze über dem Kleid über dem rechten Bein, es scheint über das linke geschlagen. Die rechte Hand liegt zwischen Kleid und Schürze verborgen. Auf dem Stuhl, dessen gebogenen Rücken man sieht, sitzt Bilinska etwas nach vorne gebeugt, niemandem zugeneigt, aber ausdrücklich nicht kernengerade. Nicht die Palette - sie ist nur rechts, sich kontrastarm im Dunkel verlierend, zu ahnen - sondern die Hand und das Bündel der Pinsel stehen im Zentrum, und natürlich der Blick. Er geht auf keine Leinwand, sondern ist fixierender und im Fixieren selbstbehauptender Blick. Die sich porträtierende Porträtierte ist nicht im Malen begriffen, nicht festgehalten in einem Augenblick, sondern Allegorie der weiblichen Malerin. Auf den ersten Blick scheint die die Nähe zur Küche zu assoziieren, auf den zweiten scheint es um das Gegenteil zu gehen: eine Aneignung des aus der Küche stammenden Untensils für die eigene Sphäre der Kunst. Es spielt kein Lächeln um Bilinskas Lippen, auch streng blickt sie nicht. Neutral, selbstbewusst, nicht gebeugt, sondern sich beugend, nicht geneigt, sondern sich neigend.

In einem Seitenraum, aus dem Repräsentativen ein wenig ins Abseits gedrängt: Witold Wojtkewicz, dem Expressionismus zugerechnet, noch keine dreißig bei seinem Tod, um seine Herzkrankheit immer wissend. In Landwirtschaft: Pflügen weht ein Sturm von rechts, wirft lange Zungen aus Weiß, Grünes ist wiesig im Vordergrund, und im Mittelpunkt wird gepflügt. Ein allzu hageres weißes Pferd, ein Klappergaul wie ein Spielzeug aus Holz, zieht nach links, wie dem Sturm gehorchend, aber doch auch eigendynamisch. Der Bauher hinter dem Pflug hinter dem Pferd ist kein Bauer, sondern ein Harlekin, weiß geplundertes Clownskostüm, rote Krause am am Hals, weißes Gesicht im Profil mit clonwroter Nase, während nach hinten hin, quer zur Richtung des Sturms, ein wirklicherer Bauer hinter einem wirklicheren Pferd in ein Ganzwoandershin pflügt. In Entführung der Königstochter: Wieder ein Pferd, das aber satt ist und rund, als Farbfleckenteppich gescheckt in unnatürlicher Weise, nicht dynamisch getrieben, sondern wie festgehalten im Sprung, eine Flucht in ein Hier und Jetzt, das sein Pathos nicht aus dem Drama, sondern der Ewigkeit dieses Moments zieht. Auf dem Pferd die Königstochter, sie gleicht den Mädchen aus dem Kinderzyklus des Malers, sie blickt dem Jungen mit dem zu großen und fast babyhaft kahlen Kopf und mit dem zu nackten und zu dürren Bein, das man sieht, ins Gesicht. Drei Körper, Pferd, Mädchen, Junge, einerseits aneinander eher gedrängt als geschmiegt, sein rechter Arm verliert sich im ungefähren quellenden Rot ihres Kleides, andererseits als Arrangement fast abstrakt, ein Übergang der Farben und Formen, der an den Grenzen der Körper nicht haltmachen muss. Hinter ihnen, die Arme um eine Leere geschlossen, ein rotbraunes, für immer innehaltendes Drängen, ein festgefrorenes Ihnen-Nach, die Königin oder der König vielleicht, braun jedenfalls, an dem etwas Beige-Gelbes flattert oder doch eher hängt. Und kleiner, von einem fast idyllischen kleinen angeschnittenen Bauernhaus her, alles andere als einem Königspalast, ein Mann an Krücken, das linke Bein in einem Bewegungsmoment in der Luft. Das alles in einer Landschaft, die eine Natur aus grünen, braunen, ocker Farbflächen ist, im Vordergrund aber eine Wiese mit Blumen mit weißen Blüten und roten, die nicht dem Boden entwachsen, sondern Blumentöpfen, die das gehegte Wilde der Flucht noch zusätzlich domestizieren. Ein Kinderspiel von einiger Unheimlichkeit, Bilder einer Natur, die von naiver Künstlichkeit ist, mit Menschen darin wie aus Fieberfantasien von Kindern entsprungen.

Und dann, um eine Ecke, ohne Ankündigung, hochformatig, das Werk eines weiteren jung verstorbenen Künstlers: Die Auferstehung des Lazaraus von Carel Fabritius (1622-1654), der bei der Explosion des Pulvermagazins in Delft umkam, auch der Großteil seines Werks wurde dabei zerstört. Sein berühmtestes Bild ist, nicht erst seit Donna Tartts ihn im Titel führenden Roman, Der Goldfink, hier jedoch, in leider recht schlechtem Zustand, der Firnis in tausend Teile gesprungen, größer, das Motiv aus dem Neuen Testament. Ziemlich weit unten in ziemlich caravaggiesker Beleuchtung, die aus dem Gesamtdunkel hervorsticht, Lazarus mit weißem Tuch um den Kopf, in seinem Grab, schon wieder lebend, aber noch nicht ganz bei Sinnen. Jede Menge Menschen darum herum, alle in eher edlen Kleidern (aus Fabritius’ Zeit), links sitzt eine Frau mit rötlicher Wolke als Hut, die Hände ringend oder gefaltet, einer reckt den Arm wie zum Gruß, das ganze Ensemble nicht statisch, sondern ein Gewoge, als ginge eine leichte Druckwelle vom Grab und Lazarus aus. Aufrecht stehend, die nackten Füße auf Höhe des von ihm weblickenden Lazarus-Kopfes, steht Jesus, in schlichtem Rock mit Überwurf, nach unten blickend, den rechten Arm erhoben, den linken im Rock versteckt. Nicht ganz Pantokrator, triumphierend schon gar nicht, einer, der ein Wunder gewirkt hat, als wäre es das Natürlichste von der Welt.

 

27.10. Maigret lässt sich Zeit (Georges Simenon, F 1965, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Direkter Anschluss an den Vorgäner, zu Ende erzählt wird in diesem Sommer, zwei Jahre vor Maigrets Pensionierung, die Geschichte des Juwelendiebs Palmari, dem Maigret seit zwanzig Jahren schon auf der Spur ist. Inzwischen sitzt Palmari fest, durch einen Schuss an den Rollstuhl gefesselt, verlässt die Wohnung im Haus in der Rue des Acacias nicht mehr. Und dann ist er tot, erschossen. Maigret inspiziert das Haus und kehrt wieder. Und wieder. Da ist Aline, die viel jüngere Partnerin Palmaris, vormals Prostituierte, nun Eigentümerin dieses Hauses und auch der Nachtbar Clou Doré. Eine Vorgeschichte, zu der sich zuletzt ein Kreis schließt, führt in den Zweiten Weltkrieg zurück, zu einem Massaker auf dem belgischen Bahnhof Douai, bei dem ein Mann sein Gesicht verlor und eine Tochter gewann. Von der Mansarde, in der dieser taubstumme Mann lebt, führt dieser Roman, der sich auf ein einziges Haus konzentriert, in den Keller, wo bald einer am Strick baumelt, der sich keineswegs selbst umgebracht hat. Maigret lässt sich Zeit, ja, er hat auf Zeit gespielt, in der Hoffnung, dass sich die wahren Verhältnisse (eine heimliche Liebesgeschichte) nach und nach offenbaren. Das werden sie am Ende getan haben, aber zu einem sehr hohen Preis: Einer, dem das Leben vor allem Unglück bescherte, noch als Zuarbeiter von Gangstern in der Mansarde, lebt nun nicht mehr. (70cp)

 

21.10. Les bonnes femmes (Claude Chabrol, F 1960)

Von den Männern spricht der Titel nicht: nicht von Marcel und Albert, den drittklassigen Stalkern, die sich auf der Straße, im Striptease-Lokal und im Schwimmbad zu Übergriffen ermutigen lassen; nicht vom Teddybär-Mann, der im Weiße-Ware-Plattenspieler-etc.-Laden erscheint; nicht vom Chef, der genüsslich ausgespielten Karikatur eines salbungsvoll seine Macht genießenden Lüstlings; und schon gar nicht von Ernest, Mann mit Schnauzer auf dem Motorrad, der die schüchternste der vier guten Frauen mit mehr als sinistrer Absicht verfolgt. Tags tut sich im Laden meist nichts. Jane (Bernadette Lafont), die die Nächte genießt, die, als wäre diese ein Laufsteg alleine für sie, die Straße bei rollendem Verkehr überquert, schläft gelegentlich ein, den Kopf auf der Theke. Eine andere trifft mit ihrem Verlobten die Eltern, der Verlobte gibt letzte Bildungslektionen. Kein Ausweg, aber etwas wie eine andere Welt: der Gesangsauftritt, bei dem eine der Frauen eine andere wird, im Varieté. Zwischendurch ein Ausflug in den Zoo, Henri Decaes Kamera blickt dem Tiger ins Auge, macht sich aber mit nichts und niemandem wirklich gemein, mustert die Lokal-, Schwimmbad-, Zoo-, Straßen-Szenen mit eiskaltem Blick, nicht einmal das lichterglitzernde Nacht-Paris hat hier Glam oder Wärme. Es ist eine verzweifelte Welt, die jeden Wunsch der Frauen frustriert: Der Job mehr als öde, der Chef unerträglich, die Männer allesamt: toxisch, töricht und tödlich. Der Film ist niemandes Ally, der Frauen nicht, der Stadt nicht. Am Ende: Das Gesicht einer Frau, die sich etwas verspricht, das niemals eingelöst werden wird. Eine Discokugel und ihr Blinken, ein Hohn. (70cp)

 

20.10. Maigret und das Gespenst (Georges Simenon, F 1963, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Auf Inspektor Lognon, auch als «Inspektor Griesgram» bekannt, wurde geschossen, sein letztes Wort war «Gespenst», er ringt mit dem Tod. Es sind seltsame Türen, die sich nun öffnen, irritierende Blicke durch Fenster auf Szenen, die sich nach und nach erst erschließen. Da ist: die junge Frau, bei der Lognon ein und aus ging, das ungeklärte Verhältnis, in dem er zu ihr stand; sexuell war es nicht. Da ist: der holländische Kunstsammler Norris Jonker mit seiner dreißig Jahre jüngeren, schönen, in Bademantel und Handtuch-Turban Abstraktes klecksenden Frau namens Mirella. Ein Raum neben dem Atelier mit obszönen Krakeleien, und einem sehr expliziten Mirella-Porträt. Jonker sagt: Sie wissen nicht, wie ein Kunstsammler denkt und empfindet. Maigret: Ich sammle Menschen. Und der Mensch namens Jonker ist ihm am Ende gar nicht so fremd. Zwischendurch sitzt Maigret in der Kneipe, meditiert über den rasanten Wandel der Zeit und dass aber doch die Aperitif-Marken dieselben geblieben sind all die Jahre. Maigrets Frau kümmert sich um die hypochondrische Gattin Lognons und der Erzähler weiß: Sie sagt nicht «Liebster», sie sagt nicht «Liebste», denn sie sind eine Person. Der Blick auf den Blick, der zum Attentat führte, führt zu einem Kunstfälscher-Ring. Mit einem van Gogh, der keiner war, fing alles an. Am Ende ist ein Mann tot, Lognon immerhin lebt. (71cp)

 

19.10. Maigret gerät in Wut (Georges Simenon, F 1962, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Ein paar Dinge stehen für Maigret auf dieser Welt fest: Im Gangstermilieu werden die Leute, die man loswerden will, nicht erwürgt, sondern erschossen, vielleicht auch erstochen. Und ein Mandant mag seinen Anwalt umbringen, den umgekehrten Fall gibt es nicht. Und nun liegt da ein Mann tot, nämlich erwürgt, vor Père Lachaise, ausgerechnet. Nicht dort ermordet, sondern nach zwei Tagen erst hierhin verbracht. Es ist ein Besitzer mehrerer Nachtclubs namens Boulay, den alle, die man fragt, als nicht zu intelligente Krämerseele beschreiben. Familienvater, korrekt bis ins Mark, Inspektor Lucas konnte an seine Schuld schon nicht glauben, als er ihn nach einem Mord (an einem Schutzgelderpresser - erschossen!) im Milieu mehrfach verhörte. Und nun ist er also seinerseits tot. Ins Spiel kommt ein Monsieur Raison, unangenehme Figur, die die Buchhaltung macht und sich vermutlich an den Tänzerinnen der Läden vergreift. Und dann gerät, im Widerstand gegen eine der großen Gewissheiten Maigrets, doch der Anwalt Boulays unter Verdacht. Hinter der Tür hat er eine einst geliebte, nun schwer kranke Frau. Der Wagen war in der Werkstatt, das ist ein Indiz. In Wut gerät Maigret, als er erfährt, dass ihn der Verdächtige vor seinen Klienten, um ihr Geld zu kassieren, gar der Bestechlichkeit zieh. Am Ende ist klar: Auch der verdächtige Anwalt ist ein Mensch, auch er hat Motive und hat sich rettungslos, und ohne Frage auch schuldig, in eine Lage gebracht, aus der es keinen Ausweg mehr gibt. (65cp)

 

18.10. Die Geschichte vom Holzfäller (Mikko Myllylahti, Finnland 2022)

taz-dvdesk (63cp)

 

17.10. La femme publique (Andrzej Żuławski, F 1984)

Am Schluss zügiger Schritt, wie so vieles von der Seite, recht knapp nur über dem Boden gefilmt, zustrebend auf etwas, das es im Kino selbst bei Sacha Guitry, so weit ich weiß, nie gab: Verbeugung des Ensembles, in der Stadt, die zur Bühne wird, auf dem Platz, auf dem, wie zuvor immer wieder auch im Inneren, der Nebel aufsteigt. Die Toten sind wieder lebendig, sogar Kelsing, eben noch hing er am Strick, der Nosferatu-hafte, blonde Regisseur als Alter Ego von Andrzej Żuławski, der Dostojewskis Dämonen (Les Possédés auf Französisch) verfilmt und seine Hauptdarstellerin dabei terrorisiert. Das ist nicht Isabelle Adjani, sondern Valerie Kaprisky, der die Kamera auf den (öfter als nicht nackten) Leib rückt, von unten heran, an der Seite vorbei, schleichend und dann wieder flitzend, mal als mitgefilmte distanzierende Objektivierung durch einen Aktfotografen, mal mehr eruptiv als fluide, mal mehr fluide als direktiv, mehr als einmal direkt ins Gesicht, so groß und so nah, dass man die schwarzen Pünktchen in der Iris Kapriskys erkennt. Neben dem Film-im-Film-Plot spielt ein Mord-am-Bischof-Plot eine Rolle, verbunden ist das über einen tschechischen Exilanten, den Lambert Wilson spielt, hart am Rande des Wahnsinns und bald hinab und hinaus über den Rand, wohin ihm Ethel nur zu gern, scheint es, folgt. Zwischen den  wahnsinnigen Männern kommt eine andere Frau, auch Exilantin, eher nebenbei unter die Räder, im Teil des Films, der nicht Film-im-Film ist, wobei die Unterscheidung kaum orthodox handhabbar ist, schon weil der Film-im-Film und der Nicht-Film-im-Film einander ständig mit den vitalistischen Energien aufladen, die zu einem Film von Andrzej Żuławski nun einmal gehören. Leben und Tod stehen quer zur Realität/Fiktion-Differenz, der Vitalismus holt sich seine Kraft, wo er sie bekommt: von den Toten, von den Wahnsinnigen, aus der Wirklichkeit und aus ihrer Überdrehung, am Set und am Set-im-Set. Der Vorteil der Unordnung, die Żuławski dabei anrichtet: Auch die Frau, so sexualisiert sie ist, lässt sich nicht in die Objekt-Position bannen, sie ergreift Initiativen, sie beißt zurück, wo einer sie im Fahrstuhl betatscht, sie nimmt sich die Männer, die sie sich nehmen, zügigen Schritts auf dem Weg in die Mitte, im Nebel, auf dem Platz, vor dem Ensemble. Dass Kaprisky nicht zu dem großen Star wurde, den sich der Film auf seinen Titelblättern erträumt, spricht eher gegen das französische Kino als gegen den Traum. (73cp)

 

15.10. Le bateau sur l'herbe (Gérard Brach, F 1971)

Zweiter (und letzter) Film, bei dem Gérard Brach Regie geführt hat, er war kein Erfolg, obwohl er in Cannes im Wettbewerb lief. Brach, der vor allem als Drehbuchautor von Polanski bekannt ist, hat das Drehbuch hier zusammen mit Polanski und Suzanne Schiffman geschrieben. Eine Dreiecksgeschichte, in deren Zentrum als absurdes Dingsymbol ein Boot steht. Das Dreieck: Oliver (John McEnery), Sohn einer so reichen wie exzentrischen Mutter, das Anwesen, auf dem der Film die meiste Zeit spielt, ist enorm. David (Jean-Pierre Cassel), der beste Freund Olivers, kein Vermögen im Hintergrund. Und Eleonore (Claude Jade), die Freundin von David, die zum Zerwürfnis führt. Oliver ist ein seltsamer Hamlet (mit To-Be-or-not-to-Be-Monolog und Liebe zur Mutter), der die französische Sprache weniger beherrscht als ständig mit Mühe erobert. Einer, der nicht Eleonore begehrt, aber die Beziehung des Freundes aus Eifersucht hintertreibt, bis zum tragischen Ende; der Klassenunterschied spielt hinein, aber stark konturiert wird das nicht. Der Ton ist durchweg nah am Absurden, wozu das Boot, das im Titel steht, und im Garten des Anwesens auch, einiges beiträgt: Dingsymbol auf der Wiese, das die Freunde zu den Osterinseln davontragen soll. In seinem Innern sind sie geborgen, bis die trennende Dritte erscheint. Dass es auf deren Namen Eleonore getauft wird, ist dann der Sprengkraft zu viel. Ein Film wie sein Boot: auf eher angestrengte Weise uneindeutig und überdeterminiert. Die Darsteller*innen dabei bis zuletzt wie auf der Suche nach den Figuren, die sie darstellen sollen. Sie werden nicht wirklich fündig, aber man sieht interessiert dabei zu. (63cp)

 

Put your heart under your feet ... and walk! (Steven Cohen, Haus der Berliner Festspiele)

Auf der großen Leinwand ein Film, man sieht die Tätowierung des titelgebenden Schriftzugs auf den Innenrist eines Fußes: Put your heart under your feet … and walk! Er zeigt einen Mann in einem Garten: Tutu am Körper, auf dem weiß geschminkten kahlen Kopf eine Art sprießendes Bäumchen, endlose künstliche Wimpern, die Wangen mit riesigen Schmetterlingsflügeln geschmückt. Auf der Bühne (der Hinterbühne im Haus der Berliner Festspiele) eine Installation, erst noch dunkel, während der Film läuft, dann stakst der Mann aus dem Film auf Krücken heran, zwei weiße Kindersärge als Kothurn, außerdem Schuhe, oder Hufe, hochhackig, ohne Plateau. Auf dem Boden liegen, in Reih und Glied, Ballettschuhe, an die metallene Kreuze, Waffen, Dinge montiert sind. An einem Gestänge hängen vier mechanische Plattenspieler, die Steven Cohen später ankurbeln und als schweres Kleid aus ineinander laufender Musik tragen wird. Er spricht lange, er spricht die meiste Zeit nicht, es läuft aber Musik, Marianne Faithful singt von Gigolo und Gigolette auf dem Boulevard of Broken Dreams, am Ende dann ein ganz später Song von Leonard Cohen, mit einem Bein schon im Grab, dazu das Gesicht von Steven Cohen, das sich aus der Erde befreit. Als center piece jedoch, als Zumutung, die nicht wenige Zuschauer*innen zum Ausgang treibt, Cohen in einem Schlachthof, erst hängen tote Rinder mit abgezogener Haut an Haken, er hängt sich dazwischen, eine Art Plastinat unter Plastinaten (nicht verkehrt, an den Matthew Barney der Cremaster-Ära zu denken), kein Blut zu sehen zunächst, dann aber tropft es und glibbert und fließt und schwappt, in einer Wanne, in der er, sich im frischen Blut waschend oder gar salbend, selbst badet. Im letzten Teil der Performance, nun vorne an einem Tisch mit einigen Leuchtern, deren Kerzen Cohen nun bedachtsam entzündet, erschließt sich das bis hierhin sehr rätselhafte Geschehen als, tja, als was: ein Trauerritual, ein Gottesdienst, eine Totenbeschwörung. Mit einer winzigen Kamera filmt Cohen die Schrift auf einer kleinen Holztruhe, der Name Elu Johann Kieser, 2016 gestorben, sein Lebens- und Kunstgefährte, Tänzer, Cohen führt die Kamera ins Körperinnere ein, er spricht eine jüdische Gebetsformel und er sagt: Eure Tabus sind nicht meine Tabus. Er sagt: Was ich hier tue, ist nicht Theater, sondern real. Aber natürlich bleibt es im Theater gesprochen. Er nimmt dann den Löffel und verspeist die (nicht reale) Asche des Toten, nimmt, wie er selbst sagt, und zwar mit sehr sanfter, elektronisch verstärkter Stimme, den Tod des anderen in sich als Lebenden auf. Auf diese Introjektion ein letzter staksender Tanz, Versinken im Bühnennebel, der reichlich heranrauscht, der Performer, der dieses Ritual, diesen Gottesdienst, diese Totenbeschwörung seit 2017 immer wieder aufführt, kehrt nicht wieder, das Dämmerlicht geht nicht aus. Man will gar nicht klatschen, man tut es dann doch (75cp)

 

13.10. High (She She Pop, Hau 2 Berlin)

Am Eingang Performer*innen mit Keksen: Finger- oder Nasenabdruck bitte, später erst erfährt man, dass man einander per mikrowellenausgebackenem Keks ein bisschen verspeist. So wenig wie die Kekse Haschkekse sind, ist in dem Abend, anders als der Titel High es verheißt, das Thema Drogen zentral. Eher geht es um Keks-Kommunioin, um das Vergemeinschaften, das Immer-schon-in-Gemeinschaft-Sein, das Leben miteinander bedeutet. Das wird durchgespielt, knapp über Achtsamkeits-Seminare-Niveau, gemeinsames Instrumentieren, Ein-Aus-Atmen, Schreien und Tanzen. Austesten darf man dabei, ob Ironie und Selbstironie - von diesen Zutaten sind She-She-Pop-Veranstaltungen niemals frei - der Gemeinsamkeit zuträglich sind, oder ob die Unterminierung der naiven Emphase das Kommunale doch eher stört. Wir sind, eh klar, unter uns, wir nehmen das Instrument, wir schließen die Augen und lassen es bimmeln, wenn ein Gedanke vorbeizieht, wir backen, dazu aufgefordert, in der Mikrowelle die Kekse, wir essen sie und wir tanzen, und auch das Nicht-Mittun wird selbstredend akzeptiert. Einmal wird auch die Finsternis der Gegenwart in einem Monolog thematisiert, Umwelt und Kriege, das wird mit Schreien der Verzweiflung in ein hilfloses Tun überführt. Und noch dieser Schrei weiß um die Begrenztheit, deren Ausdruck er ist, einer Begrenztheit der Möglichkeiten eines Handelns in einer Gemeinschaft, die nicht über den privaten Umkreis hinausreicht. Bei früheren She-She-Pop-Abenden tauchte der Gedanke wenigstens auf, dass dieses Private so oder so in die Gesellschaft und also ins Politische reicht. Dieser Gedanke wird hier zerfällt: in die Rede von Minipartikeln, die uns miteinander verbinden, vom Überwinden der Scham, die uns trennt; und in ein gemeinsames Spielen, Singen, Tanzen und Tun, das keine politische Gemeinsamkeit kennt. (50cp)

 

12.10. Fantômas (René Pollesch, Volksbühne Berlin, Premiere)

Fast drei Stunden, keine Pause, mein Gott, Herr Pollesch!, oder sollte das ein Druckfehler sein? Nein, es ist Pollesch, und auch wieder nicht. Vor der Bühne der Vorhang, der Hochhäuser zeigt, ein paar mal knallt es, der Vorhang, die Häuser gehen teils zu Boden, teils nach oben, dann sind sie weg. Auf der Bühne: ein nicht mal halb fertiges Haus, Gestänge und Fenster, eine geschlossene Seite, sie wird später zur Leinwand, auf der in sehr vertrauter Manier die Videos als Live-Übertragungen aus dem Inneren laufen. Neben dem Haus eine Jurte, ein Rohr als Kamin, es steigt Rauch auf, Einblicke ins Innere gibt es anfangs nicht, und auch in der Mitte nicht und am Ende noch immer nicht. Treppen, ein kleiner Seitenverhau, der später als Tonstudio in Nashville figuriert, der Eindruck, den das insgesamt macht: Hätte auch Bert Neumann, wenn nicht Aleksandar Denić, so gebaut haben können (gebaut hat: Bert Neumanns Sohn Leonard), starker Eindruck von früher, von Volksbühne, mit einem Wort: Castorf. Und Tatsache, der in die Breite gegangene Pollesch ist dem Vor-vor-vorgänger näher als der druckvollen Diskurs-Text-Produktion, die sich mit seinem Namen verbindet. Es gibt sie noch, die Polleschiana, eine Komik des Zusammenpralls von Körpernähe und abstraktem Begfiff, als, hier wiederkehrend, «Begegnung mit einem fremden Milieu». Es ist auch weiter so, dass die Figuren nicht Individuen sind, sondern etwas wie Abspielstationen wie hereinzitierte Kunst und Motive, diesmal als ausgewiesene Vorlage die Serie The Americans, sowjetische Spione, die in den USA leben, sich mit dem Nachbarn befreunden, der zufällig FBI-Agent ist; Kati Angerer, Benny Claessens und Martin Wuttke «sind» immer mal auch diese Figuren, auf die Bühne gestellt, aus dem Kontext gerissen, Reagan erzählt im Fernseher im Hintergrund was, dagegen aber andere Kontexte, Wuttke fuchtelt immerzu mit der Browning herum, es werden Brownies serviert, und vor allem geistert eine Fantômas-Figur im schwarzen Cape auf der Bühne herum. Vielmehr geistert sie nicht, sondern hampelt, ist sehr präsent, wenn auch immerzu bestellt und nie abgeholt, sie hält, im Figur und als Titel, den Abend zusammen, und zwar so, dass der ständig zerfällt. Es spielen, das dann vor allem drinnen, Motive aus Andrei Belys Roman Petersburg, ein rotes Kostüm, eine Bombe, die tickt, ein Anschlag, der bevorsteht, Martin Wuttke meistens im Bett, russische Namen werden durch die Gegend geworfen, wie bei Castorf selig, wie das eben alles, mit langen, arienhaft-komischen Solo-Passagen von Angerer und Wuttke (cool und flink mit von der Partie, keineswegs NPC: die Text-Helferin), alles fast wie anno dunnemals ist. Eine Castorf-Anschmiegung, bei der, wie beim Vorbild, das Timing nicht stimmt, alles immer wieder arg durchhängt, dann zwischendurch großartig ist, ohne dass sich die Texte, die aus diversen, nie mitgelieferten Kontexten kommen, doch schlüssig fügten. Auf dem Programmzettel ist auch Uwe Nettelbecks großes Fantômas-Buch erwähnt, seine auf dem Höhepunkt der RAF-Schleierfahndung entstandene Großmontage als «Sittengeschichte des Erkennungsdienstes», aber es ist nicht viel davon zu hören, wie überhaupt jeder Versuch der Mustererkennung bei einerseits Castorf landet, andererseits immer wieder nur zu gerne pausiert, wenn Angerer und Wuttke ihr Ding machen, ein Sprach-Körper-Ding, das man kennt, das aber erstaunlicherweise hier wieder oder immer noch funktioniert (sehr viel besser als bei Claessens, dessen Begrenztheit hier doch sehr deutlich wird), das funktioniert, so durchgesessen es ist, wie auch dieser Pollesch-Spätstil etwas Durchgesessenes hat, etwas aber doch auch angenehm Nicht-mehr-sehr-Ambitioniertes,. Bezüge zur gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit werden nicht einmal prätendiert, oder in der Motivwahl so untergründig gehalten, dass man sich alles und nichts denken kann - der die Erkennungsdienst-Frage wird so wenig in Richtung Überwachungskapitalismus gedacht wie die Fantômas-Frage in den Zusammenhang heutiger krimineller Strukturen gestellt. Der Theorie-Anteil am Boulevard ist heruntergedimmt, bei der Montage der Einflussgebiete springt mal ein Funke über, öfter noch eher nicht. Es ist gut auszuhalten, denn es ist eine Form («Volksbühne») mit Geschichte, die diese Geschichtlichkeit als wiedererkennbare Marke in sich aufhebt, und wirklich in sich aufheben kann. Was aber damit an Anarchismen und emanzipativen Hoffnungen mal verbunden war: Davon ist, die Zeiten sind wohl danach, kaum noch was übrig. (62cp)

 

11.10. Anatomie d'une chute (Justine Triet, F 2023)

Im Anfang ist Lärm: Musik von oben, Sandra Voyter, die renommierte Schriftstellerin (Spezialität: Autofiktion), hat ein Glas Wein in der Hand (am hellichten Tag), die Studentin, die aus Grenoble zum Interview kam, stellt ihre Fragen. Denen Voyter eher ausweicht, mit Gegenfragen, unklar, was da genau vorgeht, was die eine von der anderen will, unruhig die Kamera, die nicht nur hier etwas wie ein Eigenbeobachtungsleben entwickelt, ja, die von Anfang an eine nicht nur Klärungen herbeiführende Reflexionsinstanz ist. Die Studentin zeichnet das Gespräch, das im Musiklärm unterzugehen droht, auf dem Handy auf, dann bricht sie erst die Aufnahme an, dann endet auch das Gespräch. Diese Aufzeichnung wird zu evidence werden, nicht das einzige Tonzeugnis, das vor Gericht kommt, Entscheidendes reicht der Prozess, und reicht auch der Film nach, der diesen Prozess mit seinem eigenen narrativen Gang hinterfängt. Der ein Gerichtsfilm mit der Struktur eines Theaterfilms ist, der sich eher auf die Backstage als das Bühnengeschehen interessiert. Nicht so sehr für das Recht, seine Strukturen, seine Fragen, also auch nicht primär dafür, was nun wirklich geschah, sondern für das Wahrheitsgeschehen zwischen Mutter und Sohn. Der (fast) blinde Sohn, der kein Teiresias ist, aber in de Nähe des Mythos wird er durchaus gerückt: Als einer, der die Wahrheit spricht, die jedoch unter massivem Fiktionsverdacht steht (sehr buchstäbliche Metapher der Erinnerungsbilder: Triet - und ihr zum Glück putzmunterer Drehbuch- und Lebenspartner Arthur Harari - legen dem Vater die Worte des Sohns in den Mund; zu glauben ist hier nicht, was man sieht, überhaupt geht es nicht ums Glauben, ans Wort oder ans Bild, sondern ums Zeigen: der Rhetorik, des Worts, das im Zuhörer Bilder erzeugt, an die man dann glaubt, als wären sie wirklich gewesen). Hineingespielt, aber doch auch seltsam quer zu diesem Wahrheitsgeschehen, die Frage der Autofiktion. Als Frage einer Ökonomie des gemeinsamen Lebens: Energie, die geraubt und in Erfolg umgemünzt wird, wie das endet, mit Schlägen auf Körper, wird dann nicht ins Bild umgesetzt, und doch tendiert man wohl dazu, der Erklärung der Autorin (die die Überlebende ist) an dieser Stelle zu trauen. (Trauen und glauben: nicht ganz dasselbe.) Übertragung der Energie des Lebens in die Fiktion, die aber als Autofiktion dem Leben die Lebenskraft raubt. (Eine mögliche Lesart.) Eine Übertragung, die der Autorin (Partnerin, Mutter) gelingt, Buch für Buch, während der Mann impotent bleibt; ein Theoretiker (Lehrer), der als Praktiker scheitert, der sich die kreative Energie und dann auch noch den Plot von der Frau rauben lässt (die aus dieser Perspektive also zum Inkubus wird). Es ist aber so, dass Sandra Hüller ihre Figur von Anfang bis Ende ambivalent anlegt - gar nicht so weit von Cate Blanchetts Tár entfernt, wie das ohnehin ein Film ist, den neben Anatomie d’une chute zu stellen lohnt. Und damit das Feld des Urteilsgeschehens offenhält bis zur Entscheidung, die dann im Backstage getroffen wird. Der Dezisionismus als ethische Maxime wird als Glaubens- zur Überlebensfrage des Sohns. Er schafft die Fiktion, deren Schaffung uns als in der Bild-Ton-Montage erzeugte vorgeführt wird. Nicht die Geschichte einer Liebe, die blind ist, sondern eines Wollens, das sich selbst bewusst blendet, um sehen zu können (und zu machen), was es glauben will, wenn nicht muss, um weiterleben zu können. Eine Schließung, keine Öffnung, darum auch etwas anderes als die literarische Strategie der Autofiktion, die andere Bündnisse mit dem Wirklichen, seiner Verarbeitung und Rezeption und der Verbindung von Erlebtem und Erfundenem/Romanhaftem schließt. (78cp)

 

9.10. Conte d'automne (Eric Rohmer, F 1998)

Jung und mittelalt, kleine Stadt und ländlicher Raum, Bücher, Wein und zwei Versuche, eine Single-Frau mit einem Mann zu versehen. Eine junge Frau, die den Philo-Prof vom Liebhaber in einen Freund umerzieht (mühsame Sache, freundliches Entwinden); die ihren neuen, jungen Lover zugleich als Objekt des Übergangs sieht, während sie aber an seiner Mutter, die mit ihr mehr als mit dem Sohn anfangen kann, festhalten will. Sie der Einfachheit halber mit dem Ex-Lover-Philo-Prof zu verkuppeln, also den nunmehrigen Quasi-Vater mit der Übergangs-Schwiegermutter, das ist selbst für Rohmers Verhältnisse der Perversion ein wenig zu viel. Was nicht heißt, dass sich dem Triebschicksal nicht nachhelfen ließe. So schreitet Marie Rivière, die ihrerseits auf kein grünes Leuchten mehr wartet, zur Anzeigen-Tat. Checkt den Mann aus, der seine libidinöse Erstinvestition in die Falsche noch einmal umlenken muss und umlenken kann, schließlich sitzt er am Steuer des Autos, aus dem die Richtige noch einmal aussteigt. Rohmer ist der Komödiengott, fast à la Shakespeare, der die möglichen und wirklichen Abzweige des Gelingens der Liebe mit leichter Hand immer wieder markiert und sich aus dem Bild nehmender, sich in das Sprechen und Wollen der dramatis personae hinein senkender Erzähler deutlich macht, dass nicht das Schicksal über die Kontingenz triumphiert, sondern dass es die Kontingenz ist, die das Mögliche ins Realisierte und Nichtrealisierte sortiert. Wie von selbst ergibt sich so das Komödienende. Kein deus ex machina kommt aus dem Himmel herab, man kehrt einfach noch einmal an den Ort der noch nicht ganz gelungenen Schicksalsverknüpfung zurück und löst dort die Reste des Knotens. (79cp)

 

General Idea (Martin-Gropius-Bau Berlin)

Schwer zu sagen, bei den einzelnen Projekten, wo General Idea Pioniere waren, wo sie mit dem Strom des Mainstreams von Konzeptkunst, Früh-Postmoderne, Strategien des Detournement schwammen und wo sie in diesem Strom epigonal waren. Wobei in jedem Fall das Sekundäre dominiert: die Aneignung/Parodie/Subversion, das Queeren (and who knows what is what) von populären Formen: Schönheitswettbewerb, Verkaufsstand, Fernseh-Show, Werbeformate, die Zeitschrift FILE, voll mit Dingen, die das Zitierte/Parodierte/Angeeignete um kaum mehr als eine Idee (Pointe wäre oft schon zu viel gesagt) in die Abweichung überführen. Mail-Art ist drin, Konzeptuelles, dessen Witz sich schon lange vor der tatsächlichen Ausführung der Sache erschöpft hat, nun aber als Poster die Wand des General Idea Pavilion füllt. Zu sich kommen die Strategien, die sonst eher Strategien der Auszehrung als des Self-Empowerment scheinen, am ehesten in der Viralisierung der AIDS-Kommentare. Die Übernahme von Robert Indianas LOVE-Signet, das als AIDS-Logo seine eigene Viralität gewinnt und in den öffentlichen (Wahrnehmungs)Raum gehängt wird. Die Verpudelung kunsthistorischer Präzedenzen: schon mal ganz lustig, auf die Dauer ein erschöpfter running gag. Zuletzt nur noch sehr schwache Gesten: Die Introjektion von Grün in klassische Werke, den Rietveld-Stuhl, Mondrian. Dass das - in einem neutralen Sinn - alles sehr dated ist, versteht sich von selbst. Aber es belebt sich nicht bei der Begegnung. Es ist Kunst, die von der Zukunft überholt worden ist, und, in diesem historischen Moment jedenfalls, in ihrer eigenen Zeit steckenbleibt. (50cp)

 

6.10. Maigret und der Clochard (Georges Simenon, F 1962, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Der Pont de Marie und der Pont de Bercy an der Seine in Paris, es zieht Simenon zurück ans Wasser. Auch Maigret selbst erinnert sich an inzwischen recht weit zurückliegende Fälle, an Lastkähne und Treidelpfade. Was diese Erinnerung anstößt: ein Mann, der aus dem Wasser gefischt wird. Ein Lastkahn, der den Namen Schwarzer Schwan trägt, und dessen Eigner ein Flame ist, am Ende eine für den Kommissar nicht zu knackende Nuss, es ist seine Dummheit, die zum Schutzpanzer wird. Der aus dem Wasser gefischte Mann, liegt im Koma, ist aber nicht tot, erweist sich als faszinierende Figur, ein Clochard, der einmal Arzt war, nach Afrika ging, in der Hoffnung, ein zweiter Albert Schweitzer zu werden. Seine Frau, zuhause geblieben, erbt unterdessen unversehens viel Geld, weil beim gleichzeitigen Flugzeugabsturz das französische Recht davon ausgeht, dass die Frauen, und sei es um Momente, länger überleben als ihre Männer: das zähere Geschlecht. Zwischendurch Auftritt eines Freundespaars, zwei Männer, deren Hund stirbt, was, obwohl es mit der Sache fast nichts zu tun hat, ausführlich und rührend zur Darstellung kommt. Ansonsten: ein Frühlingsbuch, neue Esssitten bei den Maigrets, obwohl er dem Täter nicht beikommen kann, bleibt der Kommissar weitgehend heiter. (70cp)

 

4.10. Master Gardener (Paul Schrader, USA 2022)

taz-dvdesk (74cp)

 

The Wonderful Story of Henry Sugar (Wes Anderson, USA 2023)

Die Geschichte in der Geschichte in der Geschichte im Haus im Haus im Haus: vielfach verschachtelt das Ganze, Wände verschoben, Bücher gelesen, ein Erzähler, und noch einer, unstoppable aus dem Off. Da sitzt Roald Dahl himself und persönlich, von der Seite, von vorne, da ist der Mann, der mit geschlossenen und verbundenen Augen sieht und erkennt. Eingeschachtelte Rückblende, dann geht es nach vorne zurück, die Erzählung von Henry Sugar, der das Blindsehen lernt und das gewonnene Geld erst auf die Straße wirft, dann in gute Dinge zu investieren beginnt. Vertrautes Bild: Wes Anderson beim Puppenstubenbau, Aszendent pastell, die vierte Wand mit der Linken eingerissen, mit der Rechten wieder errichtet, eine rasende Schmunzelform, die, wie man sieht, auch in unter vierzig Minuten ziemlich hohl drehen kann. (58cp)

 

Maigret und der Samstagsklient (Georges Simenon, F 1962)

Erst ist der Mann mit der Hasenscharte aufdringlich da. Dann ist er auffällig weg. Aufdringlich unaufdringlich erst auf dem Revier am Quai des Orfèvres, wo er regelmäßig am Samstag auftaucht, sich aber, bevor er vorgelassen wird, wieder verdrückt. Dann taucht er gar in Maigrets Privatwohnung auf und gesteht seinen Plan: Er will seine Frau töten, die mit ihrem Liebhaber in der Wohnung lebt, die einst die des Ehepaars war. Und er will doch auch nicht, sieht nur keine andere Lösung, der Auszug und der mögliche Verlust der gemeinsamen Tochter wäre zu arg. Maigret bleibt nach dem Besuch ratlos zurück, der gerade angeschaffte Fernseher hat zwar für das Ende der wöchentlichen Kinobesuche mit Madame Maigret gesorgt, hilft jetzt aber nicht weiter. Wobei auch die vereinbarten täglichen Anrufe nicht die Lösung sein können. Dann jedoch ist Planchon weg, einfach verschwunden und Maigret macht sein Ding, das auch noch einmal explizit vorgestellt wird: die Besuche vor Ort, das Beobachten von und Sprechen mit Menschen, die zunächst immer das und dann erst Zeugen und Verdächtige sind. Hier nun: Madame Planchon und Roger Prou, ihr Geliebter, der erst Vorarbeiter in Planchons Malerfirma war, und nicht nur die Frau, sondern auch die Geschäfte an sich zu reißen versucht, während Planchon sich in die Trunksucht und damit ins Unglück reitet. Zum Schluss fühlt Maigret sich einfach nur schlecht: Er hat nicht verhindert, dass eine Lage, an der wenig zu retten war, tragisch endet. (67cp)

 

3.10. Conte d'été (Eric Rohmer, F 1996)

Pose, in die Gaspard noch beim Beach-Volleyball zurückfällt: unentschieden-nachdenkliche Haltung, Kinn an der Hand. Er kommt an, im Norden, in der Bretagne, spielt Gitarre, wartet auf Lena, die seine Freundin ist, oder auch nicht, kommt ins Gespräch mit Margot, die Ethnologin ist, sie besuchen einen alten Seemann, er singt ein Lied, das Gaspard, der es sonst mehr mit dem Blues hat, zu einem eigenen Song inspiriert. Den singt dann Solène, die dritte der Frauen, zwischen denen sich zu entscheiden Gaspard nicht gelingt, es geht hinaus auf ein schwankendes Boot, die Küste aber immer in Sicht. Rohmer macht aus dieser Geschichte eines Mannes zwischen drei Frauen, die Tage Ende Juli, Anfang August werden in weißen Tafeln mit meerblauen Wellenlinien heruntergezählt, eine Komödie der Indezision. Eine Fahrt im Auto, ein Spaziergang am Strand und an der Küste, die Wendung zur einen, eine Wendung zur andern, vor und zurück, ein Kuss hier auf die Lippen, eine Umarmung, ein Wort, das einen Tag später an Auszehrung leidet. Gaspard ist eine Figur der Passivität, ein Perceval-Update, nur kein roter Ritter, dafür drei Frauen, eine mehr intellektuell, eine in ihren Stimmungen schwankend, eine, die die Initiative ergreift, aber diese drei, die er alle verletzt, sind nicht eine, sondern gleich drei zuviel. Drei Frauen, die ihn nicht nicht begehren, alle wären womöglich ihn zu lieben bereit, wäre er nicht schwankend, ja das Schwanken selbst, zwischen Saint-Lunaire und Saint-Malo und Ouessant treibend getrieben, was in einer Serie von Anrufen kulminiert, die dazu führen, dass der junge Mann sich gegen die Entscheidung entscheidet, stattdessen das Musik-Gadget wählt, das ihn vom Druck des Entscheidens erlöst. (Im selben Jahr, 1996, dreht Hong Sang-Soo seinen ersten Film, auf den viele folgen, in denen allzu passive und liebesunfähige Männer um sich selbst kreisen und, oft am Strand, viel emotionalen Schaden anrichten.)

 

2.10. Sonne und Beton (David Wnendt, D 2023)

Als Archiv der Jugendsprache im Berliner Südosten hat der Film seine Verdienste; eher der Gegenwart übrigens als der historischen Tastenhandyzeit, in der er spielt. Interessant auch, was nicht hingehaut hat: einen Darsteller aufzutreiben, der wie der Sanchez im Buch nicht nur sein lateinamerikanisches loco ins Berliner Reden flicht, sondern auch das Ostige, das er aus Hellersdorf nach Gropiusstadt mitgebracht hat. Dennoch toll, wie eigentlich alle Darsteller, die sprechen, wie einem Jungmann in dieser Berlin-Banlieue der Schnabel zurechtgemacht wird (Frauen existieren in dieser Welt wirklich nur sehr am Rande, als Objekte in der Regel frustrierten Begehrens). Einerseits also, sprachlich, deutlicher als im Buch, das mit seiner Liebe zu diesem Reden aus der eigenen Sprachdistanz immer auch spielt: Beton-Realismus; unterstrichen von der Gewalt, die im Bild um einiges krasser daherkommt als im Buch. Konterkariert aber von allerlei Sperenzchen von Wnendt, die gelb-güldene Einfärbung, die von Anfang bis Ende womöglich Historienfilm signalisiert; immer wieder Blicke von oben, mehr Geste der Ornamentierung als der Distanz (und doch immer auch ein Abrücken vom Beton). Dazu das wiederkehrende Aufdrehen der Musik, die das Geschehen verlässlich ein gutes Stück zu weit in Richtung Genre und auch Genre-Glam rückt, wie sich das alles ohnehin in der Nähe zu den Gewalt- und Protz- und Frauen-Objektivierungs-Ambivalenzen des (Deutsch)Rap bewegt. Die Komik kommt angesichts der forcierteren (und im Schnitthagel gerne verdichteten) Brutalität in Story und Bild nicht nur gut schräg. Die Schlusspointe allerdings ist fieser, finsterer, besser, als sie im Buch war. (54cp)

 

1.10. V 13. Die Terroranschläge in Paris (Emmanuel Carrère, Ü: Claudia Hamm, F 2023)

Die Kolumnen, die Carrère während des Prozesses Woche für Woche für den Nouvel Obs schrieb, plus ein Drittel: Platz für nachträgliche Reflexion, für Umarbeitung von Prozessberichten in ein Buch, wie es nur Emmanuel Carrère schreiben kann. Ein Buch, das als haltbar gemachter Wochenjournalismus ein Mehr an Verantwortung trägt - für die Figuren, Opfer, Angehörige, Täter (es sind keine Frauen darunter), Anwälte und Anwältinnen der Verteidigung wie der Anklage. Das Schlussplädoyer der Anklage, das Carrère bewundert: ein Muster der «Erzählkunst», hier urteilt der Experte, der, der Prozesschronologie, grundsätzlich folgend, sein Handwerk beherrscht: knappe Skizzen der Auftretenden, etwas umfangreichere derjenigen, mit denen er näher bekannt wird, sich anfreundet, die engste der vertraut Werdenden ist Nadia Mondeguer, die ihre Tochter verlor, sie bekommt in der Danksagung eine Zeile für sich. Und, unter der Überschrift «Allahu akbar», das letzte kurze Erlösungskapitel: Sie ist in ihre Heimatstadt Kairo gereist und berichtet einem ihr fremden Polizisten die ganze Geschichte. Dieser hört zu und bezeichnet am Ende die Tochter und die anderen Opfer als die wahren Märtyrer: Es war, «als rückte die Welt wieder in ihre Fugen». So endet, im Buch, diese Geschichte, die vom Prozess berichtet und dem, was er aus der Wirklichkeit rekonstruiert, die all das durch Carrères (gelegentlich thematisierte) Wahrnehmung filtert; die sich vornimmt, nicht nur die letzte Seite des Buches, sondern, auf Tausenden Seiten Akten fundiert, das ganze Buch zu lesen: Wie wurden die Mörder zu Mördern, auf feinere oder gröbere Weise steht auch die nicht eben kleine Frage dahinter: Was ist der Mensch, wozu ist er fähig, und warum zitieren alle bei ihren Antwortversuchen immer Camus? Carrère ist um Verstehen bemüht, wägt und tariert, reflektiert auf das Tarieren der Waage, zu dem das Nebentarieren von Entschädigungsgeldfragen gehört (nur in Frankreich gibt es einen eigens für Terrorismusopfer eingerichteten Entschädigungsfonds) - und er kommt zum Urteil, dass der Prozess als Ganzer nicht nur ein existenziell ästhetisches Erlebnis für sich ist (nicht Carrères Worte, aber so beschreibt er, was er erlebt, bis zum letzten Abend, ein Schluss mit Champagner, ein Abend, den Beobachterinnen, Anwälte und sogar kaum schuldige Helfershelfer gemeinsam verbringen), sondern auch etwas wie Gerechtigkeit herstellt, soweit sie angesichts des Nie-Wieder-Gutzumachenden herstellbar ist, und das trotz einer Strafe, der Höchststrafe: lebenslänglich ohne Chance auf Entlassung, für den einzigen überlebenden Haupttäter, die dem Recht Unrecht tut, da dieser Täter nicht getötet hat und im Vergleich zu denen, die als Selbstmordattentäter gestorben sind, nur Mittäter war. Nicht zu erwähnen vergisst Carrère gleich zu Beginn, dass im selben Gebäude, kaum beachtet, ein allerletzter Berufungsprozess von Carlos, dem Schakal, stattfindet, der mit seiner Anwältin, die zugleich seine Lebensgefährtin ist, schäkert. Und dann sind da verrückte Details wie das von der Flucht des einen Täters und zweier von ihm mutmaßlich nur mit hineingezogener Männer, bei der sie nicht nur drei Polizeisperren unbehelligt passieren, sondern bei der dritten einer Radioreporterin noch ziemlich bekiffte O-Töne liefern. Auch das gehört dazu, es interessiert auch das Recht, aber das Interesse des Erzählers Emmanuel Carrère reicht über die Interessen des Rechts natürlich hinaus. (71cp)

 

 

SEPTEMBER

30.9. Les rendez-vous de Paris (Eric Rohmer, F 1995)

Mitten in der Stadt Pariser Bänkelgesang. Die Zwischentafeln purzelbunt oder schlicht mit Tinte auf Zettel. Drei Pariser Geschichten zwischen unwahrscheinlichem Zufall und erzählerischer Determination. Eine Dreifachverstrickung, bei der die eine Frau eine andere trifft, die mit ihr um denselben Mann konkurriert, ohne dass eine*r der drei davon etwas ahnt. Bis man einander begegnet, was dann die angesteuerte Romanze vereitelt, bei der ein des Diebstahls fälschlich verdächtiger Mann am selben Tisch im selben Café leer ausgehen wird. Ein Rundlauf des Verfehlens. Dann Bänkelgesang. Die zweite Geschichte bewegt sich touristisch durch nicht unbedingt zentrale Ecken von Paris, der Park von Belleville, der Parc de Villette (natürlich noch ohne Jean Nouvels Philharmonie), die Straßen und Bänke der Stadt, das Museums-Haus der Kubisten, ein Liebesspiel, bei dem nie ganz klar ist, was der Vorder-, was der Hintergrund ist: die Rendez-Vous oder Paris, Stadt oder Narration, es ist am Ende, wenn der Zufall in Montmartre sein Machtwort spricht, die Hommage an eine Liebesgeschichte, die vorüberging, so sehr wie eine Liebeserklärung ans Gehen und Vorübergehen und die Ecken und Straßen der Stadt. Dann Bänkelgesang. Ein Maler, der mit einem attraktiven weiblichen Gast aus Schweden nichts anfangen kann, dafür eine französische Fremde just ins Picasso-Museum verfolgt, in der er die andere unter einem Vorwand alleine zurückließ. Die Vorwände verschlingen sich vor Picassos Gemälde Mutter mit Kind 1907, dann Verlagerung von Bild und Dialog ins Atelier des Künstlers. Die gefundene Fremde zieht kusslos von dannen, der Maler geht leer aus im Leben, findet Trost für den Tag in der vorläufigen Vollendung des Werks. (80cp)

 

Echtzeitalter (Tonio Schachinger, Ö 2023)

Dolinar, der Lehrer als quasi-diktatorische Autoritätsfigur, ist Stifter-Fan. Nichts an seinen Gesetzen, nicht an seinen mit Vorliebe auf Demütigung der Schüler setzenden Worten ist sanft. Stifter, Thomas Mann, Thomas Bernhard, näher an die Gegenwart reicht es nicht heran. In Dolinar reicht etwas geradezu Archaisches in die Jetztzeit, eine altmodische Figur des Autoritären, die sie nicht harmloser macht, wobei einer wie FPÖ-Videostar Strache, der gegen Ende des über die Jahre des Coming of Age sich erstreckenden Romans seinen Auf- und Abtritt hat, sowohl das Autoritäre wie etwas brutal Antiautoritäres verkörpert. Schachinger setzt eine - mit viel Zwang - geschlossene Welt, die der «Elite»schule Marianum, gegen das Echtzeitalter da draußen mit Strache und Kurz und so weiter. Till, der Protagonist, schafft sich darin und dagegen sein eigenes Universum, die Computerspielwelt, im leider nicht mehr ganz so angesagten Age of Empires II wird er zum in Expertenzirkel als Jungstar bewunderten Meister. Viel Konstruktionsschlauheit steckt im subtilen In- und Gegeneinander der einen, der anderen und dann wieder anderer Welten. Große Szene: Wie Till seiner Mutter das Live des Spiel-Streams zu offenbaren versucht, wobei sie vor allem Bahnhof versteht, was Schachinger als halb tragikomisches Verfehlen, halb als ungelenke dann doch gelingende Mutter-Sohn-Annäherung schildert. Komisch und genau ist das alles, von Stifter-Lektüre bis Computerspielwelt, später noch sehr zärtlich erste Schritte der Freundin ins Universum von Zelda: Breath of the Wild. Keine simplen Gegensätze, etwa zwischen Games und Literatur, sondern ein sehr präzises Beobachten der dogmatischen und undogmatischen Moves. Es gibt auch dünkelfreie Aneignung großer Literatur, es gibt im Computerspiel die erfolgreiche Subversion gegen die als common sense betrachteten Meta-Strategien (Meta hier: most effective tactics available). Dafür wird Till von den Peers bewundert, er aber staunt seinerseits über Felis nicht meta-orientierte erste happy-go-lucky-Bewegung durch die Welt von Breath of the Wild. Topografie, die mit menschenfreundlich bösem Witz die Gegensätze ineinander verschachtelt, Update der Internatsromankonventionen, Besichtigung eines Echtzeitalters, in dem auch für Liv Strömquist, Anna Kim und Stefanie Sargnagel Platz ist. Zuletzt tragisches All-Wissen des Erzählers, das die lebensnotwendige Naivität der Jugend nur relativiert, nicht vernichtet. Es war die Hölle, sagt Till. Und wir alle leben darin. (78cp)

 

29.9. Eine Niere hat nichts mit Politik zu tun (Marina Frenk, Maxim Gorki Studio)

Klein die Bühne und klein auch die Kunst, erst einmal nur formal, im Sinne von Kleinkunst: Marina Frenk und ein Trompete/Klarinette/Kontrabass-Ensemble, das den Namen The Disappointalists trägt. Groß ist das Thema, die Gewalt des Staats in Russland, in Belarus, Namen von politisch Verfolgten, von Gegangenen werden an die Wand projiziert, zweimal gibt es Live-Kommentare, einer von Boris Schumatsky, es geht kaum über das hinaus, was man auch im Fernsehen zu hören bekommt. Dazu macht Marina Frenk Verrenkungen und andere Faxen. Steckt sich selbst in den Käfig, fesselt sich an eine rollende Latrine, liest aus Texten von Masha Gessen und Maxim Znak, kluge, bedrückende Dinge, die sie dann wieder mit Faxen konterkariert, deren Faxenhaftigkeit sie selbst mit einer gewissen Hilflosigkeit kommentiert. Zwischendurch fährt eine laute Musik in die Sache, einmal werden zwei Freiwillige aus dem Publikum viel zu albern nach viel zu großen Sachen gefragt. Es ist zum Glück so, dass Frenks Quirligkeit nur sich selbst untergräbt, nicht die Schrecklichkeit der Dinge, die zur Sprache gebracht werden, ohne dass irgendwo eine Form wäre, die das alles über die hilflose Kleinkunst, als die es ja auch auftritt, anderswohin tragen könnte. (48cp)

 

28.9. Museum of Uncounted Voices (Marina Davydova, HAU 2)

Vom ganz Großen - Russland, Sowjetunion, die Geschichte eines monströsen Landes - zum ganz Individuellen bewegt sich der Abend: Im letzten Kapitel, Person überschrieben, Empire war der Titel des ersten, berichtet, den Tränen stets nahe, die Schauspielerin Chulpan Khamatova, was der Ich-Person, die sie spricht (es ist wohl die aus Russland geflohene Autorin, einstige Theaterzeitschriftchefin, demnächst Salzburger Schauspieldirektorin Marina Davydova), nach dem Ende der Sowjetunion widerfuhr. In Baku geboren, der Vater Armenier in Aserbaidschan, Russisch schreibend und denkend und nach einem Moskau der Poesie wie drei Schwestern auf einmal sich sehnend, eine komplizierte Identität. Zuvor war auf der Bühne, die sich als Museumsraum gibt, den das Publikum anfangs und auch später wieder besiedelt, Geschichte dargestellt worden, als mit projizierten Grafiken unterstützter, von einer Stimme aus dem Off frontal verabreichter Geschichtsunterricht; den didaktischen Zug wird der Abend bis zuletzt nicht verlieren. Im ersten Akt aus Imperiumsperspektive, also aufs Ganze gesehen ironisch getränkt. In einem weiteren Teil kommen dann, die Museumswände drehen sich unter elektrisch verstärktem Stöhnen und Knarzen, einige der Teilrepubliken zu Wort, Georgien, Belarus, Ukraine, Armenien, Aserbaidschan, wieder in der ersten Person, verteidigen sich, beschimpfen einander, ein Chor des Zwists, in der Identifikation des Lands mit dieser jeweils ersten Person eine seltsame, heikle Repräsentation, bei der nicht ganz klar wird, ob hier das Denken in Nationen oder nicht doch immer wieder die konkrete Nation denunziert wird. Der Schluss-Übergang zum Individuum ist da einerseits konsequent, andererseits vielleicht doch eine allzu billige Lösung, zumal das Gewicht aller Verfolgung umso heftiger auf die Schmerzensfrau fällt, die hier ihre Geschichte erzählt - und damit die Repräsentation von Verfolgung auf eine Weise auf sich nimmt, deren Implikationen jene, die es sehr viel schlimmer traf und trifft, gegen sie aufbringen müssen. Es ist von allen uncounted voices jetzt und hier nur ihre Stimme die zählt, ihre Stimme, die Einspruch gegen die aufgeblasenen ideologischen Ichs des Imperiums und der kolonisierten Nationen erhebt. (59)

 

Maigret und die braven Leute (Georges Simenon, F 1961, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

In der Familie des ehemaligen Kartonage-Fabrikanten Josselin scheint alles in bester Ordnung. Er ist verheiratet, die Tochter hat einen Arzt geheiratet, mit dem der Schwiegervater sehr gerne Schach spielt. Die Fabrik hat er, mit 65 und nicht mehr sehr fit, an zwei ehemalige Angestellte weitergegeben, die Zahlung schiebt er als Menschenfreund, der er ist, auf die lange Bank. Kleiner Schönheitsfehler nun aber doch: Josselin sitzt in seinem Sessel, von zwei Kugeln getroffen und tot. Die Frage also: Was ist es, das hier nicht stimmt. Er befragt die Witwe, die, da ist er sicher, etwas verschweigt. Den Arzt, die Tochter, auch sie rücken nicht mit der Sprache heraus. Das dunkle Geheimnis jedoch ist, anders, als man erwartet, keine Leiche im Keller der braven Leute, nur ein schwarzes Schaf, das sie decken, ein Bruder und Onkel als pathologischer Betrüger und Schwindler, als solcher aber biografisch selbst Opfer. Er ist es, den sie decken, er ist es, der das Unglück in diese glückliche Familie gebracht hat; und weil sie zu brav sind, aus Mitleid und Familienräson, halten sie lange genug für einen Maigret-Roman mit diesem Mann, der der Mörder ist, hinter dem Berg. Maigret bereitet es Kummer, der Familie Kummer zu bereiten, so sehr, dass wiederholt seine Pfeife erlischt. Das Ende ist dann antiklimaktisch, den Täter, der Opfer ist, bekommen wir nie zu Gesicht; zu Tode kommt er später, lapidar, in ganz anderer Sache. (68cp)

 

27.9. Baracke (Rainald Goetz, Regie: Claudia Bossard, Deutsches Theater Berlin)

cargo (59cp)

 

26.9. You Know the Feeling (Blomen/Moré/Reiniger, Ballhaus Ost)

In der fünften Zeile des Songs - People, I’ve Been Sad - spaltet die Erzählinstanz sich, in ein trinitarisches Ich: It’s just that me, myself and I / Been missing out for way too long. Zu dritt sind, wie der Name schon sagt, Blomen/Moré/Reiniger von Anfang an und bis zum Schluss auf der Bühne. Auf einem Tablet werden Knöpfe gedrückt, wieder und wieder, teils verfremdet, teils nicht, ist People, I’ve Been Sad von Christine and the Queens zu hören, bürgerlich Héloïse Adélaïde Letissier, mit anderen (Künstler)Namen auch Redcar oder schlicht Chris, Pronomen: Er, identitätspolitisch also in jeder Hinsicht komplex. Zu Beginn tanzen Blomen/Moré/Reiniger in einer ein bisschen, aber nur ein bisschen ungelenken Choreografie, auf der Bühne zu dritt. Es hängen drei weiße Plakate halbhoch, abreißbar, eine andere Songzeile ist, auf alle drei Plakate verteilt, darauf zu lesen: If You Disappear / Then I’m Disappearing Too. (Zwei der Plakate reißen die Performenden im Lauf der einstündigen Veranstaltung ab.) Eine kurze, sacht conférencierhafte Moderation, die Drei als Kollektiv, als Kollektiv von Fans, und zwar Fans von Christine and the Queens: Wir zeigen fünf Cover des Songs. Das war Nummer eins. Was folgt, sind Einzelperformances, Sophie Blomen beginnt, als eine nicht genau definierte, nicht genau erklärte Persona. Als eine, die an einer Traurigkeit leidet, people, I’ve been sad, einer schwer lastenden Traurigkeit, die ihr ganz buchstäblich den Rücken gebeugt hat. Als eine, die in einer Talkshow auftrat und deren Gesicht, als man sie in der Youtube-Version der Sendung entdeckte, zum Meme für Traurigkeit wurde. Blomen macht Pausen mit faux-naiven Blicken, vieles ist, gut getimet, komisch, der paradoxe Effekt ist gewollt, ohne die Rede von der Sadness, ohne die Sadness, die diesen Körper gebeugt hat, dabei ad absurdum zu führen. You know the feeling (weitere Songzeile, Titel der Show), es ist das feeling einer prekären Balance zwischen dem, was ernst und abgründig ist, und einer ins nicht-denunziatorisch Komische tendierenden Selbstrelativierung. Teil zwei, Vera Moré, tanzend, so bauchfrei wie Blomen, während aber Blomen eher semi-transparenten Schlaberlook trägt, ist das nun eher Tänzerinnen-Kostüm. Sie tanzt nicht (sich) selbst, sie tanzt sich an Christine and the Queens, an Chris und Redcar heran. Sie distanziert Redcar in die dritte Person, später rutscht die Rede in ein identifizierendes Wir, später schlüpft, in der direkten Nachahmung einer autobiografischen Szene, die Darstellerin ins andere Ich, später imitiert sie den Gesang, aber vor allem die Körpersprache des Sängers, gleitet, mit expressiv den Raum massierenden Händen, aber auch in Liegefiguren, in die Mimikry der Chris-Performance hinüber, stellt im Erklärtext jedoch fest: Er dürfte Linkshänder sein, bei mir jedenfalls kämen dieselben Impulse, die bei ihm von links beginnen, von rechts. Sanfter Einspruch des Körpers, der Körper-natura, gegen die ansonsten ziemlich perfekt wirkende Anähnelung der Körper-persona an. Dann ist Max Reiniger dran, erhebt sich von links auf dem Boden, wo immer die beiden gerade nicht Performenden, die nur Zusehenden, die das Zusehen Performenden sitzen, Vera Moré rückt an den passiven Platz, an dem Blomen verbleibt. Reiniger beginnt mit einem kleinen E-Gitarren-Inferno, unverständlich der Gesang. Zäsur, die klar macht, dass es jetzt weniger direkt ums Identifizieren und Einfühlen geht. Es geht jetzt um die Frage, wer die people sind, wer man als die people ist, die Christine and the Queens in diesem Song, der ein sehr persönlicher ist, so kollektiv adressiert. Wie sich diese Gemeinschaft, wie sie von Pop im direkten Adressierungs-Affekt konstituiert wird, bestimmt, oder vielleicht besser: begreift, oder: identifiziert. Wie sich das denken, und fühlen, lässt: eine Gemeinschaft für den Moment, die als Kollektiv solidarisch ist und keineswegs, alles, was nicht sie wäre ausschließend: Volk. Aggressiv, gedrängt, suchend die Intonation: Flehend fast die Blicke zur Seite, denn während Blomen und Moré, denen es um einerseits die Anähnelung ans Idol ging, andererseits die Frage, wie einen das, wovon einer singt, ganz persönlich betrifft, während also Blomen und Moré immer direkt ins (zahlreich versammelte) Publikum blicken, blickt er nun immer nur, wie Rückhalt suchend aber immer nur temporär, prekär findend, zu den beiden. Performt also eine verunsichterte Kollektivierung, während er, drängend, immer leicht überstürzt, flehend, über den Affekt und das Kollektive sinniert. Und dann folgt der Schluss. Fünftes Cover - wobei der Cover-Begriff hier seinerseits durchgespielt wurde, das ganze Spektrum von Kopie, Aneignung, Reflexion über sowohl das quasi-identifikatorische Aneignen wie das immer Kollektive daran. Fünftes Cover: Wieder zu dritt, gemeinsames Singen. Nun direkte Publikumsadressierung: Bitte macht an den Handys die Taschenlampen an. Und singt mit. Schöner optimistischer Schluss: Bildung einer prekären Theatergemeinschaft. Danach großer Applaus, der die Differenz von Darsteller*innen und Publikum wieder herstellt, unter Wahrung des Bezugs aufeinander. Danach hinaus auf die Straße, Pappellallee, den Ohrwurm nehme ich, nehmen wir mit. (78cp)

 

 

25.9. L'arbre, le maire et la médiathèque (Eric Rohmer, F 1993)

Der Lehrer unterrichtet den Konditionalis. Auf karierten Blättern steht jede weitere Wendung der Geschichte im Zeichen des «si»: Hätte die Tochter des Bürgermeisters die Tochter des Lehrers nicht auf der Straße getroffen… Was daraus folgt, ist ein Gespräch zwischen der Tochter des Lehrers und dem Bürgermeister in seinem Schloss mit dem Park. Wobei: «Gespräche» sind nicht das, was den Film antreibt. Vielmehr sind es (teils in Kette geschaltete) Monologe, rhetorisch ausgefeiltes, mit viel Körpereinsatz vorgetragenes Gerede, reich an Meinungen, reich an dem, was zum Thema Stadt und Land, Vendée und Paris, Somewheres und Anywheres (in noch nicht diesen Begriffen), Ökologie und Politk (und dann auch Journalismus) im Diskurs au courant ist. Arm ist das an Empirie, es genügt und gefällt sich selbst, wie sich Arielle Dombasle, Fabrice Luchini und Pascal Greggory in ihrer Diskurs-Performance manchmal fast bis zum Aus-der-Rolle-Fallen gefallen. Der Gegenstand des Konflikts, der neue, ambitionierte Multifunktionsbau als Bibliothek/Freilufttheater/Mediathek/Saal, wird von allen Seiten umkreist, der Entwurf hängt in einem Architekturbüro in Cergy (wie um das Thema Städtebau und Architektur zu markieren, kehrt Rohmer, wenn auch kurz, an den Ort von Enfance d’une ville und L’ami de mon amie zurück). Das Umkreisen ist die Bewegung des Films, der sich nur in kurzen dokumentarischen Passagen, in denen er Bauern und Bewohner des kleinen Ortes zu Wort kommen lässt - der Ort ist Saint-Juire-Champgillon im Westen des Landes - und sich so zwischendurch erdet, bevor er gleich wieder ins pariserische Schwadronieren zurückspringt. Wie weit er letzteres als genau das begreift und also vorführt, sich selbst also als Geredemaschine durschaut, bleibt die Frage. Statt der Mediathek steht am Ende Gesang als eine kommunale, von der Pragmatik des Gesungenen entlastete Sache. (64cp)

 

23.9. Conte d'hiver (Eric Rohmer, F 1992)

Eine Urlaubsaffaire, Strand, Sex, Küsse, vom Alltag völlig entlastet, schnell geschnitten, dazu entspannt sentimentale Musik. Dann der Lapsus, die Verwechslung der Namen, Félicie schreibt Courbevoie statt Levallois, völlig unerklärlich, so unerklärlich, dass es beinahe ein Wunder ist, das ein weiteres Wunder zur Auflösung braucht: den Advent, an dem der Geliebte als Erlöser zurückkommt. Wenn man an ihn glaubt. Und Félicie glaubt, einzig an ihn glaubt sie, an die beiden Männer, zwischen denen sie stattdessen wählen soll, glaubt sie nicht, nicht genug jedenfalls, nicht an den Friseur, der sie ins Nevers-Land mitnehmen will, wo der Arbeitsalltag sie sofort einholt; und auch an Loic glaubt sie nicht, der mit seinen Freunden und auch mit ihr philosophico-theologische Diskussionen führt über das Vorleben mit Plato und die Wette auf ein Nachleben mit Pascal. Das ist in die Fahrt mit dem Auto gebettet, in den Sessel in der Wohnung mit vielen Büchern, dagegen die selbstbewusst «naive» und in ihrer alle Anfechtungen überwindenden Unbeirrtheit geradezu heiligmäßige  Félicie, die beteuert, dass sie «intello» weder ist noch sein will, die aber weiß, dass ihr Glaube genügt. Als weiterer Paratext dazwischengeschoben: eine Theateraufführung von Shakespeares Liebesverwirrungs-Drama A Winter’s Tale, in dem Böhmen, wie der Beginn des Films, am Meer liegt. Das alles ist rund um Weihnachten angesiedelt, ist alltagsnah-dokumentarisch inszeniert, die Straßen, anders als im Romanzen-Auftakt, matschig und grau - Kameramann Luc Pagès verzichtet wie schon in der Frühlingsgeschichte in allem auf jede Kunstfertigkeit -, um des Kontrasts willen zwischen den Mühen der Ebene, die sich Ende Dezember dieses Jahres erstreckt, und dem unbedingten Glauben an die Wiederkehr des Vaters des Kindes, eines Glaubens, der auf seinerseits mehr als alltägliche Weise Berge versetzt. Eine wundersam verdrehte Weihnachtserzählung, in der der Verzicht auf alles Märchenhafte ein Liebeswunder hervorbringt, das die mehr oder weniger alleinerziehende Mutter und Tochter zur ordnungsgemäßen Kleinfamilie erlöst. (75cp)

 

Maigret und der faule Dieb (Georges Simenon, F 1961, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Ein weiteres der Endspiele Maigrets, pensionsnah, unangenehmer Januar in Paris. Zwei Fälle sind gegeneinander gestellt, einer, in dem Maigret ermitteln soll, obwohl er ihn kaum interessiert; ein anderer, an dem er so leidenschaftlich interessiert ist, dass er als quasi verdeckter Ermittler hinter dem eigentlich zuständigen glücklosen Polizisten Aristide Fumel agiert. Verdeckt nicht jedoch für die Täter, sondern für das Auge des Gesetzes. Weil die Staatsanwälte das Kommando übernommen haben, weil es nur noch darum geht, die Besitzenden zu beschützen und gegen den Verlust des Besitzes zu sichern, wird Maigret zum Doppelagenten. Der Plot zum doppelten Plot, der die Geschichte der Raubmordbande als eine der Professionalisierung des Verbrechens erzählt, die menschlich kaum interessiert. Der im Bois de Boulogne gefundene Tote dagegen, der Einbrecher Honoré (!) Cuendet, war ein Mann ganz nach Maigrets Geschmack: Ein Richard-Sennett-mäßiger Handwerksmeister des Verbrechens, der seine stets reichen Opfer wochenlang ausbaldowert, aus dem Haus gegenüber, sich in die Personen und ihr Leben hineinlebt, wie Maigret selbst es tut - und dann in die Wohnungen einbricht, nicht wenn sie abwesend, sondern nur, wenn sie anwesend sind. Ein dunkler Maigret, der bescheiden bleibt, von conspicuous consumption der Beute keine Spur, der  bei seiner Mutter lebt, sich für seine Geliebte als Gentleman erweist und ihr einen Koffer mit der Sore hinterlässt. Von dem es im letzten Satz heißen wird, dass niemand je erfahren wird, welchen Wert dessen Inhalt hat. Und den zu behalten Maigret der Geliebten ausdrücklich rät: Im Namen der Gerechtigkeit ist er nun der freundliche Gegenspieler von Recht und Gesetz. (74cp)

 

21.9. 3 films chantés (Nicolas Engel, F 2005, 2008, 2011)

Von schöner Naivität Le voiliers du Luxembourg, gesungener Film Nummer eins. Hier begegnen sich, im Park, mit Gesang, der junge Mann und die junge Frau, sie hat ein Kind, für das sie zum Date per Inserat eine Kinderfrau findet. In der Tat singen sie, alles andere als perfekt, manchmal sehr auf der Grenze zwischen Sprechen und Gesang, auf dieser Grenze selbst in Bewegung, die Momente der Unentscheidbarkeit zwischen Singen und Sprechen genießend. Und sie tun das, als wäre es normal, als wäre das im Alltag immer eine Option, sanft aus dem Sprechen in Gesang hinüberzugleiten. Auch Reime kommen ins Spiel, und sehr bald begreift man, dass Nicolas Engel zudem ein begeisterter Wortspieler ist, der vor absurden bis albernen Namen alles andere als zurückschreckt. Der Protagonist des zweiten Films, La copie de Coralie, heißt mit Familiennamen Conforme, damit der Copy-Show, den er betreibt, Copie Conforme - also beglaubigte oder exakte Kopie - heißen kann. In Film Nummer drei, Pseudonymes, stecken die Namen schon im Titel, das Pseudonym des in einer Buchhandlung arbeitenden Helden, der bürgerlich (!) Samuel Derien heißt, lautet Sam Un. Als solcher schreibt er Bücher, in die sich die bezaubernde Kundin Lise verliebt, was zu Puns aus Lise et moi und Lisez moi führt: Die Tragik der Liebesgeschichte liegt darin, dass es zu Lise und ich am Ende nicht kommt, umso schlimmer, als es ein Verfehlen von Angesicht zu Angesicht ist. Wie überhaupt in allen drei Geschichten der Gesang, ohne Country-Musik zu sein, nicht das Finden der Liebe, sondern das Verfehlen umspielt. Das aber nicht zynisch, sondern romantisch: Fälle absoluter Passion, nur gehen sie, durch Missgeschick, Missverstehen und/oder die Unmöglichkeit der Erfüllung, ins Leere, vor und an Häuserwänden in Paris, in Angouleme und in Le Havre. Mehr oder minder bürgerlich sind die Mikrokosmen, Park, Copy-Shop, Buchhandlung, liebevoll ausgemalt, die Musik mal von Computerspielen (Pseudonymes), mal von den Kopiermaschinen inspiriert. Ums zentrale Paar sind leicht schräg am Klischee vorbei entworfene und gespielte Nebenfiguren platziert. Und in der dritten Geschichte insistiert im Hintergrund das politisch Soziale: ständige Demonstration der sans papiers. Das Musikalische, das von der (verfehlten) Liebe als Passion zur Gesellschaft zurückführen kann. (76cp)  

 

20.9. Kalle Kosmonaut (Christine Kugler, Günther Kurth, D 2022)

taz-dvdesk (63cp)

 

19.9. The Devils (Ken Russell, GB 1971)

Jahre des Studio-Wahnsinns: Warner Brothers gab Ken Russell bündelweise Geld in die Hand, das er, nicht zuletzt mit Hilfe des monumentalen production designs von Derek Jarman, das sich so ahistorisch wie unbescheiden an Fritz Langs Metropolis orientiert, in diesem Höllenschlund von einem Film mit Feuereifer verbrannte. Es ist das 17. Jahrhundert, die Zeit von Louis XIII und Kardinal Richelieu, ein alles andere als sittenstrenger Priester namens Urbain Grandier führt in der Stadt Loudon ein an Unzucht reiches Leben und wird nicht zuletzt von der buckligen, , hysterisierten, den Kopf schief aufgesetzt tragenden Sister Jeanne (Vanessa Redgrave) durch die Gitter des Klosters hindurch heftig begehrt. Die schöne Hysterie, die ken-russell-haft schon am Anfang regiert, erweist sich, kein Wunder, als fast grenzenlos in Richtung Hexensabbat steigerungsfähig, als nämlich die vom Exorzismus besessenen Kirchenmänner nach Loudon kommen, den Priester Grandier das Fürchten und Gefoltertwerden und Sterben zu lehren. Ein Prozess, die Menge tobt, rasende Orgien an heiligen Orten, Oliver Reed glüht die Leidenschaft in den Augen und zittert bis ans äußerste Ende seines gezwirbelten Schnurrbarts. Am Ende werden ihm die Knochen zertrümmert, wird er geschoren und auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Eine tour de force, für ihn, für alle, es bleibt, in Ken Russells diabolischer Kirche kein Stein auf dem andern. Und natürlich stimmt Russell nicht nur ein in die Lust seines unzüchtigen Priesters, sondern auch in die der Verfolgung, des Wahns, der Zerstörung. Sein filmisches Temperament ist die Dauerentflammtheit, die Blasphemie um ihrer selbst willen, so dass er noch das Feuer, das den Protagonisten verschlingt, emphatisch bejaht. (60cp)

 

Maigret und die alten Leute (Georges Simenon, F 1960, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Simenon war 1960 Präsident der Jury in Cannes (die in einem Jahrgang, aus dem man heute eher wenige Filme erinnert, La dolce vita auszeichnete), er begann einen Nicht-Maigret mit jungen Protagonisten und hat ihn beiseitegelegt. Im Juni schreibt er diesen Roman, der in einem hinreißenden Mai spielt, einem Mai, wie man ihn nur zwei oder drei Mal im Leben erlebt, einem Mai, der bei Maigret Kindheitserinnerungen weckt, und gleich darauf beginnt Simenon seine später unter dem Titel Als ich alt war veröffentlichten Tagebücher zu schreiben. Eröffnungsszene von Maigret und die alten Leute, nach der Schilderungen dieses Mai: Er geht mit Madame Maigret und den Pardons essen, auch hier kehren Erinnerungen zurück, an die Tage, in denen sie ein junges Paar waren. In dem Fall, um den es in diesem Roman geht, sieht sich Maigret jedoch mit Menschen am Ende ihres Lebens konfrontiert. In einem Milieu, in dem er sich alles andere als wohl fühlt, es sind Menschen von Adel, deren Sitten ihm fremd sind. Im Kern: eine eigentümliche Liebesgeschichte. Ein Leben lang haben sich der Graf Armand de Saint-Hilaire und die Prinzessin de V. geliebt, unendlich viele Briefe geschrieben, weil sie, er hatte kein Geld, eine standesgemäße Ehe eingehen musste. Nun ist ihr Gatte, den sie nie liebte, eines natürlichen Todes gestorben. Am selben Tag stirbt Saint-Hilaire, nicht so natürlich, vier Schüsse wurden auf ihn abgegeben. Eine Haushälterin ist im Spiel, mit der ihn früher wohl eine Beziehung verband. Ein Neffe, der kaum jünger ist als die anderen Alten. Am Ende stellt sich heraus: Die Haushälterin schoss auf den Toten, um ihm das ewige Leben zu retten. (71cp)

 

18.9. Conte de printemps (Eric Rohmer, F 1990)

Drei Frauen, diverse Wohnungen, ein Mann, oder auch: Die Geschichte der wiedergefundenen Halskette. Jeanne, die Philosophielehrerin ist (Darstellerin Anne Teyssèdre hat später mehrere Essays über das Werk von Rohmer geschrieben), Natacha, die gerade ihr Abi gemacht hat, mit einer eins in Philosophie, und Eve, die beim gemeinsamen Essen das Gespräch auf Kants Transzendentalphilosophie bringt. Vom Rand kommend, immer weiter in die Mitte geschoben: Igor, verhinderter Kunstkritiker, realer Kulturbürokrat, Vater Natachas, die ihrerseits die kaum ältere Eve, dessen Freundin, loswerden möchte. Jeanne, eine Zufallsbegegnung auf einer Party, kommt ihr da recht, sie lädt sie ins Zimmer des Vaters, der meist abwesend ist. Jeanne hat ihrerseits zwei Wohnungen zur Verfügung, die eine aber verschmäht sie, weil ihr Freund (ein Mathematiker, der abwesend bleibt) zu unordentlich, die andere, weil sie von ihrer Cousine besetzt ist. Musical chairs, ein Garten vor der Stadt kommt auch noch dazu, wo die Konflikte und das Ersetzungsbegehren dann kulminieren. Ein Spiel, das in seinen Grundbestandteilen einfach ist, denn es geht um Verführen/Begehren, Verbünden/Intrigieren, Vertrauen/Verdacht, nur sind ein paar zu viele (den Beteiligten nicht unbedingt durchsichtige) Wünsche, zu viele Wohnungen und mögliche Konstellationen im Spiel. Die Lösung kann nur Auflösung sein, und zwar durch das Herbeizaubern des McGuffins, mit dessen Erscheinen der Film zuletzt notdürftig camoufliert, dass es die ganze Zeit um ganz anderes ging als ein Rätsel, nämlich um die Wunschökonomien, die sich mal Kant, mal eine Kette als recht beliebiges Dingsymbol suchen. (72cp)

 

14.9. Herrndorf (Tobias Rüther, D 2023)

Die Jahre, die ihr kennt, ein zu kurzes Leben (1965-2013), das das Interesse größerer Teile der Mit- und der Nachwelt dadurch geweckt hat, dass Herrndorf gute und erfolgreiche Bücher geschrieben hat. Ein Leben, dessen Ende spektakulär war, die dem Glioblastom und dem Wissen um den rasch nahenden Tod abgerungenen und/oder verdankten Texte, die Arbeit daran gab den sehr vergehenden Tagen und Nächten Struktur. Von Garstedt bei Hamburg ans Nordufer im Wedding, aus dem Kinderzimmer der Blick aus dem Fenster hinaus auf Wolken und Feld (von Rüther ein bisschen penetrant wieder und wieder als Leitmotiv eingespielt). Am Ufer, da wo sich Herrndorf in einer der letzten Stunden, in denen er es noch vermochte, eine Kugel in den Kopf gejagt hat, steht nun seitdem ein absichtlich unprofessionell zusammengeschweißtes Metallkreuz. Ein Buch, das ich nicht anders als persönlich nehmen kann, obwohl ich Herrndorf nie traf, seinen Namen aber habe ich seit den neunziger Jahren immer mal wieder gehört, weil der Zufall, und es ist der reine Zufall, es will, dass Wolfgang Herrndorfs ältester Freund aus Nürnberger Tagen, der Neuseeländer Calvin Scott, ein (ferner, aber sehr geschätzter) Freund von mir ist. Calvin hat, anders als etwa Kathrin Passig, dem Biografen Auskunft gegeben, ausführlichen Einblick in die nicht wenigen Briefe gegeben, die Herrndorf ihm schrieb; auch fast alle anderen haben Auskunft gegeben, die Eltern, die Witwe, viele, sehr viele der Höflichen Paparazzi, die Menschen aus der Zentralen Intelligenz Agentur (ZIA), obwohl Herrndorf immer wieder seine Abneigung gegen die biografische, erst recht die germanistische Einmischung der Nachwelt in Leben und Werk des verstorbenen Autors geäußert hat. Aber tot ist tot, seine Erben hat keiner im Griff, auch Thomas Bernhard wird in Österreich schon lange wieder gespielt. Außerdem ist schon die Frage, ob das oder was daran nur oder auch Pose war, für Deutungen offen, schließlich weiß man dergleichen auch bei sich selbst oft genug nicht genau, der Mensch ist ein höchst semi-durchschaubares Wesen, und jeder Biograf, auch Rüther, tut gewisser, als man je sein kann. Und so geht es zurück, in die Kindheit, zu einer auf Dauer gestellten unglücklichen Liebe zum Beispiel, so flitzt der Biografe nach den üblichen Regeln der Kunst zwischen Leben und Werk hin und her, kenntnisreich auf beiden Gebieten, drückt auf die Tube, selten zu sehr. Mit Deutungen, von Leben wie Werk, hält Rüther sich in Maßen zurück. Es soll schon, ganz konventionell, eine runde Sache daraus werden, im und durch Rückblick, durch immer geneigtes Zusammenlegen der Dinge, die die Lebenden erinnern, erinnern können und wollen. Und so wird von Orten und Personen erzählt, die im öffentlichen Gedächtnis keinen Platz beanspruchen können, alles rund um die Nürnberger Akademie, denkt man, und von anderen, die in Kollektivgebriffen wie Kultur, Literatur, Internet, Berlin gesprochen auch für die interessant sein könnten, die nicht dabei waren, oder nicht dabei gewesen sein werden können: Rüther schreibt vieles aus diesen Jahren, die wir kennen (die ich kenne), so auf, als müsse er es Menschen in recht ferner Zukunft erklären, denen die Kontexte, die Details, das Miterlebt-Haben auch nur der Atmosphären dieser Orte, dieser Zeiten nicht mehr bekannt sein können. Die anderen, die näher oder ferner Teil davon waren, sehen es ähnlich oder auch nicht, es rückt den Gegenständen und Personen der Autor je nach Geschmack zu nahe oder verfehlt sie. Das wird immer so sein. Vielleicht kommen manche Verletzungen durch Herrndorfs misanthrope (oder misogyne) Tendenz zu kurz, von denen ich recht verlässlich gehört habe, aber de mortuis dann halt doch im Zweifel eher das Bessere als das Schlechte. Der Calvin des Buchs jedenfalls ist der Calvin, den ich (von eher ferne) gut kenne. Ich erinnere mich, dass wir ihn damals, es war der 29. oder eher der 30. Juli 2012, in einem Café trafen, da kam er gerade von seinem Besuch bei Wolfgang Herrndorf, beide wussten, es würde der letzte sein, Calvin musste nach Neuseeland zurück. Im Blog hat Herrndorf beschrieben, wie bange ihm vor dem Besuch war. Calvin ging es sehr ähnlich, das weiß ich noch, und beide waren dann doch beglückt, ein gelungener Abschied, was immer das heißen mag, Herrndorf schrieb ins Blog, das wird im Buch zitiert, ein letztes «Mach’s gut». An das Datum erinnere ich mich, denn ich weiß noch, dass ich kurz vor der Begegnung vom Tod von Chris Marker gehört hatte und als ich es im Gespräch mit Calvin erwähnte, seltsam bewegt war. Ich habe weder Herrndorf noch Marker persönlich gekannt, nur die Filme, und Calvin, aber so kam das nun einmal zusammen. Wie das Leben so spielt. (70cp)

 

13.9. Maigret vor dem Schwurgericht (Georges Simenon, F 1960, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Die Zeit steht still in der sonst so unberechenbaren/sprunghaften Timeline: Gerade kommt Maigret aus dem Urlaub zurück, wo er mit seiner Frau an der Loire ihren gemeinsamen Alterssitz gekauft hat, der ihn an ein Pfarrhaus erinnert. In zwei Jahren, mit 55, geht der Kommissar in Pension, da waren wir schon im letzten Roman, der in der Gegenwart spielte. Ein wenig entrückt, oder zur melancholischen Reflexion aufgelegt, ist Maigret schon hier, zu Beginn, aber dieser Beginn ist lang und überschattet den Rest, nicht in den Wohnungen und Seelen der Menschen und in den Straßen der Stadt unterwegs, sondern als bezeugender Ermittler ins Schwurgericht einbestellt. Verhandelt wird ein recht abgründiger Fall, Aktien und Goldmünzen, die im Boden einer Vase versteckt waren, wurden gestohlen, die alte Frau, denen sie gehörte wurde ermordet, dabei aber auch ein vierjähriges Kind. Angeklagt und verdächtigt ist ein ganz mittelmäßiger Mann, der Rahmen macht, der eine Frau geheiratet hat, die zu jung und zu attraktiv für ihn ist, der zuliebe er eine Restaurant aufgemacht hatte - und bald war er pleite. Wie routiniert ihn seine Frau schon immer betrog, wird ihm nun vor Augen geführt, nicht zuletzt Maigrets Zweifel jedoch bewirken den Freispruch. Während Maigret (und Simenon) noch beklagen, dass vor Gericht nur eine zweidimensionale Variante von Mensch und Leben und Gesamtexistenz zur Verhandlung kommt, kehrt der Rest des Romans dann zur vertrauten Produktion des Dreidimensionalen zurück. Wenn auch mit viel Bewegung durch die französischen Provinzen. Und mit einem Ende, das Maigrets Sehnsucht nach dem Ruhesitz Pfarrhaus nur noch verstärkt. (71cp)

 

11.9. Adieu (Honoré de Balzac, F 1830)

Eine Episode aus den Napoleonischen Kriegen, eingebettet in den Versuch der PTSD-Therapie durch Reenactment. Zwei Männer sind im Jahr 1819 auf dem Land unterwegs. Es begegnet ihnen eine junge Frau, die irrsinnig ist: «Adieu» sagt sie und eilt davon. Einer der beiden, der Baron Philippe de Sucy, erleidet eine Ohnmacht, fast bringt sie ihn um. Er hat sie erkannt, sie ihn aber nicht, das letzte «Adieu», das sie zu ihm sprach, liegt sieben Jahre zurück. Im Russlandfeldzug war es, an der Beresina, eine Schlacht, bei der die Zerstörung einer Brücke die Franzosen ins Unglück geführt hat. Der Baron gab im Tohuwabohu des Krieges einst alles, die Frau (es ist die Gräfin Stephanie de Vandieres) und ihren Gatten durch Kutschfahrt zu retten. Der Gatte starb, die Gräfin wurde gerettet, jedoch in den Irrsinn, der Baron hat sie noch an der Beresina aus den Augen verloren. Das Feld der Soldaten, von denen viele zu müde sind, sich ans rettende Ufer zu schleppen, da helfen selbst Bajonettstiche nicht, dieses Feld gemahnt den Erzähler ans überfüllte Parterre eines Theaters. Der Baron füttert die Irre mit Zucker, schmachtet und küsst, sie aber bleibt Kind oder Tier (das sind Balzacs Vergleich). Ein letzter Versuch, nämlich das seinerseits in den Wahnsinn reichende Reenactment: Ein Naturtheater ist es, das der Baron zuletzt inszeniert, um die Geliebte aus der Umnachtung in die Wirklichkeit zurückzuführen, als entschieden paradoxe Intervention. Auf dem Lande, in seinem Park, baut er in mühsamer Arbeit, es ist nicht minder paradox auch eine Arbeit der Zerstörung, die Kriegsszene an der Beresina nach. Er engagiert Statisten als in den Schnee gebreitete Soldaten und führt Stephanie an diesen zur Erinnerbarkeit verfälschten Ort. Und in der Tat: Stephanie schlägt die Augen auf, wird ihrer selbst, des Barons und wohl auch ihrer Lage bewusst. Was mehr ist, als ein Mensch aushalten kann. Ein letztes Adieu, sie stirbt, auf dem Fleck. Bald darauf jagt der Baron sich eine Kugel in den Schädel. (74cp)

 

10.9. L'ami de mon amie (Eric Rohmer, F 1987)

Der Vorspann setzt drei der Figuren fernsehserienmäßig ins Bild: Name von Schauspielerin und Figur bei charakteristischer Tätigkeit im Büro, Atelier und Labor. Dazwischen Bilder vom Schauplatz, der nouvelle ville namens Cergy, über die Rohmer zwölf Jahre zuvor Enfance d’une ville, eine Doku fürs Fernsehen, gedreht hat. In der Mensa begegnen sich, die eine blau gekleidet, die andere grün, die zwei Frauen, um deren Begehren und Nicht-Begehren (der Männer) sich alles weitere dreht: Blanche und Lea. Die Primärfarbcodierung zieht der Film durch bis zum Ende, an dem zweimal grün und blau komplementär in ihr Happy End hinaus ziehen. Bis dahin tut sich in fast schon mechanischen Permutationen wenig und viel. Walk and sit and talk: an Tischen im Café, im Park von Cergy, in der Wohnung von Blanche im gerade erst fertig gestellten monumentalen offenen petersplatzförmigen Halbrund Belvedere St. Christophe nach einem Entwurf von Ricardo Bofill, eine schlanke und hohe Säule von Dani Karavan in der Mitte. Das Dezentrale ist Thema, man sieht Paris - La Défense - in der Ferne, einmal wird der Verlauf des Flusses Oise erklärt, ein anderes Mal gibt es eine für Rohmer untypische schnelle Schnittsequenz, die Gruppen von Menschen im Park zeigt - es ist ein wenig, als habe Rohmer neben seiner Freundin-des-Freunds-der-Freundin-Sprichwortgeschichte auch Adolescence d’une ville drehen wollen. Was ihn an diesem und jenem kleinen Ausfallschritt keineswegs hindert: nach Roland Garros, Aufschlag Ivan Lendl. Zu Partys, auf denen diesmal wenig getanzt wird. Vor allem, und auch nebenbei, wird, was zueinander passt, diskutiert, ausprobiert und sortiert. Es ist eine Komödie, darum kann das Missverständnis kurz vor dem Schluss scheinbar harmlos verpuffen, statt alles Vertrauen in die Männer final zu zerstören. (78cp)

 

Enfance d'une ville (Eric Rohmer, F 1975)

Die neue Stadt ist noch im Entstehen, gut zwanzig Kilometer nördlich von Paris, um alte Kerne, einen See, den sich kurz vor der Mündung in die Seine schlängelnden Fluss Oise und fünfzehn Verwaltungseinheiten zu Cergy-Pontoise zusammengelegt. Rohmer und der Journalist Jean-Paul Pigeat stellen Fragen an Männer (die erste und einzige Frau tritt, im Privatraum, in der 39. Minute erst auf): Verwaltungsleute, Urbanisten, Planer in ihren Büros, einer steht auf der Brücke und erklärt, wie man das Wohnen und Leben von der Bewegung mit dem Auto auf der Straße separiert, während ein Experte für den Transport erklärt, dass die breiten Straßen zur Geschwindigkeitsübertretung einladen. Die Architektur soll divers sein, man weiß vom strukturellen Konservatismus der Bewohner. Kritisch gesehen wird das riesige, nach außen abweisende Einkaufszentrum, eine frühe Mall, die ihr Betreiber als Funktionsbau verteidigt (in L’ami de mon amie ist sie nur von außen zu sehen, Rohmer präferiert das Draußen der Stadt). Zwar wird ein sich rundendes Beinahe-Hochhaus in blauer Farbe gebaut, Ricardo Bofills kühner Entwurf einer gotischen Wohn-Kathedrale jedoch wurde niemals gebaut. Bofills dann 1986 fertiggestellter Monumental-Halbrundbau Belvedere St. Christophe (sehr ähnlich der fast zeitgleich entstandenen Place de l’Europe im Antigone-Viertel von Montpellier, als verschlossen gedrungene Hunger-Games-Variante Abraxas in Noisy-le-Grand zu bewundern) ist dagegen noch architektonische Zukunftsmusik: Über diese Großfläche zerbrechen sich die talking heads hier noch den Kopf. Formal konventionell ist die Doku, das etwas abseitige Gespräch mit zwei Priestern ist vermutlich dem Katholiken Rohmer zu verdanken. (62cp)

 

9.9. Que la bête meure (Claude Chabrol, F 1969)

Nach dem Sex - dem lange verzögerten Sex - sind die Figuren auf dem Schachbrett gestürzt, durcheinandergeworfen. Am Anfang und am Ende das Meer, am Anfang und am Ende das Brahms-Lied, fast geht es, sagt die Hauptfigur selbst, wie eine griechische Tragödie auf: Der Mann, der den Sohn des anderen Manns getötet hat, stirbt von der Hand des eigenen Sohns. Nur ist es nicht ganz so, denn alles ist hier gegeneinander und ineinander verschoben, aus Berechnung wird Liebe, als Umeinander-Schleichen im Raum, Ausweichen, Annähern, Kuss. Das Büchlein mit den Notizen als corpus delicti, das unschuldig tut: Hier schmiedet Charles Thénier, Kinderbuchbestsellerautor, seine Pläne, legt sie, und nicht nur für uns, offen zutage. Er lädt sich durch die Betrachtung von Super-8-Filmen auf mit Rachegefühlen, findet als Detektiv eine Spur, die ihn direkt ins Riesenwerkstadt-Großbürgertum führt, wo man, oder jedenfalls die Frau des Monsters, über den nouveau roman diskutiert - zwischen Butor und Sarraute hat Paul Gegauff, der das hinreichend böse Drehbuch verfasst hat, seinen eigenen Namen geschmuggelt (es sei denn, es war Chabrol, der es tat). Alles und nichts läuft, wie es soll. Denkwürdiger Segelausflug, Wind kommt auf, ein Revolver stellt neue Verhältnisse her. Das Biest, das sterben muss: buchstäblich eine abjekte Figur, vom ersten Auftritt an aus dem Off, bei Tisch die Demütigung des Zivilisierten durch den Barbaren mit Macht. Hitchcock und Lang, ja, ganz gewiss, aber dass, und wie, zum Beispiel, das gebratene Huhn zum Geständnis in eine Parallelmontage hinein filettiert wird, sowas macht am Ende nur einer: Chabrol. (80cp)

 

8.9. Extinction (Julien Gosselin, nach Texten von Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal, Thomas Bernhard; Volksbühne Berlin)

cargo online (82cp)

 

6.9. Maigrets Geständnis (Georges Simenon, F 1959, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Maigret speist bei seinem Freund, dem Arzt Pardon. Das rahmt einen Fall aus der Vergangenheit, Maigrets Erzählung wird unterbrochen, als Pardon telefonisch eine Todesnachricht erhält: Gestorben ist ein Schneider, Vater von fünf Kindern, am Ende erfährt man, dass dessen Frau ihren Mann bald (durch einen Nordafrikaner) ersetzt. Die Binnenhandlung springt, wie auch die Rahmenerzählung, aus der ersten in die objektivierende Position einer mal neutraleren, mal personaleren Erzählinstanz. Verglichen werden die Verantwortung des Arztes und die des Kommissars, beim einen geht es um Leben und Tod, und in dem Fall, von dem Maigret berichtet, tut es das auch. Des Mordes an seiner etwas älteren Frau verdächtig ist ein Mann, der ihr - ihrer Herkunft und ihrem Geld - seinen gesellschaftlichen Aufstieg verdankt. Er beteuert seine Unschuld und Maigret ist halb geneigt, ihm zu glauben. Es ist ein Buch über Klassismus, denn was am Ende zu seiner Hinrichtung mehr als nur beiträgt, ist die Vorverurteilung in den Augen einer Gesellschaft, die diesen Aufstieg nur beargwöhnen kann. Schon gar angesichts einer jungen Geliebten, die noch dazu mit seiner Unterstützung das gemeinsame Kind abtreiben lässt. Als deren Vater davon erfährt, es als Schande begreift, bringt er sich um. Maigrets Gegenspieler ist wieder der Untersuchungsrichter Coméliau als Mann, der ohne Bösartigkeit seinen Job macht: Die Ordnung, der Status Quo, sind das, was um fast jeden Preis wiederhergestellt werden muss. Maigret als Mann ohne Methode lässt dem Zweifel Raum, ermittelt und lässt weiter ermitteln, als für Coméliau alles feststeht. Sein Geständnis: Es hat in diesem Fall nicht gereicht. Ein alternatives Szenario wird entworfen, das Gerücht eines Gewohnheitsverbrechers, der den Mord betrunken gestand. Ob das so war: Keiner weiß es. Maigret, und die Leserschaft auch, leben mit der Ungewissheit, ob hier ein Unschuldiger starb. (75cp)

 

4.9. Maigret und die widerspenstigen Zeugen (Georges Simenon, F 1959, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Maigret wird alt. Zwei Jahre noch bis zur Pensionierung, der Eisenofen in seinem Büro existiert längst nicht mehr und fast wird er nostalgisch beim Gedanken an seinen alten Widersacher, den Untersuchungsrichter Coméliau. An dessen Stelle ist ein junger, tennisspielerhafter Großbürger namens Angelot getreten, der sich noch dazu ständig in die Ermittlungen einmischt, ja, den berühmten Kommissar als kaum mehr denn Befehle empfangendes Organ bei der Tätersuche behandelt; noch die von Maigret aufgeschriebenen Fragen des Schlussverhörs will er stellen, im Palais de Justice und nicht am Quai des Orfèvres. Alles beginnt am 3. November, dem Tag nach Allerseelen, regnerisch ist der Herbst. Im Zeichen des Niedergangs auch der Fall, um den es geht. Tot, mit einem Revolverschuss ermordet, ist der Geschäftsführer der traditionsreichen Waffelfabrik Lachaume, 1817 gegründet, Maigret hat den Geschmack der Kekse noch aus seiner Kindheit im Mund. Wie sich herausstellt, trägt sich das Geschäft der Firma schon lange nicht mehr, die reiche Erbin, die Lachaume geheiratet hat, schießt regelmäßig das Geld zu, das genauso regelmäßig fehlt. Wie sich herausstellt, hatte sie einen halbseidenen Geliebten, dessen Quasi-Verlobter Véronique, dem schwarzen Schaf der Familie Lachaume, Maigrets besondere Empathie gilt. Sie ist als Animierdame im Nachtlokal Amazone tätig, üppig, hier aber weniger also üblich aus dem Negligé quellend der Busen, üppig die Frau, und  in ihrer Üppigkeit schön. Am Ende ein weiterer Schuss und nach hundertfünfzig Jahren ist es mit dem Traditionsunternehmen restlos vorbei. (72cp)

 

Skinamarink (Kyle Edward Ball, Kanada 2022)

taz-Kritik (73cp)

 

3.9. 4 Aventures de Reinette  et Mirabelle (Eric Rohmer, F 1987)

Über dem ersten Abenteuer liegt der Zauber der ersten Begegnung, am Wegesrand, am Rain, in der Natur. Eine junge Frau, die nicht ganz von dieser Welt scheint, eine andere junge Frau, die einen kaputten Fahrradschlauch zu flicken versteht. Die eine entführt die andere in ihr Reich, ein Märchenschloss der einfachen Art, zeigt ihr die surrealen Bilder, die sie, naiv, gemalt hat, nackte Frauen vor und in Unwirklichkeit, in der Nacht nur noch Schemen aus Licht und Dunkel und einem verwunschenen Dazwischen in den natürlichen Bildern von Sophie Maintigneux: die blaue Stunde, die blaue Minute zwischen Nacht und Tag. Mit dieser minimalistischen Stimmungsmalerei ist es nach der ersten Episode vorbei. Was folgt, ist vom Land in die Großstadt, vom Märchen in die Anekdote Gerutschtes, immer geht es ums Geld: der Kellner, der nicht zu wechseln bereit ist; die Schnorrerin und die Diebin; der narzisstische Galerist, den Fabrice Luchini sehr von oben herab spielt. Nicht fern von den Rosette-Episoden, Charme des Improvisierten, der sich mit dem Contes-Moraux-Haften nicht nur gut verträgt. Ein Zwischenfilm, der da am Schönsten ist, wo er das Unfertige so lässt, wie es ist. (71cp)

 

1.9. Les nuits de la pleine lune (Eric Rohmer, F 1984)

Erste Einstellung: Langsamer Linksschwenk, Kamera Renato Berta, von der Bahnstation in der Banlieue Marne-la-Vallée auf die Tür des Neubaus, in dem Louise (Pascale Ogier) lebt. Mit Rémi (Tchéky Karyo), dem Architekten, der da, wo er baut, auch leben will. Sie aber zieht in einen Altbau in der Stadt, den sie zuvor vermietet hat, oder hält ihn sich frei als pied-à-terre für die Nächte, die lang werden sollen. Für diese Nächte, das Tanzen - und es wird sehr viel getanzt in diesem Film, die Kamera fährt von oben nach unten und später, da sind sich zwei Körper gefährlich nahe gekommen, nach oben - für diese Nächte, Vollmond oder nicht, ist Rémi nicht der richtige Mann. Er bleibt abends zuhause und spielt tagsüber Tennis. Natürlich gerät in dieser moralischen Geschichte, die zunächst säuberlich scheint, alles bald schwer durcheinander, diesmal dem Motto, unter das sie gestellt ist, sehr treu: Wer zwei Frauen hat, verliert seine Seele. Wer zwei Häuser hat, verliert den Verstand. Da hilft dann auch kein Design, nicht das milde Blau der Wände, nicht die antike Säule im Zimmer mit den zwei Neon-Leuchten darauf, nicht die schicke Achtziger-Mode. Das alles hilft nicht, wenn auf der Party ein Mann mit Halstuch und Handschuhen auftaucht, die er, wenn es zum Küssen in die Küchte geht, abstreift und in der linken hinteren Hosentasche verstaut. Als Joker im Spiel, oder, zu seinem Leidwesen, nicht: Octave (Fabrice Luchini), der beste Freund von Louise, der bis zur Übergriffigkeit scharf auf sie ist, der Schriftsteller, der mit leichter Hand aus Wirklichkeitsspuren Romane und Luftschlösser baut, als hätte, was er fantasiert, keine tatsächlichen Konsequenzen. Ein Haus, aber in das er mit Louise hineinpasst, kann auch er nicht entwerfen: Sie hat auf ihn keine Lust. Zu diesem Reigen werden Sätze in die Räume gestellt, Louise und die anderen behaupten Dinge über die anderen und sich selbst, von denen nicht gesagt ist, dass sie auch stimmen. Probierendes, behauptendes Reden, der Tanz bringt womöglich eine andere Wahrheit hervor. In der Moral von der Geschichte, und nicht nur in dieser, ist das von misogynen Zügen nicht frei, Octave eine der unangenehmsten Rohmer-Männerfiguren. Es ist jedoch so sehr der Film von Pascale Ogier, die sich mit einer Selbstsicherheit bewegt und mit einer Selbstsicherheit spricht, von denen sie ahnt, dass ihnen die Grundlage fehlt. Aber wenn es dann schiefgeht, bleibt fürs erste Octave. (75cp)

 

 

AUGUST

31.8. Die rote Herberge (Honoré de Balzac, F 1831)

Der Erzähler lässt erzählen, und zwar, an einem Abend bei einem Bankier, einen Deutschen aus Nürnberg. Der Hermann heißt, wie so ziemlich alle Deutschen, von denen erzählt wird, sagt der Erzähler des Erzählers. Und er packt aus, was er an Kenntnissen bzw. Vorurteilen über Deutsche besitzt. Breit das Gesicht, groß der Appetit. Dann aber nach Andernach, in das Jahr 1799. Eine Reihe von Männern kommen in einer Herberge unter (rot ist der Eindruck von außen), die schon sehr voll ist. Beschrieben wird sie proto-kriminalromanhaft, allerding spielen die Gebäude-Details dann doch keine entscheidende Rolle. Sie trinken, nebenan schnarcht die Wirtin, einer der Männer berichtet vom Schatz in seinem Koffer. Am nächsten Morgen findet man den Kopf neben dem Körper, der Koffer ist weg. Unter Verdacht ein Franzose, der zuvor, als Erzähler in der Erzählung des Erzählers des Erzählers, schilderte, wie er der Versuchung zum Mord widerstand. Er kann sich nicht retten, wird erschossen, nicht einmal der letzte Brief an die Mutter kommt an. (Sie ist an Tuberkulose verstorben.) Nun Wendung zurück an den Tisch. Der Erzähler begreift (es ist eine nicht weiter plausibilisierte Sache), dass einer der Anwesenden der wahre Mörder ist. Zu allem Unglück, die Angelegenheit wird an Unwahrscheinlichkeit überreich, ist er der Vater der Frau, in die sich der Erzähler verliebt hat. Der Knoten lässt sich nicht einfach durchschlagen, er holt sich ethischen Rat. Der Erzähler, oder der Autor, kommt aber lakonisch elegant raus: Mit einer fast ironischen Frage, und zwar nach dem Fragen. (73cp)

 

30.8. Die Herzogin von Langeais (Honoré de Balzac, F 1834)

Am Ende kehren der Marquis de Montriveau, und mit ihm die Erzählung, in das Kloster auf der Insel vor der spanischen Küste zurück, an der in einem Kloster alles begann. Aus recht heiterem Himmel ist zudem die geheime und weitestgehend konturenlos bleibende Gesellschaft der Dreizehn - ein Relikt aus Kolportagezeiten - mit von der Partie und erbaut im unzugänglichen Fels eine fächerartige, sich nach Gebrauch wie von selbst zerstörende Treppe, über die die Entführung der begehrten Frau einerseits wirklich gelingt. Andererseits ist sie leider schon tot.

Am Anfang waren der Marquis, und die Erzählung, schon einmal hier. Danach ging es die längste Zeit nach Paris. Langes Kapitel, das den Faubourg Saint-Germain mit satirischen Neigungen schildert und eine grobe Gesellschaftheorie entwirft, in der es ohne den Adel, so problematisch er ist, doch auch nicht geht. Zum Exempel: die Geschichte der Liebe, wenn man sie so nennen kann, zwischen der Herzogin von Langeais und dem Marquis. Der hat, noch einmal zuvor, sich in der Wildnis unter Entbehrungen durchgeschlagen und strandet nun im Dschungel eines so sittenlosen wie sittenstrengen Paris.

Die Herzogin lebt von ihrem Gatten, an den sie aus Rang- und Geld-Erwägungen verheiratet wurde, völlig getrennt. So sind die Spielräume einerseits weit, sie ist berühmt und berüchtigt dafür, sich von Männern belagern zu lassen (ohne Kloster, ohne Fels, ohne Treppe), ohne den letzten Schritt je zu gehen. So hält sie den Marquis, der als ultima passio ihre Hand küssen darf, auf Abstand. Es ist, so der Erzähler, eine Theorie-und-Praxis-Verwicklung, die sich nicht auflösen lässt: “Was die Theorie betraf, waren die Kenntnisse der Dame dürftig; in der Praxis kannt sie gar nichts; sie fühlte nichts und reflektierte über alles. Montriveau hatte nur wenig Erfahrung gehabt, war vollstänig ahnungslos in der Theorie und fühlte zu viel, um auch nur irgendetwas zu reflektieren.”

Und so sitzen sie einander fern in der Nähe, reden von Liebe, er leidet passioniert, sie glaubt, die Kontrolle zu haben, indem sie ihm nicht gewährt, was auch sie sich doch wünscht. Guter Rat ist nicht teuer, kommt jedoch, erst erhält er ihn, dann sie, zu spät, oder zu asymmetrisch. Die Strategie des Marquis (die ihm Freund Ronquerolles eingeflüster hat), auf Entzug und Verweigerung zu setzenund ihre Briefe nicht zu öffnen, geht nur zu gut auf, um ein Haar verliert die Herzogin Ruf, Gesicht, Zukunft. Sie will dann dem pragmatischen Gegenrat folgen, es zu treiben wie alle anderen auch, also den Gatten zu betrügen, aber nur ihm Geheimen. Auch das glückt nicht, es bleibt nur das Kloster. Fünf Jahre lebt sie dort als Schwester Teresa, wird wiedergefunden, ein letztes Aufzüngeln der Passion, dann ist sie tot. (72cp)

 

28.8. Die Königstreuen (Honoré de Balzac, F 1830)

Der Weltliterat erhebt sich erstmals im eigenen Namen aus dem Schlamm der pseudonym verfassten Kolportageromane, wenn auch mit sichtlicher Mühe. Ein Historienroman, klar an Walter Scott orientiert, über die Aufstände der Königstreuen - der Chouans - in der Bretagne des Jahrs 1999, gerade hat der Erste Konsul in Paris die Macht übernommen. In seinem Namen kämpfen . Alles ist in gerne detaillierter Landschaftsbeschreibung genau situiert, vom malerisch in den Bergen gelegenen Schloss im uralten Städtchen Fougères über die zahllosen als Versteck taugenden Ginsterbüsche bis zu den schachbrettartig arrangierten Feldern, durch schmale Wege verbunden, mit ihren als Hindernisse für den offenen Kampf genutzten, aus Bäumen und Pfählen geformten Barrieren dazwischen. 

Im dergestalt gekerbten Raum arrangiert Balzac in ständigem Hin und Her Aufstand und Liebe. Zwei Shifterfiguren, die zugleich die Liebenden sind, unterbinden auf der Seite der Liebe das jederzeit mögliche Ende. Sie sind in die Kämpfe, Bewegungen zwischen den verschiedenen Orten, verwickelt, vor allem Marie de Verneuil ist, auch für sich selbst, keiner der beiden Seiten klar zuzuordnen, ist die natürliche Tochter des Adels, eine von ihrem Geliebten Danton durch dessen Tod getrennte, von Fouché gedungene Mata Hari, die sich über ihr Begehren selbst außer Kontrolle gerät. So hält sie, den historischen Hintergrund verkörpernd, überragend und verdeckend zugleich, alles in Gang. Hin und her geht es, von oben nach unten, ins Versteck hinein und wieder heraus, Gottesdienst in der Kirche und in der Natur, bei Nacht und bei Tag, Verfolgungen und Fluchten über Stöcke, Steine, Schleichwege, das Herz dabei zum Steineerweichen mal zur einen, mal zu anderen Seite geschleudert.

Zuletzt muss, verzweifelt, geheiratet werden, ein letzter falscher Brief, vom unglücklich liebenden republikanischen Militär unterschoben, ist als Fälschung erkannt. Es fehlt nicht an derlei Kolportageobjekten. Ein stinkreicher Geizhals zum Beispiel hat sich eine Geheimtür gebaut, dahinter die Schätze an der Oberfläche versteckt. Balzac hat die Wirklichkeit, die geografische und die historische auch, vor Ort für die Fiktion ausbaldowert, in der er daraus sein romantisches Räuber- und Gendarm-Spiel destilliert. (60cp)

 

Maigret hat Skrupel (Georges Simenon, F 1958)

Sehr lange ist niemand tot. Da ist jedoch Xavier Marton, der Maigret am Quai des Orfèvres aufsucht und versichert, seine Frau habe es auf sein Leben abgesehen, das Gift schon im Schrank. Die Liebe, wenn es sie gab, längst erloschen, es gibt eine andere, die er liebt, es ist die Schwester der Frau. Ein Grund der Entfremdung: Der größere berufliche Erfolg der Frau, die als fast gleichberechtigte Teilhaberin ein Geschäft für Damenmoden betreibt. Er, Marton, hingegen, ist Abteilungsleiter im Grands Magasins du Louvre (Vorbild schon für die Innenausstattung von Emile Zolas Au bonheur des dames), wo er für die Spielzeugeisenbahnen zuständig ist. Maigret ist nicht sicher, was er von allem hält, vielleicht ist der Mann einfach geistesgestört. Der Oberstaatsanwalt sieht keinen Grund, irgendetwas zu tun, und verbietet Maigret, etwas zu unternehmen, bevor es «neue Entwicklungen» gibt. Das Buch hat wie alle anderen auch mehr Wetter- als Zeithintergrund, es ist ein Anfang-Januar-Buch, das in der Kälte den Mantelkragen hochschlägt; auf der Zeitebene dagegen ist die Gegenwart eine ohne klare Markierungen sich erstreckende Fläche, jedes spezifische Kolorit ist ins nuancenreiche Grau der Amtosphäre entfärbt. Nach vier Fünfteln ist Marton dann tatsächlich tot, eine fast schon Agatha-Christie-hafte Teetassen-Verschiebungs-Vergiftungsgeschichte. Zu Maigrets und mehr noch zu ihrem Bedauern hat die falsche Frau den Falschen getötet. (68cp)

 

27.8. Rosette par Rosette (Rosette, aidée par Eric Rohmer, F 1982-1987)

Apokryphen in Super-8, fünf Episoden, in denen sich Rosette, bei Rohmer Darstellerin, zur Regisseurin von Kurzfilmen, deren Protagonistin sie ist, verselbständigt hat. Und zwar, wie es im Vorspann jedes Mal heißt: «aidée par Eric à l’image». Die Kamera also: Rohmer. In der ersten Episode sitzt er dann sogar als strenger Vater der Heldin (Rosette) am Tisch. Das wechselnde Ensemble der einzelnen Folgen, die von 1982 bis 1987 entstanden, ist aus der Rohmer-Welt gespeist, Arielle Dombasle und Marie Rivière, vor allem Pascal Greggory, als Liebhaber Rosettes, einmal verkauft Féodor Atkine etwas auf einem Markt, Amanda Langlet in ganz kleiner Rolle, es geht, etwas harmloser und frivoler als bei Rohmer, um Liebschaften und Sex-Konkurrenz, die Straßen von Paris und die Passanten darin werden schön überrumpelt, die Räume sind eng, die Betten eher Matratzen, alles wirkt improvisiert und wie im Bewusstsein gespielt, dass es sich um ein Nebenbei-Amateurprojekt handelt. Es sind aber auch die Frontstellungen klarer: gegen die Männer mit Geld, die die Frauen betatschen, denen dann kleinere (Champagner) oder größere (die echten Juwelen) abgeluchst werden. Nicht, dass die Welt das gebraucht hat, aber schön ist es als Nebenwerk en famille. (60cp)

 

26.8. Extra Life (Gisèle Vienne, F 2023, Kampnagel Hamburg)

Der Bühnenebel, der wabert, von der Seite her, der sogar aus dem Vorderrad des Autos quillt, das links auf der Bühne herumsteht, er hört zu wabern nimmermehr auf. Mindestens zwei Jobs hat er atmosphärisch-semantisch zu tun. Er nimmt den Umrissen ihre Schärfe, was zur Unklarheit der Geschehnisse passt. Bruder und Schwester im Auto (das Licht geht erst an), nach einer Party, aufgekratzt, Chips essend, seltsame Nachrichten über Aliens im Radio hörend, zwischen die sich als Interferenz die Erinnerung an den Missbrauch durch Onkel Jacky zu mischen beginnt. Was genau da war, geht aus dem Dialog nicht hervor, allerdings gebiert das Trauma, das sich gegen die nüchterne Aussprache wehrt, Sagbarkeitskorrelate. Darum geht die Sprache über weite Strecken verloren, transformiert, übersetzt sich in die Zeitlupenkörper, das Pochen der Klänge, das Skulpturale des Lichts. (Und all das doch immer auch in den Bühnennebel getaucht.). Sehr sichtbar die Kunst, im Perfomance/Klang/Licht-Plural, die all das gebiert, und zwar auch schon den Nebel, der Medium nur für das Licht, aber in seiner Setzung selbst schon Aussage ist. Als Verunklärungskraft, in die hinaus die Geschwister in Zeitlupe tanzen, wenn man Tanz sagen will; es tritt eine Dritte hinzu und man sollte auch von der Puppe auf dem Rücksitz des Autos nicht schweigen. Sie wird später herausgeholt, auf einen Campingstuhl gesetzt und bekommt, als wäre ihr grünliches Gesicht nicht schon gespenstisch genug, eine Maske als Mördergesicht. Es ist, mal dumpfer, mal streicherhaft kreischend, auf der Synthesizer-Tonspur einiges Los, die Beats gehen nie geradeaus, einmal knallen die Sicherungen fast vollständig raus, sonst eher Ambient der bedrohlichen Art, wenn auch nicht mehr am Ende, das vielleicht sogar Hoffnung bereithält. Noch ein Korrelat, und es sind der Korrelate irgendwann doch recht viele, die Lichtatmosphäre. Hier kommt der Nebel zum Zweitjob: nämlich den Flächen des Lichts, das aus der Bühne vor allem in Blau Zusatzdimensionen modelliert, Korridore, die die Figur bedrängen in ihrem Zeitlupentanz, die Widerstand bieten, wie für diese zwei (und die Dritte) nichts in dieser Welt, die etwas von umnebelter Wüstenei hat, ohne Widerstand ist. Ein Phase daziwschen, in der alles rot wird, Laserstriche durchs Dunkle, erst einer, dann zwei, dann viele, ein Netz wie im hochgesichterten Mission-Impossible-Raum. Auch das Licht im Auto nun rot, selbst die Übertitel sind rot, die Hölle sperrt ihren Rachen kurz auf, sehr gekonnt ist das alles gemacht, nur dass sich der Gemachtseinscharakter als ästhetischer Nebel eigener Art nie ganz aus dem Bild drängen lässt. (65cp)

 

25.8. Age of Content (La Horde, Ballet Nationale de Marseille, F 2023, Tanz im August, Haus der Berliner Festspiele)

Unter dem sandgrauen Vorhang lugt das autoförmige Wesen, dann fährt es, gesteuert von einem sichtbaren Mann auf der Empore, die links ist und später auch von den Tanzenden bestiegen, bekrabbelt, beklettert werden wird. Eins, zwei, drei, viele Klone, grünlich uniformiert, betanzen das Wesen, klettern darauf herum, in Konkurrenz miteinander, stoßen sich herunter, etwas zwischen Mad Max und Titane. Dieses ist der erste Teil. Im zweiten geht der Vorhang zur Seite, eine rot-schwarze Marslandschaft glüht auf der Leinwand dahinter. Erst, und recht lange, sind nur zwei auf der Bühne. Zwei Avatare, sie gehen mit unnatürlichen, zu schnellen Schritten, wenden sich allzu abrupt, wippen auf eigentümliche Weise wie einst in Videospielen die Figuren, die warten, bis alles lädt, bis es weiter geht, Characters, die eine Weile non playable sind, bewegt stillgestellt, Körper im Buffering. Dann aber Gesten, wie von ferne gesteuert, aber es steuert sie niemand, Kampfschritte, Nachladen, Wippen, zwitscherndes Gehen. Dann mehr, wenn nicht alle, es sind viele, vielleicht zwanzig, bunt ist das, eine wippende Truppe, zu anderen Gesten befreit, wenn nicht zum Sex. Der Sex sieht irgendwann vor allem so aus, dass eine*r gebeugt über die oder den andere*n ist und den Po auf den Boden drückt, nieder und auf, auf und nieder. Sehr eindeutig ist das, und zugleich Figur, wie aus dem Videospiel übernommen, in Tanz übertragen, herauskristallierter Bestandteil eines Vokabulars, das aus dem Aggressiven auch ins Spielerische, ja Entfesselte hinübergespielt werden kann. Wenn der Vorhang dann wieder zu ist, beginnt, an ihm als Weltrand entlang, eine Schreitprozession. Aus der einer schon ausgeschert ist, auf der Tonspur macht nun Philipp Glass mit maximalem Minimal-Einsatz Radau. Dazu kann man tanzen, sich schleudern und biegen, der große Mann trägt die Latzhose dazu als Tutu. Er ist der Entfesselungsmeister, denn die anderen werden aus dem Schreittanz heraus einfallen, vom Avatarsein befreit, vom Klonsein befreit, das Videosexvokabular befreien sie selbst zur Bewegung die fließt, zu einem sich steigern Kollektiv, das dieses Miteinander feiert, als gäbe es kein Morgen, nur dass, denkt man, die Maschinenmusik von Philipp Glass ihre Abkunft aus dem Zwanghaften noch im ekstatischen Dudeln niemals verbirgt. Sie wird aber, bis zur finalen Entladung, in die das Publikum einstimmt, in Grund und Boden getanzt. (76cp)

 

Das Elixir des Lebens (Honoré de Balzac, F 1830)

In einer Vorrede, später geschrieben, erhebt Balzac keine Originalitätsansprüche auf diese Geschichte, ein Freunde habe sie ihm erzählt, sie klinge nach E.T.A. Hoffmann. Von ihm ist sie nicht, aber schauerromantisch in Hoffmanns Manier ist sie schon. Sie handelt von einem Don Juan in Ferrara, der eine sich gerade entwickelnde Orgie verlässt, um ans Sterbebett seines Vaters zu eilen. Der trägt ihm auf, ihn mit einer Flüssigkelt in einer Phiole sanft zu beträufeln. Diese Flüssigkeit ist das Elixir, das Leben nach dem Tode verspricht, als das eine Auge des Vaters sich wiederzubeleben beginnt, schrickt der Sohn mit Entsetzen zurück. Behält das Geheimnis und die Phiole für sich. Wird Atheist, führt ein ausschweifendes Leben, es wird mit dem Tod, davon geht er aus, noch nicht enden. Und gibt seinerseits dem Sohn, mit dem er sich wenig befasst hat, den Auftrag, das Elixir auf ihn aufzutragen. Der Schädel ist schon lebendig, der Arm wird es - und greift nach dem Sohn, dem die einzige Phiole entgleitet, das Elixir ist verschüttet. Der Schädel aber kommt ihn die Kirche, zur Verehrung als Reliquie, im Gottesdienst schimpft und spottet und schreit der nur halb zum Leben wiedererweckte Tote. Und schnappt sich, aufgegipfelte Drastik, den Abt und beißt ihn zu Tode. (58cp)

 

24.8. Les Amandiers (Valeria Bruni Tedeschi, F 2022)

Valeria Bruni Tedeschi dreht einen Historienfilm als Reenactment und Verlebendigung ihrer eigenen Zeit an der legendären Theaterschule Les Amandiers Ende der achtziger Jahre. Die tragische Liebesgeschichte zwischen den Studierenden Stella (Nadia Tereszkiewicz) und Etienne (Sofiane Bennacer), die im Ensemble-Porträt eine zentrale Stellung erhält, ist offenbar recht autobiografisch, nicht weniger als der groteseke Stadtvilla-Luxus, in dem Stella residiert, zwar ohne Eltern-Präsenz, aber mit großväterlichem Butler. Und verrückter als die am Realen orientierte Fiktion ist die Tatsache, dass Bruni Tedeschi nach den Dreharbeiten ein Verhältnis mit dem Etienne-Darsteller Sofiane Bennacer beginnt, der noch dazu schon vor Beginn der Dreharbeiten von gleich drei Ex-Freundinnen der Vergewaltigung beschuldigt worden war (die Prozesse sind noch nicht entschieden), was Bruni Tedeschi aber sich und allen zu verschweigen befahl. Und so schlingt sich der vom Theatermilieu sichtlich verschärfte leidenschaftliche Irrsinn der Jugend als Wiederholungszwang in die filmische/lebensweltliche Wiederaufführung der gesetzteren Jahre. Zugutehalten muss man dem Film, dass er kein Nostalgie-Programm fährt. Gerade in den Ellipsen und Sprüngen, die die Intensitätsmomente klug balancieren, liegt eine Strategie, das Heiße analytisch zu kühlen, zumal das Heikle auch im Heißen (den Szenen, in denen die eine, der andere womöglich zu weit geht) nicht nur präsent, sondern auch als Heikles markiert bleibt. Vom Griff zum Übergriff ist es niemals weit, das Finstere wird durch die Komik nie ausradiert, etwa in der Szene, in der sich, nachdem bei der Frau des einen Studierenden AIDS diagnostiziert wird, herausstellt, wer so alles mit wem geschlafen hat oder schläft, vor, auf, hinter der Bühne, mit Drogen und ohne (aber für viele, wenn nicht alle, ist auch das Spielen eine Droge, oder deren Ersatz): ständige Grenzüberschreitung. Bezeichnend ist (und selbst schon wieder moralisch bewertbar), dass der Film bei der Beobachtung dieser Überschreitungen zwar eine Art Kasuistik entwickelt, die einzelnen Fälle aber seinerseits nicht bewertet. Vom Gewährenlassen der sexuellen Selbst-Überwältigung vor versammeltem Team bis zum sexuellen Kuss-Übergriff Patrice Chéreaus reicht das, vom offenen Mobben einer Studentin, aber auch dem Übergriff einer Studierenden, die den von Drogen ausgeknockten Lehrer abküsst, bis zum gemeinsamen Drogenkonsum von Schüler und eben diesem Lehrer (der reale Pierre Romans, Leiter der Schule «unter» Chéreau, starb 1990 an einer Überdosis), von der Eifersuchtsszene zur Rote-Ampel-Verkehrs-Raserei. Sie lassen nichts aus, der Film zeigt das, ungerührt fast, lässt die Außenwelt fast vollständig raus, urteilt nicht, verzichtet aber auch, bei aller Liebe, auf Nostalgie und affirmative Emphase. Ob das nun der Blick in eine verführerisch brodelnde Lebensform oder in eine Hölle aus Ehrgeiz, Demütigung, selbst- und fremdzugefügten Torturen ist, liegt am Ende in der Auge von Betrachterin und Betrachter. (72cp)

 

Ein Drama am Ufer des Meeres (Honoré de Balzac, F 1834)

Das Drama ist längst vorüber, wenn der Ich-Erzähler und Pauline am Meeresufer spazieren, zwischen Land, Luft und Erde als der Natur, nicht der Zivilisation nahe Farbflächen-Welt. Es ist die Bretagne, etwas Mythisches hat sich in die Naturbeschreibung und darüber auch in die Sprache geschlichen, noch bevor die beiden dem knorrigen Fischer begegnen, vor der Zeit weit gealtert, bitter arm, ein Jubeltag, denn er hat einen Hummer und eine Seespinne gefangen. Er ist der Übermittler des Mythos, dessen versteinerte, ehemals lebendige Form verborgen an einer Stelle lauert, nämlich ein Mann namens Cambremer, der den Verstand verloren hat und nun draußen, vor der Gesellschaft, den Rest seiner Tage fristet. Seine Geschichte, vielmehr die seines verwöhnt außer die Bande familialer wie rechtlicher Disziplinierung geratenen Sohns erzählt nun der Fischer. Der Vater hat den Sohn einst nur durch eigenhändige Tötung noch zu disziplinieren gewusst, und büßt für diesen Schritt heraus aus aller menschlichen Bindung nun durchs Ausgestoßensein aus Gesellschaft und Ratio: Es hat ihm Verstand und Sprache verschlagen. Der Erzähler, der seinem Onkel schriftlich berichtet, trägt von der Geschichte ein Fieber davon. Seine Ruhe ist hin, während das Erfahrene im Text Niederschlag findet. (63cp)

 

23.8. Pauline à la plage (Eric Rohmer, F 1983)

Der nächste Sprichwort-Film, das Motto diesmal von Chrestien de Troyes (und, apropos, nach der Perceval-Verfilmung ist nun Arielle Dombasle vom Rand sehr viel weiter ins Zentrum gerückt): «Qui trop parole, il se mesfait». Zu viel der Worte, das kann man sagen, wobei das mit dem Schaden weniger eindeutig ist, wenn Pauline und Marion ihn am Ende mit einer Art Quantentheorie der Liebesdinge begrenzen. Mit einem Dialog am selben Ort, im Garten des Hauses am Meer, einem Dialog über die Liebe, hatte alles begonnen. Trockenübungen, danach geht es an den Strand, dort laufen den beiden die Männer über den Weg. Drei Männer, drei Frauen, drei Orte (wobei der Strand zu offen und damit öffentlich ist, die zwei Häuser dagegen eröffnen und versperren mit Treppen, Türen und Fenstern begehrens- und konfliktträchtiger den Blick). Marion, die von Pierre begehrt wird, sich aber mit Henri einlässt, der aber auch mit Louisette ins Bett geht, den Betrug jedoch auf Sylvain schiebt, in den Pauline sich verliebt hat, weshalb sie nun die Eifersucht plagt. Einer geht leer aus, am Strand, beim Tanz, und überhaupt, der schöne Pierre, dem es nicht gelingt, das Begehren auch nur einer Frau auf sich zu ziehen. Einer versteht die Liebe als äußerst beweglich, Henri, kein Wunder, dass er am sich Ende mit einer ganz anderen Frau auf einem spanischen Segelboot davonmachen wird. In diesen Spielen der Liebe, für Pauline sind es, auch wenn sie von Anfang an klug ist, Premieren, nimmt niemand allzusehr Schaden, vielleicht sogar, weil in der Summe Chrestien auf den Kopf gestellt wird: Im Zweifel sind die Worte, und es werden in diesem Film selbst für Rohmers Verhältnisse ausgesprochen viele gemacht, im Zweifel also sind sie, wenn man und frau sie nur geschickt genug spinnt, das Sicherheitsnetz, das jeden Absturz der Liebe auffangen kann. (75cp)

 

Ein Fürst der Bohème (Honoré de Balzac, F 1839-1845)

Der Novelle war zunächst eine Philippika Anti-Sainte-Beuve vorangestellt, dessen «makaronischer» Stil wird ausdrücklich verspottet, zudem hat Balzac sie dem Freund Heinrich Heine gewidmet. Eingefädelt ist die Sache als Wiedererzählung: Madame de la Baudraye hat aus einer Geschichte, die Raoul Nathan der Madame de Rochefide erzählt hat, eine eigene Novelle gemacht. Der Fürst der Bohème von dem sie handelt, ist ein Herr La Palferine, ein Held der Schulden, die er nie zurückzahlen kann, und der Frauen, die er mit mehr als losen Sprüchen (Galimathias, Kauderwelsch, Gehirndusche) dennoch erobert, bis er an eine ihrerseits lose Claudine gerät, die Tänzerin war und der er, um die feste Verbindung zu unterbinden, unmöglich einzulösende Bedingungen stellt. Da hat er die Rechnung allerdings ohne ihre monomane Entschlossenheit gemacht. Sie hat sich nämlich sogleich einen erfolgreichen Boulevardschreiber namens Du Bruel ausgeguckt und ihn, der ihr Liebhaber wird und dann auch ihr Gatte, sie dreht nun nur noch für ihn ihre Pirouetten, jedoch zu einem einzigen Ende: Er soll ihre Trittleiter sein, der ihr Geld, Kutsche, Stadtpalais, Rang und Namen verschafft, die des Anderen frivol ausgesprochene Bedingungen waren. Manch niederträchtige Bemerkung über Frauen legt Balzac hier via Nathan der Madame de la Baudraye in den Mund. Überragend, wenn auch von Ironien nicht frei, ist der Erfolg der Claudine: Ihre maßlosen Forderungen waren das Instrument, mit dessen Hilfe seinerseits nun Du Bruel es nicht nur zu Vermögen, sondern gar zur Pairswürde schafft. Dem Boulevardtheater geht mit seinen Stücken wenig verloren. Den Fürsten der Bohème kriegt Claudine selbstredend nicht. Die Erzählung jedoch hat das Begehren der zuhörenden Madame de Rochefide auf La Palferine gelenkt. (73cp)

 

[Bonnie «Prince» Billy, Keeping Secrets will Destroy You, 2023 (82cp)]

 

22.8. Vetter Pons (Honoré de Balzac, F 1847)

Kein Theaterroman, aber ein Roman, in dem das Theater, als reales in der Boulevardvariante, aber auch als Metapher für Paris, was fast schon Klischee ist, keine unbedeutende Rolle spielt: Szenen aus dem Pariser Leben, Auftritt Sylvain Pons, schon über sechzig, ein Mann, der nie Sex gehabt hat, ein Mann, der sich kleidet, als hätte man ihn aus der tiefen kaiserzeitlichen Vergangenheit in die Gegenwart der vierziger Jahre gebeamt. En detail wird der Mann geschildert, von Fuß bis Kopf vor Augen gestellt, ein Musiker, der als Komponist beinahe einmal etwas wie eine Zukunft gehabt hätte, nun aber sein nicht sehr üppiges Geld in einem von künstlerischem Ehrgeiz befreiten Musiktheater verdient. Dessen Eigentümer, in der Comédie wie auch in diesem Roman in wiederkehrender Rolle, ist Gaudissart, berühmt einst als ausgesprochen erfolgreicher Handelsvertreter, nun zur Ruhe gesetzt, das Leben dem Vergnügen gewidmet. 

Zwei Leidenschaften hat Pons, die eine: das Essen. Darum genießt er es sehr, bei seinen einzigen Verwandten, den Camusots de Marville, als demütiger Schmarotzer bei Tisch sitzen zu können. Umso bitterer, als er durch Intrigen der Dame des Hauses wie auch des weiblichen Personals abserviert wird (es mangelt nicht an finsteren Frauenfiguren); der Triumph einer Rückkehr ist von sehr kurzer Dauer. Die andere Leidenschaft: die bildende Kunst. Mit genialem Gespür für alles, was gut ist, hat sich Pons eine Sammlung von Gemälden (und bric-a-brac) ersten Ranges, von Dürer bis del Piombo, von van Dyck bis Metsu, auch ein von Watteau bemalter Fächer darunter, günstig zusammenkauft, das ist sein Schatz, dessen Geldwert ihn aber kaum interessiert. Womit er aber mit einer großen Ausnahme der einzige ist.

Die Tragödie, die Balzac mit geradezu bösartigem Vorsatz über seinen Helden hereinbrechen lässt, ist so fortgesetzt schlimm, dass der Erzähler sich in den letzten Sätzen durch Verweis auf das Schicksal und die Vergiftung eines der minderen Schurken dieses Romans in letzter Minute aus der Affäre beziehungsweise moralischen Narrationsverantwortung zu ziehen versucht. Da ist Pons bereits tot, und auch Schmucke, der Mann, der ihm Freund war, und mehr als Freund, die beiden die vielleicht größten (nicht)homosexuell Liebenden der französischen Literatur, bevor bei Flaubert dann Bouvard und Pécuchet einander an den Hüten erkannten. Schmucke ist deutsch, er ist ein kleiner Musikus am Theater, für das Pons dirigiert, komponiert, sie teilen im Beruf wie im Privaten ihr Leben; wobei Schmucke von der Kunst nichts versteht, nur von fast hündisch ergebener Liebe.

Pons ist unscheinbar, Schmucke unscheinbarer noch, beide gezielt mit als feminin lesbaren Attributen versehen. Gegen das Unheil, das sich in Gestalt geldgieriger Figuren unterschiedlicher Art, Männer wie Frauen, um sie versammelt, haben sie keine Chance. Da ist La Cibot, in deren Haus Pons und Schmucke leben, ein weibliches Monster, das am ehesten in Richtung der Therese in Canettis Blendung verweist. Da ist der antisemitisch gezeichnete Kunstsammler Elie Magus, da ist ein Anwalt, der aus dem Recht verlässlich das Unrecht holt, ein Arzt, der hoch hinaus will. Im zweiten Teil, oder Akt, werden ausdrücklich alle im ersten Teil teils sehr ausführlich vorgestellten Figuren, auch zwei weitere Deutsche, noch einmal auf die Bühne geholt. Sie alle agieren in einer gnadenlosen Destruktionschoreografie, in der die Schlingen enger und enger um den sterbenden (und immer sterbenderen) Pons gelegt werden. Schmucke stirbt nach. Es folgt ein: Was aus den anderen wurde. Und die ironische Verbeugung vor höheren Schicksalsmächten, die Balzac dies zu malen befahlen. (76cp)

 

21.8. Fallende Blätter (Aki Kaurismäki, Finnland 2023)

cargo #59 (75cp)

 

20.8. Shared Landscapes (Kuratiert und konzipiert von Caroline Barneaud und Stefan Kaegi, Berliner Festspiele, Multiinstitutionelle Koproduktion)

Sieben Stunden Landpartie, Hangelsberg (nahe Grünheide, wo sich im Hintergrund unsichtbar Musks Gigafactory durch die Landschaft frisst), schwül, heiß, wir denken, wir seien der Kunst wegen hier, in sieben Etappen, dabei werden wir nur den Mücken zur Blutabnahme serviert. Poncho, Decke, Campinghocker kassiert, vom Wegesrand, aus Lautsprechern (der Sound ist sehr gut), ist Musik von Ari Benjamin Meyers zu hören, später liegen Bläser halb verborgen im Gras, am Ende kommen sie angerannt zum Konzert: kantig, minimal, volltönend und zugleich schräg, einmal explizit als Vogelersatz, zwitschernd, röchelnd, auch mal fast nur Geräusch. Zwischenspiel, Strukturgeber, Übertöner der Mücken. Erste Station: Stefan Kaegi hat niedrigschwellig und klug, wenn auch inzwischen klischeehaft riminimäßig, Expert*innen des Alltags (plus Kind) zum Thema Wald, Wetter und Liegen (eine Psychoanalytikerin) in ein Gespräch zu Natursounds montiert. Wobei es Vogelstimmen nur über Kopfhörer gibt, der reale Wald bleibt stumm, einzig beim Sirren der Freunde, deren Mahlzeit wir sind, weiß man recht, ob eingespielt oder echt. Ein paar Episoden, Stunden und Tigermücken später singt noch, aber natürlich auch nicht in echt, die dreihundertsilbige Lerche, und der Traktor mit dem Experten für rolls-royce-hafte Pferdeheuproduktion fährt vor, das ist nochmal sowas von klischeehaft riminimäßig, also so etwas wie Sendung mit der Maus, jedoch als seriöses Theater, also meistens schon nett, stammt aber von einer Epigonin namens Emilie Rousset. Kaegi, also Rimini, kuratiert Riminihaftes. Im guten Fall, denn anderes ist nicht nur weniger gut, sondern einfach nur schlimm. Im neckischen Mann-Frau-Dialog unter anderem über Evolution, Gejagte und Jäger*in werden wir per Kopfhörer zum Achtsamkeits-Ringelpiez-mit-Anfassen-von-Mensch-und-Natur-Seminar dirigiert (Sofia Diaz, Vítor Roriz), niedrigschwelliges Mitmachtheater, die Zyniker (ich) werden präventiv denunziert, habe mich aus dem Wir aussortiert, Campinghocker am Rande, immerhin ist der Handyempfang im Wald ziemlich gut. Nicht der Tiefpunkt, der kommt am Ende, El Conde Torrefiel, die schon im letzten Jahr bei den Wiener Festwochen sehr unangenehm auffällig waren, haben auf einer Lichtung ein Schriftlaufband mit Elektrogedröhn und -Gebizzel hinter mückenschwarmgebärendem Teichvordergrund aufbauen lassen, soundmäßig stark. Inhaltsmäßig eine Erde/Natur/Gaia-Prosopopeia, analysefern platte Menschenbeschimpfung, die nach Pennäler- oder auch Kneipensäuferart Banalitäten in die Landschaft posaunt. Ein Höhepunkt, kind of: Begüm Erciyas und Daniel Kötter haben uns per virtueller Realität zum Schweben über dem Walddach gebracht, was schöner wäre, hätten sie diese Schwindelerfahrung nicht durch erschwindelte Politrelevanz aufzuwerten versucht. Auf Hockern werden wir durch Lektüre (Text als Ernstmedium) instruiert, dass es um den Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan gehen soll, darum dringen Drohnensounds ins Schwebebild, alibihalber. Wie hier der behauptete Inhalt und die ästhetische Erfahrung im Prinzip beliebig gefügt sind, macht die Arbeit immerhin zur Allegorie dieser Art Kunst. (45cp) 

 

17.8. Son-Mother (Mahnaz Mohammadi, Iran 2019)

Son-Mother, zwischen Mutter und Sohn Binde- und Trennstrich zugleich. Sie, Laila, jung verwitwet, einen vielleicht zehnjährigen Sohn und eine noch sehr kleine Tochter, arbeitet in einer Fabrik, in der ständig Entlassungen drohen. Sie wohnen zu dritt in einer Unterkunft, mehr Hütte als Haus. Kazem, der Fahrer eines Busses, der die Arbeitenden zur Fabrik transportiert, macht Laila einen Heiratsantrag. Er ist deutlich älter, ein sanfter Mann, hat eine Tochter im Teenageralter. Und darum ist Lailas Sohn Amir ein großes Problem: Die beiden zusammen im selben Zimmer in seiner kleinen Wohnung, das gäbe Gerede. Laila verliert ihren Job, sucht verzweifelt nach einer Lösung und steckt ihn, von einer älteren Bekannten beraten, in ein Heim für gehörlose Kinder. In der Mitte des Films (Debüt der Regisseurin Mahnaz Mohammadi, Drehbuch: Mohammad Rasoulof) der Wechsel von der Perspektive der Mutter (die Kapitelüberschrift jedoch: Sohn) in die des Sohnes (Überschrift: Mutter). Am Scharnier eine groteske Szene in einem Schwantretboot auf einem See, in der er von der Bekannten Instruktionen zum Sich-taub-stumm-und-überhaupt-verständnislos-Stellen im Heim erhält. Er hält sich daran, ein Gegenentwurf zu all den gewitzten Kinderfiguren des iranischen Kinos, ist und bleibt lange ein Held von vollendeter Passivität, und scheint, vom Zwangssystem zum Nicht-Subjekt geschoren, eher von äußeren Kräften gedrängt noch da, wo er dann doch die Initiative ergreift. Dass die Mutter ihn in dieses Heim gesteckt hat, dass er schweigt und nicht spricht, dass er bleibt und auch dass er flieht:  Falsche Entscheidungen, nur dass es in fataler Lage keine richtigen gibt. Sehr präzise ist das - mit genau dosierten hyperrealen Soundeffekten und gegen das finstere Geschehen scharf, hell, mit viel Blauton im Bild - zwischen Naturalismus und eine fast halluzinatorische Klarheit gestellt. Figuren, die, auch wenn sie zum Unglück nur Unglück fügen, nicht bösartig sind, gerade Kazem ist es nicht, nur fehlt ihm die Kraft, das als richtig Erkannte gegen die den Widerstand der Gesellschaft zu tun. (71cp)

 

16.8. Maigret auf Reisen (Georges Simenon, F 1957, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Gar nicht wohl fühlt sich Maigret im Milieu, in das er diesmal gerät: eine Gesellschaft der Luxushotels, in denen Milliardäre ihrem Vergnügen (Alkohol, Sex und dergleichen) frönen, von Monaco nach Paris jetsettend und dann anderswohin. Maigret ist gefragt, weil erst eine mehrfach, gerade aber gar nicht mehr verheiratete sehr bürgerliche «Comtesse» sich im Bett semisuizidiert  (eine der vor ihrer Zeit im Verblühen befindlichen Frauen, wie Simenon sie am Fließband imaginiert); und dann, beziehungsweise genau genommen schon, verursachend, vorher ein sehr reicher und recht kugelrunder Mann in der Badewanne liegt - nicht nur tot, sondern ertränkt. Die Überlebende und der Tote waren ein Paar gewesen, oder, wie sich heraustellt, gerade nicht mehr, die Comtesse ist über alle Berge, und zwar geflogen, so fliegt Maigret, vielleicht etwas übereilt, hinterher (in die Schweiz, in der nun auch Simenon lebte). Landet schon wieder in einem Luxushotel, wo der Calvados aus dem Versteck hinter den präsenten teuren Whiskys geholt wird. Der Kommissar, der aus dem Kleinbürgertum kommt und sich in Gott und die Welt einfühlen kann, kommt sich vor wie auf hoher See, ganz buchstäblich, es erinnert ihn an die Fahrt mit dem Schiff in die Vereinigten Staaten. Rein zur Erdung telefoniert er zwischendurch eine halbe Stunde mit seinem Kollegen Lucas. Und hat am Ende schließlich verstanden, wie die Herren VIPs ticken. Damit ist der Fall auch gelöst. (68cp)

 

15.8. Chronique d'une liaison passagère (Emmanuel Mouret, F 2022)

taz-dvdesk (80cp)

 

14.8. Oppenheimer (Christopher Nolan, USA 2023)

Narratives Origami mit enormem Getöse, Sprüngen vor und zurück in der Zeit und im Raum, a lot of that thing they call «acting», realiter Sex mit Sanskrit und nicht so realiter Sex vor dem Ausschuss, angetippt vieles, in die Luft gejagt manches, Einstein verstrubbelt am Teich, Fermi tief drunten, Frauen, Indigene, Japaner*innen kaum Sache einer Nebenerwägung, das Biopic als Gerichtsfilm, in weiten Passagen tatsächlich, aber auch als darunter liegende Konflikt-, Moral- und Informationsverabreichungsform; wobei es in öder Konventionalität dann auch noch auf ein Duell hinauslaufen soll. Ähnliche Parodien der Nolanfilmform - so selbstbesoffene wie weitgehend witzfreie Informationskomplikation mit musikalischer Omenbegleitung - wären für weitere Genres denkbar, man stelle sich vor, er hätte Barbie verfilmt. Was natürlich nicht oder, zur Kenntlichkeit sich entstellend, nur komisch ginge, denn dann fiele wohl auf, wie sehr das Gedröhne, wo es sich nicht zur meisterhaft beherrschten Genre-Überwältigungsform schließt, an den schweren diesmal historischen Zeichen, die es herumwuchten will, nur parasitiert, ohne mehr als das Trivialste, wiewohl sehr verschachtelt und mit von sich selbst ergriffenem atomarem Beben im Bild, dazu zu sagen zu haben. (41cp)

 

13.8. The Romeo (Schauspielhaus Zürich Dance Ensemble, Trajal Harrell, 2023, Tanz im August)

Ein Zettel mit FAQ zum fiktiven, die Zeiten übergreifenden «Romeo»-Tanz wird verteilt, die Tänzer*innen, zwölf, international, divers, ethnisch sehr, etwas weniger, was Alters- und Körperunterschiede angeht, sind da, auf der Bühne, tanzen noch gar nicht, stellen sich in einer (fake?)-autobiografischen Funfact-Parade vor. Dieser Bogen wird sich am Ende schließen, wenn sie sich, ihre Namen und Körper, einigermaßen wahllos in der Geschichte verorten, Orlandos, die Romeo heißen - Shakespeares Stück, Shakespeares Helden und erst recht die Paarkonstellation, hält sich die Choreografie dabei vom Leib. Nach dem Prolog erste Auftritte durch das Tor im blauen Gittergang, der mehr ahnen lässt, was sich dann jeweils zeigt, zunächst apotropäische Gesten zu Belcanto-Gesang, dann aber der Übergang in ein Repertoire des Fluiden, das den weiteren Abend bestimmt. Wiegend, wippend, wogende Knie, fließende Arme, harmonisch gebunden und gar nicht gebrochen, auch wenn es mal mehr an Isadora Duncan und mal mehr an Griechentum oder Ägypten gemahnt, insgesamt auf die Dauer zu sylphenhaft undifferenziert über die differenten, aber nie auf individuelle Reisen geschickten Körper hinweg, das alles in bunten, ständig wechselnden High-End-Kostümen, eine haute-couture-positive Hipsterversammlung, als Einzeltänzer gibt Trajal Harrell selbst Bindungs-Zäsuren dazwischen. Nach doch allzu viel fluider Schönheit, mit einem Gewitter auf der Tonspur dazwischen, das nichts reinigt und nichts unterbricht, mal zu reinem Klavier, mal mehr spanisch und zur Gitarre, auch softer Blues darf es sein, wird der Catwalk-Charakter zusehends stärker, es mündet das Ganze in eine Vogueing-Performance, deren Selbstermächtigungs-Glamour aber alle Kämpfe, wie es scheint, hinter sich hat. Bis zuletzt doch noch etwas wie Aggression ins betont Harmonische kommt, Solo-Catwalks in bunten Fummeln - die aber werden an der Rampe der Bühne von flinken Händen aufgeschnürt, ausgezogen, zerteilt, heruntergerissen. Es ist diese Entkleidung aber mehr sanfte Dekonstruktion als etwa Zerstörung, darunter nicht Nacktheit, sondern meist eng anliegend Schwarzes. In diesen Kostümen dann Versammlung zu Posen, ein Bücken und Krümmen, wenn nicht gar Sterben. Formvollendet auch das, aus seiner Haut kann und will und kann dieser Abend nicht wirklich heraus. (63cp)

 

12.8. Un homme d'affaires (Honoré de Balzac, F 1845)

Party im Salon der Kurtisane, die sich Malaga nennt, die Stunde ist spät, die Stimmung ist gut, in einer Runde versammelt sind Männer, die der Erzähler nicht weiter vorstellen muss, das sie aus der Comédie Humaine, wie er schreibt, gut bekannt sind. Es ist 1845, und es ist die einzige Erzählung, die Balzac in diesem Jahr fertiggestellt hat. Der Anwalt Desroches gibt eine Finanzgeschichte zum besten, deren Protagonist der Schuldenkönig Maxim de Trailles ist, und seine ausgefuchsten Techniken der Nicht-Rückzahlung seiner massiven Kredite durch Wechsel und andere Bargeld-Umgehungs- und Aufschubverfahren. Desroches, also Balzac, kennt sich damit hervorragend aus, geht entsprechend sehr ins Detail. Die Anekdote, die er erzählt - und zwar in Form einer Wette darum, welche der Parteien den Sieg davontrug -, berichtet von einem Geschehen, das Jahre zurückliegt. Die Gegner de Trailles sind die Geschäftsleute Cerizet und Claparon, letzterer hatte eine dubiose Karriere als Strohmann-Bankier (und wurde so zur Nemesis von César Birotteau), ist inzwischen aber mit Schimpf und Schande aus der Hauptstadt vertrieben. Die Intrige, die Cerizet gegen de Trailles spinnt, dreht sich um ein Lesekabinett, eine junge Schöne, die die Geliebte de Trailles ist, um eine Möbelkauf- und -verkaufstransaktion, bei der de Trailles Gewinn zu machen hofft. Nur dass hinter allem ein alter Mann steckt, Cerizet in Verkleidung, der mit dem Plot das scheue Wild namens Bargeld auf die Lichtung gelockt hat. Er nimmt die Maske ab, de Trailles ist geschlagen. (60cp)

 

Maigret amüsiert sich (Georges Simenon, F 1956, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

In seinem 50. Fall agiert Maigret als Privatdetektiv. Er hat nämlich endlich einmal wirklich Urlaub genommen, zwar verreisen sie nicht und machen Ferien in Paris, gehen bei der Gelegenheit sogar zweimal in einer Woche ins Kino. Von einem spektakulären Mordfall erfährt Maigret, der sich und seiner Frau versprochen hat, unter gar keinen Umständen sein Büro am Quai des Orfèvres aufzusuchen, nur aus der Zeitung. Zwei Ärzte, eine nackte Leiche im Schrank der noblen Praxis des einen, der andere im Verdacht, deren attraktiver Geliebter gewesen zu sein. Weil Maigret sich die Hände gebunden hat, ihn die Sache aber natürlich trotzdem fasziniert, er jedoch Janvier, der an seiner Stelle die Ermittlungen leitet, nicht ins Handwerk pfuschen will und also auf das Verhören der Verdächtigen verzichten muss, darum also ist er auf die vielleicht etwas unglaubwürdig detaillierten Botenberichte der Zeitung verwiesen, vor allem eines eifrigen Journalisten namens Lasagne. Aus dessen Informationen, verbunden mit unauffälligen Besuchen an den Orten des Geschehens, auch in Gesprächen mit Madame Maigret, die sich für die Sache zu interessieren beginnt, rätselt der Kommissar außer Diensten, amüsiert über sich selbst, im Hintergrund mit. Und kann es nicht lassen, hier und da anonyme Hinweise zu schicken, an die Presse, und auch an Janvier. Dessen kurze briefliche Antwort ist der letzte Satz dieses Buchs: Danke, Chef! (72cp)

 

11.8. 3 x Musée des Beaux Arts, Lyon

Vincenzo Campi: The Ricotta Eaters (1580)

Vier Figuren, drei Männer, eine Frau, bäurisch, vor allem der Linke mit seiner roten Kappe, dem der Ricotta fast aus dem Mund quillt - das kommt davon, wenn man gleich mit der Kelle aus dem Käseberg schaufelt -, hat manche an den Pantalone aus der commedia dell’arte erinnert. Der zweite von links scheint just in dem Moment festgehalten, in dem er sich den Löffel mit Ricotta zum Mund führt; der Dritte mit Zauselbart (dessen Zipfel sich im Latz doppeln) und schlechten Zähnen scheint heiter betrunken - und die einzige Frau rechts, als einzige verkörpert sie üppiges, blühendes Leben, verdankt ihre roten Wangen womöglich auch nicht nur der Vorfreude auf den Ricotta. Sie hat den Löffel in der Hand, die Gruben im Käse machen jedoch klar, dass sie, anders als die gierigen Männer links sich noch in Zurückhaltung übt. Der eine ganz links ähnelt übrigens sehr der Figur ganz links in Campis 1579er-Fischverkäufer-Gemälde mit Mutter-und-Kind in Maria-und-Jesus-Pose, das er im Auftrag der Fugger geschaffen hat; in der 1580er-Variante dagegen steht an derselben Stelle ein anderer Mann. Ob reales Vorbild oder Typus ist, bei fast identischer Entstehungszeit, unklar, Campis Abwendung vom Renaissance-Manierismus in Richtung Genre-Groteske nach flämischem Vorbild dagegen ist deutlich. Die vier Figuren sind bäurisch, Sympathie sucht man im Blick auf sie alle eher vergeblich. Andere von Campis Genre-Bildern zeigen eine Überfülle der Dinge: Fische aller Art in diversen Tellern, Schüsseln, Gefäßen; Hühner, Fasane, die hängen, Menschen, die rupfen und spießen, Hund und Katze im knurrenden, fauchenden Streit. Hier aber Konzentration auf das Vierer-Porträt, ein Schnappschuss, alle blicken so beseelt vom Genuss des Ricotta wie auch ein wenig, ohne sonderlich schlechtes Gewissen, eher freudig, ertappt. Ricotta war billiges Essen für niedere Schichten; fast wird er als verspeister Fünfter in dieser Runde, erscheint, nein, nicht als Totenschädel, aber eine Art Torten-Gespenstergesicht. Und auffällig ist: Alle vier, die da speisen beziehungsweise das Speisen antizipieren, blicken aus dem Gemälde heraus, theatral, nicht versunken, eine gesellige, genießende, von ihm wohl als töricht wahrgenommene Truppe, die der Künstler in einer Momentaufnahme für die Ewigkeit festhält.

Hippolyte Flandrin: Pietà (ca. 1842)

Hippolyte Flandrins heute wohl berühmtestes Werk entstand früh, sein sitzender, die Stirn auf den Knien bergender Nackter Mann am Ufer des Meeres, spätestens mit Wilhelm von Gloedens fotografischem Re-Enactment zur Schwulen-Ikone geworden. Entstanden war es als Beleg, Flandrin, in Lyon geboren, hatte als ganz junger Mann bei Ingres studiert und auch dank seiner Unterstützung ein Rom-Stipendium erhalten; nun musste er Belege seiner Tätigkeit an die Geldgeber senden: Das Bild, heute im Louvre (aber eine Version auch in Lyon), war eines von ihnen. Ein Christus, der auf dem Esel in Jerusalem einzieht, ein großformatiger Dante, viele mit zarter Eleganz ausgeführte Porträts, Skizzen, die als Kirchen-Wandmalerei in Paris groß ausgeführt wurden - viel Schönes von Flandrin in diesem Museum. Und ein wirklich unheimliches Bild. Es ist vielleicht, man weiß es nicht sicher, unvollendet, es wurde zu seinen Lebzeiten nie öffentlich ausgestellt. Flandrin war einer von drei Brüdern, Paul auch Ingres-Schüler (er hat beiden, lese ich, die Ausbildingskosten erlassen), und Auguste ebenfalls Maler, alle drei eng verbunden, gerade Auguste und Hippolyte auch stilistisch sehr ähnlich. Auguste starb sehr jung, keine dreißig, ihn malt Hippolyte nun nackt, als blonde Leiche, in Gestalt einer Christus-Figur. Die an seinem Totenbett stehende Frauenfigur, kein Gesicht zu erkennen, nur helleres Dunkel vor dunklerem Dunkel, vor dem Hintergrund (Meer, schwarze Felsen) kaum in den Vordergrund abgehoben, davor die Leiche im pastosen Fleischton, dunkelblondes Schamhaar, die Arme flach zur Seite anliegend. Eine Art Vorhang, ein Fenster, etwas spiegelt sich noch einmal rechts. Rätselhafte Theaterszene, mit einem toten und einer lebenden Toten.

Eugène Carrière: Le compositeur Ernest Chausson et sa famille (1895)

Carrière hatte recht konventionell klassisch-akademisch und wenig erfolgreich begonnen, aber bis zur Mitte der achtziger Jahre hatte er einen ganz eigenen, auf Anhieb erkennbaren Personalstil gefunden. Das ganze Gegenteil einer ligne claire: Aus dunklen, braunen Hintergründen dringen, wie eine auf halbem Weg zur Entwicklung angehaltene Fotografie, oder vielleicht, im Gegenteil, als Gegenprozess, durch das Licht und die Zeit schon wieder zu verschwimmenden Braun- und Sepiatönen entfärbt: so oder so: die Konturen der Dargestellten fast nur wie Schemen. Berühmt sind Porträts von befreundeten Autoren, Künstlern, wie das Paul Verlaines, intime Bilder von Mutter und Tochter, die Rückenansicht einer sich entkleidenden Frau, das Fleisch des Körpers nur eine hellere Variante des warmen Braun, das als Kleidungsstück vor braunem Hintergrund fällt. Im Porträt der Familie Chausson - links dunkel der Mann, daneben, ihm sich in verwaschenem, vergilbtem Weiß zubauschend die Frau, rechts daneben, eins, zwei, drei, vier Kinder, in als blau oder vielleicht sogar rötlich ahnbaren Nuancen von grau und nicht-grau. (Von ferne grüßt die Familie Karls IV. herüber.) Das Gemälde ist riesig, der Lichteinfall macht mit Spiegeleffekten das Erkennen nicht leichter, man fühlt sich davor erst einmal wie von einer großen, grauen, undefinierten Fläche bedrängt. Um dann zu begreifen, dass man selbst das Entwicklerbad ist: Je länger man blickt, desto erkennbarer werden die Gestalten, nahen sich, wenngleich als Gespenster, dem Raum und der Zeit, in der sie sich fanden, in einen eigentümlichen Zwischenzustand entrückt.

 

 

10.8. Ana Mendieta (Mo.Co Montpellier)

Ana Mendietas Kunst war (und ist vermutlich auch noch) von ihrem Tod überschattet: Ihr überlebender Partner, der zu Lebzeiten jedenfalls berühmtere, dem Minimalismus zugerechnete Künstler Carl André, hat den Verdacht immer von sich gewiesen, er habe sie aus dem 34. Stock des Gebäudes in der Mercer Street in Manhattan gestoßen. Es sei Suizid oder Unfall gewesen, sie hätten sich gestritten, es sei um seinen, den größeren Ruhm in der Kunstwelt gegangen. Mendieta war in Havanna geboren, ihr regimekritischer Vater hatte sie, als sie elf war, mit ihrer Schwester in die USA geschickt. Sie wuchs in Pflegefamilien auf, begann indigene Kunst zu studieren, begann mit Malerei, der man diesen Hintergrund ansieht. Dann aber kam sie in Kontakt mit der künstlerischen Avantgarde, entwickelte ihr eigene - mit gutem Grund als feministisch rezipierte - Mixed Media Art aus Performances, Fotos, Videos. Meist steht der Körper, ihr eigener zunächst, dann zusehends abstrahierte weibliche Körper, manchmal kaum mehr als Umrisslinien und Vulva, im Zentrum. Die Ausstellung fokussiert auf die Serie Siluetas, die seit den siebziger Jahren entstand. In Boden, Stein, Wasser, die Elemente der Natur also, trägt Mendieta Spuren von Körpern ein, die an gleich zwei Grenzen siedeln: der zwischen Mensch und Natur, denn oft sind die Formen und Umrisse (auf den Fotografien) kaum zu erkennen, fast (und immer nur fast) könnten sie natürlich entstandene Formationen sein; von der anderen, der Seite des Humanen her, geht Menschliches so in das Vegetative über und ein, ähnlich in einer Fotoserie, in der aus Mendietas eigenem Körper Pflanzen und Blüten zu sprießen scheinen. Zweitens liegen die Silhouetten als Spuren zwischen den Zeiten: Die Tatsache ihrer rezenten Eintragung wird bewusst verwischt, sie wirken wie Reste, überkommen aus tiefen Vergangenheiten, wie Relikte magischer Rituale An anderen Stellen wird dagegen das Vergehen performt: In einer Filmarbeit brennt ein körperumrissförmiges Feuer im Dunklen ab, lodert, brennt an einer nach der anderen Stelle herunter, verglimmt. Am Ende herrscht Schwärze. Oder es wird das Inszenierte akzentuiert: Ein Raum im Museum ist mit Piniennadeln, Bäumen wie natürlich gewachsene Flora gefüllt, als Installation (nach Mendietas Vorgaben ist diese Re-Installation der ausstellungsort-typischen Vegetation nachgebildet) - auch hier ein dunkler, flächiger Körperumriss am Boden: Spur, die die Anstrengung ihres Hergestelltseins mit großem Aufwand mit ausstellt. (73cp)

 

Sarrasine (Honoré de Balzac, F 1830)

Der Ich-Erzähler, der namenlos bleibt, situiert sich am Fenster: draußen eine kalte, erstarrte, tote Welt, drinnen ein Pariser Fest, das je später der Abend, desto frenetischer wird. Die Familie de Lanty, die der Gastgeber ist, ist von einem Reichtum, dessen Herkunft geheimnisvoll ist. Dieses Geheimnis, zentraler Teil des von Barthes in S/Z so genannten hermeneutischen Codes, wird am Ende gelöst, als Klärung des Sarrasine/Zambinella-Komplexes, der sich nach und nach erst ins Bild schiebt; die Erzählung, eines der ersten von Balzac unter eigenem Namen veröffentlichten Werke, ist der Geist E.T.A. Hoffmanns nicht fern, sie sitzt an der Schwelle, oder Tapetentür, zwischen Romantik- und Realismus-Register, draußen das Übernatürliche, drinnen Paris. Es fällt der Erzähler-Blick auf eine wunderschöne junge Frau, Marianina, die sechzehnjährige Tochter des Hauses, auch auf ein (mutmaßlich: Akt)-Gemälde, das eine nachgerade vollkommene Frau zeigt . Er ist im Gespräch mit einer anderen Frau, Madame de Rochefide, als sich ein Greis, dem Tode näher als dem Leben (also der Re-entry der Opposition des Beginns in den festlichen Raum), dem Blick präsentiert. Dies der Rahmen, in dem nun die Jahrzehnte zurückliegende Geschichte der Liebe Sarrasines zur Sängerin Zambinella entfaltet wird, eine Liebe als Passion und Totalprojektion, da Zambinella, deren Verweigerungen das Feuer nur immer weiter anfachen, wie sich herausstellen wird, gar nicht die Frau ist, als die Sarrasine sie sieht, projiziert und in einer Skulptur (die die Vorlage des erwähnten Gemäldes sein wird) auch als Kunstwerk idealisiert. Zambinella ist ein Kastrat, für Sarrasine der Zusammenbruch einer Welt, denn die Liebe galt nicht der realen Person, sondern dem Ideal, zusammengehalten von Gender-Ideologie, dem Willen zur Verblendung und engelhaftem Gesang. Das Ideal fällt für ihn, als sein Reales dekuvriert ist, heraus aus der symbolischen Ordnung und buchstäblich zusammen ins Nichts. Sarrasine wird an dieser Wunde der Projekion, weil er insistiert, insistieren muss, sterben. Zambinella dagegen reüssiert noch jahrzehntelang als Kastrat, daher das Geld der ihm verwandten Familie de Lanty. Ein letzter, unheimlicher Auftritt ist nun der auf diesem Pariser Fest, als Greis, als lebender Tote, in dessen Nähe es Madame de Rochefide, der sich in der Figur und ihrer Geschichte die Nichtigkeit der sozialen Existenz offenbart, fröstelt. (80cp)

 

Maigret erlebt eine Niederlage (Georges Simenon, F 1956)

Eine Figur aus Maigrets Kindheit steht unvermittelt in seinem Quai-d’Orfèvre-Büro. Es ist Fumal, der Sohn des Metzgers, er hat ihn schon damals gehasst. Nun ist er fett und erfolgreich, Selfmademan als Fleischereikettenbesitzer, ihm gehören mehr als zehn Prozent der Metzgereien in ganz Paris, er ist so wichtig, dass er bei Ministern ein- und ausgeht. Zu Maigret, der den jovialen Ton Fumals schroff abweist, kommt er, weil er sein Leben bedroht sieht. Er hat anonyme Briefe in Blockschrift erhalten. Maigret stellt etwas widerwillig Leute ab, die auf Fumal aufpassen sollen, als wäre da nicht noch der diplomatisch heikle Fall einer verschwundenen Engländerin. Doch in der ersten Nacht schon wird er in seinem Haus ermordet, die Ermittlung beginnt. An potentiellen Täterinnen und Tätern mangelt es nicht, denn Fumal war ein schlechter, sadistischer Mensch. Seine Frau, die Geld in die Ehe gebracht hat, ist Trinkerin, meist im Bett, nie geliebt; ihr Bruder geht, von Fumal, dem sonst wenig geht, nicht beachtet, im Seitentrakt ein und aus. Fumals Sekretärin, die es nur beim ihm aushält, weil sie mit dem verdienten Geld und einem Mann auf und davon will, ist von ihm gedemütigt worden. Die Drohbriefe, sagt sie, hat Fumal im übrigen selber geschrieben. Maigret steht so sehr schnell im Trümmerhaufen der vom Sadisten Fumal zerstörten Seelen. Der Täter, den er ermittelt, ist - dies die Niederlage Maigrets - am Ende auf und davon. Der Arm des Erzählers jedoch reicht in die Zukunft, in der ihn das Urteil mit Verspätung ereilt. (69cp)

 

9.8. Le jeune poète (Damien Manivel. F 2014)

Der junge Dichter ist jung, keine Frage, gerade achtzehn, Dichter jedoch will er erst werden. Oder es steht das Dichtersein- und -werden-Wollen vage, den Wolken näher als dem Boden, dafür, dass einer überhaupt etwas werden will, vielleicht nicht einmal sein, wenn auch als Antwort auf die explizit ausgesprochene Frage: Wer bin ich?. So geht er, schlaksig, und steht er, ziellos, so sitzt er, wie Damien Manivel ihn im bei Montpellier am Meer gelegenen Sète hingesetzt hat, auf dem Friedhof herum, dahinter ein Schiff auf dem Ozean, und liest einem unbekannten Toten etwas aus seinem Dichtungsheft vor. Vermutlich ist es der lokal prominente Dichter Paul Bousquet, der hier liegt, im Museum hängt ein Gemälde, der Möchtegerndichter mansplaint seiner noch jüngeren Gefährtin, Muse, Womöglichgeliebten dessen Biografie. Sie hat er getroffen, zufällig, wie er zufällig auch andere trifft. Mit einem jungen Mann geht er schnorcheln, der jungen Frau trägt er eine Art Blazon vor, so schlecht wie alles andere, was er schreibt - um dann im Schutz des Dichtungscodes realiter etwas übergriffig zu werden. Der Gang der Erzählung, falls man das Hingetupfte so nennen will, wird durch himmelblaue Tafeln unterbrochen, zunächst etwas wie weiße Zwischentitel als Kapitelzäsuren. Gegen Ende aber werden sie zur recht insistenten Instanz, die den jungen Mann, der nun auch direkt in die Kamera zu blicken beginnt, nach seinen Plänen und Zielen befragt. (62cp)

 

8.8. César Birotteau (Honoré de Balzac, F 1937)

Selbstbewusst stellt Balzac sich und seinen Roman in eine Reihe großer Dichtungen, als bürgerliches Epos seiner Zeit: „Troja und Napoleon sind nur Poeme. Möge diese Geschichte das Poem der bürgerlichen Wechselfälle sein, von denen keine Stimme je gekündet hat, so sehr scheinen sie der Größe zu entbehren, während sie doch mit gleichem Recht riesengroß zu nennen sind.“ Es ist eines der Bücher in der Comédie mit dem Eigennamen des Helden im Titel, was schon anzeigt, dass sich die Gesellschaftsanalyse hier zur psychologisch ausgeformten Sozialfigur verdichtet: Birotteau ist der Bauer aus der Touraine, der es als Parfumeur (bzw. Vertreiber windiger Salben und Tinkturen mit hochtrabenden Namen) in Paris zum erfolgreichen Geschäftsmann schafft und dann als bürgerlich gewendeter klassischer Held tragisch tief fällt. Dieses Schicksal von Aufstieg und Fall (und man möchte fast sagen: Verklärung) verhilft ihm zur Größe, die er von Haus aus nicht hat. Sein Charakterfehler – und groß ist auch er nicht – liegt darin, den Erfolg, den er als Eigenleistung verbucht, auch öffentlich ausstellen zu wollen. Darum lädt er die Pariser Gesellschaft, die gute und auch einen guten Teil der besseren, deren Teil er eben nicht ist (bzw. aus deren Sicht eben nicht sein darf), zu einem Fest, das seine Möglichkeiten übersteigt. Jedenfalls im Zusammenspiel mit einer Investition, die auf seinen Ruin angelegt ist. Was er nicht ahnt, nicht ahnen kann, die Missgunst und Bösartigkeit der anderen sind sein blinder Fleck.

Dieser blinde Fleck, als verkörperte Missgunst, trägt den Namen Du Tillet, ehemaliger Kommis Birotteaus, der dessen legendär schöne Frau zu verführen versucht hat, der bei einem Griff in die Kasse erwischt worden ist, was er, zum abgrundtief bösen Ressentiment gewendetes schlechtes Gewissen, Birotteau nie verzeihen kann. Er ist zum Bankier und Millionär aufgestiegen, die Nemesis des Parfümhändlers, der Anführer der Gegenseite in der Schlacht um den Bankrott, der sich nicht aufhalten lässt. Die geschäftliche Ehre, mit der es im Fallieren vorbei ist, ist der Kern- und Schmelzpunkt der Identität des in Paris arrivierten Geschäftsmanns. Mit dem Bankrott scheitert darum die ganze Person, deren gute Persönlichkeitsanteile Balzac zur Unterstützung der Schlacht, die Birotteau alleine niemals bestehen könnte, in Begleit- und Nebenfiguren externalisiert hat.

Da ist Constance, Birotteaus Frau – auch sie kein Genie, aber hellsichtig, klug, der Name und ihre Schönheit Ausdruck einer inneren Ausgeglichenheit, die dem Ehemann fehlt. Da ist Popinot, auch er ein ehemaliger Kommis, der es zu etwas bringt, es ist ein in den großen eingelegter kleiner Roman von den Mitteln, die in dieser neuesten Zeit zum Geschäftserfolg führen. Ein Nussöl, das nicht unbedingt Falsches fürs männliche Haupthaar verspricht, die Tautologie (céphaloide) markiert, dass die Verkaufe (durch den jungen, später im Werk noch viel prominenteren Gaudissart) das bei allem Fleiß eigentliche Geheimnis des sich abzeichnenden Riesenerfolgs ist. Popinot ist der Ex-Kommis, der es besser ausficht als der Chef, der Klumpfuß ist es, der ihn einerseits erdet, andererseits den Ehrgeiz befeuert: Er liebt eine weitere herzensgute, aus Birotteau abgespaltene Nebenfigur, nämlich dessen Tochter Césarine, die gar noch schöner ist als die Mutter.

Weitere Unterstützer kommen hinzu, teils verwandt, teils der anständige Teil der arrivierten Gesellschaft. Und so endet der Roman auch nicht mit dem ersten Höhepunkt, auf den er im ausführlich und mit genausten Berechnungen, Summen, Hin- und Herzbilanzierungen geschilderten verzweifelten Versuch Birotteaus, ihn noch abzuwenden, zutreibt: dem Bankrott. Im zweiten Teil wird das Buch zur Geschichte der Wiederherstellung einer Ehre. Balzac beschreibt eine Pariser Gesellschaft, die nicht nur Abgründe hat. Eine Gesellschaft, in der eiskalte Bankiers wie das Good-Cop-Bad-Cop-Brüderpaar Keller, der bauernschlaue Kauderwelschling Nucingen oder Du Tillet als das Böse schlechthin zwar reüssieren. Die erzählerische wie gesellschaftsanalytische Ökonomie, die Balzac in diesem Roman entwirft, hält aber Gegenkräfte bereit, und zwar als strukturell nicht minder notwendige Elemente. Es ist darum ein Buch der Ambivalenz, in dessen doppeltem Ausgang als Komödie und Tragödie, nämlich gleichzeitig Hochzeit und Tod, diese dynamische Balance perfekt durchgeführt wird.

 

7.8. Kaere Irene (Christian Braad Thomsen, Dänemark 1971)

Kommt ein Mann durch die Tür, das ist das erste Bild; am Ende steht er wieder vor einer Tür, die bleibt verschlossen. Sein Name ist Ebbe, sein Unglück ist Irene, die Frau, die er liebt. Er hat Locken, sie hat lange blonde Haare. Sie sind beste Freunde, sie ist verheiratet, ein Kind (man sieht es fast nie) hat sie auch. Er will mehr von ihr, nämlich Sex, sie will eher nicht. Sie arbeitet in einer PR-Firma für anspruchsvolle Filme, ist stark politisiert, über Abtreibung wird diskutiert, sie beschwert sich, dass ein linker Film als Western beworben wird, der er nur unter anderem ist. Im Bus sitzt eine Verrückte. Er, Ebbe, hat für eine Zeitschrift einen Artikel geschrieben, der sehr viel radikaler ist als die Zeitung, bei der er eine Redakteursstelle hat. Sie spielt mit Mann und Freunden ein Flaschendrehspiel, das von Anfang an auf Partnertausch hinauslaufen soll. Und hinausläuft. Später geht sie dann, in Ebbes Wohnung, mit einer Frau ins Bett. Der Gatte trägt Bart und ist weiß Gott nicht glücklich über das, was Irene in seiner An- und seiner Abwesenheit treibt. Es ist alles schwarz-weiß, ohne Anspruch auf Präzision oder Eleganz lässig gefilmt, ein home movie über die einigermaßen vergebliche Suche nach häuslichem und außerhäuslichem Liebesglück. Irene und ihr Mann sehen im Fernsehen eine Doku über einen Pornofilmproduzenten, die Ebbe gedreht hat. Sie schalten dann aus. (63cp)

 

6.8. Die Kehrseite der Zeitgeschichte (Honoré de Balzac, F 1847)

Das Jahr 1936, ein Mann von dreißig Jahren mitten im alten Paris, von der Geschichte erdrückt, in der Gegenwart gescheitert, vor der Zeit gealtert, auf vierzig geschätzt, von dem Vater der ins Auge gefassten Braut verschmäht, als zu liberaler Journalist das Erbe verloren: Hier sitzt er nun, blickt auf die Stadt, entschlossen sein Leben zu ändern. Godefroid ist sein Name, die alte christliche Zeit darin in die neue gesenkt wie Gott in die der Erlösung bedürftige Welt. Godefroid nimmt sich ein günstiges Zimmer am hinteren Ende eines hinteren Winkels im Schatten von Notre Dame und trifft auf eine geheime Gesellschaft von älteren Herren und einer älteren Frau, die, wie sich herausstellen wird, Gutes im Schilde führen, die Swedenborg lesen und als Bruderschaft im Geheimen die Schicksale Bedürftiger zum Besseren lenken. Der erste Teil des Romans ist die Initiation, viel, und ermüdend, Diskussion über christliche Dinge. Der älteren Frau, Madame de la Chanterie, hat das Schicksal übel mitgespielt, damit zusammenhängend wird die Geschichte des Bankiers Mongenod erzählt, in der sich eine gute Tat, die um ihrer selbst willen getan war, mit Zins und Zinseszins auszahlt. Im zweiten Teil dann geht es zurück hinaus in die Welt, Godefroid mietet nun anderen Geistes ein Zimmer, ebenfalls günstig, und wird zum Freund und Gönner einer höchst seltsamen Familie, die in diesem Haus neben anderen lebt, von Gläubigern heftig bedrängt, von der Concierge mit Missgunst beäugt. Ein Mann, ein Rechtsgelehrter unter angenommenem Namen, seine Tochter und deren Sohn. Die Tochter ist bettlägerig krank, hat das Zimmer seit Jahren nicht mehr verlassen, der Vater und der Sohn spielen ihr, sich darüber bedrohlich verschuldend, im Innrenraum als Schatulle die goldene Zeit vor, die jenseits der Schwelle, in den Räumen, in denen die beiden aufs ärmlichste hausen, lange vorbei ist. Godefroid nun bringt Akkordion, Schuldentilgung, Glück und vor allem den aufs Geld erpichten, naturheilkundigen (mit einigen antisemitischen Klischees versehenen) jüdischen Arzt Halpersohn zur Visite. Dies alles, das ist entscheidend, soll geschehen ohne Spekulation, nicht als Investition, jede Gegenleistung soll ihrerseits nur aus der Fülle des Herzens erfolgen. Eine Geschichte also der Gabe, die einzig in Gottes Namen und ohne irdische Verzinsung für die Gebenden gibt, auch wenn, wie gehabt, sehr viel um ganz konkrete Summen und ganz konventionelle ökonomische Zirkulationen sich dreht – Kredite und Schulden, eine widerrechtlich aufgenommener Kredit, vulgo Diebstahl, dessen Bestrafung allerdings ausbleibt. Es herrscht also, als trostspendende Verschwörungsgemeinschaft, eine Ideologie der Güte, die ins Maßlose, ja Übermenschliche wächst, als sich herausstellt, dass der Nutznießer von Godefroids erster Rettungsaktion kein anderer ist als der, dem Madame de la Chanterie ihre Lebensunglück verdankte. Sie aber vergibt und stellt sein Lebensglück mit gesundeter Tochter, veröffentlichtem Standardwerk, gar Sorbonne-Professur (wieder) her. Godefroid hat sich also bewährt und kann nun Vollmitglied der Bruderschaft werden.

 

5.8. Judex (Louis Feuillade, F 1917)

Der große Bogen, in den hinein der Plot sich entführt, um beginnen zu können: die Geschichte vom Bankier, dessen Taten der Familienzerstörung aus Geldgier den Rächer gebären, der das Recht als selbsternannter Richter, Judex, und also Vigilante selbst in die Hand nimmt. Das Rätsel, das er ist, stets sehr statuarisch, mit Hut und mit Cape, das in Richtung Zorro und Superheld weist, wird nach dem Durchspielen anderer Rätsel, dem Einführen weiterer Stränge, der Entwicklung eines Figurenparks erst enthüllt. Diese Entwicklung verläuft liebevoll, mit ständigem Wechsel vom Standbein – fortgesetzte Intrige – und Spielbein, der Lust am Individuellen der Figur, sei es der Waisenjunge Môme reglisse (das Lakritzkind), der munterste Shifter im steten Weben der Fäden, sei es die Detektivfigur Cocantine, die zunächst als Sherlock-Holmes-Parodie angelegt scheint, dann aber ein Eigenleben nicht nur als Spaßmacher, Vater und Trickster, sondern auch als romantische Seele entwickelt, das die einzige späte Einführung einer Zusatzfigur (der meergeborenen Zirkusfrau Dolly Parks) so sehr aus der Entwicklungslogik des Charakters, die auch als die des rasend spielfreudigen Darstellers scheint, wie aus der Notwendigkeit der Intrige hervorbringt. Die gibt es auch, denn in der virtuosen Ökonomie des von Bernède und Feuillade flink entfalteten Erzählens wird bei aller Großzügigkeit nichts verschwendet. Für die Opposition Land/Meer, den Wechsel vom Land auf das Wasser, von Anwesen, Burgruine und Großstadtsalon ins Boot und aufs Schiff, braucht es eine Verkörperung: voilà die handfeste und in einen sehr transparenten Badeanzug gehüllte Undine, die zugleich das Happy-End sowohl des Cocantine- als auch des Lakritzkind-Strangs herbeiführen kann. Die Komplexität des Ganzen ist aus recht simplen Elementen gebaut: der Statik der einzelnen Einstellung mit kaum je bewegter Kamera (die Fahrt auch der Kamera auf einem Boot macht geradezu Sensation), der Verbergung und Enthüllung der Identität und der Vorgeschichten der einzelnen Figuren, auf den ersten Blick schlicht der Gegensatz von Gut und Böse, wobei sich gerade der Held, mit dem Feuillade auf die Moralkritik an den verbrechensfreudigen Vorgängerserien reagiert, der Rächer als Judex mit einiger Not und vollends erst in der Erlösung am Ende aus dem ethischen Graubereich der Vigilante-Existenz kämpft. Es braucht die Frau, die er liebt, die Tochter des Bankiers, die das Erbe von sich stößt und um den Preis, den Sohn in Pflege geben zu müssen, für ihren eigenen Unterhalt sorgt. Sie bleibt strahlende Heldin, gerade als Spielball einer Intrige aus vorgetäuschtem Mord und maskiertem Mann, nie ganz im Bild, in das man als Zuschauer*in Folge für Folge, Wendung für Wendung, gesetzt wird. Das zentrale Element, das die Statik der vielen Einstellungen von Menschen in Räumen, in Stühlen, an Tischen, in Dynamik übersetzt, ist die Entführung: Einer wird von hier nach da transportiert, die anderen müssen stets hinterher. Judex ist tausendundeine Entführung aus dem einen in den anderen Raum. Produziert werden so Wege dazwischen, es gibt Blicke nach oben, Sprünge nach unten, Vergeltungsbedarf, Geld ist nichts als ein MacGuffin, denn die Bewegung selbst, das Verbinden und Lösen und Wiederverbinden, ist das, worauf die Serie in ihren potenziell unendlichen Knotenschürzungen (durch Entführung) hinauswill. Was die Surrealisten daran faszinierte, war nicht zuletzt die Art, wie hier allerlei Schauerromantisches in die in den Straßen- und Riviera- und Büro-Szenen in den Gegenwartsalltag versetzt wird: die Voltaire-Büste auf dem Kamin, das Etuihafte der noblen Innenräume, das Taxi am Straßenrand, am Ufer im Hintergrund wird geradelt. Darin hineingefüllt werden Mad-Scientist-Motive mit Beobachtungsspiegel und elektrischer Schrift an der Wand, der aus dem Genre-Repertoire freilich ins Komische und noch weiter weg streunende Detektiv, der aus dem Verschwörungsroman-Arsenal genommene Judex-Hintergrund-Mann, das Lakritzkind als Dickens-(oder Gasoline-Alley)-Figur, der alte Kerjean sicher eine Valjean-Les-Misérables-Reminiszenz: Das Erstaunlichste ist, wie Feuillade bei dieser Überfülle eine geradezu klassisch anmutende Balance der Elemente gelingt, bei der am Ende jede und jeder das bekommt, was sie und er verdient, Hochzeit, Tod, Adoption oder ein Büßerleben in der Kleingärtnerei. (83cp)

 

Maigret stellt eine Falle (Georges Simenon, F 1955)

Ein Serienmörder geht um, zwischen Place de Clichy und Montmartre, fünf Frauen hat er getötet, allerdings nicht vergewaltigt, so dass es also um etwas anderes geht, dafür hat er nach der Tat die Kleider der Opfer zerschlitzt. Ausgerechnet im 49. Fall gerät Maigret so in einen beinahe konventionellen Genre-Roman, in dem er auf Risiko spielt, indem er junge Frauen, die den Getöteten ähneln, als Köder auf die Straßen der Stadt schickt, ohne Untersuchungsrichter Coméliau über sein Vorgehen zu informieren. Zuvor hat er bereits die Journalisten zu täuschen versucht, indem er einen Polizisten, der von der Malaria ausgemergelt aus den Kolonien zurückgekehrt ist, als Verdächtigen präsentiert, wenngleich nur per Implikation. Als der Mörder dann nach dem Köder schnappt und die polizeiliche Material-Detektivarbeit (Knopf, Stoff, Anzug) sich auszahlt, ist Maigret zurück in der Spur: Hat seinen Mann, zu dem eine Gattin und eine Mutter gehören, bringt ihn zum Verhör aufs Revier, die beiden Frauen dazu. Eine harte Nuss, die psychologische Motivsuche ist erfolgreich, die direkte Konfrontation bringt aber kein Geständnis hervor. Und das bei der Hitze, es ist ein besonders schwüler August, auf den Straßen von Paris werden sogar Männer in Shorts gesichtet, eine drückende Atmosphäre, die sich erst am Ende ins Mildere mäßigt. (70cp)

 

4.8. Und nächstes Jahr am Balaton (Hermann Zschoche, DDR 1980)

Zu viert brechen sie auf: das Ehepaar, das junge Paar, im Zug sitzen sie, Ringe werden überreicht, Verlobung für den besseren Anschein. Diese Bindungszumutung sprengt das eine und das andere Paar auf dem Weg nach Bulgarien auseinander. Wodurch der Film zu dem wird, was zu werden er sich ohnehin sehnt: ein Road Movie, als Traum davon, dass im Osten des Sozialismus der Weg zum Ziel werden kann. Utopieabbau also, es wird das schäumende Bierfass auf dem fahrenden Wagen zum Fest, die Mutter hat beim Trampen eine Vergewaltigungsfantasie, aber als Slapstick, die Ängste reisen mit, aber ganz ernst genommen werden sie nicht. Also tanzt die Mutter, wo getanzt wird, einfach mit, der junge Mann und seine gegen alle Wahrscheinlichkeit aufgegabelten Freunde übernachten beim in Trauer erstarrten Witwer und Vater (die Tochter ist nach Australien auf und davon) mit seinen tickenden und nicht mehr tickenden Uhren. Bei den Hetero-Paarbildungen stellt sich die Frage nach Sex, sehr unglamourös, die Verklemmtheiten sind moderat, kleinbürgerlich. Zwischen Jonas und Fränze, die mit zwei Freundinnen unterwegs am Straßenrand stand, passiert, weil es bei ihr so schnell nicht gehen darf, nichts. Ines folgt einem ungarischen Jungen, der ihr gefällt, in dessen Hütte am Strand und macht sich, als er sich, die Zigarette unangezündet im Mund, auszuziehen beginnt, lieber davon. Sind sehr kleine Aufbrüche, erst im Speisewagen des Zuges, dann auf der Straßen, dann in den Bergen, die grandios gefilmt werden könnten, aber das Grandiose will Zschoche ausdrücklich nicht, gänzlich unheroisch dann der Massentourismus am Strand. Wobei jede einzelne Episoden des selbstbewusst episodischen,  vom Mundharmonikablues untermalten, in der Reihung nonchalant komödiantischen Films ihren Eigensinn wahrt. Dafür bietet die verlässliche DDR-Stoffeligkeit von Jonas Gewähr, ein Nullenergie-Beinahe-Bartleby mit blonden Locken, Nickelbrille und sehr untertourigem Widerstandsgeist, der, wenn er mitmacht, es meist nur deshalb tut, weil das Nicht-Mitmachen zu viel Energie kosten würde. Als Gegenfigur darum ein Faszinosum für ihn: die Holländerin, die von der Schweiz schwärmt (und sich dann vor dem im Ost-Sozialismus Eingesperrten dafür schämt), die nach Indien will, allerlei Tantras-Unfug im Kopf, aber plötzlich reißt sie sich die Kleider vom Leib, ordnet sie kreisförmig an und will, dutch-mountain-Version eines indischen Rituals, doch plötzlich Sex: Bei diesem allzu west-östlichen Hippie-Kram kriegt der Jonas aber dann doch keinen hoch. (Später, im Zelt, ist das mutmaßlich anders.) Und nächstes Jahr am Balaton ist ein Stück über exotische Träume in und aus einem Land, in dem nichts in den Himmel wächst. Kann nur als Komödie erzählt werden, die das ohnehin schon krumm gewachsene Mittelgroße des Traums mit allzu alltäglichen Widrigkeiten konfrontiert, die Hippie-Romantik auf dem Kahn im Zweifel mit Materialismus konterkariert. Dabei nichts denunziert, Zschoche ist und bleibt Humanist; im eigenen Land, an Grenzen, in Trauer und Resignation. Die Holländerin, die über das DDR-Mögliche nach Indien hinauswill, entlässt er in einen ihm selbst zuletzt verschlossenen Möglichkeitsraum. (78cp)

 

3.8. Le temps des loups (Sergio Gobbi, F 1970)

Tempo und Dramaturgie des Banküberfalls, auch Fake-Polizei ist dabei, sind exzellent. Dillinger, so nennt er sich, so stilisiert er sich auch, ist der Kopf hinter nicht nur diesem brutalen Verbrechen. Der Vorspann hat ihn dabei betrachtet, wie er sich im Spiegel betrachtet, die Eitelkeit gehört zur Marke wie Robert Hosseins rauchige Stimme, sein Körper, der sich raubtierhaft lässig bewegt, sein Blick, der im Casino den der Blondine einfängt, der Chip und das Risiko kommen dazu, als Liebespaar bringen sie Unordnung in den Rückzugsort am Meer, an dem die Bande wartet. Auf der anderen Seite, kleiner Mann hinter großem Schreibtisch, den Anzug, der keine Luft lässt, am schmächtigen Körper, Überkämmer-Frisur: Charles Aznavour, Kindheitsfreund des Mannes, der Dillinger wurde, Erinnerungen an die Zeit bei den Mönchen, sepiafarben, nun ist er Polizist, derjenige, der Dillinger jagt. Die Verbindung ist als Setzung sentimental, subtil ist sowieso nichts, Reißschwenks und bodennahe Kameraperspektiven (Daniel Diot), rasche Bewegungen, Wisch-und-weg-Montagen und Zooms, als ob Blicke etwas aufreißen könnten,. Bazooka und rasende Fahrt die Serpentinen hinab, Sturz, Explosion, Ellipsen, auch der Komponist, Aznavours Schwager Georges Garvarentz, versteht es, auf die Tube zu drücken. Schlussgemenge und Shootout am Bahnhof, an dem eine junge Mutter mit Kind auf dem Arm den Kugeln des Gangsters in die Quere gerät. Böse Sache, es weht schon Giallo-Atmosphäre aus Italien und der Zukunft herüber. Attraktionskino also, Sinn nicht in der Tiefe, sondern an den schönen Oberflächen zu suchen. (74cp)

 

Mlad i zdrav kao ruza (Jovan Jovanovic, Jugoslawien 1971)

Stiv: auf und davon. Klaut sich ein Auto, Revolver raus, macht mit dem Paar, das darin saß, im Wald kurzen Prozess. Dragan Nikolic, Oberkörper oft nackt, ein einziger homophober, sexistischer Macho-Attitüden-Verschnitt. Das ist der Held, mit dem der Vorspann zu Tito-Originalton vom kommunistischen Jugendkongress durch Belgrad cruist, die Handkamera hat hier und immerdar einen schlimmen Fall von ADHS, fuchtelt und zoomt, die Wirklichkeit hat Auflösungserscheinungen, ein Land am Rande des Nervenzusammenbruchs, mit Gebrüll, mit Mord, Totschlag, nicht zu knapp Sex, Delinquenz ist das Energieelixier dieser wilden Jagd, am Rand des Zusammenbruchs einer Ordnung entlang. Der Film, von der Zensur natürlich verboten, ist fraglos fasziniert von seinem abstoßenden Protagonisten, der hat, wie er im Verhör sagt, Godard (mit d am Ende) im Kino gesehen, Jovan Jovanovic selbstredend auch, ganz zu sich kommt das Ganze aber erst, als sich die Perspektive vom Blick auf die Einzelfigur zur kollektiven Stürmung eines Kaufhauses weitet. Dialogfreies Marodieren zu peitschenden Klängen, die Kamera wühlt und stürmt mit, auch wenn es hinterher ins Hotel Jugoslavija geht, die Meute im Foyer, Nackte in der Wanne, einer setzt sich eine Spritze. Hier wird die bloße Attitüde zur tatsächlichen ästhetischen Delinquenz, erst stolpert der Plot mit finalen Schüssen im Gegenlicht einem konventionellen Genre-Ende entgegen – lässt dann jedoch den Helden das Mikro ergreifen und das Publikum (nicht zum ersten Mal) direkt adressieren: Das hättet ihr gerne. Die finstere Wahrheit: Ich gehe nicht weg, ich bin eure Zukunft, ciao ciao. Der Abspann dann vollends godardisierend, Schriftzug: YU, N0 End, No Happyend. (75cp)

 

2.8. Safe Word (Kôji Shiraishi, Japan 2022)

taz-dvdesk (63cp)

 

1.8. Maigret und die kopflose Leiche (Georges Simenon, F 1955)

Simenon kehrt zurück an die Kanäle, an und auf denen die frühen Romane so häufig spielten. Diesmal allerdings ist es der Kanal St. Martin mitten in Paris. Ein Lastkahn hat zu schwere Steine geladen, darum verfängt sich in seiner Schraube, was am Boden des Kanals liegt: ein Arm, später findet man weitere Teile der Leiche, der Kopf aber fehlt und taucht auch nicht auf, nicht im Kanal und nicht in der Bahnhofs-Gepäckaufgabe. Maigret kennt die Gegend aus früheren Zeiten sehr gut, und die Erzählung folgt dem Gesetz der erzählerischen Schwerkraft Simenons: Wieder ist es eine Kneipe, die zum zentralen Schauplatz der Nachforschungen wird; es ist Frühling, selbst der Weißwein duftet danach. Die Kneipe gehört einer der Frauen, wie sie Maigret faszinieren: schon etwas verblüht, kontrollierte Trinkerin, dabei kalt, dysphorisch und unergründlich, das Verhältnis zum Mann, der sie oft geschlagen hat, ein Rätsel, dafür hatte sie Sex mit anderen, teils sehr viel jüngeren Männern, ohne sich vom eigenen lösen zu können. Die entfremdete Tochter gehört mit ins Bild, das sich jedoch erst durch die Familienroman-Vorgeschichte vom adeligen Vater, gegen den die Wirtin einst rebellierte, vervollständigen lässt. Maigret sitzt in der Kneipe, begibt sich sogar einmal hinter den Tresen, ficht seine Sträuße mit Untersuchungsrichter Coméliau und ist am Ende froh, die Sache hinter sich lassen zu können. (65cp)

 

 

JULI

31.7. La décade prodigieuse (Claude Chabrol, F 1971)

Ellery Queen, der Detektiv als Protagonist, den sich die unter dem selben Namen firmierenden Autoren Frederic Dannay und Manfred Lee ausgedacht haben, ist in Chabrols Verfilmung des zugrundeliegenden Romans wundersam transformiert: in den Psychologen Paul Régis, den Michel Piccoli spielt. Einbezogen nun in das Psychodrama um den Bildhauer Charles (von Anthony Perkins ohne die mindeste Untertreibung performt), dessen desorientiertes Erwachen Kameramann Jean Rabier, für den das Fest damit erst beginnt, in schräge und schwankende Bilder überträgt. Als sein ehemaliger Lehrer und nicht als Detektiv gerät nun Piccoli in die Sache, die aufs Land, in ein Anwesen, wenn nicht ein Schloss führt, in dem Charles’ Vater regiert: massig, gottgleich (wie der Vorname schon sagt, nichts hier tendiert zur Untertreibung) Theo Van Horn, mit viel zu junger und sehr attraktiver Frau (Marlène Jobert); diesen Gott-Vater gibt Orson Welles. Wer sonst, hat Chabrol argumentiert, weshalb sich alles um Jahre verschob: Gott/Welles hatte zu viel zu tun. Das Projekt ist darüber sichtlich weniger gereift als vergoren. Rabiers Kamera tollt, fährt, fuchtelt herum, als hätte sie mehr als einen Calvados zu viel intus, nicht präzise, sondern hyperaktiv, nicht suchend, sondern so, als hätte Chabrol ein Gegendrama zu Anthony Perkins’ haltlosem Overacting gesucht. Pierre Jansens Musik orgelt und macht und tut das Ihre dazu, nackt liegen zwischendurch die Körper im Gras, der Plot und die Bilder bewegen sich durch Abstufungen von Unwirklichkeiten. Die Schlusserklärung besinnt sich auf die Herkunft der Sache aus dem Detektivroman-Genre. Piccoli und Welles räumen gemeinsam auf im Geschehen, Anthony Perkins hat, weil gepfählt, nichts mehr zu sagen, vorher hat er allerdings noch die monströse Vaterskulptur mit der Axt in Trümmer gelegt. (67cp)

 

30.7. Juno and the Paycock (Alfred Hitchcock, GB 1930)

O’Caseys Stück als theatrales Kammerspiel: ein Raum, eine Treppe, gelegentlich kurze Straßenszenen - Hitchock ist eingesperrt in eine Form, aus der er sich auch mit klugem Blocking hier und einer Mund-zu-Mund-Flüster-Großaufnahme da nicht wirklich befreit. Wenn zwei Männer mit in Mänteln mit Hüten und gezückten Waffen in den Raum des Kitchen-Sink-Stücks eindringen, um Johnny, den einarmigen Verräter, mit sich zu nehmen, ist das ein kurzer Moment wie aus einem anderen, einem Hitchcock-Film; wie ohnehin dieser Johnny, sichtbar unsichtbar im Hintergrund platziert, mit dem flackernden Blick des Verfolgten, das Identifikationsobjekt des Regisseurs ist. Keine Hilfe, denen Hitchcock aber auch seinerseits spürbar keine war: die Darsteller*innen, die sich mit irischem Englisch in ihr Unglück outrieren, der Vater vor allem, als Mann, der Geld ausgibt, das er, auch wenn es in einer Erbsache kurz anders scheint, keineswegs hat (das Grammofon nimmt der Technikliebhaber Hitchcock gerne mit). vom Schicksal betrogen, ein toxischer Charakter, vor dem der Mutter und der schwangeren Tochter am Ende nichts als die Flucht bleibt. Händeringender Monolog, mit dem der Regisseur so wenig anfangen kann wie mit dem Klagen des Vaters, theatral an eine Rampe gespielt, von deren Nicht-Existenz Hitchock seinen Hauptdarsteller zu überzeugen ganz offenbar nicht gelang. (32cp)

 

Amai Himitsu (Kōzaburō Yoshimura, Japan 1971)

Eine junge schöne Frau kommt aus der Provinz, mit einem Manuskript, der Lektor des Verlags hat einen nicht mehr jungen Professor, der ein angesehener, aber nicht gut verkaufter Romanautor ist, um eine Einschätzung des Werkes gebeten. So kommt die Frau, über den Text, in eine Zirkulation zwischen Männern, bei der sie mindestens so sehr treibende Kraft wie benutztes Objekt ist - die Uneindeutigkeit der Figur ist, und bleibt bis zum Ende, das Faszinosum des Films: Sie bittet den Lektor mit seiner schwarzen Brille in ihr Hotelzimmer, sie hat eine Affäre mit dem jungen Cover-Gestalter, beim Professor zieht sie, zum Unwillen von dessen erwachsenen Kindern (und der Hausangestellten) nicht lange nach dem Tod von dessen Ehefrau ein - als Geliebte, als Schülerin, als dennoch selbstbewusste Person. Tomomi Sâtos Lachen, die von traditionell zu modern wechselnden Kleider, die Lässigkeit, mit der sie ihren Mann in der Provinz hinter sich lässt, ihr Umgang mit dem Cousin, der sie einst, wie angedeutet wird, vergewaltigt hat. Die breite Leinwand und das Schwarz-Weiß mit recht harten Kontrasten nutzt Yoshimura für jazzige Schrägen und narrative Synkopen, das alles ist schnell geschnitten und mit Mut zur Lücke erzählt, mit Wendungen, die kühne Erklärungsauslassungen sind. Ein alles andere als trivialer Illustriertenroman über eine Frau, die sich einen Weg zu bahnen versucht, zwischen Männern hindurch, über Männer hinweg, Männer, die ihr und ihrer sexuellen Attraktivität verfallen, ins Trudeln geraten, sie zum Objekt ihrer Fantasien, ihrer Kunst machen. Der Professor, das sagt er selbst, im aus dem Off hineingespielten Romantext, als Vampir, der seine schwindende Schöpferkraft im Aussaugen der Frau neu zu beleben versucht; ihren Körper, den Sex nimmt er auch, wie der Maler, dessen Bild von ihr Kozue am Ende zerschlitzt. Es ist eine Form von Befreiung, sie geht hinaus, davon, im Schneetreiben, man wird angesichts der konservativen Gesellschaft, in der sie sich bewegt, kaum sagen können, dass die Zukunft, in die sie der Film am Ende entlässt, eine im positiven Sinn offene ist. (80cp)

 

29.7. Le mur (Serge Roullet, F 1967)

Die Wand in der Kerkerzelle ist massiv und voller Striche, Kritzeleien, ausgeführt von verzweifelten Fingern und Nägeln. Schmal und vergittert der Lichtschacht, an den Gitterstäben wird sich Pablo beim Schnappen nach Freiheit und Luft eine Wunde an der Schläfe zufügen. Zu dritt sind sie, Pablo, Tom und Juan, während des Spanischen Bürgerkriegs von den Franquisten gefangen, verhört und sogleich abgeurteilt: Alle drei sollen sie sterben, es bleibt ihnen eine Nacht vor dem Tod. Sie sagen, nach der Erzählung von Jean-Paul Sartre und in von diesem verfassten Dialogen existenzialistische Dinge über die Sinnlosigkeit unseres Daseins und das Nichts, das nach dem Tod auf sie wartet, aber das hält sich in Grenzen. Sartre hat den Film gemocht und gelobt und, nachdem er in Cannes (gegen den Willen der Auswahlkommission) abgelehnt wurde, nach Venedig, wo er dann (wie auch in Berlin) lief, als Mentor begleitet. Es sind nicht die Dialoge, die im Mittelpunkt stehen, sondern Körper, Blicke, Gesten, vor allem die Hände. Nicht sehr fern von Bresson sind die Einstellung präzise gesetzt, eher statisch, sind die Gesichter durch Ausdruckslosigkeit stark: Menschen, die sich selbst in verzweifelter Lage ausgesetzt sind, durchdrungen ist das alles von einem manchmal ins Selbstbesoffene gehenden Ernst. Gelegentliche Rückblenden fallen nicht aus dem Darstellungs-Register, das Ende ist von böser ethischer Ironie, Pablo überlebt, unschuldig schuldig geworden, ein Selbstopfer, das das Schicksal mit einem Schulterzucken zurückweist. (72cp)

 

28.7. La part des lions (Jean Larriaga, F 1971)

Eric Chambon (Charles Aznavour) hat, eher gegen seinen Willen, gerade den Prix Balzac für einen von ihm verfassten Roman gewonnen. Bei einem väterlichen Freund, den er im Hospiz besucht, begegnet er einer Vorgeschichte wieder, die der Film knapp hält. Der alte Mann war einst in der Résistance und hat zwei Jungen an Kinder statt angenommen. Sie haben sich aus den Augen verloren, sehen sich wieder, der andere (Robert Hossein) führt in leeren Wohnungen nichts Gutes im Schilde. Nach der ersten Wiederbegegnung im Hospiz treffen sich sich kurz darauf am Grab des Mannes, an dem ein Priester mit ganz falschem Pathos Baudelaire rezitiert. Die beiden, die die einzigen Trauernden sind, gehen davon und lassen den Priester psalmodierend alleine zurück. Sehr schräger Humor, der immer wieder in den abstrusen Plot eingespeist wird, etwa in der Figur eines empörten, kaum artikulierten Mannes, der auf dem Dorf die Wege Chambons von Zeit zu Zeit kreuzt. Zwischendurch, um wiederzukehren, verschwindet er ganz, weil sich der Plot eine Weile ganz der Heist-Konvention überlässt. Mit Überfall, Toten und Blut. Nur dass die Idee für den Coup in der Bank gegenüber der Roman-Preisträger Aznavour gehabt hat. Inklusive Theatereffekt mit falschen Leichen. Das Verbrechen wird zum beinahe zärtlichen Akt der Anknüpfung an vergangene Zeiten. Was, hier kommen Genre- und Psychologik zusammen, nicht gut ausgehen kann. Was nur dank Aznavour und Hossein, die sich ihrerseits nach dem ein Jahr zuvor gedrehten Tier-im-Titel-Film Le temps des loups (Regie: Sergio Gobbi, der hier produziert hat) wiederbegegnen, abseits der Stunt-Plot-Konstruktion irgendwie funktioniert: So ganz kann sie die Genre-Geschichte, in der sie agieren, an keiner Stelle verhaften. Was bleibt, sind Charisma und Manier, und Spielraum im Plot, für den Regie und Buch tongue in cheek sorgen. (69cp).

 

Im Himmel ist doch Jahrmarkt (Rolf Losansky, DDR 1969)

Fünf junge und attraktive Fallschirmspringerinnen, blond, schwarz, brünett, landen Männern vor Augen und erobern so Herzen. Mit Hilfe Amors, der in wiederkehrenden Trickfilmsequenzen, nicht nur mit Pfeil und Bogen agiert, sondern mit elektronisch verfremdeter Stimme auch seinen Senf dazu kommt. Leider, es sind altväterliche Kommentare, die Komödie, die gespielt werden soll, wird allzu dick und tempolos aufgetragen. Uhren ticken, Ausflug aufs Landschloss, Episode im Spreewald, satte Farben, schräge Kostüme, Männer springen, sehr zögerlich, aus heiterem Himmel, Begegnungen finden unter anderem auf der Autobahn statt. Alles ist von kaum zu überbietender Harmlosigkeit, die sichtlich, aber meistens vergeblich in Charme umzuschlagen bemüht ist. Für die Klamotte fehlt es, womöglich ein Pluspunkt, an Hemmungslosigkeit. Nur dass alles Streben nach Leichtigkeit angestrengt bleibt. (42cp)

 

26.7. Kindheit (Siegfried Kühn, DDR 1987)

Der Titel ist ausgesprochen generisch, der Film dagegen autobiografisch spezifisch. Der Ort ist ein Dorf in Schlesien, die Zeit der Handlung das nahende Ende des Zweite Weltkriegs. Der Junge Alfons lebt hier bei seiner Großmutter, die er Oma-Mutter nennt und die nach dem Tod ihres Mannes (ein wilder Ritt in den Graben, an dem der Junge nicht ganz unschuldig ist) auf dem Hof und auch sonst die Dinge einerseits mit Entschlossenheit anpackt, andererseits mit dem Enkel, der sie Oma-Mutter nennt, auch einen wilden Parcours auf Planken durch den Hof baut: Sie genießt den Überschuss übers Reale, den Sinn für die Idiosynkrasie teilt der Film, wenn er als Gottesdienst-Jungsfantasie die Oma-Mutter und ihren Enkel realiter als Subjektive ins Bild setzt. Es braucht nicht viel, um per coup de foudre auch den Funken der Liebe noch einmal zu entzünden. Es kommt ein Zirkus vorbei, mit einem Schwein (wenn nicht zweien), mit einem Showman namens Nardini (Fritz Marquardt), dem fliegt, vielmehr rast das Herz der Oma-Mutter entgegen, der xenophoben Ablehnung der ortsansässigen Nazis zum Trotz. Wild tollen sie im Heu, eine Tollerei, der sich die Erzählung so gern überlässt, wie sie einen Ku-Klux-Klan-artigen Fackeltanz zur Vertreibung der «Zigeuner» ins Bild setzt. Der Tod, die Liebe, das Leben, ein Bombenkrater wie ein Meteoriteneinschlag. Poetischer (Aszendent: magischer) Realismus, leider macht die viel zu souveräne Voiceover-Ich-Erzählung vieles von der Sprungbereitschaft des Films durch Vergemütlichung wieder kaputt. (70cp)

 

The Rabbit Hutch (Tess Gunty, USA 2022, Hörbuch, Sprecher*innen u.a. Tess Gunty)

Randvoll ist das Buch, ist diese erfundene Stadt, das All American Flyoverland-Kaff Vacca Vale, mit Aufzählungen, mit Americana, mit Figuren und mit Nebenhandlungen, falls man annehmen will, dass die Beziehung, oder Affäre, von Blandine (vor der Selbst-Umtaufung: Tiffany) und ihrem Musiklehrer James so etwas wie die Haupthandlung ist. Angekoppelt an diesen Kern, der eigentlich auch keiner ist, sind die Jungs-WG von Blandine/Tiffany ebenso wie Hildegard von Bingen, für deren mystisch-protofeministische Schriften Blandine sich begeistert.  Auch eine Rolle spiet eine in hohem Alter verstorbene Schauspielerin, die mit einer Kinderrolle zum Liebling Amerikas wurde, ihren Sohn - auch er bekommt einen Seitenstrang ab - vernachlässigt hat, nicht zuletzt zugunsten des dreifingrigen Faultiers, und die sich nun sehr geistreich ihren eigenen Nachruf schreibt. Nicht zu vergessen eine Ziege, hier und da etwas kitschigen Sex und vor allem sehr viel Ehrgeiz, eine Great American Novel zu schreiben, die etwas unsortiert aus allerlei mehr oder weniger gelungenen Versatzstücken zusammengesetzt wird. Überbordend, gewiss, ein Roman als Sack Flöhe, am Ende ist das Gehüpfe ermüdend. (59cp)

 

25.7. Maigret und der Minister (Georges Simenon, F 1954)

Maigret geht in die Politik. Richtiger gesagt: Er lässt sich in deren Sphäre ziehen, weil ihn ein Mann, den er als Spiegelbild seiner selbst begreift, darum bittet. 128 Kinder sind gestorben, aber kein Mord ist geschehen, nur der Verdacht der Korruption steht im Raum: Die Baugenehmigung für den Neubau eines Sanatoriums. bei dessen Einsturz die Kinder starben, hätte, wie ein Bericht belegt, nie erteilt werden dürfen. Nun aber ist der Bericht verschwunden, dem Minister für öffentliche Arbeiten aus der privaten Wohnung entwendet. Dieser Minister, Name: Point, Figur: Embonpoint, Ehefrau: ähnelt ihrerseits Madame Maigret, bittet in seiner verzweifelten Unschuld den berühmten Kommissar um Hilfe. Der sympathisiert trotz seiner grundsätzlichen Verachtung für die Politiker und die Politik, bringt nicht ohne persönliches Risiko seine Leute als stille Ermittler gegen die der Sûreté in Stellung, spricht mit der Entourage des Ministers (schon wieder eine in den Chef verliebte Sekretärin, enough already, Monsieur Simenon), mit Concierges und Betreibern von Bars, kommt immerhin per Zigarre einer Täter-Figur auf die Spur, der er sich jedoch erst spät, im Finale, in einem Haus auf dem Dorf mit seiner Destruktions-Empathie nähern kann. Mit der Entlastung des Ministers ist erst die halbe Arbeit getan, den Rest erledigt, hofft der letzte Satz, die psychische Struktur eines Täters, der sich auf lange Sicht selbst zur Strecke bringen wird. (67cp)

 

24.7. Frustration (José Bénazéraf, F 1971)

Ein Film, der fast komplett in einem Haus spielt, aber weniger auf die Wände fokussiert, zwischen denen sich seine frustrierte Heldin Adélaïde (Janine Reynaud) eingesperrt fühlt, als Vorwände sucht, ihren sexuellen Fantasien zu folgen. Ins Obergeschoss, wo sie eine Tür nach der anderen aufreißt, dahinter Sex in eingefrorenen Posen. Wir sehen die Lippen, groß und größer, der Schwester Agnès (Elizabeth Tessier, später in Astrologie promoviert), mit deren Gatten Adélaïde in ihren Träumen ins Bett geht, und nicht nur ins Bett, und nicht nur mit ihm, denn schöner ist’s, wenn die Schwester dabei ist. Im Traum, wobei die Unterscheidung zwischen Traum oder Fantasie und Wirklichkeit nicht nur untermarkiert ist, die Verschleifung selbst ist es, auf die das Gleiten des subjektiven Erzählens wie der Kamera hinauswill. Träumen heißt Schweifen, ist Lösen der gebundenen Haare, ist Wechsel vom züchtig geschlossenen Kleid in den Pyjama hinein und aus dem Pyjama hinaus. José Bénazéraf, der Robbe-Grillet des kleinen Mannes, hatte fünf Jahre zuvor für Erwin C. Dietrich in St. Pauli gedreht, musste erleben, dass sein Geschwister-Inzest-Film Joe Caligula dem Verbot der Zensur unterlag, hatte sich bei Godard Lob abgeholt und machte sich nach diesem, seinem größten Erfolg, auch bei der Kritik, in Richtung Pornos abseits des hier noch existierenden Kunstanspruchs auf den Weg. (57cp)

 

23.7. Juste avant la nuit (Claude Chabrol, F 1971)

Zufahrt auf das Fenster eines gesichtslosen großen Gebäudes (es ist nicht Phoenix, sondern Paris), wo ein Mann und eine Frau miteinander Sex haben, sie fordert ihn auf, sie zu erwürgen. Er tut es. Chabrol hat ihn, Charles Masson (Michel Bouquet), in Denkerpose gezeigt, im Hintergrund Schwärze, bis wie durch eine Schärfeverlagerung die nackte Frau auf dem Bett auf allen Vieren erscheint. Laura, mit der er schläft, die er tötet, ist die Frau seines Freundes François (François Perier), der Architekt ist. Masson ist Chef einer Werbeagentur - Chabrol lässt es sich nicht nehmen, einen kurzen Werbespot vorzuführen - und lebt mit seiner Frau Hélène (Stéphane Audran) und den Kindern und dem PoC-Kindermädchen draußen, in einem modernistischen Haus nach einem Entwurf von François: Architektur als forcierte Dekonstruktion von Bürgerlichkeit. Das Schlafzimmer (mit getrennten Betten) auf einer Tribüne, die Vorhänge entziehen, was hier geschieht, wenn zugezogen, dem Blick (nicht dem Ohr), der auf sie aus dem Wohnzimmer fällt. Gestaffelte Höhen, gestaffelte Tiefen, Jean Rabiers Kamera filmt das zunächst mit dem Blick eines Jägers, distanziert, durch Pflanzen wie ein Gebüsch. in der großen Wohnzimmerszene am Ende, Aussprache zwischen Charles und Hélène, ist die Choreografie als Ausdruck der Vertracktheit vertrackt, die Kamera seziert skalpellkühl, Schnitt für Schnitt. Längst hat Charles seiner Frau die Affäre, und die Tat auch, gestanden, in einer grandiosen halbtotalen Kamerafahrt im Halbdunkel draußen im Garten hat er auch seinen Freund in Kenntnis gesetzt. Während sie im ganz umstandslos verzeihen, ist er es, den es fatal zur Gerechtigkeit drängt. Oder eher zum Urteil. Die Verhältnisse und Beziehungen sind auf eine Weise, vielleicht illusionslos, verstrebt, dass die Selbstübergabe an das Gesetz eher als Zwanghaftigkeit denn als moralischer Akt erschiene. Es kommt nicht dazu. In einer Überblendung mitten im Film läuft Charles auf ein Gitter zu, das eine Toreinfahrt ist. Im Nebenplot, der Charles’ eigene Übertretung als Angestelltentragödie spiegelt, spuckt der Täter dem Verzeihen- und Verstehenwollen ganz maskenlos ins Gesicht. Gegen die Innenarchitekturen stellt Chabrol, auch am Ende, nach Charles großartigem letzten Satz «Fais la nuit!», das Meer, die Dünen, den Strand: Frauen, die am Weltenrand sitzen. (83cp)

 

Le beau mariage (Eric Rohmer, F 1982)

Le Mans - Paris - Paris - Le Mans, eine Pendelbewegung nicht nur mit der Bahn, aus der Rohmer hier seine Komödie vom Luftschloss erbaut. In der Bahn, zwischen Paris und Le Mans, wird sie enden, mit einem Da Capo. Und so ging es los: Als das Telefon den Sex unterbricht, klettert Sabine (Béatrice Romand) rasch aus dem Bett des verheirateten Mannes, springt aus seinem Leben davon und setzt sich in den Kopf, dass sie, fast egal wen, heiraten will. Ihre Freundin Clarisse (Arielle Dombasle), die Lampenschirme und anderes illustriert und außerdem schon verheiratet ist, ist nur zu gern beim Intrigieren behilflich und setzt Sabine auf ihren Cousin an, den Anwalt Edmond (André Dussollier), der, als er begreift, wie ihm geschieht, einen Brief schreibt, der die Empfängerin gar nicht erreicht. Der Heiratswille als Setzung, als materialisierte Unwirklichkeit, ist ein Luftschloss von einiger Brutalität und bringt, so sprunghaft die Wünscherin ist, in der Wirklichkeit mancherlei in Bewegung, nicht im Großen und Ganzen, aber groß doch im Kleinen. Sabine streicht die Dividende einer Verhandlung aufs Konto ihres Heiratsplans ein und verliert ihren Job. Die Mutter blickt befremdet auf die Tochter und das, was sie sich in den Kopf gesetzt hat. Wobei von Anfang an klar ist, dass das generische Komödienende, also die Hochzeit, von der auch der Titel des Films zu wissen behauptet, unweigerlich zur Tragödie führte. Wie man am Ende sieht, geht es auch gar nicht um dieses Ziel, sondern um den inneren Aufruhr, den die kühne Setzung ermöglicht, die Diskussionen um Liebe vor Fenstern, die Blicke nach draußen, das Öffnen von Türen, hinter denen heftig der Wind weht, um den Willen zum Wollen, das, nichts leichter als das, im fahrenden Zug von einem Objekt zum anderen springt. (74cp)

 

22.7. Hallman & Klee (Neukölln)

Hallmann & Klee hat jetzt drei Hauben, kein Pancakes zum Frühstück, keine Flammkuchen mehr, ist nur noch abends geöffnet, fine dining, Sarah Hallmann ist Gastronomin des Jahres, die Sache ist also ernst, aber weiterhin freundlich, nun auch mit reizenden Männern beim Service. Auf dem Böhmischen Platz reger relaxter Freitagabend-Betrieb, extrem gute Spieler an beiden Tischtennisplatten. Die ersten Gänge vor dem Wolkenbruch, draußen. Zwei amuses gueules, schon mal entspannte Investition in Kontraste: Langos, schmalzgebacken auf der Zunge zergehend, in Größe, aber nicht Form kleiner Madelaines, mit Mayonnaise (Geschmacksrichtung: kräftig), einziges Manko, das bleibt und gehört so: zu wenig. (Die wahre Madelaine kommt zum Schluss, als Anklangsmotiv, Gebackenes vorne, Gebackenes hinten, und ist, wie sie sein muss, nicht zu trocken und auch nicht zu feucht.) Erster Gang, mürbe und zart, sehr fein fettmarmormiert, ein Hauch nur von Tier, Wagyu-Rind aus Nordfriesland, von angenehm kräftiger Dashi-Brühe unterspült, auf die man erst stößt, wenn man die ersten Streifen des wie fließendes Tuch schmeichelnden Fleisches entfernt hat, die sich dann im Mund mit den im Angang krispen, aber willig schmelzend in die Komposition sich fügenden Topinambur-Chips zu einem Ganzen verbinden, das nie mehr in Wagyu, Dashi und Topinambur getrennt werden kann. Dazu der Tokajer, kein Süßwein, oh no, ganz trocken im Angang, aber mit einer zugleich einladenden und herausfordernden Rundheit im hinteren Teil, vor der der Saar-Riesling von Peter Lauer, den ich später noch habe, deutlich verblasst.  Zweiter Gang, hier sind die Kontraste harmonieverweigernd aufeinander losgelassen: Jakobsmuschelfleisch auf Hühnerhautfritte, ein Zwiebelstreifchen drapiert, nicht nur, aber schon auch, fürs Auge, nicht nur, aber schon auch, für die Zunge, sondern nicht zuletzt fürs Taktile, ein kräftiger Beistrich zum Weichen, das auf dem Knusprigen sitzt. Hauptkontrast aber: eine Hühnerbrühenessenz, die so dunkel ist, wie sie schmeckt, so aromatisch und stark, dass man  fast hineinbeißen möchte. Sie muss doch, denke ich, die zarte Muschel schlicht killen, und schlucke, und beiße, und schlucke, aber das eine ist auf zarte, das andere auf sehr starke Weise lebendig, es belebt sich das eine am andern, ich hielte es schlicht nicht für möglich, wäre es nicht einfach wirklich. Dann der Wolkenbruch, von dem auf der Karte nichts stand. Drinnen dann ein Adagio-Gang, nämlich Gaumenschmeichler aus in Butter gegarten, pürierten Bamberger Hörnchen, an die ein kleiner grüner See aus Liebstöckelöl, zur hier jetzt sehr aneinandergeschmiegten Verbindung des Buttrigen und des Maggi-artigen ladend. Das aber nur in der nicht-vegetarischen Folge, während im vegetarischen Menü gegenüberein Cacio-e-pepe-Orchesterstück aus hausgemachter Ringelnudel, Erbse und Pfeffer allegro vivace auf sich aufmerksam macht, vom Pecorino nach Kräften - und es mangelt ihm daran nicht - unterstützt. Den Käse lassen wir aus und gehen gleich über zum Doppeldessert aus erstens Melone mit Olivengeschmack, millimetergenau balanciert zwischen salzig und süß, beides zugleich und keines von beidem, darin das Gegenteil von neutral, schöne Überleitung ins süße Finale sehr viel eher als selbst schon dessen Bestandteil; und damit zu zweitens (Dessert), der Rosengranita mit Rohmilchgelee, die, von den beruhigenden Gesten der Milch mehr angefeuert als gebändigt, ein a rose is a rose is a rose intoniert, da sind auch Rosenblüten, ich schwöre, wer will, kann das kitschig finden, ich ganz sicher nicht. (83cp)

 

[Blur, The Ballad of Darren, 2023 (74cp); Blake Mills, Jelly Road, 2023 (81cp)]

 

21.7. Barbie (Greta Gerwig, USA 2023)

Barbei, natürlich pink, schwebt in ihrem pinken Haus im pinken Barbieland auf den Boden. Wobei das Buch, wo dem Toy von Haus aus ein Plot fehlt, Fallhöhe sucht. Erst im Barbieland mit allen als Klischees vorgeführten Klischees, dann in der wirklichen Welt, um deren filmische Unwirklichkeit der Film selbst weiß. Was er auch sagt. Immer zu klug, um auf den Quatsch, den er macht, reinzufallen, und immer zu wenig smart, einer seiner Ideen einfach mal ans Ende zu folgen. Also Schauplatzwechsel, vor und zurück, Musical-Einlagen, dann das Mensch-sein-heißt-sterben-müssen-Vertiefungs-Modul, die Satire auf Ken, blond, maskulin, stulle, zwischendurch ein Feminismus 101, da kommt dann gleich alles vollends zum Stillstand. Ja, der Kuchen wird gehabt und gegessen und wiedergekäut, nur dass keine Tortenschlacht draus werden darf, dafür ist das Ganze auf seine sehr ungelenke, vom Wunsch, alles richtig zu machen, dauergebremste Art zu schlicht smart, statt mal konsequent den Low-Bro rauszulassen. (So unkomisch wie hier war Will Ferrell noch nie, die anbiedernde Selbstirone steht ihm nicht gut.). Hat schon Momente, die reitenden Kens, ein Helen-Mirren-Kommentar aus dem Off (aber dass es dann auch wieder Helen «die Unanfechtbarkeit in Person» Mirren ein muss), die Ken-Ten-Tan-Choreo, diesdas, aber keine Idee gut genug, sie mal ans Ende oder um eine weitere Ecke zu denken. Viele Reize, fast alle verschenkt, es fehlt an Rhythmusgefühl, genuiner Liebe zur Sache, Ken ist eine üble Figur, aber Smart Aleck – der auch Proust und The Fall noch clever untergebracht hat – ist nicht so viel besser. (51cp)

 

[Jlin, Autobiography (Music from Wayne McGregors Autobiography), 2018 (75cp)]

 

20.7. La femme de l’aviateur (Eric Rohmer, F 1981)

Ein Liebesdreieck (plus eins) mit losen Haftungen und schwankendem Begehren, Gemengelagen zwischen Lösung und Bindung. Eine Tür, durch die erst der eine, dann der andere kommt, ein Innen- und Schutzraum, das Studio unter dem Dach, in den Anne (Marie Rivière) erst den einen Mann einlässt (Mathieu Carrière), der nun ganz zu seiner Frau zurückkehren will, und dann, später, den anderen Mann, François (Philippe Marlaud, großartig zwischen Entschlossenheit und Zögern, der noch im Jahr, in dem der Film ins Kino kam, nach einem Brand im Campingzelt starb). Sie, Anne, will und will nicht, beide, wenn auch den einen sicher anders als der anderen, der eine erst zwanzig, halb noch Kind - entsprechend mit einer Fünfzehnjährigen affiliiert -, der andere als Verheirateter wiederum zu erwachsen - wenngleich sich seine Frau, die Frau des Titels, als seine Schwester entpuppt. Es ist eine Verschiebegeschichte: François’ Verhältnis zu Anne ist unkonsolidiert, und wird es auch bleiben, da hilft der Begehrensverstärker Eifersucht wenig. Aus dem Nichts wird ihm eine in ihrer Jugendrechheit sehr verführerische nicht-zergrübelte Alternative präsentiert, sie verbringen den größten Block des Films im Märchenpark Buttes Chaumont, und nicht zuletzt mit gemeinsamer detektivromanhafter Fantasieproduktion. Sie spinnen spekulative Geschichten um das Paar, das sie verfolgen, den Flieger mit einer Blondine, die, wie sich am Ende zeigt, eben nicht seine Frau ist. Nichts klärt sich da, alles verkompliziert sich nur, da hilft auch keine die Dinge festhaltende Polaroid-Fotografie. Dann die Rückverschiebung ins andere Feld, zur anderen Frau, die ihn wegstößt und wieder heranzieht, aber nicht küsst, auf dem Weg zu einem weiteren Mann, der angeblich nicht begehrenswert ist. François irrt weiter in seinem Liebes-Limbo, der Gare de l’Est, wo der eine Mann ankommt, der andere keineswegs abfährt, ist der obligatorische Passagepunkt dieser Verschiebegeschichte. Hier wird François seine Postkarte schreiben, an die Detektivromanfrau, leider hat sich außerhalb des Märchenparks ein Mann ins Ausweich-Imaginäre gedrängt. Aus dem direkten Einwurf der Karte ins Reale wird darum nichts. Aber Briefmarke drauf, Wunschpost verschickt, sage keiner, dass das irrende Begehren nicht irgendwann per Postkarte ankommen kann. (82cp)

 

19.7. Limbo (Soi Cheang, Hongkong 2021)

taz-dvdesk (75cp)

 

18.7. Maigret und die junge Tote (Georges Simenon, F 1954, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Wohin Maigret auch kommt: Insepktor Lorgnon, Griesgram genannt, war immer schon da. Im Regen, zur Nacht, die Erkältung hindert ihn so wenig wie andere Widrigkeiten. Es ist ein Roman über den eifrigen Mann, der ein Unglückswurm bleibt, weil er den Fleiß hat, aber nicht die Fähigkeit Maigrets, sich eine Person so vor Augen zu stellen, als entwickle er sie als Fotografie in seiner Seele. Diese Person, die junge Tote, Louise Laboine: noch eine Unglücksfigur, der Provinz und der dem Glücksspiel verfallenen Mutter entronnen, um in Paris nicht glücklich zu werden. Noch im Zug lernt sie eine junge Frau kennen, die ihr positives Gegenbild ist und in der Großstadt schnell rüssiert. Louise dagegen bettelt, im schäbigen Kleid, noch auf der Hochzeit der anderen. Selbst ihr Tod ist fast ein Zufall, eine Kette, die die Handtäsche hält, wird ihr zum Verhängnis. Maigret folgt ihrer Spur, der des Kleids, befragt die Vermieterin und die wenigen anderen, die sie kannten, er trabt dabei die ganze Zeit Lorgnon, der ihm immer voraus ist, hinterdrein, bis dieser, von seiner fehlenden Intuition in die Irre geführt, auf den Abweg nach Brüssel gerät, während Maigret den Fall in einem Verhör aufklären kann. (71cp)

 

17.7. Perceval le Gallois (Eric Rohmer, F 1978)

Eric Rohmer stellt sich das 12. Jahrhundert des Chrétien de Troyes in der Vorstellungswelt des 12. Jahrhunderts vor. Das Kino als Kunst des 20. Jahrhunderts wird in nicht illudierende Kulissen gestellt, der Text wird gesungen so sehr wie gesprochen, und wenn Chrétien schreibt, er könnte den Schwertkampf nun Schlag für Schlag ausführlich schildern, tue es aber nicht, weil jeder sich das in der Zusammenfassung selbst vorstellen könne, dann stimmt Rohmer gerne zu. Fabrice Luchini hat, anders als sagen wir Kenneth Brannagh, keineswegs den Schwertkampf geübt. Und taugt doch als Hänfling Perceval, der seiner Mutter beim Aufbruch das Herz bricht, der alles bis zur Tumbheit wörtlich versteht und als Tor, den das Leben nach und nach aufklärt, doch nicht genauer geschilderte Kämpfe wie auch Herzen gewinnt. Rohmer inszeniert in Kulissen, die theaterhaft künstlich und schön sind. Die Wege gebahnt wie im Schnee, die Bäume wie dünn metallisch geschmiedet, die Burgen trutzig, aber im Maßstab verrutscht. Die Darstellung, als bedienten die Schauspieler*innen sich aus festgeschriebenem Gestenrepertoire, die Haltung der Hände oft wie auf Gemälden der Zeit. Dazu der Gesang als Gruppenbegleitung, zur Laute, zeitgenössisch ist die Alte Musik. Die erste Person übernimmt ohne Übergang oder Bruch die Erzählfunktionen der dritten, der Text reimt sich, ganz wie er im Buch steht, das Sprechen eher Rezitation als emphatische Aneignung der gespielten Person. Jedoch steckt nicht nur in den Kulissen, sondern auch in den - stärker auf einen historischen Realitätseffekt zielenden - Kostümen ausgesprochen viel Liebe. Der Gral als Pokal, der wie ein Milchglas bei Hitchcock etwas unheimlich leuchtet. Zwischendrin die roten Wangen Blanchefleurs als Animation. Später, beim von der Forschung immer wieder als separate Dichtung genommenen Gawain-Strang, eine großartige Kamerafahrt an mittelalterlichen Handwerkstätigkeiten entlang. Zum Ende, das bei Chrétien fehlt, nimmt sich der Katholik Rohmer die Freiheit, in lateinischer Sprache nun noch Christi Passion zu verfilmen. So wird nicht nur der Fischerkönig, sondern, mit Christi Tod am Kreuz, gleich die Menschheit erlöst. (80cp)

 

Mission: Impossible - Fallout (Christopher McQuarrie, USA 2018)

Brutales Handgemenge mit Armnachladegeste in weißer Grand-Palais-Herrentoilette. Menschen und Dinge gehen zu Bruch ohne Musik. Automotorradverfolgung durch Arkaden, auf Straßen, über Treppen, zum Glück wenig Gegenverkehr, gefilmt mit McQuarriet-typisch viel Grip. Tom Cruise rast mit typischem Handkantenstakkato über die Dächer von Paris, komisches Interlude, dann hängt er am Aufzug. Zwischendurch werden Dinge erklärt, die keiner wissen will, es kann nur das Erklären selbst sein, um das es da geht. Oder auch einfach der Zwischendurch-Stillstand. Der Sprung nach Paris, nach London, nach Kaschmir, es ist nur der Schauplatz, der zählt, es sind die Dächer der Welt, an denen man hangelt, über die man per Hubschrauber fliegt, die Countdown-Logik als hohe Kunst, die zeigt, dass sich Nervenkitzel mit richtig dosierter Selbstironie steigern lässt, statt an Suspense zu verlieren. Körperlich in extremis: Tom Cruise, die Güte selbst, der Einzelne, für den der Einzelne zählt, der Mann, in dem auch tausend Masken tiefer derselbe steckt, eine Persönlichkeit ohne Facetten, foolproof dumpf und mit zusammengebissenen Zähnen charmant: Tom Cruise/Ethan Hunt. (75cp)

 

[Dave Okumu, I Came From Love, 2023 (78cp); Heartworms, A Comforting Notion, 2023 (78cp)]

 

16.7. High Sierra (Raoul Walsh, USA 1940)

Durch Roy Earle (Humphrey Bogart mit grauen Schläfen, das steht ihm gut) geht ein Riss, verkörpert durch einen Hund. Lebenslang war er im Knast, nach acht Jahren wird er begnadigt. Und plant sogleich den nächsten Raubüberfall. Sein Boss, ein guter Mann, liegt im Sterben. Im Zwischenmenschlichen ist Roy ein Schatz, einer Familie, die ohne Mittel in Los Angeles ihr Glück suchen will, hiflt er, mit Heiratsabsichten, aber am Ende nicht ohne Selbstlosigkeit. Er vermehrt so das Gute in der Welt. Und tötet doch ohne Skrupel. Hängt sein Herz an Marie (Ida Lupino), die toughe Komplizin, verteidigt sie gegen die Gewalttätigkeit eines anderen Mannes. Und der Hund, der seinerseits sein Herz an ihn gehängt hat, darf am Ende doch immer mit. Drei bis vier Roys stecken also in diesem Earle: der Mann, der eine junge Frau von ihrem Leiden befreit; der Mann als ritterlicher Verteidiger Maries; der Mann, der loyal an seinem Boss hängt bis nach dessen Tod; der Mann, der beim Überfall andere eiskalt erschießt; der Mann, der flieht und sich in den Bergen verschanzt, wo er an seiner schwächsten Stelle getroffen wird: finaler Auftritt des Hundes. In Humphrey Bogart passt diese Figur zusammen, er spielt einen Mann, der in jeder Situation ohne Selbstzweifel ist, der hilft und schießt, ohne zu zögern, der sich die eine Liebe aus Einsicht ins Gegebene abschminkt und die andere akzeptiert, weil er der, der er für die andere Frau sein müsste, nicht werden kann, ja, nie gewesen sein könnte. Wenn ihm eines nicht fehlt, dann die Einsicht, dass er der ist, der er ist. Der innere Plural stößt da an die Grenzen, so Roy Earle auf die Konsequenzen seines Tuns trifft. (75cp)

 

McCabe and Mrs. Miller (Robert Altman, USA 1971)

Immersionskino, das Bild und Ton zu komponierten Hintergründen verschleift; schleierhaft, braun, grau und matschig der vorbelichtete Film, Figuren, die sich vorne, hinten, seitlich bewegen, Gemurmel, Gewimmel, Gelichter, Gedunkel, dazu Leonard-Cohen-Gesang; Schwenks, Fahrten, wenig Schuss-Gegenschuss, erst am Schluss, dann mit Patronen. Aus den verschliffenen Hintergründen bilden sich nach und nach erst Konturen, der Landschaft, Regen, Schnee, Wege auf Brettern, einem niederen Zivilisationsgrad abgerungene Infrastrukturen. Abgerungen hat McCabe (Warren Beatty tut des Zermurmelns einer Figur, der nicht wohl ist in ihrer Haut, gerne zu viel) gemeinsam mit Mrs Miller (Julie Christie) diesem sozialen Urschlamm einen Laden (Bordell und Saloon), den er zu Geld machen will. Das Angebot angereister Kapitalisten weist er zurück, er will ausgebuffter sein als die Ausgebufften. McCabe ist die Figur, die sich aus den Hintergründen erhebt, mehr und stärker als Mrs Miller, die bei aller Fokussierung Ornament bleibt; sie ist ihrer Zeit und dem sozialen Raum, in denen sie lebt, verhaftet, wie könnte es anders sein, und sie ist von beiden verkrüppelt. In einem langen Monolog bricht es zart aus dem Inneren dieses Menschen heraus: eine Sehnsucht nach Poesie, eine Sehnsucht danach ein anderer sein zu können, als der, den die Situation, in der er ist, fordert; oder zu fordern scheint, denn es ist ein konkurrierendes Selbstbild, das ihm zum Verhängnis werden muss. Er ist nicht der Kapitalist, der sein zu sollen er glaubt. Er ist nicht der Held, der werden zu sollen er für nötig hält. Den Einspruch einer anderen Vernunft, verkörpert von Mrs. Miller, weist er zurück. Erwacht in einer schlagartig unverschleierten Welt, im nicht vorbelichteten Film, schlägt sich durch den Schnee, schießt, tötet und findet das Ende, das einer wie er finden muss. Tragisch vielleicht, wenn Tragik darin besteht, dass einer, nahe der Einsicht in die Falschheit seiner Beweggründe, sich dafür entscheidet, das Falsche, das für das Richtige zu halten etwas Undurchschautes ihn drängt, dennoch zu tun. (79cp)

 

[Nabihah Iqbal, Dreamer, 2023 (74cp); Helena Hauff, Living With Ladybirds, 2023 (73cp); Springtime, Springtime, 2021 (78cp); Shit and Shine, 2222 and Airport, 2023 (81cp)]

 

15.7. Me and My Gal (Raoul Walsh, USA 1932)

Torkelnd kommt der Film gleich am Anfang vom Weg ab: mit einem Betrunkenen, nicht sein letzter Auftritt, stürzt er ins Wasser. So führt sich der Protagonist ein, der Polizist Danny Dolan (Spencer Tracy), ein Hund kommt dazu, auch er wird weitere Auftritte haben. In der Kneipe Begegnung mit Joan Bennett, ihr kommt er nahe, näher, und zwar auf der Couch, als sich Liebende nach den Regeln des Codes je kommen dürften: Dazu wird der Stecker der Lampe gezogen Ohnehin ist das alles as pre-code as it gets. Die ständige Trunkenheit, bei Tanz und bei Party, in der Kneipe, man schlägt sich mit einem Fisch und streitet, ob es ein Heilbutt sein könnte. Der zur Musik wackelnde Hintern. Die rettende Lüge am Ende, die die Verbündete des Gangsters davonkommen lässt, weil sie die Schwester der Braut ist. Dialoge, denen nur das Wort Sex zum Glück noch fehlt. Alles als Komödie gespielt. Und wenn nicht gespielt, dann inszeniert. So der hinreißende Banküberfall, bei dem eine Familie zu Tisch sitzt, die Räuber rücken an mit schwerem Gerät, hämmern, meißeln, bohren und schweißen und brechen ins Untergeschoss durch. Die Familie sitzt, blickt, mehr interessierte als konsternierte Zuschauerrunde. Als stummer und gelähmter Zeuge sitzt der Vater im Raum, der sich nur per Augenmorse-Code äußern kann, eigenartiges Instrument einer inselförmigen Form von Suspense. Auf die Walsh gar nicht hinauswill, eher auf die verzweifelte Lage des Mannes, der an der Abbruchkante zwischen den Genres Komödie und Gangsterfilm sitzt und weder ins eine noch ins andere passt. Walsh rückt ihn, stumm und ausdrücklich, mehrfach mit Großaufnahme ins Zentrum. Und muss am Ende doch weiter. Der Plot muss auf Heirat hinaus. Ein anderes Gesicht in Großaufnahme blinzelt uns zu. (83cp)

 

[Stella Chiweshe, Through Mbira, 2009 (80cp); Exuma, Exuma, 1970 (82cp)] 

 

14.7. They Drive By Night (Raoul Walsh, USA 1940)

Gerade hat  man verstanden, dass hier aus der Welt der LKW-Fahrer erzählt wird; und kaum hat man die ziemlich gleich kleinen und unrasierten Brüder Fabrini, George Raft (first-billed) und Humphrey Bogart (der nach viel Präsenz zu Beginn einen Arm verliert und ins ferner fuhren verschwindet), die auch auf der Fahrt ihren Hut aufbehalten, kennengelernt; hat gesehen, wie Joe sich an der Tankstelle (sie tanken auf Pump) den Kopf am Wasserschlauch kühlt; und musste miterleben, wie sie ohne eigene Schuld von der Fahrbahn geraten, gleich darauf von ihrem Schuldeintreiber verfolgt; konnte sehen, wie sie beide mit Kennerblick die Kellnerin begutachten, die sich gegen ihre anzüglichen Kommentare zu wehren versteht; kaum hat man verstanden, dass der eine verheiratet ist, und zwar glücklich, wobei das Unglück im Glück im Mangel an Geld fürs Kinderkriegen besteht, während der andere das Abenteuer sucht, dann aber auf der Straße, und also hinter dem Lenkrad, die Frau findet, die ihn mit aufs von ihm gemietete Zimmer nimmt, wo er aber, ohne dass sie Sex haben, einschläft. Gerade also glaubt man diesen Film begriffen zu haben, da gerät ein anderer LKW von der Straße, stürzt um, brennt, explodiert. Da ist dann klar, dass der Film, dessen Dialoge gesalzen sind, und auch gepfeffert, scharf, witzig und an Doppeldeutigkeit reich, dass dieser Film sich mit hohem Tempo durch Haarnadelkurven bewegt. Und unversehens von einem Genre ins nächste keineswegs schlingert, sondern mit Präzision aus Truckermilieurealismus ins Noir-Melodrama, und damit auch von der arbeitenden Klasse ins Anwesen des Arbeitgebers gerät, der mit Stolz eine (später tödliche) Lichtschranke an der Garage als neuestes Gadget vorführt. Wobei: Tödlich wird, mit Hilfe der Lichtschranke, seine nach und nach in den Vordergrund rückende Gattin Lana (Ida Lupino, viele Ausrufezeichen), die, vom nervtötend fröhlichen Gatten zu Tode genervt, zudem von Joe Fabrini wieder und wieder verschmäht, das Steuer des Films in Richtung Noir herumreißt und verrückt wird. Und dann noch verrückter. Femme fatale im Quadrat. Walsh inszeniert das kühl von vorne bis hinten, der sich steigernde Wahnsinn steckt allein im Spiel Ida Lupinos, in der LKW-Garage wie im Knast wie vor Gericht. Wird natürlich, Hollywood im Jahr 1940, in Richtung ordentliches Familienleben befriedet. Als könnte sich ein Film oder eine Zuschauerin von dieser Figur je erholen. (80cp)

 

13.7. Tag XYZ (Lorenz Just, D 2023)

taz-Kritik (73cp)

 

[Julie Byrne, Greater Wings, 2023 (75cp)]

 

12.7. Background to Danger (Raoul Walsh, USA 1943)

Ambler-Verfilmung, in der ein Foto-McGuffin Spione aus Russland (Peter Lorre), Nazi-Deutschland (Sidney Greenstreet), der Türkei und aus den USA (George Raft) in nächtlich rasende Züge und durch bergige Landschaft schlingernde Autos schickt. Von Aleppo nach Ankara, in Istanbul wird es enden. Außerdem, und auch im Zug, allerhand Türen, also, wirklich, sehr viele Türen: Einer tritt hindurch und schlägt zu, einer lauert und versteckt sich dahinter (oder hinter beichtstuhlartig durchbrochener Spanischer Wand), ein Tor wird mit Schüssen geöffnet, beim Hinaustreten aus der Tür nach der Hatz über das Dach treffen sich Blicke zwischen Spion und Spionin (Brenda Marshall), es wird ein coup de foudre gewesen sein - allerdings ist, bevor ein Paar daraus wird, noch manches zu tun, man steht mit Waffe in der Hand in Zimmern herum, macht sich per Codewort miteinander bekannt, Lorre, der es irgendwie schafft, Exaltiertheit und Gelassenheit zugleich auszustrahlen, die Zigarette im Mund, muss recht sang- und klanglos sterben (aber gut, es war offenkundig Sang und Klang in seinem Leben), Himmler kennt wiederum mit seinem Mann kein Pardon, der McGuffin brennt, ein Zeitungsartikel im Bleisatz wird mit dem Hammer zerschlagen, das alles passiert in dicht gedrängten, von unter anderem Don Siegel rasant montierten Minuten, die nicht vergehen, sondern verfliegen. Von der ersten bis zur letzten Minute Räderwerk in Bewegung. Dann Happy End. (70cp)

 

11.7. Jena-Paradies (Peter Wensierski, D 2023, Hörbuch, Sprecher: Oliver Dupont)

Peter Wensierski hat alles gesichtet, allein 60.000 Seiten Akten, vom toten Staat DDR zum Fall Mathias Domaschk an die Nachwelt überliefert. Zeugnis der Staatsparanoia, in das Ministerium für Staatssicherheit hineinverbeamtet, brutale Seelen in biederen Gemütern. Im Mittelpunkt steht das Opfer, Domaschk, der mutmaßlich, vom Staat drangsaliert, durch Suizid starb, mit 23. Vom Vater verstoßen, in den Tagebüchern weltschmerzgestützt antiautoritär, Freundes- als Widerstandskreise, der Widerstand nicht ideologisch, sondern gestrickt aus The Doors, Wolf-Biermann-Verehrung und der Sorte Idealismus, die einen am Ende leider kaputtbarer als die Pragmatiker macht. Der Widerstand also genuin politisch in einem Sinn, der sogar dem einen oder anderen MfS-Holzkopf dämmert: Domaschk wollte möglichst viel Spielraum zur Gestaltung eines eigenen Lebens. Wensierski schildert, wie aus dem MfS-lern die wurden, die sie dann sind, fatnasielose Wesen, die Angst in Unterdrückung verwandeln, mit sehr viel Beobachtungs- und Aufschreibefleiß. Noch auf der Trauerfeier für Domaschk wird mit verstecktem Gerät unter der Haube eines Autos heraus fotografiert und es halten sich die trauernden und die Überwachungs-Besucher die Waage. Ironie des Schicksals: Neben den Zeuginnen und Zeugen der Zeit, die ihm Auskunft geben, kommen viele Details aus den Akten, die Wensierski aus der Feindbeobachtung in sympathetische Rekonstruktion umschreibt. Und zwar über die Maßen: Geschrieben, beobachtet ist das im nur zu vertraut furchtbaren dabeiseinsjournalistischen Stil des Spiegel-Reporters, der aus Akten einen Pseudo-Roman destilliert, der die Anstrengung der Reflexion weder leistet noch fordert. Der Reichtum des DDR-Alltags-Materials (es reicht im übrigen von Jena nicht nur nach Berlin, sondern bis Prag und bis Polen) wiegt manches auf. Es hätte aber doch ein sehr, sehr viel interessanteres Buch daraus werden können. (60cp)

 

10.7. Planet B (Yael Ronen, Itai Reicher, D 2023, Maxim Gorki Theater Berlin)

Schräg gestelltes Bühnenkugelrund, halb Jahrmarktsrundfahrgeschäft, halb Planetenruine, halb Lauf- und Rutschsteg für die Mass-Extinction-Reality-Show, die die Aliens zum Vergnügen des Weltalls hier inszenieren. Oder rekonstruieren, re-enacten, denn alles, was auf Erden Menschliches war, ist nur noch als Bruchstück aus den Erinnerungen eines Gymnasiasten und seines in Bernstein aufbewahrten Iphones vorhanden. Dieser nicht sehr rote Faden kehrt gelegentlich wieder, wird aber überlagert von den Auftritten der sechs Tiere, darunter der Mensch (die Todesgruppe H), von denen nur zwei die Auslöschung überleben. Was dabei, mit Show-Brimborium, performt wird, sind Karikaturen sehr zeitgenössischer Typen: Dimitrij Schaad als Alter-Weißer-Mann-Krokodil, das sagt, dass es nur sagt, wie es ist: Alles Ficken und Fressen, vergesst die Moral; Orit Nahmias als Huhn, das den Menschen-Massenmord an den Tieren verkörpert; Jonas Dassler als Fledermaus, verletztes Emo-Ego mit E-Gitarre und Lindenberg-Intonation; Aysima Ergün als Ameise, die aus Wir-Ideologie und Pflichtgefühl kurz einmal ausbricht; Alexandra Sinelnikowa als feministisch-selbstbewusste Stadtfüchsin; Niels Bormann, der den Menschen als die Figur gibt, die er am Gorki fast immer spielt: nämlich als maßlos egozentrischen Pseudo-Versteher der Mitwelt; und Maryam Abu Khaled als Panda-Frau, die nie wieder Sex mit einem Panda-Mann haben will und als einzige der Figuren weniger die überdrehte Karikatur dessen spielt, was sie darstellen soll, als eine Lebensmüdigkeit, die im Gemüt sitzt und in den Knochen. Der Rest ist dagegen fast durchweg, wenngleich oft sehr komisch, durch die Knochenmühle der Witzigkeiten gedreht. Darin mehr Symptom der Verzweiflung, um die es geht, als ernsthafte Auseinandersetzung mit einer Gesellschaft, die sich in Richtung erweiterter Massenselbstmord amüsiert. Intellektueller Boulevard-Eskapismus der womöglich sogar angemessenen Art: Zu einer Wirklichkeit, die der Beschreibung meist spottet, passt es, dass sie mit dem Entsetzen noch Scherz treibt. (73cp)

 

9.7. Pursued (Raoul Walsh, USA 1947)

In realistischer Hinsicht ergibt der narrative Rückblenden-Rahmen sehr wenig Sinn; als Anstoß einer Bewegung jedoch umso mehr, die das Trauma als traumartige Wiederkehr immer aufs Neue aufführen muss. Jeb Rand (Robert Mitchum) hat, im Versteck seinem eigenen Blick ausgeliefert, den Mord an seiner Familie mit ansehen müssen. Die Sporen des Mörders gehen in seiner Erinnerung so wenig auslöschbar um in den tiefenscharf überlagerten Noir-Bildern von Kameramann James Wong Howe. Die Wüste draußen: monumental, die Berge fast nicht-materiell, reines Korrelat einer Verletzung, die mit Gebirgsschwere lastet. Die Aufnahme in die neue Familie als Sohn und Bruder heilt die Wunde nicht, sondern reißt sie immer neu auf, vergrößert sie nur, denn alles an den Beziehungen untereinander ist falsch, und zwar von Grund auf (wobei der Grund ein Un-Grund ist und bleibt): Die Mutter ist die Schwester des Mörders, die Schwester verzehrt sich in Liebe (die sich in Hass umkehren muss), der Bruder bleibt ihm in einer Konkurrenz verbunden, die kein Münzwurf des Schicksals aus der Welt räumen kann. Max Steiner macht daraus vom ersten Ton seines Scores an ein Melodram - was zunächst irritiert, weil die Geschichte der unmöglichen Ankunft erst bei sich ankommen muss. Das aber tut sie, with a vengeance, und je wüster und erkennbarer die seelischen Verheerungen werden, desto stärker nimmt Steiner seine Mittel (für seine Verhältnisse jedenfalls) wieder zurück. Groß sind die Szenen, in denen Liebe und Hass in den engen Raum gestellt sind, in einen psychologischen Raum so zusammengepresst, dass die Ersetzbarkeit des einen durch das andere das Natürlichste von der Welt scheint. Nicht Küsse und Bisse, sondern Küsse und Schüsse, die treffen, indem sie verfehlen. Heirat mit Mordabsicht, Mordabsicht und Sühne: eine finale Entschlingung, die künstlich sein muss, denn die als Trauma in Gang gesetzte Bewegung kann so nicht enden. (83cp)

 

[Me Lost Me, RPG, 2023 (76cp); PJ Harvey, I Inside the Old Year Dying, 2023 (84cp); Clams Casino, Moon Trip Radio, 2019 (73cp); Lil Peep, Hellboy, 2016 (83cp); The Allegorist, Tekhenu, 2023 (78cp)]

 

8.7. Blackmail (Alfred Hitchcock, GB 1929)

Die Tonfilm-Fassung. Ohne Ton Action-Rasanz, ganz am Anfang und gegen Ende noch einmal: Großaufnahme eines wirbelnden Rads, pars pro toto Londoner Autoverkehr. Mit Ton (es ist der erste britische Tonfilm): dialogische Katatonie, die Kamera bewegt sich durch den Raum wie durch Melasse. Dazwischen hängt ein Tötungs-Plot als Hand von rechts ins Bild. Das Hände-Motiv zieht sich durch, auch im Schreckensbild des Gauklers, das aus dem Atelier in die Polizeistation wandert und die Psyche der Täterin (Anny Ondra) niemals verlässt. Ingeniös die Übernahme der Leitmotiv-Technik vom Bild in den Ton: Wenn die unschuldig Schuldige am Tisch vor dem Brot sitzt und aus dem Dialog im Hintergrund das Wort «knife» wieder und wieder in den Vordergrund gespielt wird. Das Telefon als Motiv wiederum wird zum Gegenstand bildlicher Gags: ein Gespräch als Bild-in-Bild-Montage im genuin filmischen Raum; der Sturz in den Schlund des Mikrofon-Trichters. (Zu sich selbst findet Hitchcock gleich doppelt, in der Spaltung seiner Lieblingsfigur der schuldigen Unschuld. Es spiegelt sich die Täterin, die ohne Schuld ist, sich gegen eine versuchte Vergewaltigung zur Wehr gesetzt hat, im allerlei anderer Verbrechen, auch der titelgebenden Erpressung schuldigen Nicht-Täter, auf dessen Kerbholz die Beteiligten diesen Todesfall schlechten wie guten Gewissens noch schieben. Seine Jagd durch London, durch die Straßen - die Polizei vor ihm, hinter ihm, überall -, ins British Museum, der winzige Mann zwischen den riesigen Säulen, die Skulpturen, der Lesesaal - die Polizei vor ihm, hinter ihm, überall -, das ist signature Hitchcock, der, die andere, die Unterschrift seines Körpers, in der Bahn sitzt und sich von Jungs ärgern lässt. Sehr schön böse dann das Ende, das die Spannungen in einer ganz unangenehmen Form von Wohlgefallen auflöst. Das Lachen, ins Schwarzbild hinein, es ist sehr dunkel grundiert. (72cp)

 

[XTC, Skylarking, 1986 (83cp)]

 

7.7. Maigret in der Schule (Georges Simenon, F 1954)

Draußen ist Frühling. Drinnen sitzt ein Mann und wartet. Er sitzt im «Fegefeuer», dem gläsernen Warteraum in der Polizeidirektion am Quai d’Orfèvre, und Maigret ahnt schon: Dieser Mann wartet auf ihn. Joseph Gastin ist Lehrer, er kommt aus der Provinz, einem Dorf namens Saint-André-sur-Mer bei La Rochelle, und wird verdächtigt, eine Frau mit einem Kleinkalibergewehr durchs linke Auge erschossen zu haben. Ein Motiv gibt es, denn die Tote wusste von der Affäre, die Gastins Frau andernorts hatte (inzwischen ist von ihr als Frau nichts mehr übrig, in solchen Wendungen äußert sich verlässlich Simenons Misogynie), und vom Skandal, zu dem das geführt hat. Sie nutzte dieses Wissen für Beschimpfungen weidlich. Maigret, der eigentlich andere Pläne hatte, den die Austern locken und der Weißwein dazu, fährt mit dem Mann in dessen Dorf, wieder ein sehr schöner Mikrokosmos von Figuren, die über die Jahre und Jahrzehnte hinweg eher Missgunst als Sympathie aneinander eher fesselt als bindet. Der Lehrer ist ein sehr korrekter Mann und darum einer, findet Maigret schnell heraus, der die Augen nicht zudrückt. Weil es keine positive Sozialität gibt, sondern nur eine negative, das Betrügen des Staats, das Erschummeln von Geldern und das Partner-in-crime-Sein als einziges Residuum von Solidarität, kommt Gastin als Sündenbock den meisten sehr recht. Maigret folgt Blicken und Spuren unter den Erwachsenen, aber mehr noch den Kindern: Wer wen deckt, wer was gesehen hat, wer wann mit der Sprache herausrückt, wer warum die Wahrheit biegt oder lügt - Maigret hört zu, leistet an des Rätsels Lösung geduldig Hebammendienste. Dann fährt er zurück nach Paris. (67cp)

 

6.7. The Manxman (Alfred Hitchcock, GB 1929)

Zwei Männer, zwei Klassen, Fischer der eine, auf dem Weg zum Richter («deemster», wie man auf der Isle of Man sagt) der andere, zwei beste Freunde, Seite an Seite marschieren sie auf die junge Frau hinter dem Tresen zu. Diese blickt nach links, sie blickt nach rechts, zwischen den beiden soll sie entscheiden. Der eine steht auf den Schultern des anderen am Fenster, flirtet und bringt sie dazu, sich ihm zu versprechen. Regelmäßig wirft der Leuchtturm sein schweifendes Licht durch die Nacht, rhythmisiert die Szene, taucht das Versprechen, das sich als Ver-Sprechen erweisen wird, in sein Hell und das Dunkel dazwischen. Man sieht, irgendwann später, ein Haus, aber vom Haus erst nur das Licht in den Fenstern, als schlüge das Bild (oder das Haus) erst die Augen auf, bevor sichtbar wird, was da ist. Der Fischermann zieht hinaus, eine falsche Todesnachricht ermutigt das heimliche Paar, sie küssen sich, sie schlafen miteinander; sie heiratet nach dessen Rückkehr den Fischer, er lebt, er liebt sie noch und fordert die Ehe, sie bekommt ein Kind, es ist nicht von ihm. Liebe stellt sich nicht ein. Alles in allem eher ein Selber-schuld-Melodram, Hitchcock hielt nicht viel von dem Film, aber eines führt er fast schon meisterhaft vor: die Kunst des Blocking. Die virtuose Choreografierung im Raum - der eine im Vordergrund groß, im Hintergrund steht der andere, den Rücken der Szene zugedreht, klein; das Unglücks-Dreieck, akkurat verteilt um den Tisch; zuletzt wird das aus der losen häuslichen Platzierung in die institutionalisierte Form des Gerichts überführt. Immer aber ist das Blocking im Raum mit Großaufnahmen der Gesichter konterkariert: Während dem Fischer nach und nach erst das Grinsen vergeht, huschen über das Gesicht Anny Ondras Regungen erst des Glücks, dann des Verdrusses, der Hilflosigkeit, der Müdigkeit und zuletzt sturen Trotzes. Ein stellenweise beeindruckendes Schauspiel, nur der melodramatische Kern ist morsch von Anfang bis Ende. (64cp)

 

[Veeze, Ganger, 2023 (77cp)]

 

5.7. Time Shelter (Georgi Gospodinov, Bulgarien 2022, Übersetzung: Angela Rodel, Hörbuch, Sprecher: Jeff Harding)

Dieses Buch ist ein Haus, aus Gedanken gebaut. Ein Roman, der sich von seinen Ideen so weit, wie es nur geht, ins Konkrete hinein nötigen lässt. Großer Gegenstand: nicht weniger als die Zeit. Eine Figur namens Gaustine errichtet eine Klinik, in denen für Demenzkranke ihre eigene Vergangenheit nicht vergeht. Dass es sich bei Gaustine um eine Augustinus-Verschreibung handelt, daraus macht das Buch, macht der Ich-Erzähler GG, so wenig ein Geheimnis, wie er aus irgendeiner seiner vielen aus der Enzyklopädie seiner Kenntnisse gerupften Blüten ein Geheimnis macht: Von Borges zur Bibel, von antiken Mythen zur jüngeren und älteren Geschichte nicht nur Europas werden Quellen genannt, Echoräume ins Detail ausbuchstabiert, metafiktionale Girlanden gedreht, und das bis zum Schluss, denn als Epilog gibt es Reflexionen über das Ende von Büchern (und anderen Medien) gratis dazu. Diese Überfülle, oft brillant, immer geistreich, nicht selten enervierend, kaum je genuin komisch, ist über dem Abgrund einer Science-Fiction-Prämisse erbaut, die, realistisch genommen, zum sofortigen Absturz führen müsste: der Idee nämlich, dass sich der Zeit-Zufluchtsort, den Gaustine für Demente erdacht hat, eine ungeheure Ausweitung erfährt. Die Nationen Europas wollen nach Hause, nostalgisch zurück nicht an einen Ort, sondern in eine Zeit, zu der die Welt noch in Ordnung war. Ein Ding der Unmöglichkeit, das Gospodinov sich aber doch nach Möglichkeit ausmalt. Nationalklischees, groteske Prämisse, sehr konkrete Überlegungen zur Frage der guten Zeiten, das Ad-absurdum-Führen der Wiederholung in immer blutigeren Re-Enactments, all das wird recht lustvoll ineinander püriert - die Diagnose aber bleibt schneidend und treffend: Der Wunsch, der hier Wirklichkeit werden soll, der Wunsch nach der Rückkehr in eine Vergangenheit, die man sich als bessere imaginiert, ist eine faschistische Zukunfts-Amnesie, die Ungeheuer gebiert, weil der Wunsch nach Wiederholung nur als Wiederholungszwang ausagiert werden kann. (71cp)

 

Medusa (Anita Rocha da Silveira, Brasilien 2021)

taz-dvdesk (68cp)

 

4.7. Hier irrt Maigret (Georges Simenon, F 1954, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Louise, eine junge Frau, die als Prostituierte gearbeitet hat, wird erschossen aufgefunden, in ihrer zu teuren Wohnung in einem zu guten Viertel, dem Quartier des Ternes im Zentrum von Paris. Sie hatte einen Geliebten, Pierre, der zunächst der Hauptverdächtige ist. Recht schnell aber ermittelt Maigret, dass im zu teuren Haus ein berühmter Chirurg lebt, der die Wohnung bezahlte. Seine Ehefrau wusste davon, hat es, wie sie ostentativ erklärt, mit Gleichmut erduldet, gehasst hat den Arzt, der Frauen, beziehungsweise den Sex mit ihnen, zur Entspannung benutzt hat, nur die Schwester der Frau. Sagt sie offen. Eine Assistentin gibt es im Krankenhaus, die ihren Chef kritiklos bewundert. Das falsche Alibi, das sie ihm gibt, hätte er gar nicht gebraucht. Ein Novemberroman, Maigret trinkt diesmal den Tresterbrand Marc, draußen Nebel und Kühle, die Innenräume sind warm, wenn nicht überheizt. Kalt, sehr kalt ist das Weltbild des berühmten Chirurgen, in dem Maigret (oder Simenon) etwas wie einen bösen Zwilling des Kommissars erkennt: Der Blick der Vernunft macht sich über die Schwäche des Menschen wenig Illusionen. Der Chirurg jedoch blickt mit Verachtung von oben, Maigret sucht zu verstehen. Auf die Frage, die ihm von einer der Frauen gestellt wird, ob seine Moral konventionell sei, antwortet er nicht direkt. Vermutlich zurecht, weil der gerne als Kleinbürger beschriebene Maigret in Sachen moralischer Konventionen ein Agnostiker ist. Seine Seelenflicker-Moral ist keine der konkreten Sittlichkeit, sondern basiert auf einer fundamentaleren Haltung: Seine Zuneigung gilt den Schwachen, wozu immer ihre Schwäche sie hinreißen wird. Die Verachtung gilt jenen, deren kalte Stärke diese Haltung des Zuneigens unmöglich macht. Darum ist der Chirurg, der kein Mitleid kennt und Menschen benutzt und verbraucht, in Simenons Welt eine Teufelsfigur: Maigrets Irrtum liegt im Glauben, es ließe sich ein Funken Menschlichkeit in ihm entdecken. Der Mann ist ein Teufel, dem das Gesetz freilich nichts anhaben kann. Maigrets (und Simenons) Verstehen gilt ganz denen, die er zu Taten trieb, die nachvollziehbar sind, wenngleich um nichts weniger furchtbar. (74cp)

 

[Paul Simon, Seven Psalms, 2023 (78cp)]

 

3.7. The Farmer’s Wife (Alfred Hitchcock, GB 1928)

Bauer sucht Frau: eine Aufschubkomödie. Denn der Weg wäre kurz. Die sterbende Gattin gibt Dienstbotin Minta mit dem letzten Atemzug noch den Auftrag, die Wäsche des zukünftigen Witwers zu waschen. Hitchcock zeigt die Ausführung weidlich. Der Bauer, ein Mann in den besten Jahren, ist ein schnurrbartstolzer Gutsbesitzer, der eine Liste macht und die in Frage kommenden Frauen eine nach der anderen aufsucht. Sie sind alle die Falschen, denn die Richtige steht und geht und wäscht und putzt und sitzt ja nah. Eine nach der anderen weisen sie ihn ab, stolz oder hysterisch, eine wedelt mit den Fäusten wie ein außer Rand und Band geratenes Kind; am Ende kriechen sie, mit mehr oder weniger Würde, zu Kreuze. (Das Geschlechterbild ist, das versteht sich von selbst, ziemlich scheußlich.) Apart ist, wie das Buch die Dienstbotenkomödie Szene für Szene fast in die Standes-Dramödie mischt: Ash, der grundsätzlich widerwillige Diener mit dem nie richtig sitzenden Knautschhut über der schlecht gelaunten Visage, fuhrwerkt mit der Dame im Rollstuhl im Salon herum und hält sich die ständig rutschende Hose. Hitchcock inszeniert insgesamt wenig verspielt, aber mit Tempo, die Kamera ist flott unterwegs, die Regel sind Kontinuitätsmontagen, sehr schön aber der Besetzungsstuhl, in den sich der Farmer die falschen Frauen hineinfantasiert, bis dann endlich die richtige darin Platz nimmt. Der Ton, noch in der Ridikülisierung der Frauen, bei allem gelegentlichen Grobianismus doch eher freundlich, wenn nicht sogar menschenversteherisch sanft. (70cp)

 

[The Durutti Column, The Return of the Durutti Column, 1980 (74cp)]

 

2.7. The Ring (Alfred Hitchcock, GB 1927)

Schnelle Kirmesmontage, Kettenkarussell, Hau-den-Lukas, Eier auf den Schwarzen/Clown, entblößte Gesichter, Gewehrschuss (direkt in die Kamera), Gegenschuss: Von diesem rasanten Beginn an gibt es bis zum Schluss kaum eine Einstellung ohne Gedanken, Gag oder Witz. POV schlägt One-Round-Jack den sichtbar ins Bild imaginierten Rivalen auf die Box-Birne. Doppelbelichtung, der zählende Arm ragt ins Bild, der K.O.-Schlag im Off, der Kampf selbst von Körpern und Köpfen verdeckt, am Ende dann freie Sicht auf Schlagen und Klammern und vor allem das wilde Handtücher-Wedeln. Von geradezu Tatischer Beobachtungsgenauigkeit zeugt das Wandern des Namens auf den Werbetafeln vom Kleinen ganz unten ins Große weit oben, zeugen die Bilder vom großen Boxkampf am Schluss, vor allem die Großaufnahmen von den Publikumsreaktionen. Von der Lust am Absurden zeugt manches Detail, die siamesischen Zwillinge und der kleinwüchsige Mann, die ganz selbstverständlich bei der Hochzeit in der Kirche im Bild sind, jedoch nicht im Fokus. Die übertriebene Zierschrift.  Mehrfach verschwimmt die Realität ins Abstrakte, zwar motiviert, aber eigentlich will Hitchcock vor allem das verschwimmende Bild: Einer ist betrunken, der andere geht zu Boden, vom Feld der Repräsentation bleiben Linien, Striche, Formen, dann berappelt es sich wie ein Boxer, der, ausgezählt, wieder aufsteht. Die Frau, keine Blondine, zwischen zwei Männern, den kleinen Ringe am Finger, den großen am Oberarm, Überblendungen hin, Überblendungen her, schwebende Köpfe, Durchblicke, gelegentlich auch kinoförmig als Lichtstrahl. Wie konsequent das eine Klassenkomödie ist: Die Truppe vom Jahrmarkt macht den Aufstieg ihres boxenden Helden konsequent mit. Fish im Anzug, out of water, und doch selbstbewusst: Bei ihnen liegen die Sympathien, bei ihnen bleiben sie auch. Das allzu bewegliche Herz der Geliebten findet, versteht sich, vom Abweg auf den rechten Pfad am Ende zurück. (79cp)

 

[Joanna Sternberg, I've Got Me, 2023 (73cp); Sudan Archives, Natural Brown Prom Queen, 2022 (75cp)]

 

1.7. Kranetude (Florentina Holzinger, D 2023, Seebad Friedrichshagen, Müggelsee/Sophiensaele)

Vom Wasser auf der Bühne zur Bühne am Wasser. Müggelsee, Seebad Friedrichshagen, auf dem Weg Zahnwerbung («Wenn schon falsch, dann wie echt!»), die Vulkanisierwerkstatt, der Grieche mit dem Namen «Der Grieche», das House of Vegan gleich daneben. Vorne am Steg wartet der Kran, rechts vor der Strandbar sitzt Publikum im Hawaiihemd, das, anders als der Rest, hierhin gehört. Und staunt, als es dann losgeht: mit Pauke, Riesenxylopohon, elektrischem Dräuen und drei nackten Frauen an Schlagwerk - die Komponistin Katharina Ernst mit dabei - plus sich von der Leine lassender, später schwimmender, auch zuckender, von der Musik oder höheren Mächten gepackter Dirigentin (sie dirigiert in ihrer Fantasie wohl Naturgewalten). Unter der Oberfläche des Wassers nähern sich sieben Performerinnen dem Ring, der am Kran hängt, man ahnt sie nur, dann geht es, unter dem Wasser konzertierte Verhakungsaktion, nach oben, im Kreis, am Ring, hängend, zum Luftballett, einfach, aber, weiter nach oben schwebend, in Richtung Erhabenheit choreografiert. Aus einem Schlauch gelangt Wasser zum Ring, es sprinkelt kreisrund als Sprühfontäne hinab. Von hinten, dem See her, auf dem halbnah Tourismusschiffe den Blick queren (wie am Himmel die Flugzeuge im BER-Anflug), nähern sich zwei Frauen auf Wasserdruckstelen, rauschen, Göttinnen gleich, näher, später springen sie, von den Wasserdruckschläuchen beschleunigt, wie Delphininnen von links nach rechts und von rechts auch nach links. Zwischendurch noch wird ein Donnerblech plus Tänzerin, die es donnert, an einem weiteren Haken halbhoch am Kran zum Ballettring gezogen. Da sind es nun acht, die Perkussion endet, nur noch der Donner. Etwas wie eine herausvergrößerte, an den See verlagerte Nummer aus «Ophelia’s Got Talent», aber dadurch befreit: aus der Show, von der Sprache, elektrisch verstärktes, technikgestütztes Naturtheaterspektakel. Nach vierzig Minuten ist es vorbei. (73cp)

 

[Blue Lake, Sun Arcs, 2023 (77cp); Dave Lombardo, Rites of Percussion, 2023 (72cp)]

 

 

JUNI

30.6. Easy Virtue (Alfred Hitchcock, GB 1928)

Hohe Herren in hohen Räumen mit spitzen Bögen: das Scheidungsgericht. Hitchcock filmt, am Anfang und auch am Ende, denn es schließt sich ein Kreis, die Perücke auf dem Richterschädel bildfüllend von oben, dann erst rückt mit der Wendung des Kopfes ins Lot das Gesicht ins Bild: Die Institution, die verurteilt, ist von graulockiger Anonymität. Wie am Ende die Reihe der Fotografen, die mit ihren Bildern die Frau vor der Öffentlichkeit als notorische Ehebrecherin denunzieren, nur als Rückenansicht ins Bild gesetzt ist: Das Opfer, die Hand am eigenen Hals, mit famous last words: «Shoot, there is nothing left to kill.» Die Geschichte selbst wird mehrfach entkorkt: In Rückblenden (aber auch im Gericht) fährt die Kamera von der Großaufnahme eines Gegenstands, der nach Kontext verlangt, öffnend in Richtung Totale zurück. In der entscheidenden Szene solange, bis das Eifersuchtsdreieck im Bild ist: der (trinkende) Gatte, die Porträt sitzende Larita und der porträtierende Maler. Einer wird sterben und eine ist von nun an notorisch. Gerichtsdialog: Großaufnahme des Gesichts Profil linke Seite, Großaufnahme des anderen Gesichts Profil rechte Seite. Ohne Worte. Das Eheversprechen: Mauerschau im Blick aufs Gesicht der Telefonistin, kleiner Ersatz-Orgasmus des Lächelns. Die Überfahrt überblendet, netter Gag, einen aufgeputzten kleinen Hund im Gepäckraum in einen Bullterrier, schließlich geht es von Frankreich nach England. Das Anwesen der Familie Whittaker, in die Larita nicht zu ihrem Glück hineingeheiratet hat. Die Mutter, an deren Rockzipfel der gute John hängt, eine Walküre mit schwertscharfer Zunge: «John, who is this woman you have pitchforked into the family?» Wieder hohe Räume mit spitzen Bögen, die Familie am Tisch, großer Auftritt Laritas, die Treppe hinab, zum Fest, von dem man sie fernhalten will. Gut ausgehen darf das nicht, ist aber als Tragödie einer Frau, die von schrecklichen oder schwachen oder missgünstigen Menschen umstellt ist. (67cp)

 

[Dudu Tassa & Johnny Greenwood, Jarak Qaribak, 2023 (80cp); Rufus Wainwright, Folkocracy, 2023 (75cp)]

 

29.6. Una vita difficile (Dino Risi, I 1961)

Schnelldurchlauf italienische Geschichte: Krieg, Partisanen, Silvio (Alberto Sordi) findet bei Elena (Lea Massari) ein Versteck, sie schlägt, als Not an der Frau ist, einem deutschen Soldaten den Schädel ein. Aus fare la resistenza wird fare l’amore, am Ende des Kriegs geht Silvio nach Rom; Elena, der er eine gemeinsame Zukunft versprach, bleibt zunächst mit ihrer Mutter zurück. Auf einem Umweg wird nach dem Krieg doch noch eine Ehe daraus, Elena und Silvio speisen am Abend, an dem der Ausgang der Volksabstimmung über Monarchie oder Republik verkündet wird, als überzeugte Republikaner monarchisch: Sie verstören den Adel, der sie sehr versehentlich einlud, und tun sich am Pasta-Mahl dennoch gütlich. In solche komischen, oft eigentlich bitteren Szenen löst Dino Risi das - in dieser Konstellation jedenfalls - Unauflösliche auf. Silvio hat kaum mehr als, mindestens so außen- wie innengeleiteten, Anstand, noch wenn er zum millionenschweren Korruptionsansinnen Nein sagt, scheint ein versichernder Blick in seinen Augen zu liegen, denn versucht ist er schon. Und widersteht, ein tapsiger Held, und kommt in den Knast. Gibt dem Druck von Frau und Schwiegermutter nach, die als Opportunismus-Erwartungs-Block konturiert sind, unter dessen Drängen Silvio schmählich bei der (buchstäblich betonharten) Prüfung versagt. Ein stark-schwacher Mann, der nicht weiß, wo er nachgeben soll; der in mehr als ungelenken Manövern betrunken die Frau wiederzugewinnen versucht. Zwischendurch endet er auf der Straße am Meer, Viareggio ist der Ort, torkelt, spuckt auf die vorbeifahrenden Autos, legt sich, wie zum Sterben, auf den Asphalt, steht wieder auf. Das ist der Film: Italienische Kriegs- und Nachkriegsgeschichte als Stehaufmännchen-Erzählung. Korrupte, hassenswerte Autoritäten, zum Schluss noch ein Proto-Berlusconi, gegen die ein komödiantischer Softie wie Alberto Sordis durch sein Leben torkelnder Silvio wenig vermag Außer: die eigene Ehre zu retten, aufrecht geht er, seine Demütigung ohrfeigend rächend, in eine gewiss nicht bessere Zukunft davon. (80cp)

 

[Bettye LaVette, LaVette!, USA 2023 (79cp); Saroos, Turtle Roll, D 2023 (77cp); Rosalía, Motomami, Spanien 2022 (80cp)]

 

28.6. Maigret hat Angst (Georges Simenon, F 1953, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Maigret fährt auf einen Polizeikongress nach Bordeaux und fühlt sich unter den jungen Kollegen sehr alt - wir befinden uns in der schwankenden Chronologie der Romane drei Jahre vor seiner Pensionierung. Was es nicht besser macht: Er macht auf dem Rückweg halt in der Provinz, Fontenay-le-Comte, um seinen Studienkollegen von einst, Julien Chabot, nun Untersuchungsrichter des Orts, zu besuchen. Man hat sich recht lange nicht gesehen, die Lebenswege haben für den einen Jul- in die Hauptstadt und zum Ruhm geführt (wieder wird er von vielen auf der Straße als der Kommissar, von dem die Zeitungen immer berichten, erkannt), der andere blieb, dabei hat ihn Maigret einst beneidet, wo er war, hier, in der Vendée, Teil der besseren Gesellschaft, deren Glanz sehr gelitten hat, was nichts daran ändert, dass viele den herabgekommenen Adel, in dessen Umfeld auch Chabot gehört, mit Missgunst betrachten. Mit Maigrets Erwachen aus unruhigem Zugschlaf beginnt der Roman. Der Kommissar erfährt im Gespräch mit einem Mitpassagier von einer Mordserie in Fontenay, natürlich wird er in die Sache hineingezogen, muss Madame Maigret telefonisch vertrösten. Viel ist, was das Hinfallen des Verdachts angeht, von Geisteskrankheit die Rede, die Angelegenheit streift des Serienmordkerns wegen auf etwas ungewohnte Weise die Konventionen des Whodunit. Es geht dann aber doch um viele Arten des Unglücks, den finanziellen Absturz, der nur Fassaden zurücklässt, gegen deren Einsturz sich der Täter, ein schlechter Verlierer beim Bridge, mit Gewalt stemmt. Da ist aber auch die Prostituierte, in die sich ein Mann rasend, rührende Liebesbriefe schreibend verliebt; was jedoch auf dieser Welt, in Fontenay jedenfalls, nicht gut gehen kann. Maigret ist in Sorge, um die Verletzlichen, und hat Angst, dass die Grobheit des Ermittlers vor Ort schlimmen Schaden hervorruft. So kommt es. Maigret fährt vorzeitig ab, in Paris ruft ein anderer Fall. Die endgültige Aufklärung: ein Nachgedanke. (72cp)

 

[Black Country, New Road, Ants From Up There, GB 2022 (74cp); Sexyy Red, Hood Hottest Princess, USA 2023 (75cp);  Erobique, No. 2, D 2023 (73cp)]

 

25.6. THX 1138 (George Lucas, USA 1971/2008)

Eine Welt wird gebaut, dystopisch und slick; wobei in der Slickness eine ganz andere Kraft als die des Dystopischen liegt: Techno-Faszination, mindestens. Zwischen Kontrollapparatur und Kloster oszilliert das, auf allen Bild- und Tonebenen (Soundschnitt: Walter Murch) außerordentlich elaboriert. Wobei im Elaborierten der Wille zur Beeindruckung liegt. Musste womöglich nicht zu THX und Lucasfilm führen, hätte statt nach Hollywood auch auf die Professur an der Rhode Island School of Design führen können - die digital aufgemotzte Version, die nach dem Willen des Schöpfers die kanonische ist, sucht dann sehr oberflächliche Formen der Perfektionierung. Es ist aber auch, Robert Duvall und Donald Pleasance und Maggie McOmie zum Trotz, ein in seinen Topoi etwas generischer Film, so sehr er sich, was immer wieder sehr schön ist, in Richtung Weißraum und Stille und Körperumschlingung bewegt. Es ist: Halbabstraktion, hingezogen zur Kunst, hergezogen zur Kontrollgesellschaftskritik, hingestellt als Fahrt, die von einem Geschoss der aufwändig gebuildeten world ins nächste fährt, mit rasenden Autos, Alarmton, mit Buchstabenkürzeln und einem Kern, der die Liebe gegen die Polizei und die in ihr sehr vage verkörperte staatliche Wirklichkeit stellt. Am Ende dann doch, Höhlenausgang inbegriffen: Stille Tage im Klischee. (65cp)

 

[Meshell Ndegeocello, Bitter, USA 1998 (81cp); King Krule, Space Heavy, GB 2023 (83cp); Marina Herlop, Pripyat, Spanien 2022 (71cp); Big Freedia, Central City, USA 2023 (83cp)]

 

23.6. Der Fackelträger (Johannes Knittel, DDR 1957)

Ein betrunkener Mann aus dem Westen Berlins kann die Zeche nicht zahlen, nimmt die falsche S-Bahn und landet unversehens im Osten. Dort wird er in eine Ausnüchterungszelle geschickt. Der Name des Mannes: Kabischke. Es spielt ihn Friedrich Gnaß (vom Berliner Ensemble), der 1936 großen Ärger bekam, als er betrunken Adolf Hitler beschimpfte; er spielt ihn zerknittert, als Mann guten Willens und recht schwachen Fleisches, auf schicksalshalber sanft abschüssiger Bahn. Im Gebäude, dessen pflichtvergessener Hauswart er ist, lebt Oberstaaatsanwalt Sänger, gut sichtbar in Szene gesetzt mehrere Schmisse links im Gesicht, Hermann Kiessner (der sehr bald nur noch in BRD-Filmen spielt) gibt ihn schnarrend autoritär, ein Klischee von einem Ekelpaket, ein schwacher Mann, der Böses will und Böses schafft. Er wird am Ende natürlich befördert. Nebenbei wird noch eine Verlobungskomödie gespielt, Ruth-Maria Kubitschek hat ein paar Filmminuten, aber dieser auch nicht sehr inspirierte Plot kommt aus Propagandagründen unter die Räder. Rundum tumbe Sache, immerhin ein paar Bilder aus den Straßen Berlins. (28cp)

 

[Mulatu Astatke, Mulatu of Ethiopia, USA/Äthiopien 1972 (78cp); Orchestral Manoeuvres in the Dark, Dazzle Ships, GB 1983 (73cp)]

 

22.6. Exile Promenade (Ada Mukhína, Performing Exiles, Haus der Berliner Festspiele)

Heirat, aus der Not des Widerstands geboren: Eine der Strategien, die Alla Gutnikova empfiehlt, vor zwei Jahren noch Cultural-Studies-Studentin in Moskau, Teil der linken Studierendenzeitschrift Doxa. Nach einem Jahr Hausarrest ist sie über Armenien nach Deutschland geflohen, das für sie eher zuerst als zuletzt das Land des Holocaust war. (Dass eine Ukrainerin in achtzig Jahren Russland als Land der Freiheit aufsuchen könnte: Unvorstellbar, meint Gutnikova. Dann gehen wir mehrere Minuten im Garten des Exilmuseums im Kreis, während auf den Kopfhörern die die Namen und Schicksale von politischen Gefangenen im Russland der Gegenwart berichtet werden.) Heirat gibt Rechte, und auch das Demonstrieren einer einzelnen Person mit Plakat in der Hand ist nach den Gesetzen erlaubt. Das Recht wird gebrochen in Russland, das ist klar, aber es ist nicht außer Kraft, in seinem Namen lassen sich (immer schwächere) Gegenkräfte mobilisieren. In einem Hinterhof nimmt sie ein Megafon und erklärt, was nicht hilft. Etwa Verzweiflung. Und was hilft: Waffen an die Ukraine. Alla Gutnikova ist Guide Nummer zwei des Audio Walk Exile Promenade, der sich im Umfeld des Hauses der Berliner Festspiele bewegt: Guide spricht, Menschen mit Kopfhörern hören, es geht bis zum Kudamm, den Bahnsteig des U-Bahnhofs Spichernstraße entlang. Passanten passieren und gucken, manche gucken auch nicht. Guide Nummer eins ist Grégoire Lopoukhine, Theatermann aus Paris, der auch in Russland inszeniert hat, der ein wenig aus seiner eigenen, aber vor allem aus seiner Familiengeschichte erzählt. Und auf das postrevolutionäre Berlin verweist, Charlottengrad, von Nabokov bis Bely, die Häuser und Orte von damals sind nicht weniger verschwunden, als es die Sowjetunion ist. Zwischendurch gibt es ein bisschen spielerischen Veranschaulichungsquatsch (Ping Pong mit Lenin), in der Art, wie es bei Rimini Protokoll auch immer schon nervt. Auf der Wiese warten Käse und Wein, weil halt quasi Paris. Guide Nummer drei ist Ziliä Qansurá, hochhackige Schuhe, die sie erst einmal auszieht. Sie legt los in einer sehr fremden Sprache, das ist baschkirisch, ihre Heimat: die Republik Baschkortostan, Teil der russischen Föderation, ausgebeuteter Rohstofflieferant, auch für Ölexporte nach Deutschland. Qansurá führt nicht nur den russischen Kolonialismus, sondern auch den damit verbundenen Rassismus vor Augen: Als Schauspielstudentin hatte sie an der Akademie keine Chance, weshalb sie sich für Bühnenbild einschrieb. Aber auch so wurde sie meist für die Putzfrau gehalten. Nun ist sie in Wien. Die konkrete historische Verortung von Teil eins löst sich zusehends auf, der Audio Walk produziert vor allem im dritten Teil ganz bewusst eher Kontrastmontagen zwischen innerem und äußerem Bild. Auf dem Kudamm evoziert Qansurá ihr in der baumlosen Steppe zwischen Bergen gelegenes 400-Seelen-Dorf. Das Finale im seelenlosen Neuen Kranzler-Eck wird wegen Absperrung rasch umdisponiert. Ein Teilnehmer des Walk hat gerade erst Laufen gelernt. Die Stadt quert die Kunst, die die Stadt quert. Es ist eine gute Form für die Ohnmacht der Kunst, nicht nur im Exil. (74cp)

 

Idiota (Marlene Monteiro Freitas, 2022, Performing Exiles, Haus der Berliner Festspiele)

Der Container, eine aufgesockelte, terrarienartige Glasvitrine, bändigt hier nicht, eher werden in seinem Innern Kräfte entfesselt. Büchse der Pandora, sagt das Programmheft. Man sieht: Kies auf dem Boden, Schlaufen an der Wand, Haken auch, ein blauer Holzstuhl, eine Schaufel, diesdas, Utensilien für Zauberin, Turnerin oder Artistin, Fetische, Instrumente, deren Verwendung noch stets überrascht. Wer sie verwendet, was sie verwendet: das Wesen Idiota. Erst ohne Kopf, Hände wie Flossen, ein Zappeln auf dem Trockenen, dann ploppt der Stöpsel (eine Art Pagenhut) weg, Kopf erscheint, identifizierbar wird die Person, falls sie das ist oder wird, dadurch nicht. Hinten ein Pferdeschweif, er, sie oder es tritt auch den Kies wie mit Hufen. Gesicht angemalt, Gesicht verzerrt, Schrecken, Freude, Entdeckung, Ahnung, Entsetzen. Das wird alles durchlaufen. Robotischer Körper, tierischer Körper, durchzuckter Körper, sich zusammenreißender Körper. Es läuft Musik, mit der sich der Körper sicher nicht synchronisiert, auf die er reagiert, Into My Arms, anderes womöglich kapverdisch, Oper auch, am Ende noch Mahler. Wasser läuft von oben, links sind Hähne, ein Feuerlöscher, Nebel dringt in den Kasten, der zum Feuchtraum wird, eher zum Schrecken als zur Freude der Drinnenfigur. Denkt man. Wobei, was man sieht, wohl gar nicht zum Denken gemacht ist, sondern zur Wahrnehmung, irritiert oder sympathetisch oder einfach bezeugend, was alles nicht dasselbe wie Mitgefühl ist. Zuletzt machen noch die erstaunlich eigenaktiven Finger der rechten Hand vorne am Glas die zunächst passiven Finger der linken mit der Möglichkeit der Bewegung bekannt. Dazu dann eben Mahler. Ein fremdes, bewusst befremdendes Spektakel, das akephal beginnt und in Weise auch akephal bleibt, dabei aber alles andere als smooth die möglichsten und unmöglichsten Zustände durchläuft. (75cp)

 

[Arlo Parks, My Soft Machine, GB 2023 (75cp), Dinner Party, Enigmatic Society, USA 2023 (74cp)]

 

21.6. Klute (Alan J. Pakula, USA 1971)

Schattenriss vor dem Fenster, das gläserne Dach des Fahrstuhls im dunklen Schacht, der Sirenenklang der Musik, das Wispern des Lichts, das leise Drohen der Tonbandaufnahmen, das Understatement in jeder von Donald Sutherlands Poren, was heißt Understatement: die vollendete Ausdruckslosigkeit, hier wird sie Ereignis. Klute, die Titelfigur, ist der Mann, der als Detective dem Genre entspringt, das Pakula aber ohnehin nach Möglichkeit abstrahiert: zu diffundierenden Paranoia-Motiven, die sich, wie der Täter, in Oberflächen spiegeln, die nie ganz und gar klar sind. Und Jane Fonda mitten darin, die nicht die Kontrolle verliert, die sich mit Haut und Haar in die Prostituierte Bree hinein versprachkörpert hat, die ihrer Verletzung oder Verunsicherung mit nuancierten Kontrollmanövern begegnet. (So sehr, dass die Entscheidung unmöglich wird, ob man da die Figur sieht oder das etwas anders gelagerte Schauspiel der method actress, die die Verwandlung performt und das nahtlose Performen dieser Verwandlung genießt; noch im Scheitern als Schauspielerin, die sich für Jeanne d’Arc einen irischen Akzent draufgeschafft hat.) Unmöglich zu entscheiden, wie selbstbestimmt, self-sufficient die Prostituierte Bree ist, die Männern - in Oberflächen, die auch nie ganz klar sind - ihr Begehren spiegelt, sie, sich niemals ganz hingebend, in der Hand hält, scheinbar strömend und gleitend widerstandslos, die sich mit dem Zuhälter Frankie (Roy Scheider) sicherer fühlt als mit dem ihren Avancen zunächst widerstehenden Klute - der aus der Perspektive Brees, die mehr oder minder auch die des Films ist (den Überschüssen an Stilwillen zum Trotz), nie ganz aufgelöst wird. So wenig restlos wie Fonda als Bree, die die Prostituierte nicht mehr sein will, als die sie aber das Lustmordbegehren des Täters geweckt hat. Sie ist die Frau, die sich behauptet: «What I’d really like to do is be faceless, and bodiless, and left alone»; die diesen Wunsch nach Selbstverlust in den Gesprächen mit der Therapeutin eloquent deklariert. Und am Ende doch aufbricht aus einer Wohnung, die leergeräumt ist, mit Klute, in eine Außenwelt, die vielleicht anders aussieht als die, die der Film so konsequent düster entwarf. (78cp)

 

[CMAT, If My Wife New I'd Be Dead, Irland 2023 (73cp)]

 

20.6. Am Strand der weiten Welt (Simon Stephens, GB 2006, Regie: Daniela Löffler, Deutsches Theater Berlin)

Spielen, als spiele man nicht, die vierte Wand in Gedanken verschieblich: Post-Gosch, kitchen sink am Scheibenrand. Nämlich die Bühne: Konzentrische Kreise, der mittlere wird sich heben, nach der Zäsur, die der im Plot übergangene, wie nebenbei eingeführte Tod des jüngeren Sohnes bedeutet. Gerade radelte er noch dem Ende des Aktes (oder wie immer das well made play sich auch unterteilt) entgegen, nun ist er tot. Weil aber keine Darsteller*innen von der Bühne verschwinden, oder nur kurz, nach London zum Beispiel, dann kehren sie wieder, bleibt auch der Christopher-Darsteller präsent: und singt, sehr schön, zur Gitarre, zum Beispiel Into My Arms von Nick Cave. So ist das mit den Tragödien im Stück, und in der Inszenierung erst recht: Der Großvater, der seine Frau schlägt, der Vater, der mit der schwangeren Verlagslektorin anbändelt, der jüngere Sohn, der es - prämortal - auf die Freundin des älteren abgesehen hat. Alles nicht gut, aber im recht locker weggespielten Elend sehr ent-, wenn nicht unterspannt. Die Figuren sind psychologisch gemeint, sozial mit dicken Strichen umrissen, allgemeinmenschliches Tragikomödientheater. Freundliche Mittellage in Ton, Schicksal, Charakter, Ästhetik. Kein großes Drama. Weil man ja immer noch eine Dose Bier aufmachen kann. Der Krebs war dann sowieso keiner. Das Bühnenbild bittet am Ende unter Gerümpel zu Tisch. Und über allem schwebt und kreist, ohne zu fallen, der Damoklesbalken. (54cp)

 

19.6. Le casse (Henri Verneuil, F 1971)

Zwei kleine Autos, eines rot eines grau, auf einer verrückten (nein: verrrrrückten) Verfolgungsjagd durch Athen. Das ist das Hochbeschleunigungs-Setpiece, das auf das Heist-Setpiece folgt, mit dem die Sache schon mal beginnt. Einen ganz tollen Koffer hat Monsieur Azad (Jean-Paul Belmondo) da, der Schlüssel live zuschleift, während die Röntgenkamera das Safe-Schloss durchleuchtet und Azad die dem Safe abgelesenen Informationen direkt in Lochkarten überträgt. Kurze Unterbrechung des Raubs, weil draußen der Kommissar Abel Zacharia (Omar Sharif) den Braten gerochen hat, sich im weiteren als nicht ganz koscher erweist und ungefähr zur Mitte des Films in einer wunderbar ausführlichen kulinarischen Exkursion Azad und die Zuschauer*innen mit dem Zauber der griechischen Küche bekanntmacht. Dazwischen, nur zum Beispiel, Schießerei im Toy Store, der der Rückzugsraum der Safe-Räuber ist, Ralph (Robert Hossein) trägt den Arm für den Rest des Films bandagiert. Aber auch eine Begegnung mit einer Pinup-Schönheit namens Lena Gripp trägt sich zu, die quasi direkt einer Zeitschrift namens Eros entsteigt. Ohrfeigen setzt es, Licht an und Licht aus. Sehr heiterer Himmel, aus dem diese Ereignisse treten und fallen, auch purzeln, wenn sie nicht klettern und rasen. Eine andere Frau ist im Spiel, Hélène (Nicole Calfan) kurz weg, dann wieder da, heftige Prügelei am Pool unter Männern Und immer wieder Athen, aber Korfu dann auch. Der McGuffin, smaragdgrün. Ein Film, der reichlich Schauwerte hat, der aus Setpiece um Setpiece besteht. Stimmung relaxt, Zusammenhang lose, Spannung bestenfalls wohltemperiert. Aber kein Grund zur Klage: Cinema of attractions der südlichen Art. Am Ende großes Gegacker. (78cp)

 

Ancestral Visions of the Future / Pageantry of Wailing (Lemohang Jeremiah Mosese, D/Lesotho 2023, Performing Exiles, Haus der Berliner Festspiele)

Die Bühne: rechts überlebensgroß ein liegender Kopf, links eine rote Büste, deren Kopfschmuck zum Boden, ja zur Bühneseite drapiert ist. Dunkel ist’s. Hinten die Leinwand. Kapitel eins, es wird nicht-römisch durchnummeriert, The Sower, es ist von Augen am Himmel die Rede, zunächst läuft ein Film. Ein älterer Mann mit Rindern beim Pflügen. Ein Kind. Vater und Sohn. Filmbilder von Kindern kehren wieder, im Wasser, es dominiert aber alles in allem das Bühnengeschehen. Worum es geht, gehen könnte, ist nicht so leicht zusammenzupuzzlen. Ums kosmisch Große und um das irdisch Konkrete, um Himmel und Erde, um Mutter und Sohn, wobei die Mutter vielleicht für die Stadt steht, für Heimat. Es wird die Geschichte eines Puppenspielers erzählt, der in der Stadt dem Wahnsinn verfällt. Auftritte zunächst nur von Frauen. Mit Gesang, später Klage. Eine Frau schreit die Namen dreier Männer in den Raum, auf der Leinwand sind als Lichtumriss drei Särge zu sehen. Ein weiteres Kapitel trägt den Titel The Cleansing. Hereingerollt wird eine Waschmaschine, deren Inneres sich rötlich dreht, die Frau sitzt darauf. Die andere Frau bügelt, den Rücken dem Publikum zugewandt. Wieder Gesang. Es gibt schnell montierte Bilder dazwischen. Kinder baden im Schlamm, unvermittelt steigt eine Rakete gen Himmel, man sieht Heiligenbilder, man sieht Desmond Tutu und andere Männer, man sieht die Black-Panther-Faust, ein Bild, eine Geste, die die Frau im Film, zärtlich-fragend-entschlossen, aufnehmen wird. Sie wischt auch in einer Schatten-Berührungs-Montage einem Jungen die Fliegen aus dem Gesicht. Die andere Frau tritt auf und erzählt, aber singend, und zwar zur Melodie der deutschen Nationalhymne singend. In einem roten Lichtzelt wird sich ein Mann entkleiden, in Kokosfett salben, dann rennt er und schlittert, dunkel ist es und bleibt es. Davor auch Frauen in Tanz oder Trance, fortgesetzte Rätselbildproduktion. (67cp)

 

[boygenius, The Record, USA 2023 (69cp); Janelle Monáe, The Age of Pleasure, USA 2023 (82cp)]

 

18.6. Mélodie en sous-sol (Henri Verneuil, F 1963)

Generisch: Nach fünf Jahren im Knast kehrt Charles (Jean Gabin) nach Hause zurück. Die Frau hat, Penelope nur wider Willen, auf ihn gewartet, hält wenig von seinen Plänen für das letzte große Ding. Spezifisch: Als Charles aus der Bahn steigt, erkennt er nichts wieder. Sarcelles, die Stadt in der Banlieue von Paris, hat sich in seiner Abwesenheit zur modernistischen Planstadt gewandelt, fast ein fremder Planet. Generisch: Charles tut sich mit einem Knast-Vertrauten, Francis (Alain Delon), zusammen, der jünger und sportlicher ist; und attraktiver, als Lover einer der Tänzerinnen muss er im Backstage des Casinos ein und aus gehen können. Spezifisch: Der Ort ist Cannes, Fahrten zur Nacht entlang der Riviera, prachtvoll auch in Schwarz-weiß, die Hitze kühlt der jazzige Score, Francis fällt, den Große-Welt-Instruktionen von Charles zum Trotz, durch nicht zuletzt sprachliche Ungehobeltheit negativ auf. Der Film, gelegentlich aufgelegt zu etwas ungelenken Montage-Pointen, genießt das Leben am Pool, die Geschäftigkeit des Casinos, die kleinen Dinge in großen Hotels. Generisch: Heist-Vorbereitung. Klettern, Kriechen, Schneiden, Drohen, Nehmen. Spezifisch: Ein böse ironisches, hinreißend geduldig zelebriertes Endspiel, das alle am Pool versammelt, Charles mit der Zeitung und Francis mit den Taschen, die Sonne, die Polizei - und das Geld. (81cp)

 

Einmal ist keinmal (Konrad Wolf, DDR 1955)

Zug von rechts, Zug von links, einmal dreht sich das Bild: Aus Düsseldorf reist der Komponist Peter Weselin (Horst Drinda) an, eigentlich nur, um beim Onkel im idyllischen Vogtland Urlaub zu machen. Und fällt in der Nähe von Klingenthal aus der Bahn ins Heu. Das Mitnahmeangebot einer Unbekannten schlägt er aus, er schläft ein und wird von zwei Frauen geküsst, womit das Märchenspiel eröffnet ist. Die eine, sie ist rothaarig, sie trägt den schönen Namen Anna Hunzele (Brigitte Krause), wird ihm wieder und wieder wiederbegegnen, weil der Film eine Wiederbegegnungskomödie ist. Und zwar, operettenhaft, mit Musik, «So klingt’s in Klingenthal» sollte der Film ursprünglich heißen. Der Komponist, der populären Musikkomposition müde, will es sinfonisch, Anna mit dem Schifferklavier, die auch die Klassik beherrscht, braucht für ihre Band einen Schlager. Danke Onkel namens Edeltanne wird in einer überflüssigen Seitenepisode in der Wanne verarztet, es gibt Hin und es gibt Her, es gibt Kuss im Regen, das wunderbar bergige Vogtland, dazwischen immer wieder, aber warum auch immer kaum je zu Ende geführte Musik, außerdem Auftritt einer blechernen Ziege, und das alles in Agfacolor. Ein DEFA-Heimatfilm, dessen Charme gerade das wenn nicht Eckige, so doch Unrunde ausmacht. (64cp)

 

[Caterina Barbieri, Myuathafoo, I 2023 (68cp); Mandy, Indiana, i've seen a way, GB 2023 (80cp); Kara Jackson, Why Does the Earth Give Us People to Love?, USA 2023 (81cp)]

 

17.6. Hartaqat / Häresien (Lina Majdalanie/Rabih Mroué, F/D 2023, Performing Exiles, HAU 2 Berlin)

Die Leinwand, hinten und hell, gibt ein Davor: der Bühne, recht dunkel. Drei Teile hat die Performance, durchnummeriert. Im ersten Teil (Incontinence) steht rechts ein Kontrabass quer, daneben ein Tisch mit Dingen darauf, die als unkonventionelle Instrumente zu elektronisch verstärktem Geräusche-Leben erwachen. Erwachen oder eher erweckt werden von Raed Yassin. Verteilt fünf Notenständer, die auf ihren Einbezug in die Sache warten, aber vergeblich. Links hinten ein Tisch mit einem weiteren Instrument, hier wird Yassin einmal sitzen, im Unterhemd, er zieht sich den Pullover vom Leib. Dann zieht er ihn sich wieder an. Yassin macht Musik, rückt dem Bass auf diverse Arten zu Leibe, säbelt mit zwei schräg angesetzten Bögen recht furios dunkle Töne flächig heraus. Das alles ist Begleitmusik, auch wenn sie immer wieder Richtung Vordergrund drängt, zu einem Erinnerungstext, der Ich sagt, den die Autorin Rana Issa verfasst hat, in dem es, in präzisen Verschiebungen, der Zeiten, aber auch der arabischen Sprache und ihrer Etymologien, um die palästinensische Großmutter dieses Ichs geht (von dem man erfährt, dass es jetzt im Exil in Oslo lebt), die in einem Lager im Libanon lebte, und liebte, viele Männer liebte, nicht nur den ersten Ehemann, der als Märtyrer starb, und nicht nur den zweiten, mit dem sie das Glück auch nicht fand. Der Text zieht dem Erinnern ein Fundament ein aus Pisse und Scham und Scheiße, den üblen Geruch des Exils wird man nicht los, auf der Leinwand, die von oben rötlich bis unten grünlich und gelblich dazwischen leuchtet, ist viel Platz für die englische Übersetzung des Texts. Sehr viel kürzer Teil zwei (The imperceptible seeping of life): Es tritt auf der libanesische Autor und Journalist Souhaib Ayoub, auch er sagt Ich, auch in seinem Fall kommen sprechender Körper und dieses Ich nicht problemlos zur Deckung. Dies Ich ist trans, setzt immer wieder neu an, ich beginne von vorne, erzählt, wie in der nordlibanesischen Stadt Tripoli nachts das Leben für die trans Personen erwacht. Dieses Ich lebt ebenfalls im Exil, 18. Arrondissement in Paris. Der Körper, der Ich sagt, führt eine Choreografie aus, mit den Armen, der Text, wenn nicht Englisch gesprochen, meist als Schrift auf ein längliches Schild projiziert, das, ebenfalls genau choreografiert, Plätze im Raum aufsucht, am Gängelband des Lichts und der Schrift. Teil drei (Non-functional memories), Auftritt Ko-Regisseurin Lina Majdalanie, sie setzt zu Beginn ein Tonband in Bewegung, das geht über in einen Text, den sie vorliest. Ein weniger (pseudo-)autobigrafischer Text, eher Essay, oder Theorie, über das Exil, fast in den Hintergrund gedrängt vom Video (von Rabih Mroué), das als nach oben durchlaufendes Band auf der von zwei Vorhängen ins Hochkant-Format gebrachten Leinwand zu sehen ist: eine Collage zwischen sehr konkreten Ruinen, da ist ein gestrandetes Flugzeug, da stürzen Menschen aus einem Haus, verformen sich, fast abstrakt, zu Vogel-Umrissen, es ist Foto, es ist fotorealistisch, es ist gemalt, Motive von Krieg und Unglück und Gewalt, ein endloser Strom. Bis es dann endet. (73cp)

 

15.6. Maigret und der Mann auf der Bank (Georges Simenon, F 1953, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Ein allem Anschein nach unbescholtener Mann liegt in einer kleinen Seitengasse des Boulevard Saint-Martin, tot, ein Messer im Rücken. Maigret spricht mit dessen Frau, einer scheußlichen Person, nur interessiert am Bild, das sie abgibt (was nun gerade ein sehr hässliches Bild macht). Die Tragödie des Toten, Louis Thouret, lag darin, dass er dieser Ehe nicht wirklich entkam. Auch wegen der Tochter, die ihre Mutter hasst, aber auf die Frage Maigrets, ob sie den Vater geliebt hat, nicht sofort antworten kann. Diese Tochter, Monique, ist eine selbstbewusste, kalte Figur, sehr viel beeindruckender als der läppische Mann, mit dem sie ihren Vater erpresste. Sie hatte entdeckt, dass er seit Jahren seinem Job nicht mehr nachging, sondern, was er vor der Familie verbarg, in Paris auf öffentlichen Bänken herumsaß. Was es damit auf sich hat, puzzelt Maigret nach und nach zusammen, es kommt ein Mann ins Bild, dessen Clownsgesicht allen auffällt. Ein Zimmer für sich hatte Thouret auch gemietet, dort hatte er regelmäßig von seiner Geliebten Besuch. Die Vermieterin ist eine Ex-Prostituierte, die in ihrem Haus nun aktive Prostituierte beherbergt. Das vollständige Bild setzt sich Figur um Figur und Gespräch um Gespräch zusammen, die Aufklärung des Mords ist beinahe etwas wie ein Nachgedanke, der Täter spielt im Gesamtbild nur eine winzige Rolle. Mit den Brüsten, die vor Maigrets Augen aus Morgenmänteln quellen, einmal wie Brotteig (Simenons Bild), ist es so langsam aber doch mal genug. (70cp)

 

14.6. Downhill (Alfred Hitchcock, GB 1927)

Ein junger Mann namens Roddy, der als Schnösel beim Rugby eingeführt wird, hat einem Freund ein Versprechen gegeben, das er, nun selbst betrogen, dennoch nicht bricht. Er wird falsch beschuldigt, eine Frau geschwängert zu haben, sie schreitet auf die beiden, auf die Kamera zu, drohend, hier so objektiv, wie an anderer Stelle manches subjektiver bedrohlich erscheint (im Delir, aber Delir ist erst später). Nun führt der Weg des jungen Mannes bergab, von Hitchcock, wie er selbst einräumte, vielleicht allzu buchstäblich in Szene gesetzt: hinunter im Aufzug, die Treppen hinab, wobei an anderer Stelle ein riesiger Schatten die Wand hinter den Stufen nach oben verdunkelt. Der schwule Star Ivor Novello hat sich diese Geschichte selbst auf den Leib geschrieben, Hitchcock sucht zu ihren wenig nachvollziehbaren Unwahrscheinlichkeiten mit visuellem Einfallsreichtum Distanz. So folgt, im Plot, auf den Rausschmiss am College eine Erbschaft aus heiterem Himmel. Aus einem Lehnstuhl steigt Rauch auf, den Mann, der da sitzt, sieht man nicht. Das ist sehr schön und hat mit der Geschichte wenig zu tun. Roddy verliebt sich in eine Frau, die ihn leider nur ausnimmt. Weiter hinab, jetzt nach Paris. In der viragierten Kälte der Nacht dreht sich Moulin Rouge, dazu Leuchtschrift im Dunkeln, gegen Ende in London dann Schweppes als Schriftzug: Hitchcock liebt sichtlich nächtliche Städte als Raum für Schriften aus Licht. Und apropos Licht: Roddy verdient Geld als Gigolo in einem Souterrain-Tanzsalon, am Morgen gehen die Vorhänge auf und die Sonne macht die Schäbigkeit der Szenerie sichtbar. Weiter hinab, jetzt nach Marseille. Roddy gerät ganz aus der Bahn, ist weggetreten, Delir. Hitchcock aber dreht auf, blendet Schellackplatte über Gesicht und Gesichte und Erinnerungsbilder, lässt Harmloses drohend erscheinen, komponiert, auch überblendend, eine kleine Londoner Rückkehrsinfonie. Mit der Geschichte, der ein unplausibles Happy-End aufgepfropft wird, hat das schon lange nichts mehr zu tun. Freischwebendes Ausprobieren von Dingen, die später organischer passen. (68cp)

 

Nightsiren (Tereza Novotvá, Slowakei 2022)

taz-dvdesk (67cp)

 

13.6. Nana (Émile Zola, F 1880; Sprecher: Oliver Rohrbeck)

Was am Ende in die Weltgeschichte des preußisch-französischen Kriegs («nach Berlin, nach Berlin» lautet der Ruf auf den Straßen) münden wird, beginnt mit dem Aufstieg der Prostituierten Nana von der Straße ins Operettentheater: Die Darbietung ihres Körpers ist es, die dem miserablen Gesang zum Trotz dem Publikum, nämlich den Männern, die Köpfe verdreht. Der Direktor, Bordenave, begreift seinen Laden ohnehin als Bordell, ganz unverhohlen, in dem Unterleib zu Unterleib findet. Alle, auch die höchsten Kreise, Grafen, Bankiers, Börsenmenschen und Literaten, sind mit von dieser Partie. Nana genießt die Triumphe, die Macht über die Männer - bis sie genug hat. Es folgt eine Episode, in der sie mit einem Theaterkollegen monogam lebt, diese Verbürgerlichung aber scheitert. Die Rückkehr ins Theater wird zum Desaster, das die Beteiligten ruiniert, aber die Lektion, die Nana daraus zieht, ist ganz klar: Sie errichtet ihr Leben auf der Schädelstätte der von ihrer Gunst abhängigen Männer, die sich als süchtig danach erweisen, sich von ihr ruinieren zu lassen. Was so lange gutgeht, wie es gutgeht. Eine letzte Runde über Russland, sie kehrt an den Pocken erkrankt zurück. Ihren Tod verbindet Zola direkt mit dem Ernst des heraufziehenden Kriegs; das sang- und klangreiche Zweite Kaiserreich endet ohne pomp and circumstance: Einzig die einstige Konkurrentin wagt sich ins Sterbezimmer der Toten. (72cp)

 

12.6. Isabel auf der Treppe (Hannelore Unterberg, DDR 1984)

Wieder und wieder quält sich mit schleppendem Schritt der chilenische Postbote das Ostberliner Treppenhaus hoch. Oben der Absatz, auf dem Isabel wartet. Und träumt. Sie träumt, Jahr um Jahr, den Brief herbei, den Postboten herbei. Jahr um Jahr kommen sie nicht. Und als dann, zuletzt, der Brief doch noch eintrifft, ist das Unglück vollendet. Nach dem Sturz Allendes in Chile hat die DDR Menschen, die das Land verlassen wollten oder mussten, aufgenommen. Rosita Perez (Teresa Polle) mit ihrer Tochter Isabel ist eine von ihnen. Sie warten auf den Mann und Vater, mit kurzen Sequenzen springt der Film ihren sehnsüchtigen Chile-Erinnerungen bei. Eine junge Familie, Jenny Gröllmann und Jaecki Schwarz verkörpern das Paar, aus der Wohnung darunter lädt Mutter und Tochter aus Chile an ihren Tisch, dann entfremdet man sich. Rosita Perez, die eine in ihrer Heimat erfolgreiche Sängerin ist, tritt in der großen Schulaula auf und verlässt, weil das Publikum desinteressiert ist, die Bühne. Sie sucht den Anschluss, den sie bei den Deutschen nicht findet, unter Chilenen. Kurz ist der Film, sehr trocken ist er, hart sind die Schnitte, die Texte verschleiern nichts. Man sieht eine alles andere als offene Gesellschaft, in der sich jeder in seinen Alltag vergräbt. Man sieht diesen Alltag, mit Kochen und Kehren und Dia-Sortieren. Die Nachbarin mit Hund blockwarthaft streng. Am Ende werden sich nur der Großvater und der Sohn als offen erweisen. Zu wenig, zu spät. Nüchtern ist das, modellhaft, sehr konsequent. Ein Kinderfilm, der sich ästhetisch kein bisschen herabbeugt. (70cp)

 

11.6. Die Marquise von O. (Eric Rohmer, F 1976)

Die «gebrechliche Einrichtung der Welt», in diesem Bild von der Existenz fühlt sich Rohmer als Konservativer zuhause. Und folgt dabei Kleist, in die deutsche Sprache, ins deutsche Theater, besetzt die wichtigsten Rollen mit Schaubühnenstars: Edith Clever und Bruno Ganz und Otto Sander, dazu, von Dorns Kammerspielen her, Peter Lühr, der die Contenance noch dann wahrt, wenn er den Revolver von der Wand nimmt und schießt. Edda Seippel sinkt ohnmächtig hin, und dies noch mit Fassung. Sie spielen theaterhaft psychologisch, gießen Sprache und Körper millimeterpräzise in pathosformelhaft vertraute Sprach-Gesten-Haltung hinein. Nicht minder virtuos gibt sich die Kamera von Nestor Almendros entspannt, natürliches Licht drinnen und draußen ist Landschaft aus Schloss und Gatter und Weg und Garten und Baum Natur, wie die Zeit von Kleist sie sich vorgestellt hat. Literaturverfilmung nach dem Ha-Ha-Prinzip: Was Zäsur ist und als Grenze Gestalt gibt, soll unsichtbar bleiben, alles ist bis in die Fingerspitzen und Zweiglein auf zwanglose Fassung geeicht. Musiklos, versteht sich. Und während man Kleists von Einschüben und Kommata verhexter Sprache die Unruhe und Zwanghaftigkeit ansieht, fällt bei Rohmer, der diese Sprache auf Tafeln noch als Schrift-Zitat im Film bändigt, der Kontrast von Fassung und äußerstem (innerem) Aufruhr so radikal aus, dass es ihm am Ende wohl genau darum geht: der extrem gebrechlichen Einrichtung dieser Welt, dem Abgrund aus Vergewaltigung und misogynem Verdacht, der nur durch den Sprung in die Liebe zu überwindenden Spaltung des Mannes in Engel und Teufel die gelassene Form entgegenzuhalten. So macht Rohmer die Marquise erst recht zur starken, zur mit sich selbst bekannt gemachten Figur, nur dass ihre Stärke die einer selbst-bewussten Dulderin ist. (78cp)

 

10.6. Il sorpasso (Dino Risi, I 1962)

Ein rasender und ein aufgegabelter Mann. Der eine (Jean-Louis Trintignant) klein und blond, Jurastudent, einer, der nicht aus sich herausgeht, ein schüchterner, eingeklammerter Junge. Der andere (Vittorio Gassman) ist um die vierzig, würde, hätte es Aussicht, noch Felsen beflirten, stürzt sich aufs Leben, als ließe sich das Vergehen der Zeit dadurch überwinden, die Zeit selbst überholen Diese beiden werden für die Dauer eines Films, zweier Tage, als Archetypen der Verschiedenheit, Bruno und Roberto, in einem Lancia Aurelia zusammengesteckt. Der eine am Steuer, der andere nicht. Ein Roadmovie von Rom in die Provinz, halsbrecherisch und am Ende fatal die Manöver, die Hupe jodelt, die Fahrt selbst wird mehrfach unterbrochen, Kampf mit dem Automaten, Flirt mit der Frau, Restaurantbesuch, Flirt mit der Frau (während Roberto immer aus der Ferne nach einer Valeria schmachtet). Begegnungen mit der Vergangenheit: Bruno öffnet  Roberto die Augen über die sexuellen Zustände, die dieser einst nicht begriff (plus: Flirt mit der Tante, die der Junge damals umschwärmte). Besuch bei Brunos Frau, von der er, die Beziehungsunfähigkeit in Person, lange getrennt ist, Auftritt der Tochter (die Bruno am Strand, sie trägt Perücke, aus Versehen beflirtet). Kein Buddy-Film, sondern eine Komödie, also recht eigentlich Tragödie, des Narzissten, der eine unvollständige, eingeklammerte Person als Bewunderer braucht. Und verbraucht. Also letztes Manöver, dies Hupe jodelt nicht mehr. (80cp)

 

9.6. Un flic (Jean-Pierre Melville, F 1972)

Die Welt: eine Fototapete. Das Museum, prominent ein Van Gogh, verlängert sich in die Tiefe als Wand, die bemalt ist. Einmal ein bizarrer match (oder mismatch) cut aus der Bewegung in die Straße, die nur vorne real ist, hinein, dann, nach dem Schnitt, aus einem Gemälde, das eine Straße zeigt, so weit hinaus, bis der Rahmen und die Wand sichtbar werden. Immer schon bei Melville: die Autofahrten durch Rückprojektionen, minutenlang, es ist eine Wirklichkeit, die Versatzstücke hinter Versatzstücke setzt. Höhepunkt, in jeder, auch dieser Hinsicht, der auf zwanzig reale Minuten getimete Zugüberfall, ausdrücklich, aber nicht ostentativ auf den banalen Silben (Umkleideakt, der Magnet an der Tür) betont und nicht den spektakulären, dieser Heist, der so mehr als ersichtlich, so handgreiflich, so puppentheaterhaft mit Helikopter-, Landschafts- und Zugmodellen gedreht ist. Um Realitätseffekte geht es, mit anderen Worten, in diesem Film gar nicht, die Figuren gehen auf in ihrer Funktion, gespielt von Ikonen (Deneuve, Delon), die in eine Grammatik der Intensivierung eingespannt werden: Schuss, Gegenschuss zwischen Lebenden, aber auch eine Tote blickt zurück mit kaum leererem Blick, auf diese Weise syntaktisch zum Leben erweckt. Die Kamera weiß stets genau, wo sie hin will, aber sie tut gerne suchend. Schräg hinunter, schnell hinauf, die krumme, gewundene Fassade des modernistischen Polizeibaus entlang. Von unten links kommt ein Hut klein ins Bild, das er bald darauf mitsamt Kopf und Mensch füllt. Räume werden betreten, oder das Betreten der Räume wird gefilmt, als beträten die Körper eine Bühne, fast wartet man auf den Beifall, der aus dem Off aufbranden müsste. Einem Off, das nicht die imaginäre Fortsetzung der filmischen Raumrealillusion wäre, sondern das Publikum, das unsichtbar still- und unhörbar stummgestellt, aber, hinter der Fototapete, als Fototapete für sich anwesend ist. (82cp)

 

8.6. Anna Karenina (Leo Tolstoj, Russland 1877/8, Übers.: Louise and Aylmer Maude, Sprecher: David Horovitch)

Mit genausoviel, wenn nicht mehr Recht könnte der Roman auch den Titel «Konstantin Ljewin» tragen: Er ist die Figur, zu der die Erzählung immer wieder und am Ende zurückkehrt. Er ist das Alter Ego des Autors, wenngleich er den Literaten in dessen Bruder Kosnyschew abgespalten hat, der mit seinem neuesten Buch zuletzt eine schlimme Pleite erlebt. Ja, auch in Anna, ihr Schönheitsunglück, ihr Liebesglück, ihr Ehedrama, ihren Sohnesverlust, ihre vergeblichen Hoffnungen, ihren Wahn und zuletzt noch in die letzten Sekunden ihres Lebens geht es mit Sondagen ins Subjektive hinein. Wie überhaupt diesem Erzähler, ohne dass er sich je auktorial gibt, kein Zugang versperrt ist, in die Innenwelten der Außenwelten der russischen Gesellschaft seiner Zeit, die er von der adligen Oberschicht zur Frage der soeben befreiten Bauern, von der Politik und ihren Intrigen zur Technik des Sensens auf dem Felde und wunden Brustwarzen nach dem Stillen, von Krieg und Frieden und vom Sinn des Lebens angesichts einer Evolution ohne Sinn und eines Sternenhimmels ohne Ende zu schweigen. All das nimmt der Roman in sich auf, endlos neugierig auf seine Zeit und die Figuren, die sie hervorbringt: familial, sozial, als Typen, die Formen der Liebe. Die Familie, unglücklich oder nicht, ist der Mittelgrund zwischen dem ganz Großen und dem sehr Kleinen, Realismus als Art, das eine mit dem anderen zu verweben, Existenz und Institution als ihrerseits immer vermittelt zu begreifen. So werden mit gleichem Recht und gleicher Aufmerksamkeit die Landwirtschaft und die Religion diskutiert, das Seelenleben als Medium, in dem Kräfte wirksam sind, die das Individuum nur zu seinem eigenen Unglück allein sich selbst zurechnen kann. Ethisch verhandelbar wird das als Frage der Glücksmöglichkeiten, die Tolstoj als Frage der Freiheit auch der Bauern, aber vor allem der Frauen begreift. Neben dem mittleren Unglück Dollys (als betrogene Ehefrau) und dem mittleren Glück Kittys (als Mutter) steht die unauflösbare Situation Annas, die mit Konsequenz in den Suizid führt. Die Alternative dazu findet der Mann, Ljewin=Tolstoj, indem es ihm gelingt, sich von der selbstgesetzten Stoppregel (fürs Nachdenken) namens Gott zu überzeugen. Lebenspraktisch führt das eher zu Ruhe als Glück. Immerhin der Selbstmord kann ausgesetzt bleiben. (67cp)

 

7.6. Straw Dogs (Sam Peckinpah, USA 1971)

Da ist die Großaufnahme eines mümmelnden Rattengesichts, Schreck unter Schrecken, das Haus, das doch eine feste Burg sein sollte, wird von Tieren und, sehr viel schlimmer, von vertierten Menschen gestürmt. Tiere und Menschen und Jagd, von der ersten Sekunde an (es beginnt auf dem Friedhof) keine Zweifel daran, dass auf die Dunkelheit nur die Finsternis folgen kann; von Tschechowscher Folgerichtigkeit, nur zum Beispiel: Wenn im ersten Akt eine Bärenfalle ins Haus geschleppt wird, wird sie im letzten Akt natürlich zuschnappen müssen. Topografie dieses Schreckens: die Kneipe, das Haus, als die Innenräume, dazwischen das Land, in dem es dunkel ist, neblig, auch die Natur als Außenraum ist hier niemandes Freund. Es sind Räume, die offen sind für jede Verstörung, für das Eindringen eines übergriffigen, verletztenden, vergewaltigenden Außen; beim Eindringen jedoch, und beim Widerstand noch, stellt sich heraus, dass dieses Außen längt drinnen ist. Das Ehepaar aus der Ferne der Vereinigten Staaten ist selbst von der Lust an der Gewalt kolonisiert; das gilt für die Frau, die die Vergewaltigung provoziert, deren Entsetzen sich auf mehr als problematische Weise mit Genuss mischt, bevor die Szene in mehr als eindeutige Gewalt umschlägt; ganz ähnlich ergeht es dem Mathematiker-Mann, den mit seiner Frau ein von Mikroaggressionen geprägtes Sado-Maso-Verhältnis verbindet (besonders Sado: Wie er ihr den Blick in den Schrank auf die strangulierte Katzenleiche alles andere als erspart) und der am Ende die Gewalt und den Schrecken, den er selber verbreitet, genießt. Weniger eine Sache der Rache, sondern ein Zu-sich-Finden eines nur äußerlich zivilisierten Manns im Strickpullover mit Brille. Grandios daran ist gewiss nicht das Menschenbild, das die helleren Seiten der Spezies sicher nicht überbetont, grandios daran ist aber die bis ins beinahe Komische reichende Konsequenz, mit der der Film vor dem Schrecken, den er heraufzubeschwören gewillt ist, tatsächlich nicht zurückschreckt; vielmehr orchestrieren ihn die Kamera, die sich Körpern und Gesichtern gerne von unten nähert, und vor allem der Schnitt, der sich zwischendurch frenetisiert (Höhepunkt: Kirchenfest), dabei aber doch elastisch und durchlässig bleibt, wenn auch nur für die Traumatisierung der weiblichen Figur, deren Subjektive (während der Vergewaltigung und in der Erinnerung) der Film buchstäblich übernimmt, eine Traumatisierung, die er aber im Neben- und Gegeneinander von Innenraum-Gewalt und Mann auf der Jagd auch objektiviert. Und dies nicht zuletzt im ständigen, wie magisch angezogenen Blick auf das schreckverzerrte Gesicht der leidenden Frau, das er so zum Schauplatz seiner eigenen Lust (am Entsetzen) macht. Der Film genießt sich und den Schrecken, den er verbreitet, ohne ihn, diesen Schrecken, dadurch zu entschärfen. Nicht eindeutiger Horror, sondern der Horror der Ambivalenz. (83cp)

 

6.6. La femme d'à coté (François Truffaut, F 1981)

Der Umkehrplot zu Aus-den-Augen-aus-dem-Sinn: Als die Frau, mit der ihn vor acht Jahren eine Affäre verband, als Nachbarin wieder einzieht, sind beide sofort aufs Neue entflammt. Fanny Ardant und Gerard Depardieu, die Stars, sind das Paar, die Partner, Henri Garcin und Michèle Baumgartner, bilden die zweite Reihe, kaum rebellisch, ja weitgehend passiv angesichts der Amour fou, die sich bald nicht nur im Hotelzimmer Nummer 18, sondern auch vor ihren Augen und im eigenen Garten zuträgt. Truffaut filmt die Leidenschaft aufreizend sachlich, William Lubtchansky macht die ausgeruhten Bilder dazu. Es ist die älteste Geschichte der Welt, das als Verbot lockende neunte Gebot, jedoch als Programm umgesetzt, nicht an Gefühl und Leidenschaft interessiert, sondern an den Mechanismen (oder Algorithmen), die das Arretieren im Familien- wie im Übertretungsglück untersagen. Die Übertretung will nicht auf Verbindung hinaus, in der Wiederaufführung des Vergangenen wird nicht die nachträgliche Heilung, sondern eher die Wiederaufnahme des Kampfes begehrt. Der Tod ist präsent von Beginn, wenn auch verkleidet: Madame Jouve hat sich in ihrer Jugend aus enttäuschter Liebe durch einen Sturz zu töten versucht, hat überlebt, trägt an einem Bein eine Prothese und erzählt die Geschichte, die auf einen Liebestod hinzielt, bei dem noch der Tod nicht die Liebe bezeugt, sondern als ihre bloße, aber forcierte Behauptung fungiert. Ein überzeugendes Ende nur auf denkbar verdrehte Weise: Das sich immer weiter fortsetzende Aufschieben einer Erfüllung, die nicht der äußeren, nicht einmal der inneren Umstände wegen, sondern geradezu konzeptuell unmöglich sein soll, ist damit unterbunden. (67cp)

 

4.6. Der Kahn der fröhlichen Leute (Hans Heinrich, DDR 1949)

Dieser Kahn namens «Eintracht» schippert, seltsam zeitenthoben, die Elbe Richtung Hamburg hinab; das Zeitenthobene ist nicht so verwunderlich, die Romanvorlage von Jochen Klepper war schon 1933 erschienen, und die politische Wende der DEFA wurde erst nach Fertigstellung beschlossen. Erst einmal schippert die “Eintracht” im übrigen nicht, denn Marianne (Petra Peters), die den Kahn geerbt hat, ist erst neunzehn und damit laut Gesetz als Eignerin und Kapitänin zu jung. Da kommt der Onkel mit seinem Papagei recht, auch wenn er nur mit der Segelschifffahrt Erfahrungen hat. Als Maschinist wird ein junger Mann tätig, dessen Flirts Marianne zunächst nicht erhört; dann ist er weg und wird durch eine Drei-Männer-Musikanten-Truppe ersetzt, durch deren Anwesenheit das recht behäbige Lust- zum auch nicht sonderlich flotten Singspiel mutiert. Sonst aber mutiert hier recht wenig, träge geht es in wirklich einnehmenden Schwarz-Weiß-Bildern an ausfransenden Tieflandufern nahe Aken in Sachsen-Anhalt entlang. Der Motor setzt aus, zur drohenden Kollision mit der Brücke kommt es aber so wenig wie auch sonst zu größeren Katastrophen. Vielmehr ist der Film als Wasserstraßen-Movie die Gemächlichkeit selbst, mit einer schönen und jungen Frau am Steuer, am Ende sagen die Drei von der Singstelle: Happy-Ende muss sein. Und so ward noch ein Glück, mit Musik, darauf ein Korn auf dem anderen Kahn, dem Schauplatz der Liebeskomödie eines viel älteren Paars. (57cp)

 

2.6. Diamonds Are Forever (Guy Hamilton, GB 1971)

Sean Connery, den man aus dem Ruhestand gezerrt hat, steht, sitzt, liegt herum als ein Bond, der schlecht gelaunt das eine oder andere lebensgefährliche Abenteuer durchsteht. Zu Lande natürlich, zu Wasser erst recht und im Wolkenkratzer-Las-Vegas auch in der Luft. Da ist Tiffany (Jill St. John) mit wechselnden Haaren, da ist Plenty (Lana Wood), der Bond mit einem frivolen Wortspiel am Spieltisch begegnet. Da ist Blofeld mit Katze. Und nochmal Blofeld mit Katze. Fun fact: Nur einer (und eine) von beiden ist echt, so sehr sie sich gleichen. Da sind auch zwei Ladys mit Flic-Flac-Attacken, eine schwarz, eine weiß, da sind Scherze mit Whyte House, wobei der Spruch mit a more perfect union nicht schlecht ist. Alles ist sowieso zu Scherz aufgelegt, die tongue so sehr in cheek, dass es irgendwann doch Schmerzen bereiten muss, aber hey, immerhin ist immer was los, Bond, der im Sarg liegt und quasi kremiert wird, wilde Verfolgungsjagd produziert Polizeiauto-Schrott, hier explodiert was, da fliegt was in die Luft, Q tut sich gütlich an Spielautomaten, Bond taucht, immer noch schlecht gelaunt, mitten in der Wüste aus einem Kanalystem auf, während, leider, die beiden schwulen Killer mit dem Frisurproblem allzu sehr in den Hintergrund rücken, bis zur finalen Bombe surprise, die ihnen und allem ein Ende bereitet. Außer Spesen nichts gewesen, davon aber mehr als genug. (72cp)

 

Trenque Lauquen (Laura Citarella, Argentinien 2022)

taz-Kritik (81cp)

 

1.6. Le cercle rouge (Jean-Pierre Melville, F 1970)

Alle drei haben sie Namen: die Katzen des Kommissars Mattei, Fiorello, Griffaulait, Aufrène. Viel Liebe steckt in diesem Film im Detail. Mattei ist, von seinen komischen Rollen sehr weit entfernt, André Bourvil, ein Blofeld des Guten, Gegenspieler der Gangster, nichts bringt ihn aus der Ruhe, die Flucht nicht des Gefangenen, den er transportiert, und auch nicht die Investigation des Ermittlers, der in einem Gehäuse aus Plüsch sitzt - ein Film der Innenraum-Modellierung, siehe nur die Villa des großen Finales, offener Kamin, Gemälde, ein bürgerliches Schloss. Anderer Innenraum: der Club im Sousterrain, die Tänzerinnen, hier laufen Fäden zusammen, Überlagerung der Welten. Apotheose eines Inneren das Zimmer mit der gestreiften Tapete, hic sunt leones und Monster anderer Art, die Höhle des Mannes, der Polizist war und der Erlösung bedarf. Und er wird auch erlöst, seine Alkoholsucht zum Riechgenuss beim Heist sublimiert, keine Schlange mehr, kein Gecko, keine Ratten, eine Blende hinein in eine Schwärze, in der nichts mehr lauert, aus der nichts mehr hervorkriecht, welch schöne Sache: der Tod. Der endlose, wortlose Heist, methodisch vorbereitet, methodisch ausgeführt, die Kamera, die beim Ausbaldowern auf jeder Kamera einzeln insistiert, beim Switch-Off des Alarms später sind Bild und Ton wie selbstverständlich ineinander verschaltet. Es ist die Methodik, die man genießt, die Coolness eines Meisters, der die Spannungsmomente des Genres auf Kriechstrom hinuntergekühlt hat: die Kontrolle des Wagens, das Auslösen des Alarms, kein Tropfen Schweiß, nirgends, das Faszinierende ist, wie sich das auf die Haltung beim Zusehen überträgt. Sind so kalte Betrachter, finales Kamerarasen im Dunkel, kühl noch der Tod. (83cp)

 

 

MAI

31.5. Zwei unter Millionen (Wieland Liebske, Victor Vicas, BRD 1961)

Noch, gerade noch, trennt keine sichtbare Mauer die Stadt. Zwei junge Männer, Paulchen (Walter Giller) und Karl (Hardy Krüger), pendeln von hüben nach drüben, arbeiten in einer Markthalle in Ostberlin, während Karl in der Kneipe «Zur stillen Heimkehr» gleich hinter dem Schlesischen Tor Westmark verdient, in der Hoffnung, sie in eine besser Zukunft investieren zu können. Die Blütenträume von der Übernahme der Kneipe werden am Ende nicht reifen, zuvor aber begegnet er, reiner Zufall, der aus dem Osten in den Westen entlaufenen Christine (Loni von Friedl), mit der erst in den Regen gerät, dann macht er ihr am Bahnhof Zoo von einer Straßenseite zur anderen einen Heiratsantrag. Man sieht, in den Hintergründen des Bilds, die aber sein heimlicher Vordergrund sind, sehr viel Berlin, ein bisschen vom Osten, viel mehr vom Westen, um den Zoo herum, in der Nähe des Schlesischen Tors, in frühen Morgenstunden radeln Paulchen und Karl gemeinsam auf menschenleeren Straßen durch die Stadt, ein Reinigungsfahrzeug sprüht Wasser, alles scheint Aufbruch und Frische, noch das Scheitern hat eine berührende Erstmaligkeit. Es ist ein Film voller Hochbahngleise, ein Film, in dem einer, naiv, sich auf die Suche nach seinem eigenen Wirtschaftswunder begibt, von der Liebe heiß und kalt erwischt wird. Viele Fragen noch offen, die eine Zukunft verbaut, andere Optionen wird die Mauer zerstören, wenn nicht für die Zwei, dann doch für Millionen. (75pc)

 

30.5. In Water (Hong Sang-soo, Südkorea 2023)

Die Welt ist unscharf, womöglich trübe, aber sie ist auch, erstaunlich fast, bunt. Am Meeresufer drei Menschen, ein Schauspieler, der einen Kurzfilm drehen will, eine Schauspielerin und ein Freund, der Regisseur ist und die Kamera macht. Mehr ist schon fast nicht, sitzen, trinken, essen, Funde machen. Gefunden ist die Frau, die den Müll aufklaubt, sie wird in Fiktion überführt, wobei das Überführen wichtiger scheint als die Fiktion, eher ist es, als würden Stücke genommen und aus der Wirklichkeit in den Film übersetzt. Übersetzen aber heißt nicht mehr als: nehmen und (wieder-)geben, es kommt ein Nichts (eher als je ne sais quoi) an Erfindung dazu, es werden wirklich nicht viele Worte gemacht, nur kleinste Andeutungen von Konflikten, ein Song, den es gab, wird wiederverwendet, an einen anderen, vielleicht besseren Ort gebracht, eben in die Fiktion. Hier scheint nun wirklich ein Nullpunkt erreicht, alles hat Hong selber gemacht, die Schrammelmusik, die Unschäre des Bildes (mal weniger und mal mehr) ist auf seine eigene Augenkrankheit beziehbar, lässt sich aber natürlich auch als Experiment nehmen, das sich selbst genügt, das nirgends hinführt, das absichtslos scheint, so absichtslos und Zen wie dieser Wasserhauch von einem einstündigen Film. Eine Selbstreflexion, die kaum mehr als eine Luftspiegelung ist. (73cp)

 

Resident Evil: Redistribution (Paul W.S. Anderson, D/K/USA 2012)

Milla Jovovichs Körper, ein Vorhang vorn, einer hinten, in einem virtuellen Raum, im Raum des Virtuellen, so real und irreal, wie es New York, Suburbia und Moskau hier sind. Testgelände, Zitat, Video, Spiel, Räume öffnen oder schließen sich beziehungsweise, weniger organisch, werden entworfen als Szenen für Action-Sequenzen, dann schalten sie sich, verbraucht, wieder ab. Falls man von Verbrauch sprechen kann in einer Welt, falls man von Welt sprechen kann, in der der Vorrat an Munition niemals endet, so wenig wie der Vorrat an Menschen, die Klone sind, die sich als Menschen begreifen, und es auch sind, schließlich sind sie instantan humanisierbar, schneller als bei den Graugänsen geht das, Mutter-Tochter und zack. Die Frage, ob Androide noch träumen, zum Beispiel von elektrischen Schafen, ist in Auge-in-Auge-Kurzschlüsse überführt: Es sind die Gefühle, die zählen, es geht um die Leben, die man riskiert, das ist das Echte, einerseits geheimnislos selbst nur virtuell, echt andererseits als das, was zu hinterfragen nirgends mehr hinführt: Es hilft nichts, es anders zu nehmen. In einer Welt, in der Leben und Tod sehr relativ sind, eine Welt der Über-Lebenden und der Über-Toten, Kämpferkörper dazwischen, empfange deine Wunde, zeige deine Wunde, die Wunde ist das Zeichen, dass Körper als Körper noch existieren (und, tödlich verwundet, auch sterben). Parasiten dagegen machen Körper zu Wesen aus Stahl oder zu Zombies mit zappelnden Mündern wie fleischfressende Pflanzen. Mehr-als-organisch, mehr-als-virtuell, Ausgangspunkt (nach der fantastischen Rückwärts-Vorwärts-Anfangs-Sequenz) ist die Realität als das Generische selbst - amerikanische Suburbia, Kernfamilie, Häuser im Grid, es ist die Banalität, die hier lebt, völlig unentscheidbar, ob die Zombies real sind oder Metapher, das eine stülpt sich ins andere, im Zweifel Futter für die Kampfkünste der Heldin. Wobei Milla Jovovich sich aufspaltet in die, die blickt und sich in Bewegung setzt, auf in den Kampf, aber noch nicht darin, und jene, die als Kampfmaschine agiert, in den virtuellen Raum überführt. Die Kämpfe selbst stellen - anders als die Wunden und auch die Blicke und Signing-Gesten zwischen Mutter und Tochter (aus dem Nichts kann auch Alice plötzlich gebärden) - keine Kontakte mehr her zu einer wirklichen Welt, virtuell-real wie sie sind, virtuell-real wie sie ist. Was ist Virtualität? Sie baden gerade Ihren Körper darin. (82cp)

 

29.5. Il segno di Venere (Dino Risi, I 1955)

A wie Agnese und C wie Cesira. Die eine Frau, Agnese (Sopia Loren) wird die Männer nicht los, die Hände und Finger der Männer, die Blicke der Männer, während Cesira (Franca Valeri) den einen oder den anderen nähme, sie bietet in einem Bahnhofsbüro neben anderen Frauen ihre Dienste als Tipperin, Geschäftliches, Poesie, Liebesbriefe nähme sie auch, die Männer sitzen und diktieren, sie schreibt. Da ist der Dichter (Vittorio de Sica), so soigniert wie verkracht und sowieso alt; ihn sich schön zu gucken könnte Cesira gelingen, aber es wird aus ihm keiner, der was taugt. Nur sind die anderen keineswegs besser, sie dealen mit Autos, auf der Party tanzen wie die Blöden, die sie leider auch sind, im Zweifel hängen sie eh an der Mamma. Es ist Rom, es ist, daran lässt der Film keinen Zweifel, die Hölle, guter Rat ist nicht teuer, die Tante, selbst (und selbstbewusst) ohne Mann, interveniert, aber gegen den Traum vom Richtigen wie gegen den Aufmarsch einer gefühlt endlosen Reihe von Falschen kämpfen sogar Göttinnen sehr vergebens. Alles sehr bitter, das Drehbuch, an dem acht Autor*innen, darunter Franca Valeri, mitgemischt haben, nimmt die Auftritte seiner Stars komisch, recht eigentlich aber fährt die Sache keinem glücklichen Ende entgegen, sondern eher gegen die Wand: Die spinnen, die Römer, genauer gesagt, dieses Rom hat ein strukturelles Problem. (62cp)

 

26.5. The Lodger (Alfred Hitchcock, GB 1927)

Das Funkeln der Augen, soweit noch normal, aber auch die Fingerspitzen können hier glitzern. Das Haus, oben der Mieter, unten die Familie, der Vater-Mutter-Komplex, dazwischen, buchstäblich zwischen oben und unten als Shifter die Tochter. Eindringling, von der Eltern-Instanz völlig verkannt, ist der Polizist; er wäscht, als Pontius Pilatus, seine Hände in Unschuld (will nur, als gehörte sie ihm bereits, die Tochter des Hauses) - und macht so den Mieter zur Jesus-Figur, am Geländer gekreuzigt, ein Glück, dass er, vom Lynchmob gejagt, in eine seltsame Pietà hinein überlebt. Das Haus selbst Organ, die Decke Membran, die Lampe, die wackelt, wenn der Mieter über die Dielen geht. Kühn, gerade in seiner Selbstverständlichkeit, wie Hitchcock die Decke zur gläsernen macht, er traut dem Bild das Unmögliche zu, indem er es umstandslos ins Buchstäbliche übersetzt. Es ist Raum für Schnörkel, etwa eine Dreiviertelumdrehung des Körpers, ein turn-tease, der kürzere Weg wäre der verkehrte, weil das Vergnügen in der Verzögerung liegt, die einen thrill und ein Begehren hervorbringt, das es anders nicht gäbe. Aber es geht auch in your face und direkt: der Kuss, die Annäherung des Gesichts von Ivor Novello, groß und größer; geht aber auch, nun eher ikonisch, Gesicht an Gesicht und Lippe auf Lippe als Profilgroßaufnahme. Das Spiel mit der blinkenden Schrift der golden curls (Attraktion für den Serienkiller, der Avenger heißt, und den Betrachter, also ich oder du, als wäre der eine mit dem anderen zu verwechseln), zwischen Titel und diegetischem Bild, zum Finale dann endgültig, neben-protagonistisch im Fenster: Das Paar, das sich hat, die Schrift, die in den fiktionalen Wirklichkeitsraum tritt. (85cp)

 

Sommerwege (Hans Lucke, DDR 1960/2014)

Kein Film, der fließt, sondern einer, der einen Stein auf den anderen setzt. Die Landschaft wird in genauen, schweren, schönen Bildern gefilmt, die Landschaft mit Wegen, Sand, Äckern und Bäumen, und die andere Landschaft, die der Gesichter, der Körper, der Hände, alles auf dem Weg zur Skulptur. In die Geschichte ragt, wie in die Landschaft, die Vergangenheit herein, in eine Rückblende aus dem Krieg, die sich zuletzt wiederholt, die in der Wirklichkeit wie in Träumen auftaucht, die sich aber nur im Traum umträumen lässt. Widerständig, stur wie ein Baum steht der Bauer Grimmberger (ein Name, der fast mehr spricht als der Mann) im Dorf, im Stall, pflügt als menschlicher Ackergaul hinter seinem Ackergaul her, weil die Genossenschaft im einen Traktor verweigert. Im Parteiauftrag kommt Wollni ins Dorf, er kennt den alten Mann, ja, der hat ihm im Krieg das Leben gerettet. Er muss erleben, wie störrisch Grimmbauer ist, der Acker, der seiner war, soll seiner bleiben, eine Vorstellung von Eigentum, die sich verhärtet hat und weiter verhärtet, die auch das Verhältnis zur Tochter ergreift, die er mit seinem eisernen Willen in Bande zu schlagen versucht, die er dann tatsächlich, handgreiflich schlägt. Nun zieht Wollni aus, schlägt sich auf ihre Seite, und versucht doch weiter, als Mittler tätig zu sein, zu verstehen und im Verstehen Verständnis aus dem Bauern-Brocken zu locken. Es fruchtet nichts, so wenig wie die Kartoffeln, die hie wie da groß sind, so wenig wie der Tod der Stute, die fohlt und stirbt, Grimmbauer packt sich das tote Neugeborene auf die Schulter. Und stapft, eine Skulptur des Trotzes, davon. Der Film nimmt sich Zeit, er gibt seinen Figuren Zeit, er gibt der Landschaft, dem Licht und dem Schatten, dem Schwarz-Weiß-Kontrast, ja, er gibt der Zeit selbst Zeit. (Als hätte der Film geahnt, dass er ein halbes Jahrhundert lang unvollendet, verschlossen, in eine Krypta gesteckt würde, bevor er 2014 das Licht der Welt dann doch noch erblickte.) Die Kamera bewegt sich schwer, nicht gravitätisch, nur überlegt, unterstreichend durch Zooms und Schwenks, die immer etwas, manchmal doch zu viel, bedeuten; wie auch die Wörter und Sätze, die in den Mündern und Gesichtern geschrieben stehen, aber mit erstaunlicher Kraft. Und wie fremd und in ihrer Fremdheit doch hinreißend Joachim Werzlaus kunstliedhafte Musik dazu ist, wie unaufgelöst ins Fest der Gemeinschaft das Ende: Während die Kamera sich nach oben erhebt, steht Grimmberger abseits, am borkigen Stamm eines Baums. Und raucht die Pfeife, zu der ihm Wollni das Feuer gereicht hat. (80cp)

 

25.5. Die Schlüssel (Egon Günther, DDR 1974)

Eine Zufallsbegegnung auf dem Flughafen, da hat sich die Frage, ob das unverheiratete Paar, gespielt von Jutta Hoffmann und Jaecki Schwarz, sie Arbeiterin, er Student, im Hotel in Krakau ein Doppelzimmer bekommt, gleich erledigt: Ein anderes Paar gewährt ihnen Zugang zu seiner privaten Wohnung, hier die Schlüssel, das Apartment ist nobel. Gespräche, Konflikte, vage Aussicht auf gemeinsame Zukunft, das hängt zusammen, aber ständig fährt etwas dazwischen, ständig keilt Egon Günther Straßenszenen dazwischen, minutenlang ein Rockkonzert, intensiv, in Krakau übernehmen die Studenten für Tage die Stadt, um den Vietnamkrieg geht es, Pferdekutschen am Straßenrand sieht man, Spaß mit der Seife unter der Dusche, vieles ist, oder wirkt, improvisiert, Überleitungen, Verbindungen sind geradezu aggressiv weggelassen. Die Stadt, das Paar, die Schlüssel, dann ein Monolog, minutenlang, von Jutta Hoffmann in der abendlichen Straßenbahn, Selbstzweifel, Beziehungszweifel, in der doch ziemlich einzigartigen Hoffmannweise gespielt, selbstironisch naiv und dabei ziemlich bestimmt, kindlich und anpackend. Am Morgen darauf ist sie tot, auf die Straße gerannt nach Jaecki, unter der Dusche hat sie die Straßenbahnzweifel an der gemeinsamen Zukunft beiseite geräumt, das Bild crasht, da liegt vor der Straßenbahn, die entgleist ist, die Leiche. Das ist nicht der Schluss, die Straßenbahn wird abgeschleppt, Jaecki Schwarz muss sich um die Rückführung der Toten kümmern, Papierkram, es dauert einen Moment, die Trauer, auch darüber, dass er ihr so nahe nicht war, dann kommen auf der Brücke über den Fluss doch die Tränen. Das Leben als ständiger Einbruch und Überfall von Dingen, die aus allen Richtungen kommen. Und als das Inkommensurable, das der Überlebende doch bewältigen muss, der gewaltsame Tod. (75cp)

 

24.5. Midaregumo / Scattered Clouds / Two in the Shadow (Mikio Naruse, J 1967)

Es ist Sommer im Idyll fast am Ende, der Mann, die Frau, die Natur, zwei, die noch in der Sonne im Grünen im Schatten sind, sie sammeln Kräuter und nennen ihre Namen; ein Spiel, ein Griff, ein Kuss, wieder, wie so oft zuvor, Kadrierungen, die instabil sind, Schnitte, die die Perspektiven so sachte wie brutal verschieben: Wo Gesicht war, kann Hinterkopf werden, er wendet sich zu, sie wendet sich ab. Sommer und Farbe, die Wärme scheint mild, nichts ist hier grell, außer vielleicht die Musik, die das Melodram ausagiert, das der Rest des Films subtil, in Nuancen kurz vor der Erstarrung, gezielt unterspielt. Zum Erstarren ist Grund, der Mann, die Frau sind tragisch verbunden: Er hat den Mann, mit dem sie verheiratet war, getötet, es war ein Unfall, er hat keine Schuld, nimmt sie aber auf sich und zahlt ihr freiwillig monatlich eine Entschädigungssumme. Sie trauert und wütet, in sich gekehrt, sie nimmt das Geld, sehr widerstrebend, sie weicht aus, der Gegenwart des Toten, der Gegenwart dessen, der ihn getötet hat, jedoch, Ironie des Schicksals, genau dorthin, wo sie ihm wiederbegegnet. Die Witwe ihres Bruders will sie verkuppeln, ein Gasthaus für Männer, die zechen, denen der Alkohol die Blicke gierig und die Bemerkungen schmierig gemacht hat. Und so fliehen die beiden, voneinander weg, aufeinander zu, er verliebt sich, sie weicht zurück und dann beinahe nicht mehr. Ihm droht die Versetzung nach Lahore, es wird zum Schreckenswort als Schreckensort, von dem die Cholera stammt. Eine Liebe, die ein Ding der Unmöglichkeit ist. Die Fesseln lassen sich nicht abstreifen, nicht wirklich, es bleibt, als Ausweg, der keiner ist, nur das Lied, das er singt und das die Unmöglichkeit wenigstens in eine schöne traurige Form zu fassen vermag. (82cp)

 

23.5. Reputations (Juan Gabriel Vásquez, Kolumbien 2013, Übersetzung: Ann McLean, Hörbuch, Sprecher: Robert Fass)

Javier Mallarino ist ein politischer Karikaturist bei einer der meistgelesenen Zeitungen Kolumbiens, und als solcher eine Berühmtheit. Seit Jahrzehnten aktiv, links-dissident, eine Art Gewissen der Nation, zum 65. Geburtstag wird ihm eine große Feier ausgerichtet, sogar eine Briefmarke wird zu seinen Ehren in Umlauf gebracht. Dieses ist das erste Buch, aus einer Sicht wird die Lage der Dinge geschildert, es beginnt mit einer Szene, in der er den historisch berühmtesten Karikaturisten des Landes heraufimaginiert, eine Art Halluzination zwischen Spiegel und Identifikation, denn dieser ist seit 79 Jahren tot. Im zweiten Buch beginnt in der Konfrontation mit einer jungen Frau das Selbstbild zu bröckeln - die Erzählung springt, erinnernd, Jahrzehnte zurück. Irritierend ist, dass das Geschehen von damals, eine mögliche pädophile Missbrauchsgeschicht, ganz im Unklaren bleibt: Klar ist, dass die Denunziation, die damals zum Selbstmord des Verdächtigten führte, heute nicht mehr so heroisch erscheint. Vasquez erzählt dabei nicht die Geschichte des Zusammenbruchs eines Selbstbilds, sondern des Eindringens von Zweifeln, des Bröckelns, auch der Bestätigung einer früheren Kränkung, als seine Frau ihn verließ. Die Unklarheiten, die er eindringen lässt, affizieren allerdings auch den Kern seiner Geschichte, den Pädophilie-Verdacht. Es ist, am Ende, womöglich der Undurchsichtigkeiten eine zu viel. (64cp)

 

Maigret und sein Revolver (Georges Simenon, F 1951, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Madame Maigret ruft ihren Mann an, im Büro, am Quai d’Orfèvre, und berichtet von einem jungen Mann, der sie besuchte - und am Ende war mit ihm Maigrets Revolver (ein Souvenir von seiner Reise in die Vereinigten Staaten) verschwunden. Noch einmal taucht der junge Mann auf, er war mit seinem Vater bei einem Kollegen Maigrets zu Besuch. Spiel der Objekte: Der Revolver ist weg, ein großer Koffer taucht auf in der Gepäckannahme der Gare du Nord: darin eine Politikerleiche. Das eine ist mit dem anderen durch Verwandtschaft verbunden. Der Mann mit dem Koffer ist der Vater des Revolverdiebs, einer, der große Vision gebiert, mit denen er stets jämmerlich strandet. Maigret sucht ihn auf, der Mann hat, wie es scheint, den Verstand verloren, aber vielleicht tut er nur so. Auf undurchsichtige Weise als zentrale Figur in die Sache verstrickt ist eine umtriebige Frau, die sich nach London abgesetzt hat. Ihr hinterher: der Sohn (Geld hat er sich durch einen Überfall mit Maingrets Revolver besorgt) und Maigret. Nun also: London-Roman. Maigret darf im Hotel Savoy nicht Pfeife rauchen, also raucht er Zigarre. Langer Dialog mit dem jungen Mann, der steckt unter dem Bett. Maigret schiebt sich zusehends als Vaterfigur vor den realen Papa, der nichts taugt. Nach dem Abendessen werden noch Touristenattraktionen besucht, Picadilly Circus, Trafalgar Square. Wieder zuhause berichtet Maigret seiner Frau von alledem. Maigret und sein Revolver. Maigret und sein Sohn. (71cp)

(Maigret Nr. 40)

 

22.5. Vernichten (nach Michel Houellebecq; Regie: Sebastian Hartmann, Schauspiel Dresden)

Der Hintergrund ist interessant, und bleibt es: zweigreiche Scherenschnittbäume, wir sind in einem (recht lichten) Wald. Die Bühne als solche ist dunkel, ein Turm steht da, in dem, wer hineingeht, vor Steigleitern steht. Es wird noch geklettert, später, es geht in ein Oben, bevor der Turm erst umgelegt, dann weggeräumt wird; zunächst aber unten mit schwarzer Perücke Gesang. Rechts vor der Bühne spielt, mit einer Frisur wie gefrorene Zuckerwatte, Friederike Bernhardt an einer Art Flügel, der viel Elektronisches kann, wie zum Beispiel das Klopfen, unheimliches, mit dem Skorpion (oh ja, Skorpion, menschengroß) assoziiertes Geräusch. Musik gibt Atmosphäre, im dritten Teil Kate Bushs Running Up the Hill, wenn auch fast minimal repetitiv, wir setzen dabei die 3-D-Brillen auf zu Tilo Baumgärtels digitalromantischen Baum-, Landschaftstierfantasien. Im ersten Teil sind, zum Gesang, vor den Scherenschnittbäumen Gestalten, wie man sie aus Hartmanns Theater kenne, von rechts nach links und links nach rechts über die Bühne geschlichen. Leicht verzerrt aus dem Off ist dabei der medizinische Teil von Houellebecqs Roman zu hören: Krebsdiagnose, gute Nachricht, schlechte Nachricht, Kieferersatz, Zungenamputation. Ein Schrei aus tiefer Seele, dann Träume. Vieles an Houellebecqs bis ins Groteske sachlicher Sprache ist hier in Atmosphäre, Bild, Traum, Baum, Skorpion und Bilder vom Klettern und Angst vor dem Stürzen übersetzt, auf vielfache Leinwände übertragen, die sich öffnen und schließen, heben und senken, eine Kamera schwebt und filmt den schwebenden Menschen. Manchmal kann man buchstäblich folgen, manchmal auch nicht, es war noch nie schwer, sich dem Hartmannschen Gesamtkunstwerkrausch zu überlassen. Ist es, oder wäre, auch diesmal nicht. Nur haut es einen dann doch öfter raus. In einer langen monologischen Suada im zweiten Teil, die tolle Linda Pöppel geht da doch glatt auf die Nerven, Klage über die nun nicht wenigen Übel der heutigen Welt, sprachlich und gedanklich so unrhythmisiert, dass es noch lange nicht aufhört, als es längst aufgehört haben sollte. Darauf dreht ein Kegelmann einen Kreis, auch Monolog, er sagt was von Fürzen, auch das nicht Houellebecq, sondern ziemlich, vielmehr unziemlich weit von der Vorlage weg. Wie das Finale: Nadja Stübiger singt ein leicht atonales Chanson von der Zweidimensionalität, darauf Anton Zeilinger und Quantenverschränkung. Der Bezug zum Rest ist sehr lose, ganz anderer Film; für sich stehend aber zieht es sich, wie manches andere, wenig anziehend hin. (63cp)

 

21.5. L'armée des ombres (Jean-Pierre Melville, F 1969)

Luc Jardie (Paul Meurisse), Mann im Hintergrund, Mathematiker-Philosoph (modelliert nach Jean Cavaillès), einer, der das Essen liebt, und die Musik, Beethoven-Büste im Zimmer und Bücher über Bücher, er hat sich einen Holzkasten gebaut, um die eigene Körper-Abwärme zu speichern: making do, ein renaissance man in finsteren Zeiten. In London verleiht ihm die Regierung im Exil, machtlos, einen Orden. Im Kino läuft Gone With the Wind, Clark Gable und Vivien Leigh im Poster-Standbild: Nein, noch das ganz große Kino wird die Franzosen nicht retten. Formen des Widerstands, kleiner, um nichts weniger lebensgefährlich: eine Frau auf einer Farm, ein Adliger, im Herzen eigentlich Royalist, auf seiner Wiese Leuchtfeuer zur Orientierung der Flugzeuge, die hier landen. Gefangenschaft und Befreiung, das entsättigte Dunkel, die Berge, das Meer, ein auftauchendes Unterseeboot. Von Zeit zu Zeit sind Stimmen zu Hören, aus dem Off, das voll und ganz geisterhaft ist: Es sind die Todgeweihten, die in der ersten Person sprechen, so schweigsam sie in ihren engen Handlungsspielräumen sie sind, die Männer des Untergrunds, die aus einer Zukunft sprechen, die sie nicht haben. Statt dieser ersten Person ist Simone Signoret Körper, Stimme, Gesicht, eisern entschlossen, kühl bis ans Herz in der Höhle des Löwen, aber mit einer Lindenblatt-Stelle. Der Schrecken, der überall ist, im Töten-Müssen, in der Übermacht des Feindes, ausgezirkelt in strengen Bildern, in denen die Uhr ticken kann wie in Silence de la Mer; Straßen der Städte, durch sich die Samurais des Widerstands bewegen, die Zyanid-Kapsel in der Tasche; Fenster in ein Draußen, das kein Entkommen verheißt; der Sturz in die Tiefe, im Vertrauen auf den Fallschirm oder andere Menschen, ein Vertrauen, das sein muss, weil nichts anderes bleibt. Kulmination von Drohung, Halbschatten, Psycho-Mathematik: die Männer, die sich im Maschinengewehrfeuer zur Wand retten sollen. Philippe Gerbier (Lino Ventura) als Mann, der das Spiel nicht mitmachen will und es dann doch, stark, aber nicht übermenschlich, mitmachen wird. Diese menschliche Schwäche ist es, mit der Mathilde rechnet. Sie ist seine Rettung. Die Gleichung geht auf, für den Moment. Und weil er überlebt, ihretwegen, wird sie sterben, weil sie zu menschlich ist. (85cp)

 

Die goldene Pest (John Brahm, BRD 1954)

Gar manches ist faul im Städtchen Dossenthal in der südwestdeutschen Provinz. Ein US-Militär-Stützpunkt, nach drei Jahren in den Vereinigten Staaten kehrt US-Army-Mann Richard Hartwig (Ivan Desny mit fremdem, wenn auch nicht amerikanischem Akzent), der von hier stammt, wieder zurück. Jedoch: Statt Wirtschaftswunder ein Sodom und Gomorrha aus Drogenhandel im Tantengeschäft, weiblichem Schlammcatchen, Prostitution und einem Mafioso, der im Fond eines teuren Schlittens Drohungen spuckt. Der Bruder von Hartwigs Braut (drei Jahre hat sie auf ihn gewartet), Karl Hellmer (Karlheinz Böhm), ist von diesen bösen Mächten verführt und getrieben, mit Krediten hat er ein Vergnügungszelt im Zentrum eröffnet, attraktive junge Frauen radeln knapp bekleidet im Kreis, die Schwester singt, einen Drag-Auftritt gibt es auch, jedoch reicht das Geld, das Hellmer mit den Vergnügungen einnimmt, nicht aus. Erich Ponto gibt den älteren Herrn, der der Sache nicht traut; eine vielköpfige Familie, die den Nazi-Zeiten nachtrauert, vermietet ein Zimmer nach Art eines Stundenhotels. Tiefer und tiefer verstrickt sich Karl Hellmer, während der Zirkus, den er heraufbeschworen hat, zusehends außer Kontrolle gerät und im furiosen Truppenübungsfinale gleich mitexplodiert. Auf dem Weg in einen sehr produktiven blattgoldenen Herbst als USFernsehserienregisseur kam John Brahm - nicht unähnlich der Hartwig-Figur - nach Deutschland zurück; Erfolg war dem düsteren Sitten-Thriller keiner beschieden, so ist es bei dem einen Abstecher geblieben. Ob es den richtigen Ton gegeben hätte für diese wüste Geschichte, ist schwer zu sagen. So ganz gefunden hat John Brahm ihn jedenfalls nicht, Karlheinz Böhm bekommt die banale Abgründigkeit seiner Figur eines Getriebenen nie so ganz hin und Gertrud Kückelmann als allzu Naive ist keine, zu der einer, der den Koreakrieg gesehen hat, nach Jahren zurückkehrt. (64cp)

 

20.5. In Memory of Memory (Maria Stepanova, Russland 2018, Übers.: Sasha Dugdale, Hörbuch, Sprecherin: Inger Tudor)

Am Anfang steht das Tagebuch der verstorbenen Tante: minutiös genau, aber ohne jede emotionale Farbe. Von diesem Nullpunkt der Aufzeichnung des Nicht/Erlebens der Gegenwart aus unternimmt Maria Stepanova sehr weit ausgreifende Bewegungen, der Recherche, des Denkens, des persönlichen Erinnerns und vor allem des Aufzeichnens dieser Bewegungen selbst. Das Ergebnis ist dieses Buch, das doch mehr verspricht, oder eher: mehr umfasst, als es halten kann. Es geht den eigenen Familienstammbaum nicht sehr bedeutender Persönlichkeiten hinab, falls das mehr heißt als: Von vielen verlieren sich die Spuren, die Geschichtsbücher verzeichnen sie nicht, von manchen sind Fotografien, Tagebücher, Hinweise aus den Erinnerungen anderer erhalten, aufspürbar, von anderen nicht. Ihre Leben spielen vor dem Hintergrund der Kriegs- und Vertreibungsgeschichte des 20. Jahrhunderts, in der Sowjetunion, in Europa, Odessa und Würzburg, Moskau natürlich und auch Berlin sind die Orte, an die sich das Erinnern bewegt, in denen sich Gegenwart zuträgt. Das Buch ist ein Essay aus Theorie- und Geschichtsstücken, Barthes und Sebald und Mandelstam kommen vor, manchmal nur, das sind die schwächsten Passagen, als Versuch, selbst Theorie zu verfassen, da wird dann Rembrandt mit Selfies zusammengebracht, sehr weit über kulturkritische Regungen geht das an diesen Stellen oft nicht hinaus. Als Gesamtes ist das Buch Verkörperung seiner These, dass das Heraufbeschwören des Vergangenen bei allen Teilbelichtungen, die es leistet, vor allem Geschichte als Schwarzbild negativ sichtbar macht: Nichts wird wiederbelebt, Vergegenwärtigung ist eine wenn nicht falsche, dann doch auch kaum mehr als eine Metapher. Darum auch verzichtet Stepanova gänzlich darauf, eine Welt mit dem Raunen des Imperfekts zu beschwören; es fehlt dem Buch jeder Zug in die Fiktion, Stepanova unternimmt programmatisch nicht den Versuch, eine eigene Welt zu bauen, die die Leser*innen dann als fiktionale Vergangenheit nähmen. (67cp)

(International Booker Prize 2021)

 

19.5. Forsthaus Strelitz (Wenzel Pankratz, 5. Besuch)

Jetzt also: Zuckerwatte, als Schlusspointe oder eher finales Bonmot. Mit Fenchelsamen und Anis, an einem Stab in einer Art Vase, in grünes Gekräusel gebettet – jenes Lebensmittel, das aus der Enttäuschung, wie etwas wunderbar wabernd und nebelig Zartes im Mund zu klebriger Zucker-Eindeutigkeit zergeht, einen antiklimaktischen Knalleffekt macht. Hier aber nicht, oder anders, oder gebremst, die Fenchel- und Anis-Aromen geben dem Zucker überraschende Noten, und das noch ohne den dazu gereichten Blauschimmelkäse. Stunden sind vergangen, sieben, acht Gänge, kann man so und so zählen, Kartoffelchips mit Fleisch und Fisch, knusprig-zarte Aromen-Gleichzeitigkeit. Der eigentliche Auftakt: das Ei, angenehm (ja: angenehm!) suppig, darin Zwetschge (mehr schmeck- als erkennbar) und Karpfen schwimmen, der Fisch von allem Teichschlamm Welten entfernt; und so dadaistisch das klingt, Regenschirm, Nähmaschine, wink, wink, so ganz im Gegenteil fügt sich das, als habe es sich Zeit seines Lebens gefügt: Kleines Suppenschüsselidyll aus Huhn und Teich und Pflaumenbaum, glücklich transsubstantiiert auf den Tisch. Darauf einerseits Wiederbegegnung mit dem Vertrauten, dem Signature-Kohlrabi als Spaghettigericht, darunter, so fest, wie man ihn kennt, so fast abstrakt nur, mehr für den Kaureiz als den Geschmacksnerv, auch Fisch: ein kleines, feines Stück Hecht. Die Consommée, flüssiger Zwischengang, verbindet Fettaugen-Charme mit darin schwimmender kleinfädiger Pflanze, runde Sache, als Musik dazu jetzt die Violent Femmes, Blister in the Sun. Hierauf Premiere: Hinter dem Haus hat Wenzel Pankratz erstmals Spargel aus dem Boden geholt. Schlank ist er, zart, mehr Richtung Gras als in Richtung Beelitzer Phallus-Bolide, schön leichtbraun gebraten, neben Grünes aus dem Garten gerückt, intensiv schmeckt das, bissfest, ohne jede butter- oder gar hollandaisen-Affinität. Schöner Übergang, apropos bissfest, großer Auftritt eines großen Verachteten der besseren Küche: des Eisbergsalats. Hat hier mit Burger gar nichts zu tun, birgt vielmehr als Hut und Schirm unter sich etwas Weißes, Cremiges, in dem man, zugegeben, Senf und Sonnenblumenkerne kaum wiedererkennt. Kein Widerstreit zwischen dem beiden, dem knackigen Außen und dem sämigen Innen, vielmehr ein Kontrast von großer Freundschaftlichkeit. Ein bisschen anders liegen die Dinge beim Fleischgang, denn hier herrscht nun doch Konkurrenz oder zumindest haben gleich drei starke Performances wenig die eine mit der anderen zu tun. Das sehr zarte und sehr rote Damwild bekommt zwei fast schon überwältigend starke Partner zur Seite, einerseits ein, zwei kleine, schmiegsam weiche Büschel Hollunder - und vor allem eine kleine Handvoll Kräuter, bei denen man glaubt, es rausche einem der ganze Garten konzentriert, aber auch in Stengel und Blatt, in Rauhes und Glattes, in Schärfe und Fülle der Geschmäcker differenziert, ins Nervensystem. Fast schon beruhigend der Nachtisch, bei dem sich die geeiste Zitronenmelisse und Milch und Himbeere ohne jede Balgerei freundlich vertragen. Dann das Bonmot, Zucker, zur Watte verweht, es ist sehr dunkel geworden, und frisch ist es draußen, in der Sonne am Tag war es schon warm. (84cp)

 

18.5. Hangover Square (John Brahm, USA 1945)

Harmlos genug geht das los: ein Mann, Komponist, zwischen zwei Frauen, und zwischen zwei musikalischen Formen. Die eine blond und solide und klassisch, die andere brünett und lasziv und Unterhaltungsmusik. (Beides, alles, von Bernard Herrmann ohne Rücksicht auf Verluste komponiert.) Und was für ein Mann das ist: Laird Cregar als George Harvey Bone, in der Rolle, die ihn buchstäblich umgebracht hat, mit der amphetamingestützten Diät, die zum Herzinfarkt führte. Der Film ist, sich selbst in den Wahnsinn steigernd, chronologisch gedreht, tatsächlich kann man beobachten, wie Cregar zusehends schlanker, aber auch immer flackernder wird. Man spürt John Brahms Bändigungsakt, am Ende quellen Cregars Augäpfel aus ihren Höhlen, die Stimme bleibt samten, der Schauspieler setzt sich dem Sturm (nicht nur) der Musik aus, den er selbst heraufbeschwört. Daneben George Sanders als Mediziner, wandelndes Realitätsprinzip, prompt in die Sousterrainwohnung gesperrt. In einer anderen, einer der vielen von Joseph LaShelle grandios fotografierten Szenen bleibt er im Schatten, dagegen Laird Cregar auf der Suche nach der verdrängten Tat strahlend im Licht. Die Kamera mit Raubvogelblick auf den Komponisten, die Leiche im Arm, dann lauernd, knapp über dem Asphalt, einmal wird leinwandfüllend eine Laterne entzündet, rasend die Massen und lodernd der Scheiterhaufen, remember remember the fifth of November, die Tonspur ein einziges Brausen. Und dann das irre Finale, eine Plansequenz fliegt über das Orchester, die flitzenden Bögen der Streicher, hinweg, kreist um die Sitzenden, nimmt die spielenden Hände aus der Lotrechten in den Blick, eine Einstellung als lebendes, sich ins Irresein steigerndes Wesen, eine Szene, in der das Feuer schon lodert, bevor es tatsächlich ausbricht und den immer weiter spielenden Helden im furiosen Finale verschlingt. (83cp)

 

17.5. The Panic in Needle Park (Jerry Schatzberg, USA 1971)

Manhattan-Straßenrealismus, der Needle Park (der Sherman Square der Upper West Side) als Drogenumschlagsplatz, Cafés, in denen man sich trifft, Dächer, auf denen man die Ware versteckt (dann ist sie weg), aber es sind der Innenräume noch mehr, in denen die Süchtigen liegen, die Toiletten und Betten, in denen sie sich einen Schuss setzen. Einen topologischen Zusammenhang aber stellt Jerry Schatzberg so wenig her wie auf allen anderen Ebenen. Keine Musik (Ned Rorems Score wurde gestrichen), es müssen die abrupten Rhythmen der Montage genügen, Ellipsen sind fast buchstäblich Absencen, des Bewusstseins, Aussetzer der Erzählbarkeit, Abtauchen in eine eigene Welt. Der narrative Bogen ist als Linie gezackt: ein Liebespaar, Bobby und Helen, Al Pacino und Kitty Winn, die sich in diese Rollen verkriechen und spielen, als spielten sie nicht, die Al-Pacino-Methode: ein ins Manierierte steigerbarer künstlicher Naturalismus, der in diesen Film passt, weil er selbst nichts anderes will. Überführung eines Romans (der auf einer Life-Reportage beruhte) in ein Drehbuch (von Joan Didion und John Gregory Dunne, no less) in einen Spielfilm, der auf allen Ebenen, von kitchen sink bis bathroom tub, von Nadelstich-Wunden bis Kick und Antiklimax, aufs Dokumentarische zielt. Und in der Wirklichkeit, um die er sich, in Al Pacinos ruheloser Arbeit am authentischen Ausdruck perfekt verkörpert, so schrecklich bemüht, doch niemals ankommen kann. (64cp)

 

Shaim/Two (Astar Elkayam, Israel 2021)

taz-dvdesk (64cp)

 

16.5. Carola Lamberti - eine vom Zirkus (Hans Müller, DDR 1954)

Stummfilmstar Henny Porten, die im Westen keine Rollen mehr fand, hat zum Ende ihrer Karriere die Haupt- und Titelrollen in zwei DEFA-Filmen gespielt. Dies ist der erste der beiden. Sie ist Carola, die Direktorin des Zirkus Lamberti, Matriarchin der Kompanie, eine Tochter, drei Söhne, die Frage der Nachfolge steht an. Sie selbst reitet noch Hohe Schule, démodé, das reißt keinen mehr mit. Tochter Ines voltigiert gekonnt, steht aber im Schatten des eigentlichen Stars: Viola, knapp bekleidet, Salto zu Pferde, die Männer umschwirren sie, auch zwei der Söhne Lamberti, mit einem geht sie davon und kehrt wieder zurück, sie legt es auf Konkurrenz, Heirat und Erbfolge an, protegiert von einem intriganten Hintergrundmann, der sie Liebling nennt und abwerben will. Erzählt wird so die Geschichte eines Scheiterns und Versagens der Jungen, die sich von der liebevoll-strengen Mutter nur lösen können, indem sie einer femme fatale verfallen. Vom Geschäft verstehen sie ohnehin nichts, dafür steht das Verfüttern des Brots (mangels Hafer) an die Pferde. Es renkt sich der Familienzwist, erst in einer riskanten Trapeznummer, dann in einem burlesken italienischen Finale bei rasender Verfolgung des fahrenden Zirkuszugs wieder ein. Auf die Komödie will es geradezu gewaltsam hinaus, von Hans Müller gekonnt, wenn auch etwas unentschieden inszeniert. Die Vertreibung Violas ist freilich das eine. Die Nachfolgefrage bleibt jedoch offen. (60cp)

 

15.5. Let Us Live (John Brahm, USA 1939)

Einführung des zentralen Paars nach Geplänkel mit einer Nebenfigur im Kneipengerangel: eine behandschuhte Hand (es ist die Henry Fondas, wie man nach einem Schwenk nach links sieht) greift von links auf die Schulter eines betrunkenen Mannes und reklamiert die Frau, Mary (Maureen O’Sullivan) für sich. Ungewöhnlich umwegiger Einstieg für einen so kurzen Film (67 Minuten), allerdings war er ursprünglich nicht nur größer geplant, sondern auch mit einigen dann gestrichenen Szenen gedreht. Die Geschichte von zwei Taxifahrern, die, von einer Reihe Zeugen falsch identifiziert, um ein Haar auf dem Elektrischen Stuhl landen, beruhte auf einer wahren Geschichte. Die Polizei, der Prozess, die Jury, der Gouverneur: sehen entsprechend gar nicht gut aus. Die Kürzungen (in den Ermittlungen, im Prozess, in der Verhandlung der Jury gibt es spürbare Lücken)  machen die Sache allerdings eher noch straighter: Die Wandlung des rothaarigen Fonda vom bescheidenen Glückspilz des Schicksals zum in aller Unschuld desillusionierten jungen Mann wird, um Gegen-die-Uhr-Thriller-Momente verstärkt, zum eindeutigen Fokus des Films. Die Anklage gegen ein Rechtssystem, das das zulässt, bleibt implizit. John Brahm inszeniert außerordentlich präzise: die semitransparente Leinwand bei der Gegenüberstellung, die die Zeugen ins Halbdunkel rückt; die Härte, mit der Henry Fondas helles Gesicht in ein alles umgreifendes Dunkel getaucht wird (Kamera: Lucien Ballard). Und bei allen Konzessionen durch Kürzung: Die unschuldigen Männer kommen davon, aber es ist ein alles andere als versöhnliches Ende. (73cp)

 

14.5. L'albatros (Jean-Pierre Mocky, F 1971)

Vom ersten bis zum letzten Moment ist der Mann (Mocky: Albatros) auf der Flucht, er hat einen Polizisten erschossen (Notwehr), er wird nun von Polizisten gehetzt, aber auch von zwei Politikern, von denen der eine nicht weniger korrupt als der andere ist. Die einen kleben Plakate, die anderen übermalen sie wieder, auf einer Party gabelt der Albatros eine Blondine auf, die die Tochter eines der Politiker ist: Erst zwingt er sie mit der Waffe, dann sinkt sie hin, es endet, spektakulär und vor viel Publikum, mit Schattensex auf der Gefängnismauer, ausgedehnte Szene, Bond-Scherenschnitt, reizend absurd, danach führt der Weg steil nach unten. Zu diesem Ende kommt es, alle Elemente des fliehenden Plots haben sich hier versammelt, in einem eigentümlich andersweltlichen Städtchen namens Burghoffen, Mocky hängt unten am Auto, drei Jungs werden noch eingeladen, eine Verfolgungsjagd folgt der anderen, ins Wasser hinein, Hänge hinab, bevor sich etwas beruhigen kann, ist der Schnitt immer schon weiter, für eine versuchte Vergewaltigung ist zwischendurch Zeit, für Intrigen und auch für die Annäherung und dann eben, als wäre das alles, was die Geschichte von Anfang an wollte, der Sex oben droben, dann Sturz und dann Schluss. (73cp)

 

The Pleasure Garden (Alfred Hitchcock, GB 1925)

Honoratioren, die auf junge Frauen starren: Welcome to The Pleasure Garden, Tanztheater, in dem sich falsche Prinzen in Frauen vergucken. Der Beginn mit den subjektiven, verschwommenen, sich schärfenden Blicken vom Publikum auf die Bühne ist orginell, dann normalisiert sich das aber schnell zu einer doppelten Paargeschichte, bei der eine Frau den Falschen erwischt, der sich im exotisierten Anderswo nämlich eine “Eingeborene” angelt; ihre Tänzerin-Freundin betrügt ihrerseits den anderen, im selben exotisierten Anderswo befindlichen Mann, was sich am Ende, mit Mord und Melodram, zurechtwürfelt, auch weil die Eltern ihre im obersten Regal befindliche Sparbüchse leeren, was dem Vater einiges abverlangt, er stützt die Hand auf den Kopf seiner Frau, später sieht man ihn mit Kopfhörern in der Ecke, das Radio läuft. Apart noch ein Match Cut, Großaufnahme einer winkenden Hand und dann einer anderen, le montage è mobile, der Mann und die Frau sind es auch. (58cp)

 

13.5. Tod in Venedig (Luchino Visconti, I 1971)

Gustav von Aschenbachs/der Kamera sondierender, raubtierhaft schleichender Blick durch den Salon, mal sucht er, mal wird er gesucht, das ist der Dschungel, Auftritt der Gäste in Gruppen und Herden. Dagegen der Strand als Savanne, herrlich diese Übersicht, Tadzio wagt die Entfernung von der Familie, mit der er noch in der Stadt in Gassen und über die Brücken unterwegs ist. An den Strand, in die Savanne zieht sich der für den Tod aufgeschminkte Komponist zum Sterben zurück. Im Dschungel-Salon jedoch die Fülle der Menschen, Tiere, Gegenstände und Pflanzen: die rote Lampe, die Blumen, die weiße Lampe, die Köpfe und, am hellsten strahlend, im Matrosenanzug Tadzio dazwischen. Und vor allem die Hüte der Frauen wie Paniktriebe einer späten Ziviliation, Fortsetzung der Blumen des Dschungels, wenn nicht der Lampen, mit anderen Mitteln: golden umtülltes rotes Gewölle, Federbusch vornedran; am undefinierten schwarzen Rund seitwärts ein in den Raum greifender Tumor aus Stoff; etwas Blaues regnet in Fäden hernieder bis fast ins Gesicht; mehr Ahnung im Hintergrund ein grünes Gefieber. Der Tod in Venedig ist ein Film, in dem das Verlangen Ausstattung wird, alles, noch das Fühlen, ist ins Blicken verlagert, Dirk Bogard spielt sein Gesicht und seinen Körper wie ein kleines, zu feinsten Nuancen begabtes Orchester: auflebend, abblühend, reckend, sinkend, als Künstler, als Clown, verzweifelt Glück saugend aus seinem letzten Begehren, ein tragikomisches Drama der vollendeten Passivität, das Visconti, noch einmal anders genießend und nur mit knapper Not aus dem Pädophilen in die mahlergestützte, von überreifen Gerüchen umwehte Ausstattungsoper überführt. (82cp)

 

Tabi yakusha / Travelling Actors (Mikio Naruse, J 1940)

Sommer auf dem Dorf, es ist heiß, eine Theatertruppe kommt an. Sie wirbt mir ihrem huldvoll grüßenden Star, er trägt den Namen eines viel Berühmteren, ist in Wahrheit aber, wie die Kollegen, eine recht kleine Nummer. Wenig Glamour im Ganzen, noch weniger glamourös sind Hyôroku und Senpei: die vier Pferdefüße des Bühnengauls, der sonst aus Pappmaché ist. Hyôroku ist der Ältere von beiden und als Vordermann des Pferds glaubt er, er sei zu Großem geboren. Er wiehert auch, wie er zwei Geishas vorführt, sehr professionell. Das Unglück will es, dass der unter windigen Versprechen gewonnene Finanzier der Truppe vor Ort, es ist der Friseur, im Rausch den Kopf des Pappmaché-Pferdes zerstört. Der Lampenmacher repariert dilettantisch. Hyôroku und Senpei sehen sich in ihrer Pferdebeindarstellerehre gekränkt und treten in Streik. Das als Ersatz engagierte wirkliche Pferd pisst auf die Bühne; die beiden suchen den Kampf. Die Verblendung der Helden ist tragisch und komisch zugleich, Naruse, der die große Kunst des Theaters in einer tristen Variante vorführt, hält den Ton genau in der Mitte: Er betrachtet ihren Wahn mit mildem Spott, zu vollends lächerlichen Figuren werden sie nicht. (67cp)

 

12.5. Maigret, Lognon und die Gangster (Georges Simenon, F 1951, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Eine Leiche fällt auf die Straße, dann ist sie weg. Ein Polizist erstattet keine Meldung, dann vermisst ihn seine Frau. Ein Amerikaner, und noch einer, und noch einer, tauchen auf in Paris. In der Wohnung des Polizisten, in einem Lokal: Sie werden gesichtet, sie entziehen sich, sie schießen, sie wollen töten. Sie sind Gangster aus den Vereinigten Staaten, seine US-Liaison gibt Maigret zu verstehen, er solle besser die Finger von ihnen lassen, das sei für ihn eine Nummer zu groß. Simenon, seinerseits an Grenzüberschreitung interessiert und nach dem Krieg in die USA übergesiedelt, inszeniert einen französischen Hardboiled-Roman per Verbrecher-Import. Der Polizist namens Lognon (oder auch: Griesgram) wird zusammengeschlagen, ein anderer bekommt einen Schuss in den Bauch. Maigrets Ehrgeiz ist mehr als geweckt, er verhört Frauen, die Morgenmäntel tragen und gar nichts darunter. Paris wird zum Schauplatz einer Jagd, von der sich Maigret, das ist klar, von niemandem abhalten lässt. Mehr als hundert Männer hat er am Ende im Einsatz. Die Männer vom Racket werden gefasst, der französische Kommissar hat es den Amerikanern gezeigt. (67cp)

 

11.5. A New Name: Heptalogie VI-VII (Jon Fosse, Norwegen 2021, Übersetzer: Damien Searls)

Nun geht es endwärts. Dichter und dichter die Erinnerungen an Ales, die Frau, die er liebte, als präsentes Gespenst stellt der Text sie im unmerklichen Ich-Er-Übergang vor Augen. Es ist ihre Liebesgeschichte, in minimalen Momenten vorwärtsruckend, mit Gegenwart und mit anderen Erinnerungen durchsetzt, fast nichts von ihrem Sterben, nur der Tod selbst, so abrupt wie der Tod des anderen Asle, der die ganze Zeit im Krankenhaus lag und den Asle, der Ich-Asle (auch wenn er gegen Ende gefährlich in Richtung des anderen rutscht), nicht mehr lebend sieht. Ein letztes Gemälde, von Åsleiks Schwester Guro (die sich mit der anderen Guro, von einem Feuer verschlungen, vermischt), diese letzte Gemälde, ein Porträt, spiegelt sich im Bild, das Asle als junger Mann von seiner Vermieterin Herdis Åsen gemalt hat. Sie hat sich hergerichtet für ihn, für das Bild, für die Erinnerung, anders als es sonst in diesem Sprachstrom ist, in dem das Vergangene immer ganz unvermerkt zur Gegenwart wird, während Asle seine Gegenwart nicht nur als von der Vergangenheit, sondern auch von der Abwesenheit einer Zukunft überschattet erlebt. Was hier fließt, stockend, wirbelnd, sich schichtend, sich von der Beobachtung zum Gebet wandelnd und vom Gebet zum Erinnern und vor und zurück, ist ein Strom-Ich, ein Sprachstrom-Ich, ein von seinen Erinnerungen heruntergebetetes Ich, ist ein Subjekt, das sich zusammensetzt und auflöst zugleich in diesem Strom, das sich in den Spiegelungen und Doppelgängern entgrenzt, denen der Gegenwart und denen der Vergangenheit (falls diese Trennung letztendlich möglich sein sollte), das sich in die Gemälde hinein, die reine Sprachevokation bleiben, verdichtet und transzendiert, eine unio mystica, auch Meister Eckart wird wieder zitiert, die jedoch immer zugleich das Eine sucht, auf das Eine hinstrebt, auf ein Zentrum, das nicht halten kann, das in tausend Fragmente und nicht zuletzt buchstabendrehende Sprach-spiel-elemente zersplittert. (84cp)

 

10.5. Noi donne siamo fatte così (Dino Risi, I 1971)

12 Episoden, mal kürzer, mal länger, was sie vereint, ist, dass Monica Vitti in allen die Hauptrolle spielt. Als Beckenschlägerin, die mit dem Instrument durch die Stadt eilt, kurz auftritt und wieder verschwindet. Als Blinde, von deren leerem Blick sich die Männer im Restaurant (und auch eine Lesbe) beflirtet fühlen. Als Mutter von 22 Kindern, das nächste bringt sie rasch im Nebenraum auf die Welt. Als sexuell gelangweilte Ehefrau, die sich per Anruf-Sendung im Radio ihre Vergewaltiger zur Wiederholung des Vergnügens bestellt. Uff. Als Stewardess, die ihre Jobwahl bei Turbulenzen verflucht: Am Ende steht das Bild Kopf. Als Teil eines sexuell befreiten Paars, das sich beim Partygespräch nonchalant diverse Untreue-Taten gesteht, um sich (und die Partner) am Ende über den Haufen zu schießen. Als Sängerin im Nonnengewand, die vor versammelten katholischen Würdenträgern einen mehr oder weniger frommen Song im Dylan-Style schrammelt. Subtil ist das nie, selten komisch, die Episoden sind selbstverständlich nur von Männern geschrieben (neben Risi und anderen auch Ettore Scola darunter), wobei nicht nur die Vergewaltigungsfantasie etwas Abstoßendes hat. Kamera Carlo di Palma, Monica Vitti als versatile Darstellerin; es ist nur alles so platt, dass sie unter ihren Möglichkeiten brilliert. (45cp)

 

9.5. Le renard jaune (Jean-Pierre Mocky, F 2013)

cargo #58 (62cp)

 

Je vais encore me faire des amis (Jean-Pierry Mocky, F 2015)

cargo #58 (65cp)

 

8.5. The Locket (John Brahm, USA 1946)

Hier kommen die Flashbacks in Gestalt von Brian Aherne und Robert Mitchum zur Tür hereinspaziert - und öffnen Abgründe, die tief in die Vergangenheit einer jungen Frau reichen. Nancy (Laraine Day) ist blond und schön und verführt die Männer unraffiniert; dabei klaut sie, das Trauma führt in ihre Kindheit zurück, wie eine Elster: Diamanten, Armbänder, Schmuck aller Art. Nun, Gegenwart, kurz vor der Hochzeit, hier setzt der Film ein und stürzt in drei Vorgeschichten zurück, Rückblenden-Mise-an-abyme. Ein Psychoanalytiker, Dr. Harry Blair (Brian Aherne), tritt ein und erzählt, bevor er auf sich und Nancy näher eingeht, von Norman Clyde (Robert Mitchum), dem Maler, der Nancy verfiel, bis er - ein Mord ist geschehen - ihr zu misstrauen begann. Er selbst kann nicht mehr berichten, der Film tut es im Flashback aus seiner Sicht, an seiner Stelle, und bringt so den Toten zum Sprechen. Dann Blair selbst, zurück in den Krieg, Verschüttetes wird geborgen, ein Diamant blinkt lebendig, wo Bomben ihr Zerstörungswerk taten. Eingelegt in die Perspektivübernahmen ist, als Erinnerung Nancys, der anamnestische Blick in die Kindheit - hier wird der Film selbst als Psychoanalytiker tätig. Laraine Day/ Nancy wird so als Dreh- und Angelpunkt, der drei Männer zu einem Schicksal verbindet, in den Erinnerungsbewegungen zugleich Einschub um Einschub dezentriert: ein Vertigo-Flashback-Schachteleffekt. Zu sich kommt sie und kommt die präzise inszenierte und (von Nicholas Musuraca) auch in Licht und Schatten gesetzte Geschichte in einem grandiosen Finale die Treppe herab. Blick auf den Boden, Selbsterkenntnis als namenloser Schrecken. Hinter der Tür, die sich schließt, kann man auf eine besser Zukunft nur hoffen. (80cp)

 

Le miraculé (F 1987, Jean-Pierre Mocky)

Der Mocky-Zirkus auf ganz großer Fahrt, nämlich nach Lourdes. Mit an Bord neben vertrauten (Un)Gestalten wie Jean Abeillé sind Jeanne Moreau, Michel Serrault und Jean Poiret. Serrault (als eine Figur mit Namen Ronald Fox Terrier) ist stumm und macht groteske Geräusche und Gesten; Jeanne Moreau ist fromm, aber das glaubt sie nicht einmal selbst; Jean Poiret begibt sich, eines Versicherungsbetrugs wegen, in den Rollstuhl und wird Richtung falsche Wunderheilung gekarrt. Es gibt Kino im Zug, einen Priester, der sich, wenn ihn die böse Lust überkommt, knallrot verfärbt; noch einen Priester, älter, der den jungen begehrt. Gelegenheiten zur Absurdität werden nicht ausgelassen, ein nach einer OP zu einer Art Hintern verformtes Gesicht nur zum Beispiel; auch ein Affe taucht einfach so auf. Die Darsteller*innen sind von der Leine gelassen (Monsieur Fox Terrier trägt allerdings den Film hindurch ein Hundehalsband), outrieren bis zum Anschlag und darüber hinaus; nichts Groteskes, Gotteslästerliches, Obszönes ist hier irgendwem fremd: eine Klamotte, die bodenlos ist und die doch immer noch einen draufsetzt. Knallchargen unter sich: Kein Wunder, dass sich auch der liebe Gott am Ende vertut: Der Fox Terrier spricht, der betrügerisch Lahme kann nun in der Tat nicht mehr gehen. (72cp)

 

Litan (F 1982, Jean-Pierre Mocky)

Litan heißt der Ort, es gibt hier Höhlen, Berge, Gestein und rauschende Wasser. Eine Kapelle spielt zünftige Blasmusik, aber das sieht sehr unheimlich aus, denn die Musiker tragen rote Jacken und ausdruckslos-glatte silberne Masken. Gleich zu Beginn hat Nora (Marie-José Nat), die mit Jock (Mocky selbst) durch den Ort und die Höhlen und Berge und über rauschende Wasser stolpert und rennt und fällt und flieht, einen Alptraum. Der setzt sich allerdings nach dem Aufwachen fort, der Irrsinn selbst ist in Litan unterwegs: mit Musik, die den Marsch bläst; mit Zombies, die erstarren, und Menschen in Schweinemasken zum Beispiel, die Messer zücken und Metzger schlachten. Wer ins Wasser fällt, wird zu einer elektrischen Seele, Diskussionen über Leben, Nachleben, Tod werden geführt, Gesichter werden in Pupillen erscheinen, ein mad scientist möchte seine verstorbene Frau wiederbeleben. Dies alles geschieht, auch klopft ein Mann an eine Tür und viel später klopft er noch immer. Das Treiben ist brutal, Erklärungen gibt es keine oder sie sind so irre, dass sich nicht weiterhelfen. Ein einziger Alptraum, der das Groteske nicht scheut, das von Mocky vertraute Bizarre ist reichlich vorhanden, jedoch legt er sich die Horrormotive in diesem Fall so zurecht, dass wirklicher Schrecken, Genrekonsistenz also, in Reichweite bleibt. (76cp)

 

7.5. Der Dritte (Egon Günter, DDR 1972)

Der Dritte ist, streng genommen, der Vierte. Denn da war das Kloster, da war, die scharfkantigen Flashbacks, die den Film bestimmen, zeigen es: Gott. Mit ihm allein aber wurde Margit Flieser nicht glücklich, Jutta Hoffmann entfernit ihre Haube. Wandelbar ist die Figur, die sie spielt, quecksilbrig spielt sie sie, zwischen den Männern - und, eine Fünfte, der Freundin Lucie, zu der es eine lesbische Zuneigung gibt -, im Job, sie arbeitet mit Computern, ist mathematisch begabt, zwischen den Wünschen, zu denen gehört, sich einen Mann, der ihr gefällt, einfach nehmen zu können, und einer Wirklichkeit, in der sich das auch für die sozialistische Frau nicht gehört. So fährt sie unter einem Vorwand hinter dem Dritten, Hrdlicka her, dem der ihr gefällt, über dessen Witz in der Konfliktbereinigungssitzung sie als einzige lacht. Mit der Freundin spricht sie, beim Kegeln, über Partnerschaftssuche per Algorithmus, der die zueinander Passenden findet; in den Rückblenden, sprunghaft gehen sie, die Chronologie irritierend, dazwischen, ist Armin Müller-Stahl, Braille lesend mit seinen Fingern, als Zweiter blind. Er ist der Vater ihres zweiten Kinds, der Richtige ist er so wenig wie es der Erste war, der Physikdozent, sie tanzt mit ihm zu einem lateinamerikanischen Schlager. Jutta Hoffmann hält das alles über Ellipsen und Sprünge nicht nur zusammen, sondern formt alle Episoden in der Eigenwilligkeit einer Figur, die Männer ihr auf den Leib geschrieben haben (Romanvorlage: Eberhard Panitz), deren thetischen Zumutungen sie sich immer wieder durch selbstbewusste Spontaneitäten entwindet. (74cp)

 

Maigret und die Bohnenstange (Georges Simenon, F 1951, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Eine erstaunliche Geschichte, die Ernestine, die Bohnenstange, eine ehemalige Prostituierte, mit der Maigret eine unerfreuliche Vorgeschichte hat, ihm da erzählt: Ein Bekannter von ihr raubt Tresore, die er selbst im Hauptberuf aufgestellt hat, im Nebenberuf wieder aus. Nichtsahnend war er unlängst nächtens am Rauben, da fiel das Licht seiner Taschenlampe auf eine Frauenleiche in der Ecke des Zimmers. Maigret sucht das Haus auf, da leben ein massiger und sehr unzugänglicher Zahnarzt und seine sehr resolute Mutter. Wer tatsächlich fehlt: die Frau, mit der der Zahnarzt seit gut zwei Jahren verheiratet ist. Sie habe sich, berichten den beiden, eine Auszeit genommen und sei in ihre niederländische Heimat gereist. Dazu hat sie tatsächlich Anstalten getroffen, Koffer wurden verschickt. Es findet sich jedoch von ihr keine Spur. Maigret rückt, ohne wirkliche Belege zu haben, seiner Intuition vertrauend, zwischendurch aber doch an ihr zweifelnd, dem Sohn und der Mutter auf die Pelle, vernimmt sie, stundenlang, bewegt sich am Rand der Möglichkeiten, die das Gesetz ihm hier lässt. Eine sehr starke Mutter-Sohn-Bindung, in die er, sie aufzulösen, einzudringen versucht. Millimeterweise kommt er voran, erschöpfend für ihn, erschöpfend bei der Lektüre; am Ende hat keiner die Kraft mehr, die Lösung als Erlösung zu empfinden. (70cp)

 

6.5. When We Cease to Understand the World (Benjamín Labatut, Chile 2020; übersetzt von Adrian Nathan West, Hörbuch, Sprecher: Adam Barr)

Die Schreckensgeschichte (vor allem) des 21. Jahrhunderts und Geschichten, im Plural, stark individualisiert, ja auf Forscherpersönlichkeiten (alles Männer) zentriert. Von Fritz Haber wird erzählt, von preußisch Blau, von der Entdeckung der Schwarzen Löcher, die kurz vor seinem Tod im Krieg dem Astrophysiker Karl Schwarzschild gelang. Von Heisenberg, Schrödinger, Bohr, nach Helgoland geht es, es wird viel durchaus Bekanntes berichtet; auch die bizarre Wendung, die das Leben des Mathematikers Alexander Grothendieck nahm, ist einschlägig durchaus bekannt. Querverbindungen werden gesucht, oft eher assoziativ, so dass man plötzlich, via Goethes West-östlichem Divan, zum Beispiel beim Mystiker Hafis landet. Erklärt werden die wissenschaftlichen Dinge auf für den Laien verständliche Art, angetäuscht sachlich; auf der anderen Hand sind die Informationen von Elementen der Kolportage nicht frei. Wie sich das Eigentümliche der Personen, das am wenigsten Vereillgemeinerbare an ihnen, und die umstürzenden, von ihnen oft nicht absehbaren Folgen ihrer Erfindungen und Entdeckungen zueinander verhalten, dazu hat das Buch keine These: das Unvermittelte ist vielmehr das Prinzip, das Hybride der Genrezuordnung zwischen Sachbuch und Essay und Fiktion und Klatsch und Tratsch und Metaphysik ist eine aber selber nur weitere Rätsel aufgebende Antwort der Form. Die Anekdoten und Episoden und Privat- und Weltgeschichten schweben so in recht leerem Raum; das Labatut manches, und je länger es geht, umso mehr in szenische Fiktion überführt, füllt die Leere des anschwellenden Nicht-Verstehens der Welt an ganz falschen Stellen. Bestürzend geradezu  das kurze Addendum, nun erstmals reine Fiktion, Episoden aus dem Landleben, die die ganz großen Fragen mit losen Bezügen zum Vorangehenden erden. Da steht dann der Ochs hinterm Berg und weiß so wenig wie wir, wie es kam. (80cp)

(International Booker Prize 2021)

 

5.5. Leuchtfeuer (Wolfgang Staudte, DDR/Schweden 1954)

Bergmanesk finster ist die Lage, die Insel ist schwedisch, der Film der letzte, den Wolfgang Staudte für die DEFA gedreht hat. Wir schreiben das Jahr 1901, Weihnachten naht, das Leben der Bewohnerinnen und Bewohner der Insel ist karg, ist mehr als karg, denn nach dem Ausbleiben des Versorgungsboots droht das Verhungern. Bei Kälte und Sturm und unter Lebensgefahr fahren die Männer hinaus, spektakulär sind die Aufnahmen von der tobenden See, dem stürzenden Wasser, die Netze jedoch bleiben leer. In düster kontrastreiches Schwarz-Weiß hat Robert Baberske das gemalt, das Licht des Leuchtturms streicht, an und aus, an und aus, durch die Dunkelheit. Die Not ist groß, sie ist so groß, dass die Erinnerung immer verlockender wird, die Erinnerung an ein Unglück vor Jahren, bei dem ein Schiff vor der Insel zerschellte, die Ladung ein Gottesgeschenk für die darbenden Menschen. Nun beknien die Männer den Leuchtturmwärter, der löscht nach langem Widerstehen das Licht, die tragische Verkettung der Umstände will es, dass an Bord des Schiffes, das nun die Orientierung verliert, nicht nur Männer, sondern auch Kinder sind. Zum Unglück kommt nun noch die schreckliche Schuld. Zuvor ist bereits ein sozialistisches Weihnachtswunder geschehen, die Besatzung eines Schiffs hat sich das Recht genommen, dem Kapitalisten, dessen Knechte sie sind, einen Teil der Ware zu stehlen und der Abordnung von der Insel aufs Boot zu hieven. Jedoch: Es ist alles umsonst. Im falschen Leben bringt der einzelne solidarische Akt keine Rettung. (68cp)

 

4.5. Sensou to seishun / War and Youth (Tadashi Imai, J 1991)

Die Gegenwart der Erinnerung steht als verbrannter Pfahl mitten in Tokio. Um ihn herum lässt Imai einen familiären Zusammenhang kreisen: Hier hat die Tante der jugendlichen Protagonistin ihre Tochter verloren, im Feuersturm des amerikanischen Bombenangriffs, bei dem 100000 Menschen in Tokio starben (beim Linken Imai fehlt nicht der Hinweis auf vergleichbare Untaten der japanischen Seite). Und hier sitzt nun, Jahrzehnte später, die Tante, nicht mehr bei Sinnen, und erkennt in jedem Kleinkind Keiko, die verlorene Tochter. Eine schulische Essay-Aufgabe setzt das Erinnern in Gang: Der Vater der Protagonistin will zunächst nicht an das Trauma rühren, rückt dann aber doch mit der Sprache heraus. Es folgen schwarz-weiße Rückblenden in die Kriegsjahre, die Liebesgeschichte zwischen der Tante und einem Lehrer, der sich der Einberufung entzieht - er verbrennt den Einberufungsbefehl, hier gerät erstmals fast unmerklich Farbe in das Vergangenheitsbild. Er stirbt, die Tante gebiert das Kind, es geht zurück in die Gegenwart, die Protagonistin bei den Proben einer Folkloretanztruppe, im Gespräch mit der Lehrerin. Der didaktische Zug des Films liegt dabei so offen auf der Hand, dass er keineswegs stört. Die banale Gegenwart und ihre manchmal sogar slapstickhaft-humoristische Shomingeki-Harmlosigkeit kontrastieren scharf mit dem aufwendig inszenierten Schrecken, den Imai in den Vergangenheitsszenen entfesselt; im Ende, das fast glücklich ist, sind das Tragische und eine harmonische Auflösung fast aufwandslos balanciert. Ein Film, der das Furchtbare und das Drollige hart aneinandergefügt, und zwar als populäres Kino gedacht und gemacht, der also mit kleinen, fast bescheidenen Gesten ziemlich Großes vollbringt. (78cp)

 

3.5. Maigret als möblierter Herr (Georges Simenon, F 1951, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Man hat auf Janvier, einen seiner engsten Mitarbeiter, geschossen, und Maigret ist sichtlich getroffen. Janvier pfeift aus dem Loch in der Lunge, wird jedoch überleben. Von wem der Schuss kam, ist ganz unklar, zwar hat der Inspektor wegen eines Überfalls auf ein Nachtlokal ermittelt, der Täter, ein Mann namens Paulus ist verschwunden (und taucht später unter einem Bett wieder auf), jedoch glaubt Maigret nicht, dass er den Schuss abgab. Und so wird der Kommissar, in Verschärfung seiner üblichen Akklimatisierungs- oder Affinierungsmethode, nicht zur Made im Speck, aber, wo Madame Maigret schon verreist ist, zum möblierten Mieter im Haus, in dem er den Täter vermutet. So macht er die Bekanntschaft eines Milieus der Strandenden, Ringenden, Gestrandeten, auch der üppigen Vermieterin Mademoiselle Clément, die das Leben als solches ulkig zu finden behauptet und entweder ausgesprochen durchtrieben oder ungewöhnlich naiv ist. Maigret igelt sich ein und liegt nachts wach und blickt aus dem Fenster: Im Haus gegenüber ist ein Vorhang meist zugezogen, das weckt Maigrets Interesse. Hier findet er die Lösung des Falls, in einem Zusammenhang aus Liebe, Verfall und viel Unglück, was bei ihm selbst eine schreckliche Erinnerung erweckt, daran nämlich, wie er als Jugendlicher einem Huhn den Kopf abschlagen musste. Er hat es nicht wieder getan, aber nun sieht er den Täter, der ein Opfer ist, hilflos flattern. (72cp)

(Maigret 37)

 

Modelo 77 (Alberto Rodríguez, Spanien 2022)

taz-dvdesk (69cp)

 

2.5. Le samourai (Jean-Pierre Melville, F 1967)

Alain Delon: mehr Hut und Trenchcoat als Mann; mehr genre-mythisch als psychologisch-biografisch zu fassen; das Bushido-Zitat vom einsamen Samurai, von Melville erfunden. Besonders schön: Es endet, aus dem allzu Bestimmten herabmoduliert, mit einem «vielleicht». Der Mann aus Trenchcoat und Hut wird auseinandergenommen bei der Gegenüberstellung, dann wieder zusammengesetzt. Die Wohnung mehr Behausung als Zeichen von Leben, der Vogel im Käfig alles andere als kanarienbunt, grau in grau die Wände, das spärliche Mobiliar. Vom Beben oder Zucken des Bildes ganz zu Beginn zu schweigen, als er, Jef Costello, noch liegt, bevor er aufsteht, bevor der Mythos, von Melville am Schnürchen gezogen, sich in Bewegung zu setzen beginnt. Wenige Worte, das Schweigen im Dienst der Abstraktion, die hier herrscht. Geduld ist eine Kette von Schlüsseln, Griffe von Händen, die lange geübt haben, was sie tun. Ein set piece, bis an den Rand des Manierierten als rhythmisierte Bilderfolge montiert: der Einbruch, bei dem die Wanze platziert wird: Schlüssel/Riegel/Vogel und wieder von vorne. Wärme im Grauen, wenn überhaupt, jedenfalls nicht zu greifen, in den Klängen mit Elektroorgel und mit Trompeten, die Francois de Roubaix komponiert hat. Was Costello, den grauen Mann, anzieht, ist die Musik, ist die Musikerin; noch im Liebestod ist er stoisch. Die Bewegungen durch die Stadt, das Vorbild fürs Kino heißt Uhrwerk, die Stadt bekommt Augen unten und oben herum, der Stadtplan nimmt die Verfolgung auf: Paris leuchtet. (85cp)

 

The Walking Dead (Michael Curtiz, USA 1936)

Kurviger Plot, rasende Autos. Ein aufrechter Richter muss sterben (und wird als Toter quer auf den Rücksitz eines Autos gelegt), ein Unschuldiger wird von finsteren Hintermännern zum Täter erkoren, das Paar der Augenzeugen zögert, das korrumpierte Rechtssystem zögert hinaus, bis es zu spät ist. Oder auch nicht, schließlich arbeitet das von schlechtem Gewissen gepackte Paar in einem Labor. Hier arbeitet man an der Wiederbelebung der Toten. Und so wird der Hingerichtete aus dem Reich der Toten geholt. Ein bisschen schief geht er schon, eine graue Strähne im Haar hat er auch, ein Blutgerinnsel im Hirn, zum Leidwesen des Mad-Scientist-Professors rückt er mit seinen Jenseitserfahrungen nicht wirklich heraus. Dafür jedoch hat er die Kraft, die Schuldigen durch bloßes Gegenüberstehen zu töten. Als reichte es, ihnen ihre schurkischen Taten zu spiegeln: Sie stürzen und sterben. Bloß kein Stillstand, Auto rast durch die Dunkelheit, die Montage lässt sich in Sachen Tempo nicht bitten, die Kamera legt gerne den Kopf schräg und kommt erst zum Schluss wieder ins Lot. (60cp)

(10 x Michael Curtiz)

 

1.5. The Books of Jacob (Olga Tokarczuk, Polen 2014, Übersetzerin: Jennifer Croft, Hörbuch, Sprecher*innen: Gil Messer, Allen Lewis Rickman)

Im damals polnischen, heute west-ukrainischen Städtchen Korolówka schlägt einer sehr aus der Art: Jakob Joseph Leib, später bekannt unter dem Beinamen Frank, Sohn askenasischer Juden, der Vater war Rabbi, beginnt schon jung, gegen manche Lehren der jüdischen Tradition zu rebellieren. Anhänger erst des Sabbatianismus des Schabbtai Zvi, der sich selbst zum Messias ausrief; dann mit rasch wachsenden eigenen Ambitionen, die nicht gelehrte jüdische Bevölkerung durch eigenen Messianismus und Wundertaten zu seinen eigenen, heterodoxen Ansichten zu bekehren; auf der Suche nach Land und Titeln, erst mit Unterstützung des polnischen Herrschers, nach dem Ende der Adelsrepublik in Österreich-Habsburg und Russland; er ist zum Katholizismus konvertiert. In Polen hatte ihn die Inquisition, die das als strategische Sache erkennt, in den Klosterkerker von Tschenstochau gesteckt, wo man ihm nach und nach Freiheiten gewährt, wo er vier Kinder zeugt. Die Geschichte endet mit der Flucht Franks und seiner Anhänger, Hunderte sind es, nach Offenbach, wo er in einem Schloss bis zu seinem Tod residierte, die junge Bettina von Arnim hat sich, als sie das bunte Treiben einmal erlebt, die Augen gerieben. Es ist diese Geschichte, die Geschichte des Jakob Frank, und der Frankisten, die Olga Tokarczuk in ihren Jakobsbüchern erzählt. Sie tut es chronologisch, im Präsenzs der Chroniken, sie tut es gründlich, hingestellt werden tausend und ein Detail dieser vergangenen Welt. Frank, die charismatische Figur, bleibt als Zentrum des Ganzen verblüffend wenig greifbar, es liegt auch daran, dass sich die in Faktendingen und historischen Volten allwissende Erzählerin, das ganze Buch wirkt theologisch wie material-historisch exzessiv fast belesen, in der Regel auf das äußerliche Beschreiben erschöpft, in Franks Fall die Körpergröße, die Pockennarben, die türkischen Gewänder, der Fes - in diesem Verzicht auf Subjektivierung ein entschiedener Gegenentwurf zu Hilary Mantels Versuch, eine historisch ferne Figur komplex in ihren Subjektiven zu fokalisieren. (Gestalt gewinnt dagegen die Erzählung selbst, nicht verkörpert, eher als alles eher kühl notierende, noch in ihrer Lust am sprachlichen Bild Chronik-nahe Geste.) Dabei stellt Tokarczuk Menschen und Situationen nicht selten in schlagartig einrastenden Vergleichen vor Augen, Vergegenwärtigung von Kleidung und Körper, von Gebäuden, Städten, Landschaften. Reich ist das Buch an Figuren, deren Schicksale mit Höhen und Tiefen und Tod über Jahrzehnte nachverfolgt werden; zwischendurch aus den Augen, die Lücken sind, den tausend Seiten zum Trotz, nicht weniger wichtig als das, was sich festhalten lässt. Ein Sonderstellung hat einer der (lange) engsten Vertrauten Franks, sein Anhänger Nachman, aus dessen (fiktiven) Aufzeichnungen immer wieder zitiert wird. Ebenfalls eigenständiges Material: der Briefwechsel zwischen einem polnischen Priestergelehrten, der an einer Art früher Enzyklopädie arbeitet, mit einer Adeligen, die am Ende nach dem Pest-Tod von Kindern und Enkeln verstummt. Als höchste Blick-Instanz wird eine alte Frau, Yente, installiert, und zwar auf magisch-realistische Art, die früh im Roman beinahe stirbt, nach und nach kristallisiert, aus ihrem Körper tritt und als ungebundener Blick die Dinge von oben betrachtet. Sie verkörpert den Wunsch der Autorin, aus der ungeheuren Fülle, die sie in einer unüberschaubaren Zahl eher kurzer Kapitel der Wirklichkeit abgewinnt, ein Ganzes zu fügen. Das ist ein Wunsch, der der Erzählung in seiner Artifizialität äußerlich bleibt. Erstaunlich ist nicht so sehr das Ausbleiben narrativer Spannung: Figuren ohne viel Innenleben werden durch ein Europa im Umbruch geschoben, als kleine Leuchten in großer Geschichte, auch Gastauftritte (wie der Giacomo Casanovas) müssen Blindstellen bleiben. Erstaunlicher ist das Ausbleiben immersiver Effekte. Man verfolgt, was geschieht, noch mittendrin mit Distanz. (64cp)

(International Booker Longlist 2022)

 

 

APRIL

30.4. Y a t'il un Francais dans la salle? (Jean-Pierre Mocky, F 1982)

Im Zentrum steht, wie es sich für einen Präsidenten gehört: der Präsident. Nicht der der Republik (an der Wand hängen Bilder von Giscard), sondern Rotes Kreuz und anderes, nicht wichtig, der Präsident ist hier etwas zwischen Eigenname, Funktion und, gewiss nicht zuletzt, Allegorie von Macht. Erkannt wird der Mann, der durchaus noch einen - gerne gesungenen - Eigennamen hat (Horace Tumelat), überall, ein bunter Hund, der Dreck am Stecken hat, eine Siebzehnjährige zu begehren beginnt und sich die Haare blond färbt. Früher, erfährt man nebenbei, hat er Juden an die Gestapo verraten. Jetzt ist sein Onkel gestorben, hat sich erhängt, oder war es doch Mord? Die Frage kümmert keinen so richtig, aber sie hält den Wirbel der Interaktionen in Gang. Hinter der Wand lebt ein alter Herr in Ketten, der den Präsidenten erpresst hat. Als Figur außer Rand und Band ist Jean-Francois Stévenin von der Partie, der ermittelnde Kommissar, er lebt mit einem transvestitischen Mann, vögelt aber auch die sehr reife Madame Fluck, von deren Wohnung aus sich der Tatort beobachten lässt: das Haus des Onkels, das eine Bruchbude ist. Dagegen: Paläste. Das alles ist, der ins Gemenge gezerrten Genres nicht achtend, polymorph à la Mocky, von nonchalanter Zwanghaftigkeit. Ganz vergessen: Die Assistentin Alcazar, die zu ihrem Leidwesen nur der Fuck-Buddy des Präsidenten ist, bringt ihren Mann um die Ecke. Ohrfeigen setzt es. Eine Komödie, wie stets, vor allem faute de mieux: Wie soll man ein Geschehen anders betrachten, das nicht der Wirklichkeit verpflichtet ist, aber auch nicht ihrer Kritik, oder beidem durchaus, angetäuschter Surreealisms, wobei es im Kern um etwas anderes geht, nämlich Mockys (und seiner Darsteller*innen) Lust daran, mit dem Realen, mit Genres, mit Figuren so rüde wie liebevoll über die Stränge der Konventionen (nicht zuletzt des Kinos) zu schlagen. (67cp)

 

Anima persa (Dino Risi, I 1977)

Ein junger Mann kommt nach Venedig, das Malen zu lernen, er hat vom Leben noch nicht viel gesehen. Durch die Kanäle geht der Vorspann im Dunkeln, das Haus von Onkel und Tante (Catherine Deneuve und Vittorio Gassman) hat prächtige Zimmer, andere sind, wie das Theater, verblasst, verfallen, Zeugnisse vergangener Größe. Eine Stiege nach oben wird dem jungen Mann verboten, ein heimliches Zimmer, es wird zum Faszinosum des Films. Hier haust, ist nach und nach zu erfahren, dann auch zu sehen, ein Mad man in the attic. Einst hat er Insekten gesammelt, nun rollt er die Augen und auch die Zunge und schlachtet eine Melone. Die Tante erzählt eine Geschichte vom Missbrauch und Tod eines Mädchens, der junge Mann macht dem Nacktmodell seiner Malklasse schöne Augen, vor allem an der Accademia-Brücke. Ein Film wird vorgeführt, vieles, das behauptet wird, erweist sich als Lüge, Franics Lai hat sich einen sehr schön unheimlichen Score ausgedacht. Der sich ebenso zwischen den Stühlen bewegt wie alles an diesem Film Horror, der sich kaum manifestiert, Giallo-nah, nur dass diese Nähe eher im Atmosphärischen liegt. Geschichte eines nicht nur sexuellen Erwachens, der Blick hinter die Kulissen offenbart dann doch einen Abgrund zu viel. Der Onkel war Gas-Ingenieur, und ist es nicht mehr; der wahnsinnige Insektenforscher ist nicht das, was er scheint. Die blonde Tante hält einen Verfalls-Monolog, während ihre Daseinsform etwas Gespenstisches hat: Ganz anwesend ist sie nie. Venedig tut das Seine dazu; Kirche, Kanal, Friedhof. Ganz lokalisierbar ist der Schrecken, der in diesem Film umgeht, bis zuletzt nicht. (74cp)

 

29.4. Heptalogie III-V (Jon Fosse, Norwegen 2020)

Vorangestellt: Ich ist ein anderer, Zitat Rimbaud. Das Ich, das erzählt, das Ich, das immer denke ich sagt, gleitet nun immer öfter zurück, erzählt aus der Kindheit und Jugend, die Geschichte der Band, aus der sehr schnell nichts wurde, die Entwicklung zum Künstler, die erste Ausstellung, die Begegnung mit seinem späteren Galeristen, die Aufnahme auf die Kunsthochschule. Das Buch normalisiert sich nun, ohne seinen Charakter zu ändern, in Richtung Bildungsroman. Irritierender noch, mitten im Satz, der Übergang vom Ich zu Asle, der erzählt wird, als ob er ein anderer wäre. Vom anderen Asle ganz zu schweigen, der dem Ich-Asle so ähnlich ist, dass alle Welt die beiden ständig miteinander verwechselt (die sehr überschaubare norwegische Welt, der Horizont bleibt weitherin extrem begrenzt). Was sich fortsetzt, wenn nicht intensiviert, sind die theologischen Bezüge, Ales, die verstorbene Frau, war es, die Meister Eckhart las und zitierte; als eigene Jugendlektüren werden Beckett und Trakl genannt. Wiederkehrend, als Leitmotiv, das Andreaskreuz-Bild mit den zwei Strichen, Inbegriff der (theoriefeindlichen, theologiefreundlichen) Inbegrifflichkeit, auf die Ales’ und vermutlich auch Fosses eigenes Kunstverstehen hinauswill. Sie will aber so rhythmisch ihre Wiederholungen und langsamen Fortgänge murmelnd, ihren literarischen Rosenkranz vor sich hin betend, so sehr im mit großer Sicherheit sich voranfindenden literarischen Halbschlaf auf sie hinaus, dass die Faszination keineswegs nachlässt. (80cp)

 

28.4. Sardanapal (Fabian Hinrichs, Volksbühne Berlin)

Bevor es losgeht, und so richtig los geht es nie, ein Mann am Saxophon, ein Mann am Klavier, Hölderlin-Zitat, Fabian Hinrichs, der ein Lied mit einer Inbrunst vorträgt, als könne er tatsächlich singen; und fast kann er es, der Inbrunst wegen, dann auch. Lässig geht es dann, bevor es richtig losgeht, weiter im Rewe in München, Fünf Höfe, da steht die Kasse (ohne Laden), da steht der König (ohne Land), da sitzt Lilith Stangenberg und wälzt sich bald darauf träumend im Sand aus der Tüte. Eine Lichtschrankentür geht auf und geht zu, durch die andere Tür werden die Requisiten geschoben, Sir Henry am Klavier auch zum Beispiel, während vorher, bevor es vor dem Nichtlosgehen lange schon erst recht nicht los ging, liefen da Songs, Blue zum Beispiel, von Eiffel 65, mit viel Ba Da Bee Ba Da Di an der Wand. Ich liebe Musik, sagt Fabian Hinrichs mit Fabian-Hinrichs-Emphase, bevor das Sinfonieorchester des Händel-Gymnasiums, oder Teile davon, zum Klavier musizieren. Als eine Art Conférencier berichtet Hinrichs vom nächtlichen Surfen im Netz zu Lord Byron, einen Traum von Percy und Mary Shelley hatte er da schon erzählt, der Genfer See, das Jahr ohne Sommer, als eine Vulkanausbruchswolke aus Indonesien die Welt in Hungersnot etcetera stürzte. Das ging vorüber. Es folgen als Projektion an die Wand, immer noch beim Losgehen vor dem Losgehen, ein Drittel des Ganzen ist jetzt vielleicht schon vorüber, Byron-Zitate als bloße Klischees. Eines auch, das im Zusammenhang mit König Sardanapal steht, dem König, der das Essen und das Trinken und die Liebe wollte, und sonst nichts, schon gar nicht die Macht. Man ist dankbar, denn bis dahin hat wenig, eigentlich nichts, in Richtung des Titels gedeutet, der über dem Abend steht, unübersehbar, SARDANAPAL. Nun also doch, hier fügt sich kurz was, ein Königreich für einen Zusammenhang, der aber bald wieder fehlt. Hinrichs hat von nun an meist das Textbuch in der Hand, liest deklamierend, deklamiert lesend, die rechte Überzeugung fehlt, oder nein, die rechte Überzeugung ist da, es fehlt nur der Kontext, das Stück, he lost the plot, er findet Musik, die aber stellt auch keinen Zusammenhang her. So schreitet Hinrichs, so schreiten wir durch seltsame Ruinen eines Stücks, eines Abends, manches ist fade, manches ist lustig, Lilith Stangenberg Kopf voran hinein in den Badezuber, in dem Hinrichs schon sitzt, das Textbuch wird nass. Dann tritt er, oder war es vorher, es macht ja nicht den Eindruck, als wäre die Reihenfolge irgendwie wichtig, tritt also Hinrichs an die Rampe, aus der Rolle heraus, in der er sowieso nie richtig drin war (oder sein wird, wenn auch gegen Ende, Richtung Liebestod, etwas mehr), lässt hundert Becher Weißwein verteilen und hält einen Monolog zur Entwaffnung. Dies sei alles nicht gelaufen, wie es geplant war. Den König sollte einer spielen (Benny Claessens, er nennt den Namen nicht, aber wir wissen Bescheid), der dann nicht mehr kam. So standen sie da, er mit dem Textbuch, in den Kulissen, die gesamte Spektakelgemeinschaft aus Jugendsinfonieorchester und Flying Steps, die später noch eine Schlacht darstellen werden, fast zu virtuos für diesen Abend, an dem es auf alles ankommt, aber ganz sicher nicht auf Virtuosität. Vielmehr agieren Könnerinnen und Könner hier tendenziell dilettantisch, da hat der Gesang zu Beginn schon die Richtung gewiesen. Die Bühne selbst tut, was sie kann, Orchestergraben nach oben, Orchestergraben nach unten, Stufen in Richtung Liebestod/Große Freiheit, tatsächlich zirzensisch wickelt sich eine Frau dann noch vom Bühnehimmel zum Boden, tut dabei aber etwas, das sie nicht so professionell kann: Zitiert ein Sappho-Gedicht. Es ist ein Abend wie ein Abistreich am Theater: Die Erwachsenen, die Autoritäten sind weg, man greift in die Kasse, auch der Fundus ist voll, es wird aufgefahren, was sich auffahren lässt, weiße Gespenster von oben, rotes Tuch stürzt von der Decke, wird eher ungelenk in Richtung Bühnenbildzauber verwurstet; Schönes ist da und verpufft, Bewegung kommt rein, auch wenn man so ganz genau nicht weiß, wozu das wilde Treiben nun gut ist. Das Bewusstsein, dass der Zusammenhang fehlt, wenn nicht gar ein Grund; dass das Können fehlt, und wenn das Können nicht, dann das Ziel, dieses Bewusstsein tritt mit auf die Bühne, macht die Beteiligten aber nicht kleinlaut, sie haben sich vielmehr entschlossen, dem Desaster, das zu erwarten wäre, dem Desaster, das auch - doch, schon - in gewisser Weise tatsächlich eintritt, mit Inbrunst (und Entwaffnungsmonolog) zu begegnen. Und da kommt es dann zu einer Art Wunder, dem Wundertüten-Wunder, die Ruinen beginnen zu leuchten, Fabian Hinrichs, der, Textbuch in der Hand, von einem Trumm zum anderen stapft, der kein bindendes Band und keinen rechten Zusammenhang, eher einen ständigen Zusammensturz hat, macht einfach weiter, besieht sich die Szene, als staune er selbst was er da angerichtet hat, Textbuch in der Hand, aber da findet sich leider auch keine Erklärung, nicht Stück, sondern Stückwerk, wohin man sieht. Man will das Absolute, sagt er, und bekommt die Wirklichkeit, es wird gelacht, er hat die Lacher schon die ganze Zeit auf seiner Seite. Es ist die Haltung, die diesen Abend, der ständig zusammenkracht und verpufft, am Ende doch trägt: Ein Trotz, dem es an Bauernschläue nicht fehlt, ein Begehen der Ruinen, als wäre da Pracht und Palast, wenn man nur daran glaubt. Es ist nicht so, dass dieser Glaube Berge versetzt, aber es gelingt ihm doch, aus dem Gerümpel der Gedanken und Attraktionen etwas zuletzt doch zauberhaft Bizarres zu machen. Nicht ganz klar, was das ist, ein gelungener Abend definitiv nicht, aber die Art, wie sich Hinrichs in das von ihm angerichtete Missraten hineinstürzt, rettet die Würde der Beteiligten. Schule machen kann so etwas nicht. Gott behüte. Aber der Ritt über den Bodensee ist am Ende, obwohl Pferd und Reiter ständig eingekracht sind, doch auf wundersame Weise geschafft. (80cp)

 

Fiddler on the Roof (Norman Jewison, USA 1971)

Am Ende, vor dem Auszug: Versöhnung der Bärte. Der Metzger, der die Tochter des anderen versprochen bekam, verzeiht, dass der andere, Tevye, dann doch ihrem und nicht seinem Wunsch folgte. Eine Geschichte ist das, fast rein allegorisch, der Abschiede. Da ist der eine, der große Abschied, bitter, der Verlust des Dorfes Anatevka, das Heimat war, brutale Vertreibung von Grund und Boden, die nicht ihnen, sondern dem Zaren gehören. Heteronomie, gegen die die Juden (noch) kein Mittel besitzen. Sie bräuchten schon ein eigenes, autonom besiedeltes Selbstherrschaftsland. Die anderen Abschiede sind der Fortschritt, Auszug aus der Tradition, vielmehr, geschmettert: TRADITION, eine Humanisierung durch die Töchter, in drei Schritten: Die erste bittet darum, ihren Willen anzuerkennen. Die zweite entscheidet und will nur den Segen. Die dritte macht sich mit dem Goi davon, ganz egal, was der Vater - die Väter - dazu sagt oder sagen. Aber auch sie bekommt zuletzt noch gute Wünsche auf ihren Weg. Patriarchal ist die Konstruktion darin, dass die Befreiung nur als Befreitung vom männlichen Herrscher vorgestellt werden kann. Als der figuriert Tevye in seiner wohlwollendsten Form; er zivilisiert noch die Frau, der die Befreiung aus der Tradition nur mit seiner Hilfe gelingt. Norman Jewison setzt das mit Sinn für den Boden wie für die Landschaft in Szene, er nutzt die Breite des Raums, ergreifend beim Abschied, die Kamera verleiht den zum Auszug Verurteilten in stummer Vorbeifahrt noch einmal Würde. Die Lieder sind mit einer Ausnahme fast oder ganz übergangslos in die Diegese gefügt, so sehr die Prosa oft nach Anlässen sucht, die Menschen in Lyrics und Gesang ausbrechen zu lassen. Heraus fällt als fast bollywoodesk ein Reigen der Töchter, ein Tanz, in die Landschaft gestellt, aber das wird ausdrücklich in Zooms auf Tevyes Gesicht (hinein und hinaus) als Fantasie präsentiert. Am Ende wird Tevye, wird das Volk von Anatevka, Ahasver. Kein Gelobtes Land in Sicht. Aber der Fiedler kommt mit. (72cp)

 

27.4. Captain Blood (Michael Curtiz, USA 1935)

In der großen Schlacht zum Finale brechen und biegen die brennenden Balken, ein großes Franzosenschiff fliegt in die Luft. Gewaltig stoßen die Vielmaster auf der Studio-See aneinander, Enterhaken schlagen in Körper, an Seilen schwingen sich die zu Patrioten gewendeten Piraten wider die Franzosen. Strahlend, groß und mit blondesten Locken, steht Errol Flynn als seinerseits vom Dissidenten zum Feldherrn gewandelter Held. Es schmettert, schmetterwillig von Anbeginn, das Orchester den Score, den Erich Wolfgang Korngold für es komponiert hat. Zuvor hat Captain Blood, zwischendurch, Basil Rathbone als unzuverlässigen Franzosen im Fechtkampf aus dem Felde geräumt, der liegt am Meeresstrand, von der Gischt überspült. Auf die Insel ist Blood als Sklave geraten, den die junge Olivia de Havilland statt ihres schurkischen Onkels sich für 20 Pfund kauft. In den politischen Widerstand ging Peter Blood ohne viel Zutun nur in Ausübung seines Berufs als Arzt. Als Heiler der Gicht gewinnt er sich dann in Gefangenschaft ein Stück Freiheit zurück. Curtiz inszeniert das wie stets so, dass wenig Verschnaufpausen bleiben, die Spektakel- und Massenszenen bieten den Zuschauern mehr als genug für ihr Geld. Eher atemlos wird die arme Olivia de Havilland periodisch (und natürlich zum Schluss) aus den Kulissen neben den Helden geschoben, der Abwechslung halber, wie an anderen Stellen Humor oder Running-Gag-Bibelsprüche. Sie ist ein Liebesobjekt, für das sich weder der Held noch der Film so recht interessieren: Sie haben anderes, Größeres, nämlich viel Swash und viel Buckle im Sinn. (61cp)

(10 x Michael Curtiz)

 

Le club des soupirants (Maurice Gleize, F 1941)

Ein, zwei Busladungen Playboys haben pekuniäre Probleme, gründen einen Club der Verehrer, eine reiche Erbin zu erobern, nicht als Herzensangelegenheit, sondern um ihre Finanzen zu salvieren. Sie bekommen zu diesem Zweck einen Lehrer, er ist hat bessere Tage gesehen, aber die Theorie der Eroberung beherrscht er, glaubt er zumindest, doch noch. Der Club fährt singend hinaus in die Natur. Dort, beziehungsweise im Umfeld der ins Visier genommenen Familie Carabus (Saturnin Fabre als Vater: grandios), ist ein anderer junger Mann unterwegs, Fernandel nämlich, ihn hat Continental-Chef Greven mit dem Angebot, bei zwei von drei der für die Firma gedrehten Filme Regie führen zu können, zu den Deutschen gelockt. (Das ist der eine, bei dem ein anderer, das wenig beschriebene Blatt Maurice Gleize, Regie geführt hat.) Fernandel ist ein Hanns Guck-in-die-Luft, ein Schmetterlingsjäger, der als Unterhalter der einen Tochter engagiert worden ist, jedoch ein Auge auf die andere, die nicht erben soll, wirft. Bei der einen oder anderen Gelegenheit darf er den Fortgang der Handlung für Gesang, wenn nicht Tanz unterbrechen, wobei dieser Fortgang ohnehin wegen Musik mehr als einmal zu oft ins Stocken, wenn nicht in den Stillstand gerät. Ende gut, alles gut, Pointen hier, ein Unsinn, der harmlos wäre, wäre nicht die eskapistische Absicht hier schmerzlich spürbar, Drehbuchautor Marcel Aymé (auch André Cayatte tat mit) hat man das zu Recht später übel genommen. (53cp)

(Continental Films 4)

 

26.4. Throw Away the Books, Rally in the Streets (Shuji Terayama, J 1971)

Ein Querschnitt, oder Queerschnitt, durch die japanische Gegenwart der frühen siebziger Jahre. Sehr scharf ist das Messer, mit dem Terayama diesen Schnitt durchführt, mit dem er sich von jung zu alt, von öffentlich und politisch zu privat und intim, und wieder zurück metzelt. Er jagt, mit der Kamera, die dieses Messer ist, durch die Straßen in Bildern, die grün gefärbt sind, in eine Entjungferungsszene im Bordell, in der die Montage sich selbst in Überblendungen vögelt, er begibt sich ins Restaurant westlichen Stils, in dem man Roastbeef serviert und der junge Mann der jungen Frau erklärt, wozu Messer und Gabel und Löffel gut sind. In der Wanne räkelt sich ein schwuler Mann mit Lockenperücke und bittet um Achselrasur, Umfrage hier, Umfrage da, was Männer sich wünschen, während die Striptease-Tänzerin die Bibel überall liest, nicht zuletzt auf dem Klo. Musik dazu und dazwischen, mal sanft und mal punkig, mal schmissig, mal Psychedelischeres, Fußballer, die in der Dusche eine junge Frau vergewaltigen, während draußen auf dem Platz einer die Kreidelinien frisch zieht; junge Frauen in Schuluniform auf einem Zaun vor Kuh auf der Weide, ein fröhliches Lied, sie entkleiden sich und singen davon, wie sie zu Huren werden. Dann zurück zum Kaninchen, das kam früher schon vor. Das alles geht, rennt, wirbelt sehr durcheinander, immer nur kurz arretiert, Schnitte von einer Szene zur anderen, kein roter Faden, es sei denn, man nimmt, blind für die Vielfalt der nicht nur farblichen Differenzen, das grün Viragierte als solchen. Oder den Sohn, der nach Amerika will und einen kleinen Nudelshop kauft, für den Vater. Oder die Schrift an der Wand: Die Stadt ist ein offenes Buch, schreib in ihre endlosen Ränder! Oder die weiße Leinwand und ein Abgesang auf den Ruhm für fünfzehn Minuten. Zur Schlussansprache nach 28 Tagen des Drehs der Sprung aus der Fiktion, die ohnehin außerordentlich löchrig ist, in eine Wirklichkeit, die um das Fiktive an ihr ganz genau weiß. Das erzählende Ich nennt seinen wahren Namen, Eimei Sasaki, als den eines Menschen, der als Ich die Worte eines anderen spricht: Sayonara, Cinema! (Der Abspann: Statt Namen und Schrift ein Kamerafahrt, die Gesichter entlang.) (77cp)

 

Night Drum (Tadashi Imai, J 1958)

Nach Jahren am Hof kehrt der Samurai in die Heimat zurück. Der Ritt durch die Landschaft, die Geschichte ist in Bewegung gesetzt, sie wird bis zum Ende durch das Gegeneinander von statischen Szenen in Räumen und kurzen, wilden Ritten rhythmisiert. Nicht dingfest zu machen, oder nach und nach erst, in Rückblenden, in Augenzeugenberichten, die sich widersprechen, ist ein Gerücht: Tane, die schöne Frau des Samurais, habe ihn, während er am Hof war, betrogen, mit dem Trommellehrer des Sohns. Der Lehrer singt traurige Weisen über die Dinge des Lebens (Liebe und Trauer), langsam schlägt die Trommel in den Händen dazu. Das Gerücht, die Beweglichkeit selbst, kommt dem Zurückgekehrten zu Ohren, er stellt die Frau zur Rede, es werden Recherchen angestellt. Sehr beweglich, in Schnitt und Wahl der Ausschnitte und dem Platzieren von Körpern und von Gesichtern im Kader, sind die Szenen gefilmt, in denen der Verdacht Einzug hält, abgewiesen wird, Perspektivwechsel und Achsensprünge sorgen dafür, dass sich das bei allem Herumsitzen niemals beruhigt. In Rückblenden (auch die nicht unmerklich, eine ungewöhnliche Sternblende einmal) wird aufgerollt, was geschah. Es stellt sich, aus dem Aufrühren der Vergangenheit, die auch ruhen könnte, mit wieder toll gefilmten Ritten dazwischen, eine Ausweglosigkeit her, an deren Ende Gewalt spricht und Schwerter, die Rache, ein brutales System von Klasse und Ehre, in dem das Verzeihen eine Unmöglichkeit ist, die Selbstbestimmung der Frau eine undenkbare Sache. (78cp)

 

25.4. Un couple (Jean-Pierre Mocky, F 1960)

Ein schöner Mann, eine schöne Frau, ein schönes Paar geraten hier aus der Bahn. Nach ein paar Jahren Verzauberung beginnen sie sich für andere zu interessieren. In Innenräumen mit Partys, am Arbeitsplatz mit der blonden Kollegin, in Außenräumen auf von Eugen Schüfftan wunderbar ausgeleuchteten schwarz-weißen Straßen. Blicke im Hausflur, Begehren im Treppenaufgang. Im Schaufenster, das mit Spielzeug umdekoriert wird, geht ein Kuss das erste Mal fremd. Der schöne Mann arbeitet für einen Spielzeugerfinder (der ist dick, Glatze, Zigarre, immer schöne Frauen zur Hand), ein Kollege hat seinen mechanischen Maulwurf bei Sonne und Regen dabei. Die schöne Frau hat einen schwarzen Ring um die Iris, den man bei den nicht wenigen Großaufnahmen sehr gut erkennt. Paare, Passanten, die Entfremdungsgeschichte, das Titel-Paar in der Einzahl, gerät nach und nach, Drehbucbeteiligung: Raymon Queneau, ihrerseits aus der Bahn. Setzt einen Mann mit Krücken in den Salon, der die anderen mit Vergnügen zu Fall bringt. Und nimmt ein anderes Paar als Refrain, dessen Abend immer auf dieselbe Weise verläuft: Mann hängt den Salat im Entwässerungssieb vor das Fenster, schließt die Läden, füttert den in einem von der Decke hängenden Korb liegenden Hund, begibt sich zur Frau ins Bett, deren Hand an einem baumelnden Schalter das Licht löscht. Einmal bleibt es an. Der Film geht dann aus. (73cp)

 

A New Leaf (Elaine May; USA 1971)

Zwei Karikaturen, aufeinander losgelassen: Walter Matthau als komplett verschnöselter Mann, brutale Ego-Figur, der seinen enormen Reichtum mit Ferrari und im Edelrestaurant durchgebracht hat. Nun hilft nur eines: sehr reiche Heirat. Da kommt Elaine May als das Ungeschick höchstpersönlich mit großer Brille sehr recht, Mauerblümchen ist gar kein Ausruck für sie, deren Ehrgeiz darauf geht, sich als Botanikerin durch Entdeckung einer neuen Art einen Namen zu machen. Weltfremd und selbstlos wird sie zum leichten Opfer für den Mann, der auf der Hochzeitsreise ein Buch über Gifte studiert, weil er sie möglichst schnell wieder loswerden will. Die sehr trockene und fast schon abstrakte Komik des Films besteht nun darin, die Karikaturen nicht etwa zu Menschen zu machen, sondern in Konstellationen zu bringen, in denen sie ihre scharf konturierte Eigenart ins Absurde steigern können. Ein Höhepunkt: Die Verhandlung zu den Konditionen der Ehe, Matthaus Gesichtsakrobatik, die das Zerknautschte mit dem Ungerührten zu wilden Grimassen verbindet. Elaine May dagegen als große Naive, die nichts von ihrer Schutzbedürftigkeit ahnt. Es sind Figuren, die von Anbeginn auf Nicht-Veränderbarkeit angelegt sind, weder in die eine noch in die andere Richtung auf Humanisierung. Nur zu verständlich, dass der entstellende Schnitt, den das Studio dann vornahm, May so sehr verstörte, dass sie den Film nicht mehr als ihren anerkennt. (69cp)

 

24.4. Antonius und Cleopatra (William Shakespeare, Projekt von Claudia Bauer, Patrick Isermeyer und Teresa Schergaut; Schauspiel Leipzig; Diskothek)

Vorne Säulenportal, hinten Besprechungsraum, seitwärts Badewann mit später viel Blut. Vor dem Portal ganz zu Beginn ein Dialog, der nicht ins Drama gehört, sondern die Regeln gibt zu dem, was auf der Bühne geschieht: jede Berührung mit dem intimacy coach besprochen, ich Mann, du Frau (bzw. als solche identifiziert), keine kulturelle Aneignung, es werden also in Vertragsform Triggerthemen berührt. Im Ton so uneindeutig, dass sich Freund*in wie Feind*in dieser Dinge ein wenig am Kopf kratzen dürfen. Viel hilft viel, das gilt auch sonst: Im Haus wird gespielt, zu Öffnungen und Fenstern heraus, aber oft auch per Livekamera aus dem Haus auf die (jeweilige) Vorderseite im Bild projiziert. Das Stück selbst ist im Haus und in den Mündern von Patrick Isermeyer und Teresa Schergaut von Zeit zu Zeit drin; Antonius als Person of Color, sie eine Cleopatra mit enschieden mehr Rundungen als Elizabeth Taylor (am Ende ist sie dann noch Octavian/Hitler): auf zwei reduziert, manchmal fährt heutiger Text den schönen Fetzen des Originals mit lautem Fuck in die Parade. Zwischendurch sagt, hysterisch geschüttelt, Antonius einen Programmhefttext auf, der gängige Situierungen des Stücks im (post)kolonialen, (post)imperialen Kontext erklärt. Dann zurück ins Haus, ins Stück, zu Sex(ploitation) und Blut(ploitation) und Telefon(ploitation) und aus dem Film herüberzititerten Kostümen und Glitzerperücke. Epilogisch dann gespielte Manöverkritik, auf so unslicke Art smart wie alles andere auch, zuletzt ist darum noch das Richtungslose sympathisch: Nicht zu Ende gedacht, sondern einfach mit Schmackes gemacht. (71cp)

 

Mindset (Sebastian Hotz, D 2023)

taz-Kritik (53cp)

 

23.4. La parmigiana (Antonio Pietrangeli, I 1963)

Der Polizist: ein Mann wie ein Pfahl auf zwei Beinen, mit dem Regenschirm als drittem dazwischengesetzt. Da steht er, aufgepflanzt, vor dem Fenster, und bringt seinen Willen, Dora zur Frau zur nehmen zum Ausdruck. Im Eifer des Gefechts rudert er sie unsanft rückwärts ans Ufer, da noch mit Schnurrbart, später ohne. Zunächst mit strikter Jungfräulichkeits-Ehemoral, später ohne, nachdem sie ihn durch Beischlaft loszuwerden versucht. Viel geht hier nach hinten los, auch die Schwenks nach rechts oder links, die die Gegenwart (und ihre lüsternen Männer) mit der Vergangenheit (und ihren lüsternen Männern) verbinden: Sie sind nicht flott und nicht elegant, diese Schwenks, gewinnen Eigengewicht durch ihre Erstreckung, großartig absurd einer, der mitten in der Stadt auf ein Klavier stößt, das dann im Match-Cut-Schwenk zu einem früheren führt. Auch die Musik tut eigenwillige Dinge, pfeift sich eins, wenn sie nicht diegetisch zum Tanz aufspielt, frenetisch: eine Gesellschaft, die ihre Beengungen durch Winden und Schütteln auszutreiben versucht. Catherine Spaak als diese Dora ist die Verführungskraft höchstpersönlich, egal ob blond oder brünett, ist ein Subjekt des Begehrens, dessen selbstbewusste Avancen die Männer ebenso wie klare Ansagen als Einladung nehmen, sie einzig als Objekt zu begreifen. Sie macht es sich zunutze, up to a point, objektiviert aus Notwehr zurück, im Gegenzug schenkt sie ihre Verachtung, und die ist, daraus macht der Film nicht den mindesten Hehl, Mann für Mann mehr als verdient. Eines allerdings kann in dieser verkehrt eingerichteten Welt nicht gelingen, im provinziellen Parma nicht und auch nicht im sich mondän gebenden Rom, gnadenlos wird das rundum durchdekliniert: eine Beziehung, in der beide sich und die andere als Subjekte begreifen. Ein Happy End wäre gelogen und findet darum nicht statt. (81cp)

(5 x Antonio Pietrangeli)

 

Anti War Women (Jessica Glause, Kammerspiele München)

Die Anti War Women trafen sich 1915, mitten im Krieg, in Den Haag zum Friedenskongress. Nicht ganz aus aller Welt, schon gar nicht aus allen Klassen, eine einzige schwarze Frau war darunter, aber doch: ein Ereignis historischer Dimension, das sich zu guter Letzt auf Resolutionen einigen konnte, Forderungen für den Frieden sogleich und eine gerechtere, auch gleichberechtigtere Welt in möglichst naher Zukunft. Die Sache wurde von den Männern verlacht, auch wenn Woodrow Wilson manches für seine Völkerbund-Vision aus den Kongressdokumenten entnahm. Aus diesem historischen Fakt hat Jessica Glause einen Theaterabend gemacht, der einzelne der teilnehmenden Frauen als Figuren auftreten lässt. Die Sache tut bunt, mit Brust- und Genitalmalerei auf den Kostümen, später schweben zerschnetzelte Fahnen von der Decke herab, Tüllresteröcke sind um die Hüften geschnallt, zwischendurch gibt es Musik von Punk bis Jenseits von Eden und am Ende ein Original von Eva Jantschitsch, die für die musikalische Seite zuständig ist. Theatrales Eigengewicht gewinnt dabei nichts, da hilft auch der Bühnennebel sehr wenig. Der Informationsgehalt ist okay, die Spielfreude groß, die Sache wichtig und gut, über bloße Illustration gelangt das aber, ganz frei von Form, die sich ernst nimmt, an keiner Stelle hinaus. (44cp)

 

22.4. Phenotypes (Paulo Scott, Brasilien 2019, Übersetzer: Daniel Hahn)

Die neue Regierung hat eine Kommission ins Leben gerufen, die eindeutige Regelungen finden soll für die umstrittenen, ja umkämpften Quoten für affirmative action. Als renommierter Soziologe sitzt Federico darin, Sohn eines Polizisten in Porto Alegre, mixed race, wobei er selbst als weiß passen kann, sein Bruder dagegen scheint eindeutig schwarz. Was zunächst nur Vorgeschichte scheint, Familiensachen, Heimatdinge, dringt nach und nach in Rückblenden in die Erzählung von der Kommission in Brasilia ein, infiltriert diese Gegenwart, und zwar mit immer stärkerer Wucht. Eine Nichte von Federico wurde bei Protesten gegen die Regierung mit einer Waffe aufgegriffen. Diese Waffe triggert Erinnerungen, die, als Federico nach Porto Alegre zurückgereist ist, abrupt, wenn nicht brutal auf die Gegenwart stoßen. Der Erzählstrom besteht aus kurzen Sätzen, mit schnellem Atem gereiht, die Sätze enden, ohne zu enden, oft steht da ein Komma statt eines Punktes. Das Ineinanderfließen, von Vergangenem und Gegenwart, von präsentischem Berichten und ausgelöstem Erinnern, ist das Prinzip, das Drängen von beidem; die Fragen von Grenzen, von mixed race und einem Rassismus, den auch Quoten nicht zum Verschwinden bringen, strukturieren das Geschehen und sind zugleich auch in Dialogen thematisch. Das Verschwiegene, das Verdrängte läuft, ungesagt, aber wirksam, ja vielleicht umso wirksamer, immer mit. Auf einen politischen Punkt, der diese Verwicklungen arretiert, will Paulo Scott nicht hinaus. Vielmehr geht es genau darum, zu zeigen, in Sprachhandlung vorzuführen, dass die Enden nicht lose sind, sondern dass eine Frage, eine Tat, eine Geschichte immer an der anderen hängt, und zwar so, dass jeder Eingriff Folgen hat, die nicht zur Gänze absehbar sind. (80cp)

(International Booker Longlist 2022)

 

Green Corridors (Natalka Vorozhbyt, Regie: Jan-Christoph Gockel, Münchner Kammerspiele)

Die Wand ist sehr solide, die Wand ist die Grenze, die Wand ist auch Leinwand, auf die Live-Malerei digital projiziert wirt. Die Wand ist solide, aber dann kippt sie um, langsam erst, dann schneller, man wartet auf den Knall, sie landet jedoch weich. Später öffnen sich Luken, aus dem Boden kommen Nebel und Figuren in Kostümen gekrochen. Der Realismus des Beginns, die Geschichten der Flüchtenden mit Katzen und Spitzen und Kindern, ist da dann schon zwar nicht vergessen, aber doch mehrfach überschrieben. Durch Szenen vom Dreh eines Historienfilms über Stepan Bandera, noch weiter zurück geht es in die zwanziger Jahre, dann wieder Gegenwart des ukrainischen Kriegs, Sex auf Distanz via Skype, der Mann dann tot, Scherze über Tinder, die Frauen kommen in Deutschland an; hier tritt nun eine penetrante Frau, penetrant gespielt, auf, eine Figur, die weniger verdichtet ist, als kabarettistisch verflacht. Der Text versucht sich zu retten durch Sprunghaftigkeit, er berichtet von Vergewaltigung, Mord, zentriert seinen Konflikt um eine opportunistische Schauspielerin, die noch in russischen Serien spielte, aber dann wieder Spitze, Einwanderungsdinge, rein ins Kostüm, raus aus dem Kostüm, Schrift erst an der vorderen, dann an der hinteren Wand, Livemusik dazu von links. Kreuz und quer geht das und nichts trifft richtig ins Ziel. (59cp)

 

21.4. Unser täglich Brot (Slatan Dudow, DDR 1949)

Wirtschaftsaufbruch als Familienaufstellung: Am Küchentisch sitzen Eltern und Kinder und Untermieter und teilen sich das sehr karge Brot. Der Vater - von Paul Bildt gespielt eine Figur, die man ernst nehmen muss - glaubt nicht an die sozialistische Zukunft, der eine Sohn hat alle Mühe, die Arbeiterinnen und Arbeiter als Führungskraft über die Durststrecke bis zu ersten Gehältern im volkseigenen Traktorbetrieb zu bringen, der vorderhand noch Fressnäpfe und Kochtöpfe produziert. Eine Tochter verkauft Sahne, als wäre es Eis, und fliegt raus, weil sie nicht rabiat genug ist. Ein anderer Sohn gerät auf die schiefe Bahn, was sich zuletzt als versehentlichen Überfall auf den Vater melodramatisch zuspitzen wird. Die Mutter hält zusammen, was durch Auszug der Kinder und Mieter auseinanderstrebt. Parolen werden geschwungen, aber das hält sich in Grenzen. In impressionistischen Szenen sieht man Prostituierte als verzweifelte oder zynische Variante des Versuchs, über die Runden zu kommen. Hanns Eislers Musik sucht Dynamik, wo sie den Beteiligten fehlt. Optimismus muss sein, der Vater wird das Mitmachen lernen, aber Slatan Dudow hat viel wenig Geschöntes unter die ideologischen Notwendigkeiten gemischt. (65cp)

 

Maigret und die Tänzerin (Georges Simenon, F 1951, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Arlette, die Tänzerin, stirbt, weil sie der Polizei vom Mord an einer Gräfin berichtet. Sie hat es gehört im Picratt’s, wo sie mit ihrem Striptease den Männern, auch einem jungen Polizisten, die Köpfe und andere Körperteile verdreht. Maigret begibt sich ins Milieu von Montmartre, findet Spuren, die in die Vergangenheit der einst schönen und mondänen Gräfin führen, die zuletzt als Morphinistin in einer heruntergekommenen Wohnung vor sich hin vegetierte. Der Wirt Alfonsi, seine Frau Rose, einer, der Heuschrecke heißt, ein drogensüchtiger Homosexueller, ausgehaltener Gespiele der Gräfin: kleine Gesellschaft der Nacht. Arlette, von allen bewundert, wird ersetzt, als recht unbegabt beim Entkleiden erweist sich die junge Frau, die ihre Nachfolgerin wird, aber das kann ja noch werden. Maigret sitzt und blickt, schickt die Inspektoren herum, auf der Suche nach der mysteriösen Figur namens Oscar, die bis fast zuletzt im Verborgenen bleibt. Kein Verhör, Maigret geht beinahe auf in seiner Funktion, Beobachter einer Szene zu sein, zu der die bessere Gesellschaft nur im Zwielicht begegnet. (71cp)

(Maigret 36)

 

20.4. Le témoin (Jean-Pierre Mocky, F 1974)

Antonio Berti, der Maler, der mit einigem Karacho aus Italien (Alberto Sordi) nach Reims kommt, malt in der Kathedrale, er malt auch nackte und halbnackte Gestalten. Junge Mädchen stehen ihm dafür spärlich bekleidet Modell. Der reichste Mann der Stadt, Monsieur Maurisson (Philippe Noiret), ist sein Freund, geht sehr gern auf die Jagd, nach Frauen, aber auch, wie sich herausstellt, nach den sehr jungen Mädchen. Als eine von ihnen ermordet wird, werden Alibis durch die Gegend geschoben und gerät Berti in Not, denn er hat Maurisson in der fraglichen Nacht am fraglichen Ort in sehr verdächtiger Weise gesehen. Und hält die Klappe, aus Freundschaft, außerdem lassen Schüsse bei der Jagd keine Zweifel an der Entschlossenheit Maurissons. Noiret und Sordi haben sichtlich Vergnügen an ihren üblen Figuren, Mocky hat Spaß daran, eine Genregeschichte mit allem Drum (Kommissar, allerdings schwul) und Dran (Lustmolch, dieser und jener) im Graubereich zwischen Chabrol und Buñuel und commedia all'italiana einem entschiedenen Ende zuzuführen: Ein Schuss, der versehentlich den trifft, der unter die Guillotine gehört. Aber ganz der Falsche ist auch der nicht, dem der Kopf abgehackt wird. Ein paar Sekunden lang wird in der Totalen danach noch das Blut mit dem Schlauch weggespritzt. (67cp)

 

Premier rendez-vous (Henri Decoin, F 1941)

Die sich da nach einer Kontaktanzeige Briefe schreiben: Micheline Chevassu (Danielle Darrieux), die in aller weltsüchtigen Unschuld fast volljährig im Waisenhaus sitzt. Und Nicolas de Rougemont (Fernand Ledoux), sehr mittelalt und kein Beau, der sich als sein Adoptivsohn Pierre ausgibt. Ernüchterung im Café. Er nimmt sie gegen ihren leisen Widerstand mit in sein Haus, der schlimme Verdacht, der Micheline anfliegt und den der Zuschauer angesichts ihrer Lebensunerfahrenheit erst recht hegt, löst sich nach einer ungestörten Nacht im Zimmer des real existierenden, aber vorderhand abwesenden Pierre, rasch in Luft auf. Erst recht, wenn man den wackeren Nicolas in seinem Job als Literaturlehrer im Elite-Internat sieht: von den adeligen Schülern verhöhnt und verlacht. Da leidet und begehrt und zuckt eine schöne und zarte Seele im nicht so zarten Körper, sie kam in seiner literarischen Sprache heraus. Alles durcheinander bringt, als schönerer Körper, wenn auch deutlich robustere Geist des jüngeren Mannes, Pierre (Louis Jourdan). Es kommt zu Gesang, aber auch komödiantischem Nachspiel der falschen ersten Begegnung; er hebt seine Seele hinauf zu der ihren, sie senkt ihre ein wenig in Richtung Realismus hinab. Henri Decoin wirft gekonnte Turbulenzen dazwischen, veredelt nebenbei den ungehobelten Jungadel, zumindest ein wenig. Pierre nimmt die Beine in die Hand, um die Geliebte zum Happy End zu erwischen. Der Vater, dessen Tragödie das hier partout nicht sein soll, seufzt ein Lob auf die Jugend dazu. (68cp)

(Continental Films 3)

 

19.4. La visita (Antonio Pietrangeli, I 1963)

Treffen sich zwei, eine Heiratsannonce, auf die er geantwortet hat, bringt ihn aus Rom in die sehr kleine Stadt, in der sie in einem Haus für sich lebt. Hier erproben sie 24 Stunden lang, wie das sein könnte: Pina (Sandra Milo) und Adolfo (François Périer), ein Leben als Paar. Die Fahrt mit dem kleinen Oldtimer-Auto durch die Innenstadt, wo ihnen Cucaracha (Mario Adorf) begegnet, der Außenseiter, der mit Steinen bewirft, was ihm nicht passt, zum Beispiel: Adolfo. Der wird von Pina fürstlich bewirtet und tritt zum Dank die kleine Schildkröte, die als Haustier bei ihr lebt. Er beschimpft den Papagei, er frisst wie ein Schwein, er betrinkt sich fürchterlich, er macht der Enkelin der Zugehfrau schöne Augen und sucht beim Dorffest den Engtanz mit ihr. Pina träumt sich den Mann, der schlimmer nicht sein könnte, gewaltsam zurecht, denkt man, zieht aber am Ende mit brutalem Realismus gerechte Bilanz. Und hier stellt sich der Film, der bis dahin die Komik des schrecklichen, egozentrischen, gefühllosen Mannes kalt zelebriert hat, auf sehr verblüffende Weise auf den Kopf. Adolfo bekennt sich zur Wursthaftigkeit seiner selbst, fällt in sich zusammen. Auf dem ausgenüchterten Grund des Realitätsprinzips haben sie anstatt einer gemeinsamen Zukunft nun Sex. Dann Rückfahrt im Morgengrauen zum Bahnhof, er schickt einen Brief und eine Lampe, sie kehrt zurück ins kurz zerrissene soziale Gewebe, in ihr Haus mit Schildkröte, Papagei, dem LKW-Fahrer und dem steinewerfenden Cucaracha. (74cp)

(5 x Antonio Pietrangeli)

 

Der andere Name. Heptalogie I-II (Jon Fossse, Norwegen 2019, Hörbuch, Sprecher: Max von Pufendorf)

Asle, der Maler, schon lange kein Trinker mehr, einer, der Gott gefunden hat, der Gott in seinen Bildern findet, es ist eine dunkle Theologie, es ist für ihn das Schwarze, das leuchtet, aus dem heraus Gott leuchtet, es ist dieses Leuchten, das er in seinen Bildern zu bannen versucht. Und der andere Asle, auch Maler, Asle, der in Bjørgvin lebt, der größeren Stadt, der Trinker, mit Hund, dieser Asle, den der andere Asle findet, im Schnee, kaum bei Bewusstsein, und den er ins Krankenhaus bringt. Und zwischen dem einen Asle und dem anderen Asle (wie überhaupt im ganzen Buch) kein einziger Punkt. Eine Prosa, die in ständigen Wiederholungen und Verschiebungen vorankommt, sich manchmal auch festfräst, minimal prose, die an Beckett erinnert, von ferner her auch an Bernhard, ein Sprachstrom und Bewusstseinsstrom, von einem so beiläufigen wie insistenten «ich denke» interpunktiert (sehr viel mehr inter als Punkt), das ein ansatzloses Gleiten ermöglicht, Erinnerungspfade hinab, die in der Vergegenwärtigung Gegenwart sind, ein Paar auf einem Spielplatz im Schnee, das der eine Asle beobachtet, das vielleicht Asle selbst ist, mit seiner Frau Ales, auch hier sind der eine Name und der andere Name sich nah, eine Erinnerung später, des einen oder des anderen Ales, eine Szene der Kindheit, Ales und seine Schwester am Ufer des Fjords, später Ales im Auto mit der Glatze, einer monströsen Figur. Weil aber Gott und der Frühstücksspeck sich hier sehr nahe sind, so nahe wie die Theologie und die sehr dinglichen Dinge, die Freund Åsleik anschleppt, weil im Insistieren auf dem Banalsten, der Beobachtung der unbedeutendsten Äußerlichkeiten, weil in diesem Nebeneinander des sehr Großen, des leuchtenden Schwarzen, und des sehr Kleinen etwas Komisches liegt, weil der Rhythmus der Prosa sich anfühlt wie, denke ich, das Erfrieren im Schnee, ist das alles nie prätentiös, so wie es wundersamerweise auch niemals ermüdet, getragen von einem sehr langsam fließenden, aber doch immer weiter fließenden Unterstrom murmelnder Verzweiflung und flüsternder Ekstase. (82cp)

(International Booker Longlist 2020)

 

Alice, Darling (Mary Nighy, USA 2022)

taz-dvdesk (62cp)

 

18.4. Le deuxième souffle (Jean-Pierre Melville, F 1966)

Der Winkel, den das erste Bild setzt: verkantet, aber so muss er, anders kann er nicht sein. Die Statik der Mauern, bald darauf das Rennen, der Zug. Der Tod gleich im Spiel, das versteht sich von selbst. Alles ist Konstruktion, ein Ablauf, der vorausgedacht ist, datiert, nummeriert, gezählt und geprobt. Dinge, die am Schnürchen laufen, Zufälle, die die Kugel des Plots von der Bahn abweichen lassen: ein unschuldiges Boule-Spiel, bei dem einer den Gangster erkennt, aber auch Spiel über die Bande: die auf dem Schrank platzierte Waffe, die Zuschauer und Schurken an der Nase herumführt. Alles ist akkurat aus Genre-Topoi gezimmert, inklusive die Finten und doppelten Böden, eine Geschichte, die nicht mit roten Heringen, aber mit der Irritation von Erwartungen und Erwartungserwartungen agiert. Die Überfall-Szene mit einerseits Serpentinen, andererseits sehr straighten Schüssen, Hommage als Anerkenntnis, dass Robert Wise es in Odds Against Tomorrow so gut gemacht hat, wie es sich nur machen lässt. Eine Idee von Professionalismus, es gehört die sachgerecht ausgeführte Ermordung bei laufender Autofahrt entschieden dazu. Eine Idee von Verhängnis, das Ende (so oder so) ist ausgemacht von Anbeginn. Der doppelte Ehrenkodex, so strikt genommen, dass eine Warntafel zu Beginn den Film von jeder Wirklichkeit distanziert: Der Gangster, dem einzig auf dem Gewissen liegt, es könne der Eindruck entstehen, er habe seine Spießgesellen verraten; der Polizist (und es braucht Paul Meurisse in seiner Abgebrühtheit dafür), der den Deal mit dem erzwungenen Geständnis als Ehrensache begreift. Ein Film, der nie außer Atem gerät; der aber keinen Zweifel daran lässt, dass es beim zweiten Atem des Titels um ein letztes Ausatmen geht. (73cp)

 

Eine Pyramide für mich (Ralf Kirsten, DDR 1975)

Ein Vierteljahrhundert nach dem Aufbruch kehrt ein Mann mittleren Alters als Professor an den Ort zurück, an dem er mit Männern und Frauen seines Alters einen Staudamm, der gut und gern für einen neuen, sozialistischen Staat stehen kann, erbaut hat. Sie haben zum Gedenken, zur Feier der neuen Gemeinschaft eine Pyramide errichtet. Sie steht noch, aber vergessen, vermoost, der Lack ist schon lange ab. Das gilt auch für Satie selbst, bleicht geschminkt im Gustav-von-Aschenbach-Style, dunkel die Augenringe, keuchend der Gang die Stiegen in Wolfsgrün hinauf. Ein Film voller Wiedergänger, hart die Szenen aus der Vergangenheit gegen die Gegenwart geschnitten, in der alles Vergangensein, nichts Neuanfang ist. Oder schlimmer noch: Der Neuanfang, der gerade geplant wird, gegen den Satie mit einem Gutachten Einspruch erhebt, wäre ein neuerer, viel größerer Staudamm, für dessen Flutung ganze Dörfer ausgelöscht würden, gnadenlos werden die Gebäude, die der megalomanen Zukunft weichen müssten, aufgezählt und genannt. Und klar ist doch auch, den großen Gesten, die so falsch klingen, wird keine große Zukunft mehr folgen; schon der erste Aufbruch gleich nach dem Krieg war mit seinem Ehrgeiz, seinem Schwung auch rücksichtslos und brutal. Plattgemacht wurde der Bauernhof des Mannes, der Balanchin heißt, der nicht vergessen hat, der gespenstischste Wiedergänger von allen. Hanka dagegen, die Geliebte von einst, nun an den Wänden der kleinen Stadt als Hure denunziert: Selbstbewusst, aufgestiegen, sie lebt mit dem Sohn, von dem Satie nicht wusste, sie liebt mit einem fünfzehn Jahre jüngeren Mann. Keine Anknüpfung möglich, alle Fäden zerschnitten, alle ins Schicksal gefügt: Ein Resignationsfilm, wenn es je einen gab. (78cp)

 

17.4. Fortunat (Alex Joffé, F 1960)

Besatzungs-Historie und Holocaustdrama und Klassenkomödie vertragen sich hier miteinander. Es ist ein ziemliches Wunder, auch weil die Regie weiter keine Umstände macht. Noel Fortunat (Bourvil) ist ein einfacher Mann, der wildert, der trinkt und der dem Papagei in der Kneipe beibringt, «Hitler kaka» zu sagen. Seine frühere Lehrerin, Mitglied der Résistance, gibt ihm den Auftrag, eine Mutter und zwei Kinder als deren vermeintlicher Gatte ins «freie» Frankreich zu bringen, und zwar nach Toulouse. Es glückt, im Obergeschoss finden sie eine Wohnung, die sich mit viel Mühe aufs Niveau der gehobenen Mittelschicht einer Juliette Valcourt (Michèle Morgan) bringen lässt. Die jüdische Familie Falk wohnt daneben. Als die Hakenkreuz-Fahne am Mast weht, ist ihr Schicksal besiegelt. Zuvor aber isst man gemeinsam, die Kinder spielen auf der Terrasse, Klavier wird gespielt. Juliette Valcourt schätzt den Gatten als gutherzigen, aber ungebildeten Tölpel ohne Manieren bei Tisch und auch sonst. Da tritt aus heiterem Himmel ein sehr junger und schneidiger Amerikaner ins Bild, mit dem Juliette allzu eng tanzt; Noel, der ihn in Sicherheit bringt, kehrt nach vielen Tagen zurück: Nun sieht sie ihn mit anderen Augen. Pfeifend streichen sie die Terrassentür neu und malen sich Farbe ins Gesicht mit dem Pinsel: Ganz klar, sie hatten Sex. Nach dem Krieg renken sich die Klassenverhältnisse wieder ein und brechen nicht nur Noel Fortunat dabei das Herz. Letztes Bild: Ein Komiker, um den man weint, geht auf der Straße davon. (78cp)

 

The Breaking Point (Michael Curtiz, USA 1950)

Sein Haus (nicht groß), seine Frau (nicht blond), sein Boot (die Sea Queen), sein bester Freund (schwarz), seine Töchter: Harry Morgans Geschäfte gehen nicht gut, aber dann nimmt er einen Mann (reich) und eine Frau (blond) und damit das Unglück an Bord. Das Geld lockt, die Frau verführt, beim Auftrag, asiatische Männer über die Grenze zu schmuggeln, läuft etwas schief. Er verliert sein Boot und als er es wiedererlangt, ist seine Frau blond, ein nächster Auftrag und es kommt noch mehr Unglück an Bord. To have and have not steht nicht drauf auf dem Film, ist aber drin. Ein Mann, der sich zu bewähren hat, der sich und seine Möglichkeiten überschätzt, Hemingway-Existentialismus mit Blicken in die Wohnstube (eng) und ins Glas (Drink) und aufs Meer (weit), Shootout auf offener See. John Garfield in seiner vorletzten Rolle ist dieser stoisch verzweifelte Mann, steckt sich den Revolver in die Hose, im Glauben, es ließe sich alles ein für alle mal regeln. Curitz inszeniert die Überfahrt als Höllenfahrt so gewohnt smooth und dynamisch wie den Überfall auf ein Wettbüro, die Noir-Elemente (wenn nicht Klischees) sind so selbstverständlich im Spiel wie der schwarze Spielkamerad der Kinder. Störend übriggeblieben sind ein paar Voiceover-Monologe, ein Fehler des Drehbuchs; es ist aber auch so, dass es der Inszenierung in ihrer Weltläufigkeit ein wenig an Hemingways tragifiziertem Männer-Jammer gebricht. (Peckinpah hat den Film freilich geliebt.) (71cp)

(10 x Michael Curtiz)

 

16.4. Quai d'Orsay (Bertrand Tavernier, F 2013)

Der Quai d’Orsay ist so wenig der West Wing wie die französische die amerikanische Politik ist. Und Antonin Baudry ist nicht Aron Sorkin, dessen blauäugige ethische Imperative ihm fehlen; wofür er im Gegenzug Erfahrungen hat. Er war tatsächlich im Team des Außenministers Dominique de Villepin (2002-2004), den er in der von ihm verfassten Graphic Novel, die Depardieu verfilmt hat, in der Figur des Alexandre Taillard de Worms karikiert. Mit Vroom betritt der Minister unter fliegenden Blättern die Räume, das Werk Heraklits unterm Arm. Er ist, keine Frage, ein großer Bewunderer seiner selbst. Er verkündet Banalitäten, die er für Weisheiten hält. Lässt sich als Eitler von noch eitleren Schriftsteller-Eminenzen beraten. Manchmal gleitet er, etwa in seiner großen Textmarker-Rede, vollends in den Wahnsinn. Die Palastintrigen ölt Tavernier, dem Tempo der Vorlage folgend, wie geschmiert, die Beraterinnen und Berater bekommen jede und jeder ihr Fett ab; manch einer ist schlicht zu kompetent. Als in sich ruhender Buddha, fast immer schon schlafend, fast immer noch wach, Niels Arestrup als Chef-Berater, fulminant schildkrötenhaft, Splitscreens bebildern seine Vielarmigkeit. Zwei Wunder sind es, spät und ganz am Ende des Films, die den Minister anders beleuchten: Zum einen hat er, ohne Worte zu machen, die Abschiebung einer Familie unterbunden in einem wichtigen Ken-Loach-Nebenarm der Geschichte; zum anderen hält er eine Rede vor dem Sicherheitsrat, sie erhält von den hartgesottenen Politikern (in der Einstellung sieht man tatsächlich keine einzige Frau) standing ovations. Das war, einst, bei Dominique de Villepins Widerstand gegen den Irak-Krieg, realiter so. Es ist schon so, dass einem die Welt der französischen Politik, wie Baudry/Tavernier sie hier zeichnen, hohl und aufgeblasen vorkommen kann, und sicher auch soll. Es könnte aber ebenso sein, diese Vermutung erlaubt sich der Film, dass diese von keinem Selbstzweifel angekränkelte Aufgeblasenheit genau das ist, was die Welt an dieser Stelle erwartet. Und dann setzt das Buch eine Art Wandlungswunder in Szene: Es kommt der Moment, indem das Hohle in eine eigene Form von Substanz übergeht. (73cp)

(Bertrand Tavernier)

 

Die Möwe (Tschechow, Inszenierung: Jürgen Gosch, 2008, Aufzeichnung von 2017)

Die Bühne von Johannes Schütz ähnelt der von Goschs Wanja: Sie bietet keinen Weg, schon gar keinen Ausweg nach hinten, dunkel ist die Wand, und hoch, sie macht den Raum vorne eng. Eine Bank zum Daraufsitzen, später, wenn Nina zurückkehrt, wird sie zum Bett. Diesmal jedoch sind Abgänge möglich nach rechts und nach links, was die Lage etwas entspannt, auch wenn die Spielenden manchmal, wenn nicht oft bleiben, aus dem Spiel genommen, aber nicht ganz. Sie sind, in diesem Off, immer noch ein wenig on. Keine Blicke zur Wand, sondern Übergänge in Zwischenzustände: Nicht ganz die Figur, nicht ganz aus ihr geschlüpft, nicht ganz unbeteiligt, nicht ganz Publikum. Kostüme nur andeutungsweise, Stiefel, ein Kleid, das Kopftuch, aber nicht sehr weit entfernt von alltäglicher Kleidung. Es ist, mit einem Wort, beinahe so, als wäre das ganze ein Durchlauf zur Probe. Wie um das zu beweisen, ist der Übergang vom (durchaus: intensiven) Spiel zum Abgang, der ein Hinsetzen oder auch ein Weiter-Herumstehen sein kann, manchmal abrupt. Es ist kein großes Ding, das Übergehen des Menschen in die Figur; die Darsteller*innen stellen nicht etwas dar, das sie nicht sind, sondern sie geben sich selbst, virtuos natürlich, hinein in die Menschen, die Tschechow zur Sprache gebracht hat. Sie geben sich hinein und sind also noch drin, wenn sie sich, halb-off, halb-abwesend, halb-beteiligt, auf die Bank setzen. Bei Onkel Wanja oft wie abgeschnittene Marionetten: Hier nicht. Was bei allem Heraustreten der jeweils Agierenden, Sprechenden, Spielenden bleibt, ist ein Fluidum des Kollektivs, ein Erproben des gemeinsamen Tuns, auch wenn diesmal die eine (Harfouch) und der andere (Grashof) etwas sehr auf die Tube drückt, was der stärkere komödiantische Akzent des Stücks und der Inszenierung aber auch eher verzeiht. (80cp)

 

15.4. Adauchi/Revenge (Tadashi Imai, J 1964)

Shinpachi Ezaki ist ein Samurai niedrigen Ranges. Seine Tötung eines Höhergestellten in einem illegalen Duell verstößt gegen den Bushido-Code. Die Sache muss aus der Welt geschafft werden, und zwar durch ein legales, öffentliches, von der Institution selbst inszeniertes Duell, dessen Ausgang, als wären wir beim Catchen, vorherbestimmt ist: Ezaki muss sterben, von den sechs Assistenten des Gegners, der ihm den Todesstoß geben muss, unschädlich gemacht. So wird es nicht laufen. Und weit ist bis zu diesem fulminanten Ende der Weg. Bis dahin ist alles: Rückblende und Vorbereitung. Man sieht, was geschah. Man sieht, wie der Zaun um die Stätte des letzten Duells aufgebaut wird. Wie sich die Menge versammelt. Ezaki hat sich zurückgezogen, in ein Kloster. Vertreter der Clans treffen sich, um eine Lösung zu finden. Ziemlich glorios schwarz-weiß sind die Bilder. Statisch, auch wenn Tadashi Imai in die langen Szenen des Sitzens, Redens und Schweigens durch Schnitte maßvolle Perspektivwechsel bringt. Das Format ist so breit, dass viel Zwischenraum bleibt, fürs Betrachten, wenn nicht Versenken. Gegen die Ruhe und Langsamkeit der Vorbereitung gesetzt sind die Gewalt, das Tempo, der rasende Ezaki und die Kamera, die mit ihm die Manege durcheilt. In mehreren Subjektiven verschleiert sich bei seinem Sterben das Bild. Er ist nicht zu retten. Die Verlogenheit des Bushido-Codes aber liegt am Ende offen zutage. (71cp)

 

Heaven (Mieko Kawakami, J 2009, Hörbuch, Sprecher: Scott Keiji Takeda)

Der Ich-Erzähler, ein vierzehnjähriger Junge mit schielendem Auge, hat allen Widerstand aufgegeben. Er wird von seinen Klassenkameraden gemobbt, geschlagen, verhöhnt, er lässt es über sich ergehen. Bis er eines Tages einen Zettel an die Unterseite seines Tischs geklebt findet: Kojima, auch sie ein Opfer der Tyrannen der Klasse, hat ihm geschrieben. Sie treffen sich, selten, sie reden, sie machen einen Ausflug in ein Museum: Kojima zeigt ihm ihr Lieblingsgemälde, sie nennt es Heaven. Sie ist überzeugt, dass alles, auch ihr Leid, einen Sinn haben muss. Die beiden schreiben einander Zettel und Briefe. Er vergleicht sie mit einem Bleistift der Stärke 6B, weich und kaum zu zerbrechen. Der Erzähler stellt bei einer Begegnung an neutralem Ort einen der Nebentyrannen zur Rede, der ihm seine Amoral zynisch entfaltet: Das Dasein ist sinnlos, es gibt keinen Grund, anderes zu tun als das, wonach einem der Sinn steht. Die Solidargemeinschaft mit Kojima ist befristet, sie begreift seine geplante Augenoperation als Verrat. Eine letzte gemeinsame Demütigung festigt nur den Abgrund, der nun auch zwischen ihnen besteht. (65cp)

(International Booker Longlist 2022)

 

14.4. Die Sklavenkönigin (Michael Curtiz/Míhaly Kértesz, Österreich/GB 1924)

Am Ende öffnen sich die Wände des Roten Meeres für das Volk Israel, das so aus der Gefangenschaft in Ägypten entkommt. Wände von riesigen Bauten geben dem Raum Grenzen, zwischen denen die Massen als Ornament stehen oder, gekonnt choreografiert, fluten. Der Außenraum ist Schauraum, gelegentlich gehört auch die Wüste mit Palmen dazu. Die Kamera zeigt das gerne in Totalen, ist aber kein einziges Mal zu einer Form von Bewegung zu bewegen, selbst eine Wand. Ein Historienfilm, enorme Arsenale für die Kostüme hat man vor Augen, fast wirklich noch als die erhabene Illusion, auf die dieses Kino hinauswill. In den Innenräumen eine Liebesgeschichte zwischen dem Buch und Kultur und dann der schönen Israelin Merapi zugeneigten Pharao-Sohn Seti, der auf Befehl seines Vaters (und nach der Vorlage des fruchtbaren Romanciers H. Rider Haggard) die Schwester Userti heiraten musste. Wo so viel historisch Äußeres und nicht weniger seelenlebendig Inneres quillt, müssen zwischen den in sich wuselnden statischen Bildern weitere Stützwände her: Text, viel Text und noch mehr Text, der zuliefern muss, was man in den monumentalen Bildern nicht sieht, und in der Zulieferung doch immer wieder stillstellt, was an äußerer Dynamik mit so großem Aufwand in Bewegung gebracht worden ist. (63cp)

(10 x Michael Curtiz)

 

Hugo van der Goes - Zwischen Schmerz und Seligkeit (Gemäldegalerie Berlin)

An Heiligen und Engeln ist Hugo van der Goes nicht so sehr interessiert: Mariä und Jesu Gesichter sind durchgeistigt, es fehlt ihnen Leben und Ausdruck. Je weiter es nach außen geht in den Gemälden, desto spannender wird es. Die Propheten, die in der Breitleinwand-Szene der Anbetung der Hirten den grünen Vorhang mit den Händen zur Seite halten, einer blickt hinein, einer blickt hinaus aus dem Bild, der Bart läuft zauselig aus, ungebändigt die wenigen Haar. Aufregend die beiden, die von links herbeistürzen, Hals über Kopf, selbst vom Maler, der diesen decisive moment festhält, in ihrem Schwung kaum zu bremsen. Was spricht, sind die Gesichter der Hirten, sind auch ihre Hände, wobei das auch für die Apostel und für die Könige aus dem Morgenland gilt: Wundersam fällt in der Anbetung der Könige auf die zum Herzen erhobene offene, nicht zum Gebet gefaltete Hand des zweiten Königs von links ein auch durch den Mauerdurchbruch rechts hinten nicht wirklich erklärliches überirdisches Licht. Und im dichten Apostel-Gedränge um die entschlafene Maria werden Hände gefaltet, gekrümmt, sie weisen und zeigen, eine liegt auf dem Bett und zwei gefaltete Hände drängen sich, fast wie vom Körper getrennt, von links noch herein. Faszinierend das Ensemble der Kopien und Nachahmungen der Großen Kreuzabnahme, von der nur ein (ins Bräunliche entfärbtes) Fragment des Originals noch existiert. Und doch ist der Ausdruck der männlichen Hintergrundfigur, die auf dem Fragment neben Maria in den Vordergrund rückt, um ein Entscheidendes eigener, weniger entzifferbar in Schwere und Trauer und ungeschlachter Resignation als derselbe Mann in den Kopien. Ein Jammer, dass sich der Rest so sehr ins Dunkel des nicht Überkommenen entzieht wie so viele andere Bilder und Daten des Lebens von Hugo van der Goes, dessen Werk zur biografischen Sensation seines Wahnsinns (den Emile Wauters in einem Gemälde aufs Klischee gebracht hat) keinen Anhaltspunkt gibt. (80cp)

 

13.4. Adua e le compagne (Antonio Pietrangeli, I 1960)

Adua (Simone Signoret) und ihre Partnerinnen geben das Bordell auf, die Kundschaft stellt zum Abschied noch einen großen Kranz vor die Tür. Es geht zur Bank, dann hinaus aufs Land, im Gebäude, das für Aufbruch und Neuanfang steht, ist mehr als genug noch zu tun, bis es zur Eröffnung bereit ist: Das Restaurant trägt Aduas Namen, vom Kloster nebenan kommt ein Bruder, Gäste stellen sich ein, eine der Frauen holt ihr Kind zu sich zurück. Eine Befreiung, aber auch Selbstzweifel sitzen am Tisch. Das Geld reicht nicht, auch andere zentrifugale Kräfte machen sich sogleich ans Werk: in Richtung Ehe und Bürgerlichkeit. Ein Mann taucht auf (Marcello Mastroianni), der Autos verkauft, und mit Adua Absichten hat, mit anderen Frauen hat er sie auch. Der Kredit, den Adua und ihre Freundinnen aufnehmen müssen, hat einen Haken: Der Geldgeber fordert die lukrative Wiederaufnahme von Bordelltätigkeiten im Obergeschoss. Aufbruch, Frauensolidarität bleiben ein Traum, sie haben die Initiative ergriffen, die patriarchale Gesellschaft macht Druck und zwingt sie in die Rollen zurück, die sie hinter sich zu lassen versuchten. Gerne hängt der Film mit den Frauen ab, draußen im Garten, auch in der Küche, baut auf, bewegt sich im leuchtenden Schwarzen und Weißen, in Taglicht und Nachtschatten durch Stadt und Land, durch das erstrahlende neue Haus. Mit bitterer Wucht fährt Pietrangeli den Aufbruch dann gegen die Wand. Ein Schönes war, hieß Adua e le compagne. Und durfte nicht sein. Heftiger Regen, Adua ist zurück auf der Straße. (74cp)

(5 x Antonio Pietrangeli)

 

La grande frousse (Jean-Pierry Mocky, F 1964)

Das Monster geht um, hat sehr schiefe Zähne und sieht aus, wie von einem Trinker gebastelt. Ein Trinker ist durchaus in der kleinen Stadt Barge unterwegs, es ist der geachtete Arzt, der auf geraden Wegen in Schlangenlinien fährt. Nach Barge verschlägt es den Polizisten Triquet (Bourvil), denn hier versteckt sich der Fälscher Mickey, der die Guillotine, die klemmte, mit knapper Not überlebte (es hat stattdessen den Henker erwischt). Triquet ist eine eifrig-naive Bourvil-Figur mit Trencoat und kleinen Sprüngen im Schnitt. Hinter den Fenstern zittern die Menschen, das Monster lauert irgendwo draußen, der Polizist kämmt sich das Haar und gibt der Luft Küsschen, der Bürgermeister lacht ohne Grund und hat einen mächtigen Stuhl, der sich dreht, auf der Wendeltreppe stehen Bedienstete ohne Auftrag und Grund, der Metzger haut eine Hand ab, Würste fliegen, in der Scheune treibt es dieser mit jener, es regnet sehr viel, wenn auch meist lokal sehr begrenzt, auf der Tonspur ist es ohne Unterlass zugig. Alle sind, typisch Mocky, immer etwas neben der Spur, Charaktermasken, zur Dorf-Satire bestellt. Die Demaskierung des Monsters ändert so wenig, wie sonst irgendetwas irgendetwas ändert, der Tod geht um, alles bleibt trotzdem beim Alten. Der Gesuchte wird geschnappt, Triquet/Bourvil springt davon, der Irrsinn ist wieder bei sich. (71cp)

 

12.4. Der Rat der Götter (Kurt Maetzig, DDR 1950)

Im Westen wäre dieser Film nicht denkbar gewesen und wurde entsprechend verboten. Maetzig und Friedrich Wolf (Drehbuch) machen aus der Aufarbeitung des I.G.-Farben-Prozesses einen Film, der von der «Machtergreifung» bis in die damalige Ludwigshafener BASF-Gegenwart reicht. So ehrenwert das Anliegen ist, die ideologische Einsinnigkeit ist schwer zu ertragen. Da steckt die Zigarre im US-amerikanischen Mund, der pafft in verkommener Weise. Wie auch Hitler, es gibt zwischendurch Dokumentarmaterial, hier weniger die Macht ergreift denn als Knecht der Industrie inthronisiert wird, der die Aussicht auf Krieg mehr als recht ist. Der I.G.-Farben-Chef ist die spitzbärtige Karikatur des selbstgerecht Bösen, riesengroß das Bild des Rats der Götter, die im Kapitalismus die Geschicke der Menschen raffend und paffend lenken und leiten. Als Figur mit Gewissen, einsinnig aus Licht und Schatten gebaut, ein Doktor Scholz, der die gute Wissenschaft will und dabei, mitschuldig werden, die bösen Giftgase schafft: Es gibt kein richtiges Wollen im falschen. Scholz ist als einer, der Einsicht entwickelt, Identifikationsfigur für die deutschen Betrachter: Als einziger bekennt er sich im Prozess zur Verantwortung, verweigert, anders als sein Sohn, die Mitwirkung am ungebrochen kriegslüsternen Schaffen. Am Ende fliegt, wie gleichzeitig in der Wirklichkeit der Entstehung des Films, ein Teil des Werks in die Luft, mit Hunderten Toten. Maetzig ist sehr bemüht, das bis zur Lächerlichkeit plakative Drehbuch in Szenen umzusetzen, die den Eindruck von Kino vermitteln. So werden Vordergründe vor Hintergründe gerückt, die Kamera bewegt sich inspiriert durch Räume, in denen die Worte wie Blei zu Boden sinken. Alles ist vom ersten bis zum letzten Wort Propaganda, wähnt sich selbst auf der richtigen und sicheren Seite. So etwas führt sehr zwanglos zu Verblendungen eigener Art. (52cp)

 

Tomb of Sand (Geetanjali Shree, Hörbuch, Sprecherin: Deepti Gupta)

Tür auf, Tür zu, Geschichte einer Familie, in deren Zentrum die achtzigjährige Ma: Sagt sich leicht, aber schon die Sache mit der Tür, mit der der Roman beginnt und dann auch endet, zieht sich über einige Seiten. Erst steht sie, Ma, die Mutter, nach dem Tod ihres Manns nicht mehr auf, dann verschwindet sie, dann wird sie mit Stock zum wishing tree, dann kehrt sie, es wird nun vollends allegorisch hinter die Grenze Pakistans zurück, Gang durch die Wüste, sie wird immer kleiner, die Tochter, die dabei ist, altert umso geschwinder, die Krähe und das Rebhuhn geben ihren Senf dazu, von der Erzählerin ganz zu schweigen, die von Anfang bis Ende über das Garn entrollt, das sie entrollt, und zwar hierhin und dorthin entrolltund zwischendurch spielt sie auch einfach auf der Stelle damit, eine Stimme, die der Geschichte, die sie mehr amplifikations- als abschweifungsfreudig entfaltet, verschiebbare Grenzen setzt. Willkürlich, aber gerade die Unvermeidbarkeit des Willkürlichen ist vielleicht sogar das Zentrum des Ganzen, weil sie ins Wuchernd-Lebendige umschlägt: Think of a story as a living being. So überlässt sie sich immer wieder, was die Übersetzung virtuos wiederholt, der höheren Gewalt des living being der Sprache, folgt Assonanzen und Puns, es ist ein munteres Treiben, aktiv und passiv zugleich, das abruptes Aufhören, Umschwenken oder Neu-Ansetzen, aber keine Stoppregeln kennt. Das ergebt einen Erzählraum, der in alle und aus allen Himmelsrichtungen und Wissensgebiete(n) durchlässig ist, es schwirren Zitate aus Hindi-Filmen (Sholay, nicht zuletzt) und Namen von Autorinnen und Autoren durchs lebende, webende Sprachgebäude, das am Ende so vollgestopft, wie es ist, fast schon kein Resonanzraum mehr ist. Auch drin, neben tausend anderen Dingen: Rosi/Rosa, nonbinäre*r Hijra als Pflegeperson, während Ma selbst ein Zysten-Penis aus der Vagina wächst. Ein Schriftstellerkongress nach der Partition, Gender- und Border-Crossing als Prinzip, fundamental transformativ und erschöpfend. Könnte viel länger sein und wäre besser doch um einiges kürzer. (64cp)

(International Booker Longlist 2022)

 

11.4. Shaft (Gordon Parks, USA 1971)

Who’s the black private dick that’s a sex machine to all the chicks? Natürlich Richard Roundtree mit seinen Koteletten. Der ganze Film ein Aneignungsding: Gordon Parks hat sich den Roman, die Figur des weißen Autors Ernest Tidyman genommen, keine große Literatur, und etwas daraus gemacht, für das der Begriff Blaxploitation dann doch nicht ganz trifft. Es ist, wenn the cat that won’t cop out zu den unveränglichen Klängen von Isaac Hayes in New York unterwegs ist, fast in erster Linie sogar eine Dokumentation des Sich-Bewegens durch die Straßen der frühen siebziger Jahre. Des Herumsitzens in Räumen der Weißen in schluffigen Kleidern mit hängenden Schnäuzern. Vom Detektivroman stammen die Coolness, die Revolver, die Entführungsgeschichte, die grandiose Befreiung mit phallische spritzendem Feuerwehrschlauch; es kommt viel schwarzer Pride und die vermutlich ziemlich authentische Seediness der Stadt, des Mülls und des Sterbens dazu. Elegant gefilmt ist es nicht, durchaus im Widerspruch zu Isaac Hayes’ funkiger Smoothness.  Das eine, das Dokumentarische, ist Gordon Parks’ Ding, das andere, die Genreelemente, ist es eher nicht. So rumpelt das alles gegeneinander, ohne sich ineinander zu fügen. Jedoch rumpelt das Gegenstrebige insgesamt reizvoll. (72cp)

 

Sie tötete in Ekstase (Jesús Franco, BRD/Sp 1971)

Sie tötet, das ist mal sicher, aber in Ekstase, ich weiß ja nicht. Beim Sex in der Tat, mit denen, die sie mit Messer und Schere traktiert, Schwänze schneidet sie ab, das weibliche Opfer wird schick mit einem halbtransparenten aufblasbaren Gummikissen erstickt. Angeknüpft wird der fatale Kontakt über die John-le-Carré-Lektüre: A Small Town in Germany.  Insel, Hochhaus, Tourismus, hinein in den Strand, hinauf auf das Haus von Ricardo Boffil, energische Zoomsso, als könnte man auch mit ihnen irgendwas töten. (Kann man vielleicht auch, nämlich Sinn und Verstand.) Sie, Soledad Miranda, tötet, am Ende vollends verrückt, um ihren Mann, den Embryoforscher Dr. Johnson erst fantasmagorisch dann im Wahnsinn real nekrophil wiederzubeleben (Fred Williams, große Karriere in Fotoromanzen, der Mann, der bürgerlich den schönen Namen Friedrich Wilhelm Löcherer trägt), und sie tötet die Damen und Herren Kollegen, die seine Forschung mit sehr guten Gründen verbieten. Manfred Hübler und Sigi Schwab improvisieren jazznah dazu, Jess Franco spielt selbst mit und bekommt ein Messer tief ins Genick. Als Kommissar ermittelt Horst Tappert mit so hohlen wie tiefsinnigen Sprüchen, die klingen, als ob sie von Herbert Reinecker stammten; hat er für Derrick schon mal geübt. Sleaze ist eine alchemistische Sache. Manchmal kommen die haarsträubenden Ingredienzen magisch zusammen. Und manchmal bleibt das Abstruse auf ziemlich öde Weise abstrus. (55cp)

 

10.4. Holy Lola (Bertrand Tavernier, F 2004)

Géraldine und Pierre fahren nach Kambodscha und wollen ein Kind, Tavernier fährt in das Land und will einen Film. Es ist die Geschichte französischer Paare im Kampf gegen eine korrupte Adoptions-Bürokratie, ganz sicher nach nur zu wahren Fällen geschildert als eine Art Belagerungskrieg, in dem nach Beseitigung der einen Hürde die nächste auftaucht, in dem alle beteiligten Stellen neben den offiziellen Transaktionen unter der Hand noch anderes wollen (und, das wird ebenfalls deutlich, wegen der geringen Gehälter auch brauchen). Es ist gesetzlich geregelt, dass die Waisen (so sie es sind, ganz klar liegt das natürlich nicht immer) aus dem Land in den Westen adoptiert werden dürfen, von der US-Konkurrenz um die Kinder wird die Tatsache, dass es sich um Menschenkauf handelt, der auf einem enormen Wohlstandsgefälle beruht, weniger als von den Franzosen verscheiert: Da sind ganz andere Summen im Spiel. Die Not der kinderlosen Französinnen und Franzosen, die zuhause viele Jahre auf Adoptionschancen warten, ist wiederum groß, zwischen Tragödie und Komödie schwankt die weit in den Bereich des Identifikatorischen reichende Sympathie, die das Drehbuch mit ihnen hat. Alle kambodschanischen Beteiligten sind als mal freundliche, mal verbrecherische Randbedingung gezeichnet, ihr Verhalten ist meist verständlich, auf ihre Seite, in ihre Perspektive zu wechseln unterlässt der Film, wohlwollend gesagt: er belässt es bei Andeutungen, maßt sich den Blick der anderen nicht selbst an, viele Impressionen aus der Stadt und vom Land nimmt er mit, der turbulente Verkehr, Beseitigung von Minen am Rand der Straße, Besuch in der S-21-Gedenkstätte, Rithy Panh spielt auch mit, es ist ein recht reiches Bild. Nur kann Tavernier all das mit keiner anderen Haltung tun als derjenigen von Touristen, die kommen, Abenteuer erleben, etwas nehmen und wieder verschwinden. (73cp)

(Bertrand Tavernier)

 

Wer im Glashaus liebt... (Michael Verhoeven, BRD 1971)

Das Glashaus ist ein Maisonette-Dachgeschoss am Graben mitten in Wien, im richtigen Leben Friedensreich Hundertwassers Atelier. Hier wird es zum Kammerspiel-Ort, später geht es hinaus aufs Dach, ganz am Ende ist Igor (Hartmut Becker), Werbefuzzi mit 38.000 Schilling im Monat, als nackter Mann auf den Straßen der Innenstadt unterwegs und wird von der Polizei abgeführt. Die Bilder (Igor Luther) sind sehr 16 mm. Die Möbel werden am Ende zerhackt, im Küchenschrank ist die Axt, die Menschen sind weniger angezogen als nackt. Igor nämlich, mit seiner Geliebten, Christine (Marianne Blomquist), auf der Couch, es ist heiß, sie ziehen sich aus, alles ist träge, sie reden und reden. Dann klingelt es, das ist Hanna (Senta Berger, sie hat den Film ihres Mannes auch produziert), die die Ehefrau ist. Also Dilemma. Sie reden und reden. Und Hanna und ihr Mann haben auch Sex. Klingt einigermaßen experimentell, was es auch ist, und wäre interessant, wäre das, was sie reden, nicht so prätentiös existentiell und anitkapitalistisch, ein Phrasengebinde, es wirkt im ganz schlechten Sinn improvisiert. Es wird sehr großen und schlichten Gedanken sowie mit einem Revolver gefuchtelt, es ist eine Spielzeugpistole, es sind Spielzeuggedanken. Dreimal Großaufnahmen der Gesichter im freeze frame, es geben die Schauspieler*innen (in der Fiktion) ihren Senf zur Lage der Dinge. Wir müssen unser Leben ändern. Vielleicht Sex mal zu dritt? Der Film ist sehr ein Kind seiner Zeit. Und leider nicht sehr gescheit. (48cp)

 

9.4. Les drageurs (Jean-Pierre Mocky, F 1959)

Ganz Paris ein Pick-up-Paradies. Ein Spiel, zu dem das Übergriffige gehört und die Rollen-Asymmetrie. Er will und sie will, aber er ist es, der die Annäherung sucht; die Frauen, die suchen, sind nur die Professionellen, die sind raus aus dem Spiel. So weit, schwer auch erträglich. Im übrigen jedoch in seiner fundamentalen Unschuld zusehends reizend. Ein Kinderspiel ist das Ganze für einen nicht wirklich erwachsenen Mann wie Freddy, den Aufreißer-König, der alle Tricks kennt und den schüchternen Bankangestellten Joseph (Charles Aznavour) für eine Nacht unter seine Fittiche nimmt. So geht es in Passagen, das Anbändeln fast schon choreografiert wie ein Tanz; es geht in die Bar und es geht mit zwei Schwedinnen nach Montmartre, Freddys Auto muss hinten aufgeklappt werden, damit für mehr als zwei darin Platz ist. Es regnet, dann ist es auch wieder trocken. Man verspricht sich Dinge fürs Leben, sie sind im nächsten Moment, ein paar Tränen oder auch Prügel später, gleich wieder vergessen. So nämlich in der längsten Szene, einem von Verlobter und Verlobtem am selben Ort parallel gefeierten Junggesellenabschied. Davor jedoch sitzt in einem sehr magischen Moment Anouk Aimée mit ihrem kleinen Sohn in der Nacht an einem Tisch. Sie meint es ernst und erst beim Gehen ist ihre Behinderung zu erkennen. Sie geht, Freddy zögert, das wäre nun wirklich eine Sache fürs Leben, hinter der nächsten Ecke hat sie sich in Luft aufgelöst. Freddy fährt solo nach Hause, Joseph dagegen hat eine Krankenschwester gefunden, seine Träume haben, weil sie bescheiden sind, was Reelles. (77cp)

 

Maigrets Memoiren (Georges Simenon, F 1950, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Nun spricht Maigret. Schreibt vielmehr seine Memoiren, um die Dinge, die Simenon schief dargestellt hat, gerade zu rücken. Von der ersten Begegnung mit dem allzu selbstbewussten jungen Sim (so nennt er sich zu Beginn) berichtet Maigret, ein Recherche-Besuch. Dann die ersten Romane, Maigret wird berühmt, es stimmt das eine oder andere nicht, wobei sich Simenon mit der Idee einer tieferen Wahrheit herauszureden versucht: Es muss, der Literatur wegen, die eine oder andere Vereinfachung sein. Maigret, das erzählende Ich, verzichtet dann doch auf die Detail-Korrektur, dabei hat er alle Fehler in den Bänden blau angestrichen. Und das eine oder andere wird doch angesprochen: die Melone, die er schon lang nicht mehr trägt, der Samtkragenmantel, gab es mal, gibt es nicht mehr. Ganz zum Schluss wird von Madame Maigret, die in Simenons Büchern viel biederer erscheint, als sie ist, noch ein Zettel gereicht: Nicht Pflaumenschnaps, sondern Himbeergeist bringt sie immer mit aus dem Elsass. Davor geht der Kommissar die Kino-Maigret-Darsteller durch, Pierre Renoir schätzt er, von den anderen ist der eine zu alt, der andere etwas dick (ein Glück, dass ihm Depardieu erspart blieb), er erinnert sich an seinen Vater, den Schlossverwalter, der viel zu jung starb, an sein Medizinstudium, die Schicksalsflicker-Metapher, die er selbst gefunden hat und nicht Simenon. Es ist, alles in allem, ein sehr bodenständiges, anrührendes Meta, ein Charakterbild, das in sanften Absetzungbewegungen von Simenon (mit dem der Kommissar im richtigen Leben dieser Fiktion befreundet ist) den eigenen Mythos durchs Verweis aufs Reale einerseits erdet, was aber andererseits so wenig out of character ist, dass er ihn in dieser Blickwendung erst recht arrondiert. (80cp)

(Maigret 35)

 

8.4. P.S. (Roland Gräf, DDR 1979)

Peter, der aus einem Kinderheim kommt, geht erwachsen, und nicht erwachsen, hinaus in die Welt. Er lernt Sabine kennen, die ihm gefällt, er gefällt ihr auch, bald hat sie ein Kind. Er weiß davon nicht, denn er lebt schon mit Margot Giese (Jutta Wachowiak) zusammen, die ihm in die Welt, Berlin, hineinhelfen sollte, die eigentlich Opernsängerin ist, fast zwanzig Jahre älter als er, mit nicht mehr ganz kleinem Kind. Peter hat einen Job auf dem Bau, mit einem Auto, das ihm nicht gehörte, hat er Ärger bekommen, mit dem Motorrad fährt er in den Ferien so auf und davon, wie man in der DDR auf und davon fahren kann: Für die Ostsee sind die Wellen am Strand immerhin hoch. Peters Ankunft in der Welt ist holprig, Stöcke und Steine, er trifft auf Verständnis, aber dieses Verständnis ist durchaus begrenzt. Sabine, die Frau, die er zurücklässt, nimmt Tabletten und überlebt. Am Weinbergspark tauchen Männer mit BMW-Motorrädern auf, da ist alles andere nicht mehr so wichtig. Statt «wenn er nicht gestorben ist» gibt es zuletzt einen Strauß Blumen von ferne und, in die Wand zwischen anderes gekritzelt, nur ein P.S. (73cp)

 

Giornata nere per l'ariete (Luigi Bazzoni, I 1971)

Da ist Franco Nero als Reporter, da sind der schönen Frauen recht viele, manchmal nackt, öfter tot, da ist einer, der, gerne auch POV, umgeht mit Händen, die würgen, und Messern, die zustechen wollen, vor allem aber ist der Film ein großes Solo für Vittorio Storaro, den Kameramann, er liegt, selbst im Giallo-Kanon ein Außenseiter, eher unerwartet zwischen den Bertolucci-Kollaborationen Il Conformista und Ultimo Tango a Parigi, ein paar Jahre später dann Apocalypse Now und heute vor allem noch Woody Allen. Von den intimen subjektiven Mördermomenten zu Licht- und Schatteneffekten, mit Lamellen und Jalousien dazwischen, Keilen aus Helligkeit im dunklen Beton, einem verlorenen Menschen im All-Over aus weißen Treppen, dazwischen eine rasende Rennwagenfahrt im vibrierenden Bild, Bewegung durch die Straßen der Stadt zu synchroklappernden Schritten, durch den Park mit raschelnden Blättern, unter der Brücke am See, da ereignet sich der herbeibeobachtete Mord an einer Prostituierten. Dazu vergleichsweise funktionale Morricone-Musik, durch die Abruptheit der Montage ist die Sache schon exzentrisch genug. (69cp)

 

7.4. Solo (Jean-Pierre Mocky, F 1970)

Unter Feuer: Die beste Pariser Gesellschaft, reiche Männer, die es sich mit nackten jungen Frauen gut gehen lassen, werden von jungen Revolutionären mit Salven belegt. Die Polizei in Gestalt zweier Biedermänner kommt einem Virgil auf die Spur, weil der Verfasser die Wörter des Drohbriefs nicht nur aus Le Monde und L’humanité, sondern auch aus dem Anarchistenblatt Fossoyeur (Totengräber) entnahm. Der junge Mann verlässt seine Bude, mit Gewehr im Gepäck. Sein älterer Bruder Vincent (Mocky selbst), der Geiger und Juwelendieb ist, staubt einen Beischlaf bei der vollbusigen Nachbarin ab. Die Dialoge suchen attraktive Mittellagen zwischen Unernst und Ernst, es geht beinahe ernsthaft blutig zu, Georges Moustaki spielt zu allem das immerselbe Gitarrenmotiv, die politischen Phrasen bleiben dagegen in erster Linie Symptom für die mangelnde Seriosität oder auch reale Hilflosigkeit der Linksradikalen. Mocky schlägt sich dabei entschlossen zwischen die Seiten, jagt mancherlei in die Luft, legt die Kamera schräg, filmt eigentümlich wackelnde Fahrten, findet einen Ton der Künstlichkeit, der die Angebote des Genres nicht ausschlägt und das kritische Bewusstsein der Jugend nie vollends denunziert. (72cp)

 

Giù la testa (Sergio Leone, I 1971)

Was John Mallory in die Luft sprengt, setzt die Plansequenz wieder zusammen. In die Fugen wird Ennio Morricones bis zur Debilität wiederholtes Shon Shon Shon hineingespachtelt. Der Attraktionen sind viele, Rod Steigers eindrucksvoller Papa-Koloss von einer Figur, die zu hundert Prozent aus nicht wasserlöslichem method acting und also dem immer sichtbaren Draufgeschafftsein besteht, James Coburns zu wandelnder Coolness mit enormer Sprengkraft verfestigter, seinen Bakunin von sich werfender irischer Ex-Revolutionär. Es wird à la Goya erschossen, die Kamera gleitet über die Höhle der Leichen, bekommt von den toten Augen der Hingeschlachteten niemals genug. Sind so viele Großaufnahmen, Augenschlitze, Kampfgesichter, Vergeblichkeitsblicke. In die Flashbacks in die irische Zeitlupen-Weichzeichner-Revolution gerät aus Versehen sogar eine Frau, das passiert sonst eher nicht, die einzig wahre Liebe ist aber die zwischen dem mexikanischen Mann aus dem Volke, er trägt das Herz auf der Zunge, und dem Intellektuellen aus dem geträumten Europa, er fährt in der Wüste Motorrad. Tod, Liebe, Hoffnung, Freundschaft, Trauer, Revolution: Alles wird hier in Form schockgefrorener Sentimentalitäten verabreicht, deren epische Monumentalität das vom Sinn befreite Shon-Shon zum Glück mit schöner Regelmäßigkeit unterläuft. (67cp)

 

6.4. Un drôle de paroissien (Jean-Pierre Mocky, F 1963)

Verarmt sitzt der Adel ohne Möbel in einst prächtiger Wohnung. Müßiggang ist das Lebensprinzip, Arbeit im engeren Sinn kommt deshalb nicht in Frage. Der Sohn aber hat eine schöne Idee: Warum sich nicht aus den Opferstöcken der vielen Pariser Kirchen bedienen, treuherziger Augenaufschlag des Understatement-Komikers Bourvil, er trägt sein Haar mittelgescheitelt. Er schreitet zur Tat, die Werkzeuge werden verfeinert, eingespeichelte Karamellbonbons erst (Haftkraft!), dann ein batteriebetriebener Kleinstaubsauger, zuletzt werden die Opferstöcke zersägt. Die Polizei beginnt den Hasen zu riechen, ist aber dümmer, als sie selbst es erlaubt, ein Freund, der Zahntechniker ist, wird zum Komplizen, es beginnt ein Räuber-und-Gendarm-Spiel der abgrundtief albernen Art. Verkleidungen und angeklebte Bärte, eins führt zum andern, Mocky folgt in aller inszenatorischen Unschuld (das Portal von Notre-Dame als tapetenartige Rückprojektion) der Logik der Sache, pfeift auf Realismus, lässt das Ganze, sieht man von einer farbigen Traumsequenz mit Polizei-in-Soutanen-Choreografie einmal ab, aber auch nicht ins Surreale entgleiten. Es gleitet, oh ja, sehr durchaus, in den Wahnsinn, der bleibt jedoch hell und von zarter Unschuld, Bourvil geht immer voran und der Film und wir auch gehen mit, bis zum glücklichen Ausgang. (74cp)

 

Your Name (Makoto Shinkai, J 2016)

Ein Komet als Himmelsspektakel, das auf Erden Katastrophen anrichten kann. Beim Unglück ist etwas aus den Fugen geraten, im Traum findet ein Körpertausch statt zwischen der jungen Frau aus der Provinz und dem jungen Mann aus der riesigen Stadt. Er erwacht als sie und betastet, den Witz nehmen wir mit, erstaunt ihre/seine Brüste. Sie erwacht als er und bezirzt mit seiner femininen Seite die begehrte Kollegin. Ihr Vater ist Bürgermeister, aber auf die Politik kann man nicht zählen. Er macht sich in die Provinz auf die Reise, kommt zu spät und findet doch ein Wurmloch, durch das er in der Vergangenheit Schlimmes verhindert. Der Komet steht für Katastrophen anderer Art, Fukushima, Hiroshima, Nagasaki, es ist für Shinkai aber kein Problem, das Enorme mit Pop-Gesang, die Großstadt mit der Provinz, den Alltag mit dem denkbar Außeralltäglichen in Verbindung zu bringen. Eine Verbindung, in der vieles ausgerenkt bleibt, das Märchenhafte und das Reale, das Grauen und die Idyllik stehen im Gesamtbild recht schroff nebeneinander, aber die manchmal durchaus brutalen Unwuchten, die Makoto Shinkai erzeugt und wirken lässt, sind nicht bug, sondern feature der Darstellung einer nicht mehr zusammenzufügenden Welt. (74cp)

 

5.4. Flamingo Road (Michael Curtiz, USA 1949)

Südstaatlich satt wird eine Welt mit Namen Boldon ausgemalt, hingesetzt. Da sitzt, als umfangreiche Verkörperung des abgrundtief Bösen, Sydney Greenstreet als Sheriff Titus Semple im Stuhl auf der Porch und zieht die Fäden. Besonders jämmerlich zappelt an einem von diesen ein Mann, der sich Field nennt (von Fielding), einen albernen Cowboyhut auf dem Kopf trägt und dem Sheriff alles, am Ende sein Unglück, verdankt. Alles gerät aus dem Gleichgewicht des Bösen, als der Zirkus in die Stadt kommt und, als er fluchtartig wieder abreisen muss, eine Frau zurücklässt, die eben noch exotisiert tanzte, nun aber, es ist Joan Crawford, bleibt, Köpfe verdreht, den Machenschaften des Sheriffs widersteht. Den einen Kopf, nämlich Fields, dreht Titus mit Gewalt und mitsamt Cowboyhut wieder zurück, in Richtung zum Scheitern verurteilte Ehe mit einer recht öden Annabelle. Er hat aber die Rechnung ohne den Politiker Dan Reynolds gemacht, der sich Joan Crawford schnappt, die es so ins Anwesen in der Prachtstraße, der Flamingo Road, schafft. Natürlich hat Titus, schon aus Prinzip, etwas dagegen. So weit hat das seine nicht einmal sonderlich zur Übertreibung neigenden melodramatischen Meriten, wird im letzten Viertel aber mit wenig plausiblen Umschwüngen (Joan Crawford kommt, ohnehin etwas maskenstarr, mimisch nicht mehr hinterher) holterdipolter in Richtung Happy End prozessiert. (65cp)

(10 x Michael Curtiz)

 

Le dernier des six (Georges Lacombe, F 1941)

Sechs Männer lungern in einer Wohnung wie in einer Höhle herum; in einer solchen, aber tatsächlichen Höhle, wird die Kriminalgeschichte zuletzt ihre Auflösung finden, der Schurke wird dort demaskiert und versinkt blubbernd, nimmerwieder gesehen. Dazwischen liegt eine Geschichte, die ihre absurde Konstruktion zum Glück durchweg als Grund nimmt, sich selbst als Farce zu begreifen. Die Männer nämlich schließen einen Bund, in alle Welt (es dreht sich der Globus) auszuziehen, um ihr Glück zu suchen, um fünf Jahre später solidarisch zusammenzulegen, was sie haben, der eine mehr, der andere nichts, ganz egal. Dann also, rasche Blende: fünf Jahre später. Einer kommt gar nicht zurück, die anderen werden, es ist ein Dezimationsfilm à la Agatha Christies “And Then There Were None” (es liegt allerdings ein bereits 1930 geschriebener Krimi von Stanislas-André Steeman zugrunde), einer nach dem anderen von einem geheimnisvollen Macintosh-Mann eliminiert. Die Spannung hält sich, weil: Farce, in Grenzen. Dafür legt Pierre Fresnay als Kommissar Wenceslas Voroboevitsch (kurz: Monsieur Wens) recht komische Auftritte hin, seine Wendungen mit “je suis patient, mais…” sind ein running gag als geflügeltes Wort. Außerdem gibt es aus eher fadenscheinigen Gründen Revue-Einlagen, bei denen die Kamera manches von Busby Berkeley gelernt hat: Recht nett anzusehen. Das alles nimmt sich so wenig ernst, dass man es auch nicht ernst nehmen kann. Die Schauwerte sorgen dafür, dass es dann auch nie ernsthaft langweilig wird. (66cp)

(Continental Films 2)

 

The Case of Hana and Alice (Shunji Iwai, J 2015)

taz-dvdesk (77cp)

 

4.4. Le doulos (Jean-Pierre Melville, F 1962)

Zwei amerikanische Schlitten, die man von eher oben beim Einparken sieht, schräg und gerade. Die Juwelen, das Geld, sie werden geraubt, vergraben, die Laterne hält Wacht, sie wechseln Orte und Hände und werden in Taschen gesteckt. Der Hut, er steht für den Polizei-Informanten, hat es in den Titel geschafft, sitzt auf Belmondos Kopf so lange fest, bis er am Ende, letzter Blick in den Spiegel mit Sonnenkranz, letztes Geraderücken zum Tode, anstelle des Kopfes gerollt ist. Der Polizist, der auf dem Revier beim Verhör im Kreis geht, im Kreis, wie die komplizierte Geschichte von Mord und Verrat, Vertrauen und Täuschung, ausgezirkelt, für die unterschiedliche Deutung der Motive sehr offen. Ein Mobile, bei dem erst Serge Reggianis Maurice Faugel ins Zentrum gerückt ist, dann in den Knast und nach hinten verschwindet, es rückt Belmondos Silien, geheimnisvoll, dunkel, mit Hut als Herr der Intrige nach vorne, sitzt im Schatten am Tisch, verschiebt Menschen als Leichen über ein Schachbrett, alles geht Zug für Zug so, wie er es sich ausgedacht hat, zwei bis drei Männer bleiben übrig, weil die Frau aus der Gleichung längst rausgekürzt ist. Bis dann der Regen kommt, der große Regen, in Strömen, die Sintflut, die noch die Überlebenden auslöscht, sie verschwinden wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand. (80cp)

 

Madame Maigrets Freundin (Georges Simenon, F 1950, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Madame Maigret lässt was anbrennen, denn sie kommt aus reinem Zufall vor einem Zahnarztbesuch neben einem zukünftigen Fall ihres Gatten zu sitzen: Eine Frau auf der Bank neben ihr erspäht etwas, eilt davon, lässt das Kind bei Madame Maigret zurück. Die hat auf die Schuhe geachtet und sucht auf eigene Faust später den Hut. Wie das mit dem des Mordes verdächtigen Buchbinder sowie einem schokoladenbraunen Wagen im Wasser mit Leiche darin sowie auch einem blauen Anzug und überdies einem Clown und Juwelen und Siegeln zusammenhängt, wird Monsieur Maigret mit Hilfe der Gattin nach und nach eruieren, abwartend und verhörend wie gehabt, wobei sich am Ende herausstellt, dass ein mit gar nichts sonst zusammenhängender Zeitungsbericht, der ein Foto von ihm und Madame Maigret zeigt, der Anstoß war, worauf ein Dominostein nach den anderen kippte. Am Anfang der Kette: Maigret. Am Ende: Maigret. Als Igel für recht viele Hasen, und nichts hat ihn zwischendurch aus der Fassung gebracht, nicht einmal das angebrannte Mittagessen zuhause. (71cp)

(Maigret 34)

 

Suzume (Makoto Shinkai, J 2022)

taz-Kritik (73cp)

 

3.4. Laissez-passer (Bertrand Tavernier, F 2002)

Durch die Betten, durch die Studios, durch die Landschaft (pedaliter), durch die Besatzung, durch Dick und Dünn, immer con brio, rast fast drei Stunden lang Taverniers Wiederbelebung der Pariser Nazi-Filmfirma Continental. Wobei Wiederbelebung noch zu wenig ist, weil es sich um eine bis zur Schnappatmung gehende, der Bändigung widerstrebende Wiederverlebendigung handelt. Am Irrsten sicher der Ausflug des wegen Grippe fiebernden Helden Jean Vevraive mit Zug, Rad und Flugzeug über den Kanal und wieder zurück, im Ton zwischen Screwball und Slapstick, wie grundsätzlich die Sprunghaftigkeit des Tons das zentrale Charakteristikum ist. Die Continental, die Figuren, alles oder das meiste hat es gegeben: Maurice Tourneur, Richard Pottier, Alfred Greven und natürlich Pierre Bost und Jean Aurenche, die Bertrand Tavernier glühend verehrte und mit denen er noch die Drehbücher zu seinen ersten Spielfilmen schrieb. Laissez-passer ist also Historienfilm als Hommage, ständiger Wider- und Einspruch gegen die gravitas von Nazi-Geschichten, retrospektive Rechtfertigung des Credos der Filme, wie sie die Helden des Films machten: Der Ernst der Lage ist so unbestreitbar, dass die zur Albernheit fähige schwarze Komödie bei hellem Bewusstsein eine legitime Umgangsform ist. Und so fährt die Kamera durchs Gewusel, unten Studio mit knappem Filmmaterial (und fast nichts zu essen), oben Bomben und Flak, hier Drohung mit Zensur, Gefängnis, Lager und Tod, dort Flirt hoch fünf, Akte der résistance in Drehbuch und Fotografie sowie Entwendung der Akten, dann wieder Dreh, ein Denkmal für Jean Devaivre, der den Film noch sah. Die letzten Sätze spricht als Voiceover Tavernier selbst, sagt auch Ich, als bezeugendes Siegel für die (cum grano salis der Nacherfindung) Wahrheit der geschilderten Begebenheiten. (78cp) 

(Bertrand Tavernier)

 

Leichensache Zernik (Helmut Nitzschke, DDR 1972)

Einen Mord bekommt man direkt zu Gesicht, der Mann in der Uniform steigt mit der Frau, die Schwarzhandel zu treiben versucht, in Berlin-Buch aus dem Zug. Im Wald erwürgt er sie, ihr Gesicht wird mit Säure entstellt. Andere Morde fanden, ähnlich ausgeführt, statt. Wir schreiben das Jahr 1948, Berlin ist omnia divisa in partes quatuor, die Sympathien liegen bei den Polizeikräften der SBZ, das versteht sich von selbst. Über die zugrundeliegende wahre Geschichte des Serienmörders Willi Kimmritz (der, anders als im Film, auch ein Vergewaltiger war) kann man lesen, dass gerade die SBZ bei den Ermittlungen eine unrühmliche Rolle gespielt hat, was hier anders aussehen muss. Im Zentrum stehen die Grenzen (sichtbar auf der vielfach ins Bild gerückten Karte), steht das Kompetenzgerangel (bis zur Unübersichtlichkeit), steht die Geschichte des Anfängers Kramm (Alexander Lang, der nachmals berühmte Theaterregisseur), stehen aber auch Ellipsen, die Tempo erzeugen, und stehen, das ist wohl vor allem Wolfgang Kohlhaases Verdienst, die Ränder: kleine Begebenheiten, Manierismen, schnippische, auch schroffe, auch komische Dialoge (von Regisseur Nitzschke, der Assistent war und einsprang, als Gerhard Klein plötzlich verstarb, allerdings mit manchmal allzu viel Druck inszeniert), besonders liebevoll behandelt wird die Tonspur - in der Umgebung ist immer was los, Klopfen und Zwitschern, Geräusche der Stadt und des Landes, das man nicht sieht, aber hört. Reizvolle Mischung also aus Zwischenmenschlichem, das bis ins Verschrobene geht, Mord, Verfolgungsjagd durch die Trümmer, Razzia im Bordell, Nachkriegsnot und Besatzungspolitik. Sehr schillernd und farbig, wenn auch schwarz-weiß. (72cp)

 

2.4. The Scarlet Hour (Michael Curtiz, USA 1956)

Die Femme ist blond und fatal, Carol Ohmart ist es, der ein Immobilienverkäufer verfällt. (Schwer zu glauben, dass ein Klotz wie Tom Tryon auch nur ein Apartment verkauft.) Sie ist die Frau seines Chefs, der bald etwas ahnt. Mit dem Eifersuchtsplot ist ein anderer, selbes Genre, ganz andere Sache, als schöne Verwicklung gekreuzt: Beim Stelldichein am Rande der Straße erfährt das Paar in flagranti von einem Juwelenraub-Plan; und plant den Überfall auf die Diebe - die Frau mit Herkunft aus Armut (sie zeigt dem Geliebten den Ort) will Zukunft in Reichtum, das ist ihr wichtiger als der Mann. Mondän genug ist ihr Leben, im Nachtclub singt Nat «King» Cole. Interessanter als die Haupt- sind Nebenmotive: die tapetengroße Karte der kalifornischen Küste an der Wand des Büros; der riesige Anrufbeantworter, dessen Erase-Schalter rechtzeitig und doch zu spät umgelegt wird. Das Anwesen mit dem Swimming Pool, der ominöse Fremde, der dort und dann auch anderswo auftaucht. Eine Szene im Plattenladen zwischen «Just Jazz» und Popular Music. Verblüffendster Credit: Frank Tashlin ist einer der Drehbuchautoren. Late Noir, Paramount-Produktion, handwerklich sehr gekonntes B-Movie, oder auch ein A-Movie auf der Suche nach dem gewissen Etwas, das dann doch hinter keiner Tür steckt. (67cp)

(10 x Michael Curtiz)

 

Ecologia del delitto (Mario Bava, I 1971)

Wenn dieser Film, der Ur-Slasher, ein Subjekt hat - und nicht nur durchbohrte, gepfählte, gehackte, erdrosselte oder sonstwie vom Leben zum Tode gebrachte Leichenobjekte (13 davon) -, dann ist es der mobilisierte Kamerablick; natürlich steckt Mario Bava selber dahinter, vielmehr darin. Fahrten über die Bucht, wie sie daliegt, und das Gehölz, wie es für diese Fahrten aufgestellt wurde. Aus der Unschärfe in die Schärfe gezogen, Zooms hinein und Zooms hinaus, wieder und wieder, und auf allen Wegen, hinein und hinaus, lauert nicht wirklich Spannung, dafür wird das rasch sowohl zu seriell als auch zu mechanisch, aber es lauert unbedingt: Suggestion. Dieses Subjekt in Bewegung zieht dem Whodunit, das man vermutet, mindestens so sehr den Boden unter den Füßen weg wie die Geschichte von der Naturparadieskauf-Spekulation, die die Bewegungen von Hackebeil, Lanze etcetera sehr behelfsweise motiviert. Und weil dieses Subjekt die Spannung und das Whodunit - hier kann man es wirklich mal sagen: - dekonstruiert, löst sich der Film immer wieder auf in bloßes Rauschen der Bildsuggestion. Dazwischen aber Dialoge und Schauspielerei wie ein Auffahrunfall, da kommt so viel zu Schaden, das machen die schärfsten und spitzesten Äxte und Lanzen nicht wieder heil. (65cp)

 

Jesus Christus in Flandern (Honoré de Balzac, F 1831)

Ein Ich-Erzähler, der für die Verlässlichkeit des Erzählten lieber nicht bürgt. Eine Fähre, die übersetzt von einer Insel in Richtung Ostende, kein Narrenschiff, aber doch Allegorie der ganzen Gesellschaft: Alle sind sie versammelt, die Selbstgerechten und der Bischof von bigotter Statur, die Armen, die Reichen, der Soldat, die junge Frau mit ihrer alten Mutter und die Mutter mit Kind. Außerdem der Steuermann, der Kurs zu halten versucht, als Sturm und Unwetter aufkommen, beinahe gelangt das Schiff auch ans Ufer, und kentert dann doch. Zuletzt: Christus, no less, charismatische Gestalt, dem die, die zu retten und zur Rettung bereit sind, folgen, er geht, und sie hinter ihm, über das aufgewühlte Wasser, während die Sünder, der Bischof besonders, ertrinken. Dieses wundersamen Geschehens wurde durch die Errichtung eines Konvents gedacht, die Fußspuren Christi im Sand waren lange zu sehen, wurden im Zuge der französischen Invasion 1793 anderswohin verbracht. Nun aber - es ist ein Nun kurz nach der 1830er-Revolution, ist der Ich-Erzähler vor Ort, in einer Kathedrale, wo ihm das Skelett einer Frau begegnet und die Kirche sich in einer Art Drogenrausch halluzinatorisch in Bewegung zu setzen beginnt. Die Frau wird schön und vergeht, Christus am Kruzifix blickt den Erzähler mit einer Mischung aus Bösartigkeit und Wohlwollen an, die Säulen und Bögen und die Figuren aus Stein tanzen, dann ruhen sie wieder. Der etwas gewaltsame Schluss aus dieser Vision: «Glaube, sagte ich zu mir, ist Leben! Ich habe soeben den Untergang einer Monarchie erlebt, nun gilt es die Verteidigung der Kirche!» (67cp)

 

1.4. Il magnifico cornuto (Antonio Pietrangeli, I 1964)

Ein geräumiger Film. Souverän und mit geradezu alta-modesker Eleganz bewegt sich die Kamera durch Zimmer und Flure, auf Partys, um Betten, gibt mehr Platz als sie nimmt und fühlt sich ganz wie zuhause, selbst im Hotel, in das sie Andrea Artusi (Ugo Tognazzi), nicht sehr großem Mann mit Hutfabrik, zum Seitensprung folgt. Er ist es, der seine Frau, jung und schön, so jung und schön wie Claudia Cardinale (Kleider und Frisur: sehr variabel), betrügt, den aber die Eifersucht plagt. Er wird zur komischen Figur, wenn nicht tragisch, lauert ihr auf, belauscht heimlich mit dem mobilen Separattelefon ihre Gespräche, rast hinter ihr her durch die leeren Straßen der majestätischen Stadt im gar nicht majestätischen winzigen Alfa, dessen Lenkradschloss ihm an anderer Stelle Probleme bereitet. Macht sich zum Horst vor den Gästen der Party, hat Fantasien, denen die Kamera wiederum mit Begeisterung folgt, unscharf verschleiert im mysteriösen Untergeschoss des Hotels, sehr scharf dagegen der Striptease im Bett, es werden Nummern gezogen, dann Streifen des raffinierten Unterkleids von Maria Grazia gerupft. Allzeit zum kühlen Spott bereit und auf sehr eigenen Pfaden unterwegs dazu die Musik, die Armando Trovajoli komponiert hat, jazzig pfeifend, den komischen Helden aufziehend, wenn nicht trollend. Es endet mit einer Versöhnung, an der alles falsch ist, heiß wird getanzt zu Jimmy Fontana, Andrea ist geheilt von der Krankheit, die nun erst ihre selbsterfüllenden Wirkungen zeitigt. (73cp)

(5 x Antonio Pietrangeli)

 

Seraphita (Honoré de Balzac, F 1834)

Natureingang, schroff sind Norwegens Fjorde, Klippen und Küsten. In diese Gefilde, keine höheren, vielmehr höchste, hat es Balzac verschlagen, hier will er ekstasebereit vom Jenseits berichten. Hinan schon zieht es die liebende Minna mit dem Mann, Seraphitus, der wundersam den eigentlich unbesteigbaren Faltberg mit ihr an der Seite erklimmt. Für Wilfrid, ein heroischer Tunichtgut, der die Weltgeschichte von Indien her aufrollen will, ist das Wunderwesen an Norwegens Küste jedoch kein Mann, sondern eine Frau, als solche will auch er sie für sich gewinnen: Seraphita. Androgyn schillernd ist Seraphitus/Seraphita vor allem eines: unendlich belesen, der menschlichen und göttlichen Weisheiten voll, in jeder Hinsicht nicht ganz von dieser Welt, die es zuletzt per Himmelfahrt und Seelenwerdung hinter sich lässt. Zwischendurch sitzt man, der Handlung ist durchweg nicht viel, beim Pfarrer, es wird, lang und breit, über die Grenzen der Wissenschaft diskutiert, vor allem aber Swedenborgs Theologie ausgeführt, als deren Verkörperung, vielmehr verkörperte Entkörperung, Seraphitus/Seraphita sich erweist. Statuesk und durchsichtig zugleich hindrapiert sind diese Figuren, Allegorien, denen endlos gewundene Bänder der zusammengelesenen Theosophie aus den Mündern flattern und rattern. Am Schluss Apotheose, man sehnt sich sehr nach Paris oder in die Provinz, jedenfalls nach Frankreich und unter die Menschen zurück. (34cp)

 

 

MÄRZ

31.3. Angels With Dirty Faces (Michael Curtiz, USA 1938)

Hinein in eine quirlige Welt, Menschen auf der Straße, auf den Treppen, auf den Balkonen, die Kutschen, die nach dem Zeitsprung von 1920 in die Film-Gegenwart von Automobilen abgelöst sind. Es ist Rocky Sullivans Welt, im Zeitraffer handelt Curtiz ein Verbrechen, dann Knast, dann Verbrechen, dann wieder Knast ab, bis zur Entlassung in die quirlige Welt, in der die Dead End Kids bereits darauf warten, dem Vorbild zu folgen. Klein, energetisch, whaddaya say, whaddaya now, mit viel woise (für worse) im Akzent, strahlend noch, wo er als betrogener Betrüger Humphrey Bogart um die Ecke bringt, weil er muss. Recht verloren steht Ann Sheridan im Bild, die Dead End Kids overacten, als ginge es um ihr Leben (oder als wären sie auf der Bühne), der Film macht Tempo in den statischen Szenen, er eilt mit Schnitten, Blenden, Zeitungsausschnitten voran und gibt dem moralischen Konflikt des Helden zum Tode dann zehn lange Minuten, tatsächlich in der Anstalt von Ossining gedreht. Am Ende ist der wahre Held der, der stark genug ist, durch turning yellow Schwäche zu zeigen, auch und gerade da, wo gar keine ist, spielt dem Priester, der Moral und dem Hays Code in die Karten. Aber verkehrt ist es nicht. (65cp)

(10 x Michael Curtiz)

 

M3GAN (Gerard Johnstone, USA 2022)

Ein Film über Sucht. Die Frage nach der Screentime stellt sich noch kurz vor dem Autounfall. M3GAN erweist sich als das Gerät, das sich nicht mehr weglegen und ausstellen lässt. Ein neuronal teuflisch schnell lernender Chatbot im Körper einer Puppe aus dem Uncanny Valley, dessen Graugans-Prägung auf die erste beste Bezugsperson im Ernstfall der Reprogrammierung nicht widersteht. Nicht unplausibel: Das passiert, wenn die Algorithmen sich per Sinnesperzeption in die Welt einkörpern lassen. Sie scannen und reimen sich, was ihnen widerfährt, im Zweifel egoistisch zusammen. So weit so gar nicht verkehrt. Chef und Hund, Dialoge und Action sind aus der schönen Prämisse dann leider von einer Art ChatGPT ausgedacht, aus Versatzstücken gebastelt, die so vielleicht noch nicht zusammengebaut worden sind, aber alles auf die schlechte Weise vertraut. (43cp)

 

30.3. Glück im Hinterhaus (Herrmann Zschoche, DDR 1980)

Buridans Esel hat es nicht aus dem Titel von Günter de Bruyns Roman in den der Verfilmung (nach Drehbuch von Ulrich Plenzdorf) geschafft. Was es gibt: eine Erzählerstimme, wenngleich recht rudimentär, die von Dingen weiß, die man nicht sieht. Und es gibt natürlich Karl Erp (Dieter Mann), der eine Frau (Jutta Wachowiak) hat und auch zwei Kinder und einen Job als Chef in der Bibliothek, und der sich zur jungen attraktiven Mitarbeiterin hingezogen fühlt, nein, sich zu ihr hindrängt, als gäbe es da ein Recht, das ihm zusteht. Der Frau eröffnet er, ohne Diskussion, dass er sie ohnehin nie geliebt hat, sie balgen, ein letztes Auflodern, am Weihnachtstisch will der Schwiegervater mit ihm über die Mauer argumentieren, wenn Strauß sie gut findet, dann tu ich das auch, meint Erp, dann springt er auf und zieht aus, sein Glück im Hinterhaus zu suchen, wo Fräulein Broder (Ute Lubosch), bis eben Studentin noch, lebt. Und zwar so: mit Außenklo, der Putz platzt von der Wand, der Raum ist knapp, das Mobiliar karg, der Kollege ist entsetzt, als er das sieht. Umgepflügt wird so das Leben, auch der Garten des Hauses, an dem Erp nach dem Auszug keine Rechte mehr hat. Auch stirbt der Vater, da sieht er seine Frau wieder. Es ist die Geschichte von einem, der sich nimmt, was er will, egal, was das für die ihm Nächsten bedeutet. Es ist auch die Geschichte einer Gesellschaft, der die Ordnung wichtig ist auf Kosten der Frau. Immerhin bekommt diese, Bruch den bis dahin geltenden Regeln des Films, das letzte Wort direkt in die Kamera spricht. Es ist jedoch: nicht kämpferisch, sondern resignativ. (71cp)

 

More Than I Love My Life (David Grossman, Israel 2019, Hörbuch, Sprecherin: Gilli Messer)

Das Buch schraubt Erinnerungsbewegungen ineinander. Über Generationen hinweg, Großmutter, Tochter, Enkelin, die Männer in Nebenrollen, nicht degradiert, so ist Vera, die Großmutter, auf Miloš, den Mann, den sie liebte, sie, die Jüdin, ihn, den Serben, auf immer fixiert. Er ist nach der Gefangennahme durch die Anhänger Titos durch Selbstmord gestorben, Vera weigert sich, ihn zu verraten, wodurch sie ins Straflager (auf die Insel Goli Otok) kommt und ihre gerade sechs Jahre alte Tochter Nina verliert. Das macht ihr deren Tochter, Gilli, die die Erzählerin ist, zum Vorwurf, die einerseits durch die Erzählperspektive privilegiert ist, aber auch hier gibt es Brechungsmomente. Schon weil Gili ihr Erinnern im nachhinein immer schon reflektivert, während sie von der Reise, die die Familie (Vera und Nina und Gilli und Rafi, Gilis Vater) in Richtung Vergangenheit unternimmt. Und zwar als buchstäbliche Reise, sie endet in Goli Otok, aber auch als Film, der alles festhalten soll. Der wird am Ende, brutal, zugleich eine Überlebensaktion, vernichtet und durch die Worte der Erzählerin Gili, die in diesen festhält, was der Film in Bildern und Worten festzuhalten versuchte. Motive, die sich, Schraubenbewegungen vorwärts und rückwärts, wiederholen: das Verlassen, Vera, die Nina verließ (und sich dadurch treu blieb, selbstbezogen in der Liebe, die sie nicht aufgeben kann); Nina, die Gilli verließ, die Rafi verließ, sich in ein gestörte Beziehung stürzte und fremden Männern zum anonymen Sex an den Hals warf. Grossman macht daraus keinen Erinnerungsstrom, sondern bei allem Mäandern ein Zusammenfließen einzelner Flüsse, ein In- und Gegeneinander der Positionen, zu dem man sich beim Lesen auch positioniert, aber nie so, dass es sich zur Gewissheit einer einzigen Haltung verfestigt. (75cp)

(International Booker Longlist 2022)

 

29.3. Nigorie (Tadashi Imai, J 1953)

Am Ende der ersten Geschichte verabschiedet sich die junge Frau, die aus einer arrangierten Ehe zurück zu ihrer Familie zu fliehen versucht, von dem Rikscha-Mann, den sie, wie sich herausstellt, seit ihrer Kindheit gekannt hat. Zuvor gehen sie hintereinander her, im Gespräch, Großaufnahmen der Gesichter in Bewegung, sie hinter ihm, dann auf gleicher Höhe. Ein kurzer Flashback in der dritten Geschichte, Oriki, die Protagonistin, erinnert sich an einen demütigenden Moment in ihrer Kindheit, als ihr auf dem Weg nach Hause im Inlet of Muddy Water (so einer der englischen Titel des Films) bei einem Sturz die Schüssel mit dem Raus auf den Boden gefallen ist. Nun, in der Gegenwart, beugt sie sich von etwas links in die Mitte des Bildes, der Mann, mit dem sie im Raum ist, verschwindet hinter ihrem Gesicht, macht den Weg frei für die Rückblenden-Erinnerung, die nun folgt. Tadashi Imai ist kein Formalist, vieles ist pragmatisch, Story-dienlich gefilmt, aber in entscheidenden Momenten inszeniert er äußerst präzise. Drei Geschichten der Meiji-Zeit-Schriftstellerin Ichiyo Higuchi sind hier verfilmt, Geschichten von Frauen, von Armut, die Heldin der zweiten Geschichte leidet unter einer launischen Herrin, stiehlt in höchster Not Geld und hat am Ende doch Glück. Ganz anders Oriki, ein Freudenmädchen, das sich aus seiner Lage herauszuheiraten hofft, am Ende aber von der Vergangenheit mit einem anderen Mann eingeholt wird. Ein Femizid mit Selbdstmord des Mannes. Beinahe lakonisch ist der Fund der Leichen gefilmt, umso tiefer sitzt dieser Schock. (78cp)

 

Konzert Robert Forster (Festaal Kreuzberg, Berlin)

Ein intimer, nicht klar definierter Raum, zunächst noch von einer Art dunkler Irisblende umschlossen: Hier macht die Familie Forster Musik, die Kinder an Bass und Gitarre (wobei Sohn Louis auch Einkaufswagen traktiert), Karin Bäumler, mit nach der Chemotherapie kurzem Haar, am Marimbaphon (oder dergleichen), Robert Forster steht, ohne Instrument, oft nicht einmal singend, in einem Daneben, das ein Drinnen bleibt. Das ist das Video zu She’s a Fighter. Noch familiärer: The Tender Years, ein Erinnerungs-Song, der sich um sie als Paar dreht (I see her through the ages / She’s a book of a thousand pages / That you can thumb /Images of her are vivid /Her beauty has not withered / From her entrance in chapter one), da steht Robert Forster in der Küche und bereitet in zwei Schüsseln ein Müsli, zwischendurch tanzend, so steif-elegant, wie er es eben tut. Kein Wunder also, dass auch auf der Tour alles intim und in der Familie bleibt. Robert Forster an der Gitarre, Sohn Louis sitzend daneben, an Gitarre und E-Bass. Zwei, die aufeinander eingespielt sind, sich blind verstehen, nur einmal geht der Vater nach einem Song zum Sohn, um dann auch dem Publikum zu erklären: Beste Version auf der Tour, endlich haben wir es genau getroffen. Auch sonst immer wieder Ansagen in australischem Deutsch, etwas gewundene Erklärungen zu Songs, viel Deutschlandbezug, auch in der Auswahl der Songs, die langen Fahrten durchs tiefe Bayern auf dem Beifahrersitz, von Geiselhöring nach Dingenskirchen. Wunderbar episch die Version von Danger in the Past, vom in Deutschland entstandenen ersten Solo-Album gleichen Titels, die Hände von der Gitarre, sie müssen die Emotion akzentuieren, oder auch vom Forster-Körper aus hinein ins Publikum kneten. Keine große Gesten, große Gesten sind ohnehin nicht sein Ding, am Ende der Zugabe kommt Surfing Magazines vom Go-Betweens-Reunion-Album Friends of Rachel Worth, da singalongt das middle-age- bis late-midle-agge-Publikum die Da-das gerne mit. Und dann kommt er, das Licht war schon an, sogar noch ein weiteres Mal. (80cp)

 

28.3. Saint Omer (Alice Diop, F 2022)

Kristallklar, reduziert und effektlos sind die Bilder, fast Fotografien, wenn nicht Gemälde, von Claire Mathon. Das Gericht als Raum und Dispositiv, dessen Vorgaben die Einstellungen aber mit größter Insistenz keineswegs folgen. Vielleicht ist der Film das vor allem: eine radikale Re-Installation der vom Recht, aber auch den Konventionen der Gesellschaft vorgegebenen Schnitte. Als Unruheherd wird, selbst unheimlich, ja bis ins Enervierende still, Rama gesetzt, die Autorin, die einen Vortrag über Duras hält (und wie sie den geschorenen Kollaborateuren deren Menschlichkeit wiedererstattet), Rama, die als Stellvertreterin der Regisseurin agiert, aber auch zum Spiegel wird, in dem wir die zentrale Figur, die Kindsmörderin Laurence Coly, zu sehen bekommen. Nur wird alles sehr komplex spekulär dadurch, dass dieser Spiegel keine neutrale Projektionsfläche ist, sondern sich auf seinerseits nicht auslotbare Weise mit der Täterin zu identifizieren beginnt: Auch sie ist schwanger, auch hier ist der Vater ein Weißer, auch sie hat ein schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter. So wird also, aus den Gerichtsprotokollen, der reale Fall der realen Frau, die, hoch eloquent und hoch intelligent, an ihrem Ehrgeiz scheitert, zugleich von Rassismen umstellt ist (flagrant die Philosophie-Professorin, die nicht glaubt, dass Wittgenstein für eine Frau, die aus dem Senegal kommt, das Richtige ist), die tausenduneinmal «Ich weiß es nicht» sagt, und mindestens ebenso oft doch wissen muss, dass sie lügt. Gerade dass sie so selbstbewusst auftritt, so bestimmt, so wie ihrer doch trotz allem gewiss, macht Laurence Coly zu einem einzigen Rätsel. Die Richterin, der Ankläger tragen Deutungen an das kaum erklärliche Geschehen heran. Dann der Auftritt der Verteidigerin, die, als spräche sie hier unvermittelte Wahrheit, direkt in die Kamera blickt und die Angeklagte als Wahnsinnige sieht, eine ins bedenklich Biologistische gehende Theorie der unauflösbaren Bande von Müttern und Töchtern (ja, nur Töchtern) entwickelt als Schimärenbeziehung. Sie löst die Frau aus den Banden des Rechts, was der Film dann auch noch mit einer Art Pieta-Darstellung quittiert. Es fragt sich, ob das als die eine Wahrheit gegen die anderen installiert werden soll. Das wäre dann doch ein zu einfacher Schnitt. Vielleicht geht es aber in erster Linie doch um die Geste eines unbedingten Verstehens, in die sich noch das Eingeständnis des Nichterklärbaren fügt. (75cp)

 

Il Decameron (Pier Paolo Pasolini, I 1971)

Berühmte letzte Worte: Warum ein Kunstwerk schaffen, wenn es doch so viel schöner ist, es nur zu träumen? Sagt sich der Maler, gespielt von Pasolini himself, der in der Tat kurz zuvor ein wunderschön kitschiges Heiligengemälde geträumt hat. Fertig ist aber nun, wie auch, es ist das Ende, der Film, das Gemälde in der Kirche, an dem er, der Maler, Pier Paolo Pasolini, als bindendes Glied der robust frivolen Geschichten, die ganze Zeit hindurch gearbeitet hat. Einmal überkommt ihn beim Essen die Inspiration, es sieht aber aus, als hätte er Dünnschiss. Keine Hundert, nur rund zwei Handvoll Geschichten hat Pasolini narrativ episodisch, atmosphärisch zusammenhängend als Feier des Lebens vor allem der Körper verfilmt, nicht Florenz, sondern meistens Neapel, nicht die vor der Pest geflohenen Reichen sind hier versammelt, sondern die Laien als Volk, Charaktergesichter, schief sind die Zähne, so noch vorhanden, lüstern die Körper, auch die der Greise, sehr sexpositiv kommt einer, der sich zu Tode gevögelt hat, mit froher Botschaft kurz aus dem Jenseits zurück: Es ist gar keine Sünde! Schon springt der Empfänger der Botschaft zur nackten Geliebten ins Bett. Außerdem sind da Nonnen, die sich hintereinander glücklich an einem vergreifen, der es, als er sich als taubstumm verstellte, darauf nun wirklich nicht angelegt hat. Einer bindet einem Paar einen Bären von der Verwandlung der jungen Frau in ein Lastpferd auf, um sie höchstselbst zu besteigen. Eine junge Frau zieht sich zum ersten Sex aus dem Zimmer der Mutter auf die Terrasse zurück, der junge Mann, mit dem sie dort schläft, wird sie zur Frau nehmen müssen. Das kommt den Eltern so recht wie dem Paar, das, in flagranti ertappt, sich sogleich wieder ans nächste Flagranti begibt. Ein Film als Feier der Schönheit, die das Hässliche, das Irdische nicht weniger einbegreift als die Träume des Malers, das Wunder der Kunst. (78cp)

 

27.3. The Fabelmans (Steven Spielberg, USA 2022)

Geschichten davon, was der Film als Aufzeichnung bannt und entdeckt, oder grundsätzlicher noch: dass er eben dies tut, ein Festhalten in zwei Richtungen, ein Unter-die-Decke-Bringen und ein Entdecken. Die Urszene (und für den späteren Filmemacher muss das die erste Urszene sein): das Zugunglück auf der riesigen Leinwand, das Stürzen von Metall über Metall, ein Malmen und Quietschen, das im eigenen Kleinen wiederholt und in der Wiederholung entschärft werden muss (was nicht möglich ist, nicht wirklich möglich, und nicht nur weil der Ton fehlt, das Quietschen und Rattern). Das andere, das Blow-Up-Moment, zweite Urszene, und hier geht es dann wirklich um Sex: Die Mutter, die die Augen falsch aufschlägt, zum falschen Mann hin, ihre Hände in seinen, der Onkel, der keiner ist, offenbart sich als das Gegenteil des besten Freunds seines Vaters, als Konkurrent um die Liebe der Mutter. Soweit recht orthodox Freud, mit der Sublimierung ist das allerdings, und auch das gehört sich so, eine komplizierte Sache. Der Familie wird Film als 24 mal Lüge pro Sekunde präsentiert, heile Welt, heile Familie, heilige Mutter. Und die Mutter bekommt die Sondervorführung im Schrank, Tür zu, Licht an, reine Wahrheit, die ihr zuletzt offenbart, dass sie das falsche Leben nicht zusammenhalten kann, da hilft kein Affe, da hilft kein Klavier, da hilft einfach gar nichts, nur die tabula rasa. Weiter komplizierend dazwischen gerät der Onkel aus Hollywood, von dessen Kunst-ist-das-größere-Herz-in-der-Brust-Ideologie man halten kann, was man will; was auch der Film selber so sieht, denn die Trauer, das Zerreißen des Hemds, daran ist viel, wenn auch nicht alles: Show. (The Greatest Show on Earth oder so.) Aber mit der Show ist es doch ernst, das wird Sam Fabelman lernen, Kunst heißt: Ich muss, es führt kein Weg anderswo hin, und zwar gegen den Willen, aber doch im Namen des Vaters, der ja selbst einer ist, der tun muss, was er muss. Und dann wird, bevor die Karriere des Filmemachers beginnt, noch das Filmemachen, der Antisemitismus und die erste Liebe in einer alle Klischees übersteigende Prom-Variante geknotet, mit einem Film, dessen vom Macher undurchschaute Intention beim Betrachter unerwartete Wirkung zeitigt, verstörend und versöhnend zugleich. Außerdem der größere Plot nebenan: Während die Familie ihre Dramen ausagiert, mit großartigen Nebenrollen in der älteren Generation (Jeannie Berlin!), während die Schwestern nur ferner laufen, revolutioniert der Vater, das läuft ständig mit (aber nur mit) als Computer-, Transistor- und IBM-Mann mal eben die Welt. Das ist vielleicht die Ironie der Geschichte, aber apropos Ironie: David Lynch als John Ford, das ist nicht nur ein Coup und eine Hommage, es ist auch die Krönung dieses Films, der alle Selbstreflexion in Erzählformen gießt, die alles Banale ins individuell Typische aufheben. Ziemlich vollendetes klassisches Kino. (87cp)

 

Punishment Park (Peter Watkins, GB/USA 1971)

Zwei dokumentarische Fiktionen schiebt Peter Watkins in die eine, die dieser Film ist. Eine von beiden ist nur zu realistisch, ein Tribunal, bei dem die konservative Seite der Vereinigten Staaten, alle weiß, das versteht sich von selbst, Gericht hält über junge Dissidenten, weiße und schwarze, bürgerrechtsbewegte, radikale, die auf ihre Rechte als Bürger, auf die Verfassung pochen. Sie sind dabei gefesselt, die Situation ist asymmetrisch, für die eine Seite stehen Freiheit und Leben auf dem Spiel, die andere Seite: nur selbstgerechte Paraden. Das Dokumentieren durch die Kamera ist neutral, auf den ersten Blick jedenfalls. Da ist allerdings der Sprecher, Peter Watkins selbst, der Brite, auch das Team des Films ist (in der Fiktion) wohl von der BBC: Es wird immer klarer, dass sich in einer derart asymmetrischen Situation etwas wie Neutralität nicht aufrechterhalten lässt, ja unmöglich ist. Überdeutlich wird das in der zweiten dokumentarischen Fiktion, als die sich die dystopische Science-Fiction hier maskiert: Es ist die Strafe, die als Alternative zum Gefängnis gewählt werden kann, ein Spiel auf Leben und Tod, der Weg durch die Wüste, die Verurteilten werden von Polizisten bewacht, bedrängt, bedroht - und auch getötet. Einerseits ist das Dokumentarische minutiös treffend, improvisiert von Menschen, die mehr oder weniger ihre Überzeugungen ausagieren; andererseits ist das seinerseits Anklagend-Agitatorische der Watkins-Methode darin gerade so sehr verschleiert, dass sein Rechthaben in der eigenen Form nicht auf Widerstand trifft, ja, treffen kann. Die Karten sind also doppelt und dreifach gezinkt. Der Schein der Wahrheit ist bloße Behauptung. Mit seinen Behauptungen jedoch hatte, und hat Watkins auch mehr als fünfzig Jahre später, wohl nur zu beängstigend recht. (67cp)

 

26.3. Léon Morin, prêtre (Jean-Pierre Melville, F 1961)

Zeit der Besatzung, die Italiener kommen und gehen, die Deutschen kommen und gehen. Barny (Emmanuelle Riva)  hat eine Tochter, der Vater, ein Jude, ist tot, sie schickt sie zu zwei alten Damen, aber ihr Leben dreht sich bald vor allem um einen: Léon Morin, Priester (Jean-Paul Belmondo). Ihm beichtet sie, im Beichtstuhl sind die Gesichter durch die Maschenwand getrennt, die Kamera aber fasst sie in ein gemeinsames Bild. Barny beichtet dem Priester, dass sie die Chefin im Büro der Schule begehrt; es ist nicht die größte und nicht die letzte Sünde, die sie zu begehen begehrt. Wenn sie den Priester, nicht im Beichtstuhl, sondern in ihrer Küche, fragt, ob er sie zur Frau nehmen würde, lägen die Dinge nicht, wie sie liegen, spielt die Montage mit mehrfachen Achsensprüngen verrückt. Nach dem letzten ist sie alleine im Bild. Die Beziehung zwischen den beiden: ein Ringen, um den Glauben, um die Liebe, Barny konvertiert, nicht zur katholischen Kirche, sondern zu Leon Morin, der sie reizt, der sie nicht zurückweist, ein Verführer, bei dem es unklar bleibt, ob ihm das Verführerische seines Körpers und seines Geistes bewusst ist, der Fels, an dem das Begehren der Frauen abprallen muss, aber fast, als suchte er sich diese Herausforderung, ein sehr selbstbewusster und selberdenkender Mann Gottes, ganz von dieser Welt, und doch ganz auf das Andere in ihr fokussiert, einer dem es um Auslegungen des Glaubens geht, der seine Gemeinde ermahnt, nicht zu lange auf den letzten Silben der Worte beim Singen zu verweilen, dafür ist auf Erden zu wenig Zeit. Andere Frauen: Eine, die mit den Deutschen kollaboriert, Barny bleibt mit ihr befreundet, nimmt sie mit zum Priester, derselbe Gang wieder und wieder, die Treppe wendet sich nach oben, die Wand fast ohne Verputz, ein Schrank für die Bücher, ein Tisch für die Gespräche, das Klavier, beim Spiel sind Belmondos Hände nicht zu erkennen, ein dampfende Teekessel steht im Vordergrund. Ein Film, in dem sich der Glaube und die Liebe als existenzielle Kräfte begegnen. Melville inszeniert die Räume als offenes Kraftfeld, in dem das Ungesagte nicht weniger schwer wiegt als das Gesagte (sogar das von Barny als Erzählerin aus dem Nachher Gesagte). Kurze Schwarzblenden beruhigen, aber so kurz, dass die widerstreitenden Kräfte niemals erlöschen. Sie tun es am Ende, beinahe sinkt Barny, der Ohnmacht nahe, zu Boden. (83cp)

 

Severino (Claus Dobberke, DDR 1978)

Gojko Mitic ist Severino, der zu seiner Indianer-Ethnie in den Anden zurückkehrt. El condor pasa, oben am Himmel, Severinos Vater ist gestorben, angeblich auf der Suche nach dem Kondor-Pass in den Bergen. Das sind die schönsten Szenen des Films, wenn der Sohn sich auf seine Spuren begibt, der See in den Bergen, abgenagte Knochen, haufenweise, getöteter Rinder, der Schnee auf den Gipfeln Rumäniens, das hier Argentinien gibt, als Knochensäge fährt immer wieder ein in den Geist von Disco gebettetes E-Gitarren-Motiv unter die Bilder. Severino kommt aus den Vereinigten Staaten, hat Geld dabei für eine Pfirsichplantage, gerät aber nun unter den Streit zwischen Indianern und weißen Siedlern. Nicholas, der Häuptling, beharrt auf dem Kampf gegen den Weißen; Weiße sind es, die Rinder stehlen und den Verdacht auf die Indianer lenken. Viertelliter heißt der großzügige Betreiber einer Kneipe (es ist kein Saloon). Severino ist ein Mann der wenigen Worte, nur im Notfall der Fäuste, aber auch einen Wachswalzen-Phonographen bekommt er schnell repariert. Er fügt sich in die bis zur Gemächlichkeit ruhig atmenden Landschaftsaufnahmen, er wird zum Medium der Vermittlung und Friedfertigkeit. Das Alte muss sterben, der Mann, der auszog und zurückgekehrt ist, wird bleiben, um den immer neu auszuhandelnden Frieden zu wahren. (61cp)

 

25.3. Let's Scare Jessica to Death (John D. Hancock, USA 1971)

Im Nebel liegt das prächtige Haus, in das die Frau und die zwei Männer nun ziehen. Es liegt auch in Hick-Country, die alten Männer an der Kreuzung Maple und Main wünschen die hippiesken jungen Leute zum Teufel. Still liegt nicht fern vom Haus mit seinem Obstgarten der See, hic jedoch sunt nicht leones, aber vielleicht doch Leichen und/oder Geister und/oder Vampire. Vielleicht aber auch nicht, denn Jessica, mit der wir die Geister sehen und auch die Leichen und am Ende Vampire, war in der Psychiatrie, nun geht es ihr wieder gut; womöglich auch nicht. Der Horror kommt als Maulwurf daher (eine Rolle, in der eine Feldmaus nur bedingt überzeugt), als alter Provinzmann, als Wiedergängerin einer hundert Jahre zuvor gestorbenen Frau, als Frottage-Bild von Gräbern, kurzum: Es sind der Andeutungen viele, der Komponist arbeitet hart am Schrecken, der sich schon auch gerade darum nicht recht einstellen will. Bleiben dokumentarische Bilder von Dorf und Natur und Connecticut im öfter sonnigen als nebligen Herbst. (57cp)

 

Paradais (Fernanda Melchor, Mexiko 2021, Übersetzung: Sophie Hughes, Hörbuch, Sprecherin: Fabiola Stevenson)

Paradise, Pa-ra-dais, nicht Pa-ra-dee-sey, ist der Name der Gated Community, in der der so belehrte Polo als Gärtner arbeitet, wobei er den mickrigen Lohn an seine Mutter abdrücken muss. Sein Cousin Milton ist Gangster, hat sich den Ausweg aus dem Armutselend ins Drogenelend gesucht, seine Cousine ist schwanger, womöglich von ihm, aber es kommen auch sehr viele andere Männer infrage, sein bester Kumpel ist Franco, ein dicker, pickliger, reicher, hässlicher, pornosüchtiger junger Mann, el gordo, fatboy ist Polos Name für ihn, der sich eine der reichen Frauen, die mit einem Fernsehmoderator verheiratet ist, zum Objekt seiner schmutzigen Fantasien erwählt. Er zählt Polo mit rein, in diese Fantasien, und Fernanda Melchor zieht uns da mit rein, gnadenlose Subjektive, erlebte Rede, erlebte Gedanken, erlebter Dreck und am Ende wird auch das Blutbad, auf das alles zulaufen muss, durch Polos Augen erlebt. Ganz frei von Elends- und Verkommenheitspornografie als Ungleichheitsallegorie ist das nicht, was nicht heißen soll, dass sich Fernanda Melchor das weit abseits des Realen ausgedacht hat. (67cp)

(International Booker Longlist 2022)

 

24.3. Romance on the High Seas (Michael Curtiz, USA 1948)

Alles wird hier solange verwechselt, bis New York am Zuckerhut liegt. Bis die Frau, die nicht singen kann, in Rio alle mit ihrer Stimme und Performance bezirzt. Der Mann, der die Falsche geliebt hat, wird mit der Richtigen glücklich. Zwei Männer an der Bar werden sturzbesoffen vom Alkohol, den sie nicht trinken. So geht das zu. Zu Lande, auf dem Wasser und in der Luft. Auch Türen gehören zum Verwechslungsboulevard, eine geht links zum Aufzug hinein, einer kommt rechts aus dem Aufzug heraus. Im Bett liegt diese und jener. Misstrauen bringt alles in Gang, Busby Berkeley bringt es mit recht unspektakulärer Eleganz immer mal wieder zum Stillstand, die Musik will Nummern, die sich mehr oder weniger fügen. Sonst regiert der Unfug anderer Art, Innuendo und Sarkasmus, Oscar Levant wieder der, der am Klavier unglücklich liebt, es ist aber, wie alles hier, keine ernst zu nehmende Sache; der Detektiv, der sich beim Job in die Blondine verguckt, die die Regeln der gehobenen Gesellschaft so wenig beherrscht wie er selbst. Und so turteln sie, overdressed und overtipped, Doris Day besitzt die Magie forscher Naivität, die sich in aller Unschuld nimmt, was sie bekommt und es, genau so, am Ende natürlich verdient, so leben sie denn happily ever after. (81cp)

(10 x Michael Curtiz)

 

Kennen Sie Urban? (Ingrid Reschke, DDR 1971)

Hoffi war anderthalb Jahre im Bau, weil er einem älteren Herren, der der Clique mit ihrer lauten Musik dumm kam, den Kopf schmerzhaft verdreht. Nun Berlin-Verbot, er zieht mit seiner Keule, also dem jüngeren Bruder, auf der Suche nach einem Job von einer Großbaustelle zur andern. Und zwar auf der Suche nach einem Vermessungsingenieur namens Urban (Manfred Karge), den er im Krankenhaus kennengelernt hat, wo der ihm Geschichten aus Algerien erzählte. Das ist in Rückblenden zu sehen. In der Gegenwart wird hingegen Gila (Jenny Gröllmann) ins Auge gefasst. Die arbeitet hier, es wird sich verliebt, nach der Aufhebung des Berlin-Verbots sind sie in Berlin, Gila wird schwanger, es wird Wohnung gesucht, es wird Wohnung gefunden, Umzug, Party, alles immer in Breitleinwand und schwarz-weiß, nach wahren Geschichten von Gisela Karau, Ulrich Plenzdorf hat mit Regisseurin Ingrid Reschke das Drehbuch geschrieben, die Musik von Rudi Werion (einem der erfolgreichsten Schlagerkomponisten der DDR) ist hier eher in Richtung Krautrock orientiert. Das ist in der Nähe dessen, was im Westen ein Gammler-Film wäre, es werden Sprüche geklopft, wenngleich nicht sonderlich lässig, wie überhaupt immerzu weniger angeleiert als abgewürgt wird, die Zukunft ist nicht sonderlich offen, Zirkus für Keule, Militärdienst für Hoffi. Große Sprünge werden keine gemacht, Urban taucht tatsächlich noch einmal auf, und ist schon wieder weg. (68cp)

 

23.3. Süden (Julien Green, Regie: Andrea Breth, Schauspielhaus Bochum 1987, Nachtkritik-Stream)

Südstaatenatmosphäre: Sie baden Ihre Sinne darin. Für die Ohren gibt es erst, von ferne her, Kirchenmusik, dann ein Zirpen und Quaken zu getragenen Klängen, alles durch die geöffneten Terrassentüren hinein, in den Salon das Anwesens in der Plantage Bonaventura. Es ist durch und durch Vorkrieg, unmittelbar steht der Ausbruch bevor, alles, die Worte, die Körper, sind schwanger mit der Erwartung dessen, was kommt. Wer hier aufeinandertrifft: Ein Mann aus Polen, ein Leutnant, der Uniform trägt, Objekt der Begierde, Subjekt aber auch, sein Name ist Ian Wizcewski, schlank, ja hager steht er im Raum, Wolfgang Michael als Statue eines Mannes, der überall fremd ist, des Mannes, der so unglücklich liebt, dass er ins Unglück verliebt scheint, und in den Tod. Da ist Regina, die die Sklaverei und den Süden verachtet, den Kirchengang auch, also das Milieu, in dem sie lebt, die Familie, aus der sie kommt, die den Leutnant will, so wie Angelina, ihre Schwester, es auf einen anderen abgesehen hat, Eric Mac Clure. Vielleicht ist es auch komplizierter, denn zwar wird sehr viel geredet, aber keineswegs nur geradeheraus, Körper stehen herum, aus deren Mündern Andeutungen fallen. Und zwar fallen sie höchst kontrolliert: Das Stehen, das Setzen, das Abwenden, das An-die-Wand-Schmiegen, das Sitzen im Stuhl, das Zu-Boden-Rutschen, wenn Wiczewski ihn schaukelt, alles ist ganz genau choreografiert, in der vibrierenden Atmosphäre zur Scheinlebendigkeit balsamiert. Jede Geste sitzt hier und jedes Wort auch, es ist Tag, es wird Nacht, der Salon ist leer, man sieht einen im Hintergrund lauern, der Krieg lauert auch, muss sich im sinnlosen Duell der Männer entladen. Es ist eine Art Tschechow im Süden, die schwarzen Figuren (das N-Wort wurde nach Protesten aus dem Stücktext getilgt) existieren am Rand, es sind die Weißen, um deren standesgemäße Seelenzergliederung es hier vor einem ins Existenzielle entschärften politischen Hintergrund geht. (76cp)

 

Love in the Big City (Sang Young Park, Südkorea 2019, übers. Anton Hur, Sprecher: Daniel K. Isaac)

Der Ich-Erzähler hat den Namen und manches andere mit dem Autor, Sang Young Park, gemeinsam: Recht jung, hat französische Literatur studiert und mit einem ersten Band mit Erzählungen reüssiert. Young, der Erzähler, ist schwul und berichtet, ausgehend von einer Highschool-Reunion, dann chronologisch vor und zurück, von sich und vor allem den Menschen, mit denen er Beziehungen hat. Da ist die Mutter, ein mehr als kompliziertes Verhältnis, die an Krebs erkrankt, geheilt scheint, dann liegt sie im Sterben. Da ist die beste Freundin Jaehee, mit der er zusammenzieht und sich über die Männer lustig machen kann, mit denen sie jeweils was haben. (Bis sie heiratet, da ist Schluss mit lustig.) Und dann vor allem die Männer: der eine aus der Provinz, mit dem er zusammenlebt, nur mit dem Sex ist es schwierig, denn Young hat HIV und mit Kondom kriegt der Freund keinen hoch. Da ist ein großer Mann, zum Glück nicht begabt. Da sind ungezählte Tinder-One-oder-ein-paar-Nächte-Stands, unter denen Habibi der Protagonist des letzten Teils ist, wenngleich sich die Erinnerung an einen vorherigen Bangkok-Besuch mit der großen Liebe seines Lebens, die und den er im Erzählen wiederzubeleben, heraufzubeschwören zu rekonstruieren versucht. Was, natürlich, nur scheitern kann, noch da, wo es für Momente gelingt. (68cp)

(International Booker Longlist 2022)

 

22.3. Female (Michael Curtiz, William A. Wellman, USA 1933)

Im Draußenfilm vor dem Fenster hinter dem Chefinnentisch qualmt es aus Schornsteinen, meist mehr, manchmal weniger schwarz: Dies ist, immer präsent, die Autofabrik, in die wir qua Montage (von Wagen, von Film) gleich in den ersten Bildern eingeführt wurden. Am Schreibtisch vor dem Fenster und in der Runde der Management-Männer sitzt: Ruth Chatterton als Alison Drake. Strikt professionell im Büro, Männer, die ihr gefallen, lädt sie abends ins Anwesen (im Außenbereich ist das in Frank Lloyd Wrights Ennis House gedreht), das über alle Schikanen verfügt, Bibliothek, Swimming Pool, Hausorgel, alle per Knopfdruck übermittelten Befehle erwartende und ausführende Männer. Die eine Sphäre, der Arbeit, ist ohnehin männlich kodiert, aber auch im Privaten ist die Frau, die sich die Männer nach ihrem Gusto als Gigolos holt, nicht weiblich genug. Am Schießstand als Ort der Exterritorialität gerät sie an einen Mann, der erst nicht weiß, wer sie ist, und sie darum als Frau zu nehmen versteht, während er, als er es weiß, trotz reichlich Wodka gegen die Rollenverkehrung (sie aktiv, er passiv) Widerstand leistet. Am Ende rast sie, aktiv genug, ihm hinterher, um sich, ihren Kopf und ihr Begehren und überhaupt ihren Körper auf den Beifahrersitz zu verfügen, auf den sie, selbstbewusst und von der Konvention doch kujoniert, auch in einem gar nicht braven Pre-Code-Film wie diesem zuletzt gehört. (73cp)

(10 x Michael Curtiz)

 

Macbeth (Roman Polanski, USA/GB 1971)

Da sind die blutigen Szenen, natürlich, gerne biografisch gedeutet, alles vor Augen geführt, noch das, was Shakespeare im Off lässt: der Tod von Duncan, von Macduffs Frau und Kind, die brutale Verwüstung von Körpern und Seelen. Das alles auf die breite Leinwand gemalt, der Wald von Birnam macht sich auf und quert die Hügel von Haughterslaw, sonst aber viel abgelegenes Wales. Intimer jedoch ward der Text von Macbeth (oder überhaupt Shakespeare) selten gesprochen, nie deklamiert, mehr agil als aufdringlich rückt die Handkamera nah ans Geschehen, das manchmal Getümmel ist, ein Dolchstoß, die Schlafwandelszene, das Blut, das sich nicht mehr abwaschen lässt, flackernd und dunkel, durchtränkt von natürlichem Licht und den ihm eigenen Schatten. Vor allem aber ist es immer die Sprache, die sich mit den von der Kamera geschaffenen Innenräumen verbindet, die sich ins Fluidum aus Atmosphäre und Körper fügt, als wäre es ganz natürlich, dass Menschen, und sei es in ferner Zeit, jemals so sprechen. Die Hexenversammlung, die sichtbaren Geister, die Macbeth nach seiner Tat halluziniert: Auch das sind Innenspektakel, Horrorfilm-Szenen, die die Shakespeare-Verfilmung wie Blut und Sprache in ihrem intimen Breitleinwand-Atmosphären gebiert. (78cp)

 

21.3. Die Architekten (Peter Kahane, DDR 1990)

Die Wohnblocks im Plattenbau bei Regen, bei Nacht, schön sind sie nie. Hier wohnt der Architekt Daniel Brenner (Kurt Naumann), der als hoch begabt gilt, aber er hat mit beinahe vierzig noch nichts als Trafohäuschen und Bushaltestellen entworfen. Das ist, weil die Verhältnisse sind, wie sie sind: Es ist die DDR in ihren letzten Zügen, noch steht die Mauer, noch glaubt hier keiner, dass sie jemals fällt. Sie fiel dann während des Drehs, der Film, 1988 geschrieben, von 1989 bis 1990 gedreht, wurde von den Ereignissen überrannt. Mit dem Wiedersehen von Vater und Tochter über die Mauer hinweg sollte der Film hoffnungsvoll enden; nun aber stürzt Brenner betrunken zu Boden auf dem Baugrund, für den er mit seinem Team eine Zukunft entwarf. In diesem Entwurf, in der Gruppe des Jungkollektivs, das so jung nicht mehr ist, wird sich an ihrem Ende die DDR und womöglich die DEFA vollends allegorisch: Etwas soll aufgebaut werden, das nicht Typus und Schema, sondern kreativ, anders und lebenswert ist. Nur sind da all jene, die von Anfang an nicht mitmachen wollen, in ihre Nische hinein resigniert; ist da die Ehefrau, die in der Platte versauert und kein Projekt mehr hat und keines mehr sieht in diesem Land, an dem sie mitwirken wollte; ist da eine Bürokratie, deren böser Wille sich als Beharren auf dem Herkommen manifestiert. Es ist von der Stasi die Rede, es ist die Mauer zu sehen, ein DEFA-Film, der die Karten auf den Tisch zu legen versucht, aber dann war der Tisch selbst schon nicht mehr da. (74cp)

 

Cursed Rabbit (Bora Chung, Korea 2022, Übersetzer: Anton Hur, Hörbuch, Sprecherin: Greta Jung)

Der Kopf aus Fäkalien, der aus der Kloschüssel lugt, der spricht, der zur lebendigen Gestalt heranwächst und am Ende die Erzählerin in der Welt zu ersetzen verlangt; der Mann, der aus den Wunden erst eines Fuchses, dann auch von Menschen Gold zu schürfen beginnt; das junge Monster, das von einem kahlen Mann zu Kämpfen mit anderen Monstern gedrängt wird und mit Narben bald ganz übersät ist; das Ehepaar, in dessen Haus eine Ein-Mann-Firma einzieht, in deren Machenschaften der Mann verwickelt ist, wie überhaupt grundsätzlich etwas nicht stimmt; der Mann in Polen, der sich fesseln lässt, nicht nur beim Sex, um etwas wie Leben zu spüren, der, wie die Ich-Erzählerin erfährt, Nachkomme eines KZ-Überlebenden ist. In allen Erzählungen gibt es Verschiebungen des Wirklichen in Richtung Sprung in der Schüssel, finster komisch, manchmal auch nicht. Ein Hinaussetzen aus dem Erkennbaren in dunklere Gründe, märchenhaft, science-fiction-haft, verwunschen-unheimlich-fantasmagorisch in der Bruno-Schulz-Tradition, den die Slavistin Bora Chung zu ihren Vorbildern zählt. Ein Gleiten vom Alltäglichen in seiner Banalität in Darunter, Daneben, Darüber, in dem etwas wiederkehrt, zu verschwinden sich weigert, in dem das Entsetzliche lauert, wispert und spricht, als Mal und als Trauma. Nie ist der Bezug zum Realen eskapistisch gekappt, der gewonnene Spielraum ist voll dunkler Spiegel, in denen sich Wirklichkeit, und vor allem die Wirklichkeit von Ehefrauen und Müttern so fürchterlich transformiert zeigt, wie sie sich oft realiter anfühlt: Entsprechung des alltäglichen Lebens. (74cp)

(International Booker Longlist 2022)

 

20.3. The Kennel Murder Case (Michael Curtiz, USA 1933)

Die Kamera und die Fassade des Hauses, sichtlich Modell, haben gleich mal was miteinander: Hinter einem der Fenster kommt einer zu Tode, die Sache ist verwickelt, auch wenn sie zunächst nach Selbstmord aussehen mag. Philo Vance weiß es besser, und weil er der Detektiv ist, den sich S.S. van Dine ausgedacht hat, muss es sich, das ist dessen Spezialität, ein locked room mystery sein. William Powell ist mit vertraut sympathischer Süffisanz Vance, hat leider keine Myrna Loy an seiner Seite, ein schwarzer Terrier ist nicht wirklich Ersatz. Als immerhin recht dicker Mann darf Eugene Pallette weniger smart sein als Vance, der gegen Ende an einem Architekturmodell vorführt, wie sich, was sich abgespielt hat, abgespielt hat. Es ist kompliziert, er nimmt die Stockwerke ab, hier eine Tür, da eine Verbindung, dieses Fenster und jene Lage im Raum. Ein chinesischer Koch, der ein Porzellan-Kenner ist, gerät in Verdacht, aber gerade dieser Verdacht wird des rassistischen Untertons überführt. Dann sind da ein weiterer Hund, die eine und die andere Dame, ein Dolch, die Auflösung des Locked-Room-Rätsels am nicht ganz seidenen Faden. Außerdem eine Leiche, die noch aus eigener Kraft die Treppe hinaufsteigt und das Fenster schließt. Michael Curtiz tut mit Reißschwenks synthetisch, die zusammenführen, was nicht zusammengehört, und er tut analytisch mit Blenden aller Art, die die Bilder trennen, die sie verbinden; noch dazu wird der Kamera in der Auflösung schwindelig subjektiv, aber das eine wie das andere und auch das dritte ist vor allem dazu gemacht, Tempo ist eine verwickelte Geschichte zu bringen, die andererseits durch mehr als eine Verdachtsmoment-Diskussions-Stehkonferenz ausgebremst wird. Der wahre Hergang ist wirklich enorm ausgetüftelt, Curtiz tüftelt mit Kamera und Montage hinterher, weil man bei einer Geschichte, die nicht ernst zu nehmen ist, doch mit dem Nicht-Ernstnehmen ernst machen kann. (73cp)

(10 x Michael Curtiz)

 

Liebe mit 16 (Herrmann Zschoche, DDR 1974)

Liebe mit 16, und dann in Schwerin. Fast schon in der Tram, dann in der Tanzstunde finden Ina und Matti zusammen, der Lehrer (Herbert Köfer) gibt den entzückend schmierigen Conférencier. Einerseits klar, dass es um Paarbildung geht - auf dem Abschlussball werden stolz die Verlobten (ein anderes Paar) mit roten Rosen bedacht -, andererseits werden die beiden, Ina wie Matti, von den Eltern mit Skepsis beäugt, mit Herumreden um den ersten Sex so sinnlos bedruckst, dass sie, als es in der Hütte am See schließlich wirklich passiert, aufs Kondom verzichten, so dass nun wirklich die Schwangerschaft droht, die alle die ganze Zeit fürchten. Zwischendurch ist Matti bei der Ferienarbeit in der LPG schon mal mindestens kussweise ausgebüxt, und Ina stellt fest, dass der Sex ihr so gar keinen Spaß macht, jedenfalls nicht mit diesem jungen Mann, dem keiner was beigebracht hat. Stattdessen schon lieber Schwimmenlernen mit 16, im See, in Schwerin. Häusliche Szenen mit Bügeln und ungelenken Erziehungsversuchen, ländliche Szenen mit der FDJ draußen im Land, schulische Szenen zur Frage des Unterschieds zwischen Rebellion und Revolution (Rebellieren ist dagegen sein, Revolution ist, wenn man weiß, wie man es besser macht), im Hintergrund wird Solidarität mit Chile gefordert, es läuft am See und in der Tanzstunde sowieso viel mehr oder weniger schmissige Schlagermusik, es fahren Schiffe auf dem See in der Stadt, die Tram ruckelt, der Impressionismus des Ganzen passt nicht so richtig zur Nachsynchronisation, andererseits ist das schon alles dufte, lässig und schön. (73cp)

 

19.3. My Reputation (Curtis Bernhardt, USA 1946)

Die Mutter trägt schwarz, viele Jahre nach dem Tod ihres Mannes. Jessica Drummond (Barbara Stanwyck), die Tochter, fährt Ski am Lake Tahoe, da ist ihr Mann, der lange krank war, noch nicht lange tot. Der Ski bricht, da wedelt, Spuren ziehend im Neuschnee, ein Mann heran: Major Scott Landis, er ist auf Urlaub vom Kriegsdienst. Sie schlingt die Arme um ihn als Ski-Mitfahrerin, sie greift nach dem Hut, Sturz, Skibruch, auf diese erste folgt weitere Annäherung. Da ist ein Mann, den sie heiraten könnte. Sie liebt ihn nicht. Das ist die Mutter, die die Konventionen der Gesellschaft vertritt und im Lebemann Landis den «scallywag» sieht, der er ist. Genau dieser «scallywag» ist es, den Jessica will, wohl wissend, dass die Gesellschaft es nicht gerne sieht. So entzieht sie sich seiner Annäherung, und steht bald darauf vor seiner Tür. Und geht hinein, Blick in einen Raum, in dem ein (ungemachtes) Doppelbett steht. Da fährt ihr und dem production code der Schreck in die Glieder. Es folgt elegantestes Pendeln, halb sinkt sie hin, halb schafft sie wieder Distanz. Aussprache mit den Teenager-Söhnen, die in einer Parallelaktion erste, unschuldige Liebesbeziehungen proben. Einschreitende, verbietende Kräfte auch sie, im Namen des Vaters, gegen das lose Wollen der Mutter, die für die lose Bindung (also, unaussprechbar: Sex ohne Ehe) an den Major zu kämpfen versucht. Sinnbild der Sorgfalt, mit der Bernhardt inszeniert: Ihre Erklärung vor den Söhnen, die beiden hinten zur Rechten und zu Linken im Licht, während sie vorne frontal am Tisch ganz im Dunkeln steht. Vom Schein der Freiheit im Neuschnee zum Kampf gegen die haltenden Kräfte der Gesellschaft, für die die Familie steht. Am Ende steht, am Bahnhof ein Kuss, die herbeigezwungene Versöhnung von Willen zur Unbändigkeit und Gesellschaftsbeharren in Form eines Heiratsversprechens. Jessica Drummond jedoch geht erhobenen Hauptes nach hinten davon. (75cp)

 

Die Übergangsgesellschaft (Volker Braun, Regie: Thomas Langhoff, DDR 1988/1990, Nachtkritik-plus-Stream)

Nach Moskau führt hier kein Weg mehr. Hinten, ganz hinten, geht es ins Grüne. Im Mittelgrund lamellierte Flügeltüren, am Anfang, am Ende, die dann verschwinden, Spielfläche freigeben im fluchtenden Raum. Die Familie Höchst ist hier im Namen Tschechows versammelt, drei Schwestern, der Alte guckt in die Röhre, dann auch in die Kamera, die Zuschauer an. Dann schälen sich die anderen aus ihren Kokons, sprechen wie probeweise Tschechow, dann finden sie schärfere Töne, sind Menschen der DDR der siebziger Jahre, von 1982 ist das Stück, in der DDR erst 1988 aufgeführt (vorher, 1987, in Bremen). Sie träumen von Rom, sprechen von Grenzen, es ist ein Reden in Paradoxien, Andeutungen, vieles geht ins Leere, findet keinen Anknüpfungspunkt. Eine der Schwestern hängt über den Tisch, wird ermahnt, erhebt sich halb, dann fällt sie erneut. Ein Kommen und Gehen und Kommen ohne Entwicklung, vorne eine Sandkastengrube, darin Wasser und Matsch, fürs Kinderspiel ist alles zu spät, und für Planspiele auch. Mettes Aufruf zur Traumproduktion führt in keine Zukunft, nur zur Abrechnung der Versammelten mit sich selbst. Der Alte imaginiert sich in die Rolle des Sklaven, buchstäblich per Blackface, eine Demaskierung, die selbst aufs rassistischen Dispositiv zurückfällt. Am Morgen darauf sind die Flügeltüren zurück, dahinter lodert ein Feuer, Irina hat es gelegt, keine Aussicht, nirgends, auf das, was kommen könnte, wenn das Herrenhaus abgebrannt ist. (74cp)

 

18.3. La femme infidèle (Claude Chabrol, F 1969)

Im Vordergrund, und überhaupt fast protagonistisch: die Bäume. Bäume, die auf dem Anwesen stehen, in dem Hélène und Charles Desvallées leben. Und mit ihnen der Sohn. Eher von ferne ist die Kamera auf dem Grundstück und hinter den Bäumen unterwegs, nimmt die Familie, die glücklich sein könnte, aus der Warte der Beobachtung in den Blick. Rückt dann näher heran, folgt Charles und Hélène, ihm ins Büro, wo die Assistentin Brigitte als Karikatur der Verführung schon auf ihn wartet. Nicht er aber geht fremd, sondern Hélène. Klein ist das Schlafzimmer, viel kleiner als das unendliche eigene Haus die Wohung des Mannes, mit dem sie noch nicht lange alle paar Tage schläft. Es kommt per Detektiv die Wahrheit ans Licht. Der eine Mann klingelt beim andern und spielt ihm etwas vor, und sich selbst vielleicht auch. Die Atmosphäre ist nicht weiter bedrohlich.. Man sitzt und spricht und trinkt Whisky. Im Schlafzimmer scheint es nicht das Bett, sondern ein monströses Feuerzeug, bei dessen Anblick bei Charles etwas klickt. Darauf: Nofretete und zack. Das Problem wird entsorgt. Gepflastert ist der Weg zur Wiederherstellung der Ehe-Normalität mit kleinen Chabrol-Bösartigkeiten: das allzu langsame Versacken des Körpers im grünlichen Wasser; ein Auffahrunfall mit Leiche im Fond; die Polizei kommt einmal und zweimal und dreimal; dingsymbolisch ein Puzzle, bei dem obstinat ein letztes Teil fehlt. Alles geht gut, und dann doch nicht. Alles schien sauber gelöst, das Puzzle, die Beziehung als Gleichung, in der einer zu viel war, die Polizei als Doppelfigur performt die Wiederkehr des Verdrängten. Menschen und Bäume. Sie versteht und nimmt die Tat als Liebeserklärung. Menschen in Gruppen. Bäume, die im Bild herumstehen, ein Busch, hinter den sich die Kamera am Ende verkriecht. Die Musik hat von Anfang an leichten Frost über die keineswegs kristallklaren Bilder gelegt. Erzählen vom Bürgertum als Ikebana mit Leichen und Bäumen. (78cp)

 

The Book of Mother (Violaine Huisman, F 2018, englische Übersetzung, Hörbuch, Sprecherin: Toscs Hopkins)

Die Mutter ist, bipolar, sich selbst ein ständiger Unruheherd, und erst recht den Männern und Töchtern. Die eine, die jüngere, ist das Ich, das davon erzählt: Auftakt beim Mauerfall, die Vorwürfe, die Psychiatrie, die Mutter stets nackt, die Ballettschule, die Beziehung von Mutter und Großmutter, tiefenverstört. Mehrere Ehen, noch sehr viel mehr Männer, eine eingeschlafene Geliebte auf der Toilette. Es geht in der Erzählung vor und zurück und hin und her, Vorgeschichten, an denen nicht alles stimmt. Das Buch ist eine Anordnung in Autofiktion: In Teil eins und Teil drei dominiert das Register von Memoir/Autobiografie. Der zweite Teil aber ist Entzug dieses Ich, Verschiebung ins Schein-Objektive der dritten Person (der Mutter), die Details sind in ihren Realismuseffekten romanhaft, das Arrangement mit dem Vater, der das Geld verschwenderisch hat, der Mutter, die es verschwendet, Claude, der Frau, als Dritter, die die Mutter aufrichtig liebt: Die Erzählinstanz weiß in diesem Teil einfach zu viel, kennt alles übergenau, motiviert psychologisch, es ist darum, und wenn alles bis ins Einzelne aus der Wirklichkeit käme, Fiktion. Dann die Rückkehr zum Ich der Autobiografie, der Tod der Mutter, fast märchenhafte ihre Existen nun in Dakar. Wie sich daas Bild der nackten Mutter eingebrannt hat, ihre Hahnenkamm-Vulva, nun das Bild der aufgebahrten, schon im Verfall befindlichen Leiche, die Violaine, die Tochter, in Saxifrage, dem Buch, das die Mutter veröffentlicht hat, nicht wiedererkannte. Nun hat sie sie, zur Kenntlichkeit für sich selbst, ihr eigenes Leben, entstellt. (74cp)

(International Booker Longlist 2022)

 

17.3. Possessed (Curtis Bernhardt, USA 1947)

Eine Frau wankt orientierungslos durch die Straßen, «David» ist das einzige Wort das sie sagt. Sie kommt in die Psychiatrie, es ist wie eine Rückwärtsgeburt, der Wagen, das Bett, Blicke himmelwärts, dann nur noch Decke. Die Ärzte - Männer, versteht sich - um sie versammelt, leer das Gesicht, enorm die Augenbrauen von Joan Crawford, die sich wie Balken biegen. Eine Droge bringt sie zum sprechen, der Film übersetzt es in verschwimmende Wasser, eine weitere Rückwärtsgeburt, Noir-Style: Flashback-Erzählung. Da haben wir «David» (Van Heflin), er spielt am Klavier und wird von ihr, der Frau, Louise, vergöttert. Sie fleht um seine Liebe, aus seinem Mund immer nur Sätze und Wörter mit Witz und mit Stacheldraht, die Trennung, die Wiederverbindung, mit dem Boot landet die Geschichte an einem Anwesen an, wo eine andere Frau eines anderen Manns, die Mutter einer anderen Tochter, auf ihre Krankenschwester, Louise, krankhaft eifersüchtig ist. Die aber bleibt besessen von David, wird begehrt vom anderen Mann, den sie nicht lieben kann. Fehlgeleitete Wünsche, wohin man auch blickt, die Stimmung, die Bilder, die Musik: ein Noir-Melodram, vor dem Fenster das Wasser, idyllisch und bedrohlich zugleich. Vor dem Fenster zur Frau: Männer in Kitteln mit Fachdiagnosen, Schizophrenie, Psychose, Rückblenden als Anamnese, in der sich ein Schuss löst. Schlusseinstellung: Kamerafahrt rückwärts, der Flur so leer wie das Gesicht von Joan Crawford, der Schrecken, der in ihm geschrieben stand, jedoch ausgetrieben. (74cp)

 

Ich liebe dich - April! April! (Iris Gusner, DDR 1988)

Die Prüfung beim frisch ernannten Professor des Scheidungsrechts zeigt sofort: Mit ganz ernst zu nehmenden Dingen geht es nicht zu. Die Konstellation, stellt sich heraus, und zwar so gemächlich, wie es hier überhaupt zugeht, ist folgendermaßen: Nicht nur ist der Assistent der Gatte der Studentin, hinter des Professors Rücken. Sondern es ist auch der Professor der Ex-Mann von deren Mutter, mithin, wie sich kombinieren lässt, ihr Vater. Um die Mutter scharwenzelt, in einer Szene nur, ein Mann, den sie nicht heiraten will. So sind die Dinge für die Komödie bereitet, so dass nun, immer wie in Zeitlupe, kommt, was kommen muss. Retardierend ein nächtlicher Schwimmbadbesuch. Retardierend Konflikt um Schwangerschaft. Komisches vor aller Augen und hinter der anderen Rücken. Ein Mann, der den Arm voller Stofftiere am Straßenrand vor dem Nikolaiviertel steht. Ein anderer Mann steht, in einem poetischeren Register, mit der Angel am Ufer, der Palast der Republik da, wo heute die Schloss-Ungestalt thront. Eine Sache der Gewöhnung das Timing, auch die Synchro der nicht-deutschen Darsteller killt jeden Anflug von Spontaneität. Wenn man sich ins Pomadige eingegroovt hat, gewinnt gerade das einigen Charme. (65cp)

 

16.3. Il gatto a nove code (Dario Argento, I 1971)

Karl Malden blind in den Straßen von Turin, der Stadtraum wie der Plot ein Labyrinth, in dem etwas lauert, wartet, überfällt, egal, auch etwas ausbricht, zusticht, Gift in die Milch tut, ob man nun schleicht oder rast; auf dem Friedhof, über den Dächern (nun ist es Rom) und auch im Bett. Subjektive ist gar kein Ausdruck für das, was die Kamera als aufgespannter Schreckhorizont hier kreiert, für das generalisierte Vom-Bösen-Gemeintsein, das die Figuren, die sich durch das Labyrinth (die Labyrinthe) bewegen, verfolgt. Recht arhythmisch sind Momente der Verplottung, die recht wahllos Hardboiled- und Wissenschaftsthriller-Motive verrühren, und Momente der Verdichtung zum Horror, der den Plot gar nicht bräuchte, aneinander gereiht. Die Geschichte ist vom Erzählen gelöst wie die Kreuzworträtsel, die Karl Malden entwirft, von der Semantik der alltäglichen Sprache, das sie einzig als Medium braucht, in das es sich zentrums- und ruhelos einnisten kann. So hängt es, an das Blicken geheftet, eine Attraktion nach der anderen an die neun Haken seiner Plotkonstruktion. Es ist rasante Verfolgungsjagd drin, man sieht Frauenkleider und Menschenkörper: geschlitzt, eine Bar mit Menschen sehr diversen Geschlechts, attraktive Frau hinter Milchtütenvordergrund, die Nacht und der Friedhof, Ennio Morricone bis tief in atonale Register, und auf dem Friedhof die Leiche im Sarg im Grab, zu dem die Tür zufallen muss. (77cp)

 

After Sun (Jonas Eika, Dänemark 2017, englische Übersetzung von Sherilyn Nicolette Hellberg, Hörbuch)

Am Anfang steht ein ziemlich fiktive Flugreise, aber die Unmöglichkeit, das Fiktive vom Wirklichen zu unterscheiden, ist vom ersten Satz an gesetzt. Mit magischem Realismus hat das aber gar nichts zu tun, denn vom Krater der Bank in Kopenhagen zur Verschmelzung des Menschen mit einem Sender in der Wüste Nevadas über Tod und Auferstehung und sehr strangen Sex von Strandboys am Strand von Cancún: Es ist, in präzise, harte Sprache gefasst, alles noch in seiner konkretesten Unmöglichkeit als unbedingt wirklich zu nehmen. Auch die Three-and-then-some-Verbindung von Aurora und Rory und dem fluide sich weniger dazu- als hineinfügenden, wenn nicht zum Paar hinzufließenden «Ich», das hier spricht. Fünf Geschichten, sehenden Auges wird von einer UFO-Gesellschaft erzählt, mit Derivaten gehandelt, es geht um Ausbeutung aller Art, aber auch das Genießen von Verhältnissen, in denen jeder Freiraum hart erarbeitet und von diesen Verhältnissen immer schon deformiert ist, bis hin zur Lust sogar genau daran, an der Deformation, der Verbindung des ganz Eigenen mit dem ganz Fremden, im Queeren der Materie wird das Fremdeste eigen, das Eigenste fremd, Halleluja Sonnenschirmsex, technoid verpilzt ist das Leben. (83cp)

(International Booker Longlist 2022)

 

15.3. Die Frau, nach der man sich sehnt (Curtis Bernhardt/Kurt Bernhardt, D 1929)

Im Schmelzwerk, wie eine Sinfonie der Fabrik beginnt der Film, der sich dann aber ganz anders und ganz anderswohin bewegt. Auf geht die Tür in die Geschichte der Firma, der Kontrolleur geht über die Bücher und schreibt «Pleite» auf die Scheibe des Fensters, die er mit seinem Atem angehaucht hat. Es geht dann so weiter, dass der Erbe die Tochter des Kontrolleurs heiraten will, wozu sie mit knapper Not den Segen des Vaters erhalten. Firma und Ehe gerettet, wäre da nicht, aus heiterem Himmel, der coup de foudre an einem anderen Fenster: Marlene Dietrich blickt aus dem Zug, trifft den Blick des Erben, sein Blick trifft den ihren, es ist eine Dreiecksgeschichte (am dickeren Ende: Fritz Kortner), die Geschichte einer Liebe, die alles zerbricht, eine Räuberpistole, denn es gibt einen Mordhintergrund. (Zugrunde liegt ein Roman von Max Brod.) Höhepunkt, neben dem Huschen von Lächeln, dem Erschrecken, dem Ahnen, dem Eineandereseinwollen in Marlene Dietrichs Gesicht, eine wilde Silvesterparty, das Jahr 1929 nähert sich, und zwar gewaltig, die Zeiger der riesigen Uhr im Hintergrund werden von weiblichen Händen verrückt. Mitten ins Gewusel aus Tanz, Luftschlangen, Sekt fährt die Kamera wie das Skalpell in einen zuckenden Leib, sortiert nicht auseinander, was ineinander gehört. So kommt keine Ordnung in die zueinanderstrebenden Körper, eine Drohung mit sehr kurzem Lauf steht im Raum, damit wird der Liebe und der Dreiecksgeschichte der Garaus gemacht. Wie aus einem bösen Traum erwacht nun der Erbe, Zugfahrt nach Hause, als könnte es nach all dem etwas wie ein Zuhause, und sei es ein Schmelzwerk, noch geben. (80cp)

 

Irrlicht (Joao Pedro Rodrigues, PT 2022)

taz-dvdesk (73cp)

 

14.3. Traumnovelle (nach Schnitzler, Regie: Sebastian Hartmann, Schauspiel Frankfurt am Main)

Ihr naht euch, tanzende Gestalten. Einer trompetet. Frack und Zylinder, Glitterkleid, Schlagzeug, und alle im Kreis. In der Mitte der riesigen Bühne ein Kreis aus welligem Sand. Rechts hinten etwas, das ein Tonarm sein könnte, wäre das Kreisrund eine LP. Der Tonarm hebt sich und senkt sich, gekurbelt, funktioniert dann als Rechen, der den gehäuften Sand wieder geradestreicht. Die Gesellschaft nämlich stolpert hinein, kriecht darin herum. Erst aber sitzt sie an der Rampe, später wieder, eine Art Rondostruktur. An der Rampe etwas wie Dialoge, aneinander vorbei jedoch eher, ins Leere, dann Gehen im Kreis, dann Monologe. Mit Hochdruck fasst Annie Nowak (MVP dieses Abends) das Geschehen von Schnitzlers Novelle zusammen, mit Hochdruck und zugleich wegwerfendem Gestus. Der Strand von Dänemark, auch dafür steht der Sand in der Mitte, ruft Dänemark auf, aber auch die Gesichte der Nacht, die am Tage vergehen. Und ein Wunderblock ist der Sand überdies, im Verbund mit dem Rechen, der (aber nicht mehr vollständig) glattstreicht, was die Körper unlesbar hineingeformt haben. Die stolpernden Körper, auch die fallenden, denn ziemlich am Anfang werden sie alle erschossen, wieder und wieder, von anonymen Schützen am Rand, gelb ist das Mündungsfeuer, und eine Dame der Gesellschaft steht ein ums andere Mal wieder auf. Was da auch ist: eine große weiße Kugel, schön, raumfüllend, aber wie gar nicht schwer schwebt sie von der Decke, hängt da, dann mit ihr wieder nach oben. Später da capo. Ebenfalls: Nebel. Vom Rande her: grelle Lichter, sie tauchen die Gesellschaft und ihre Schatten in Traumlandschaften mit scharfer Kontur. Links hinten ist noch ein Flügel, darum versammelt sich die Gruppe recht früh zum Gesang. Zwei Drittel lang hat das alles Zauber, hat einen Rhythmus, der Zwangsverhalten und Freiheit durch das Lose seiner Assoziationen offen verbindet; wunderbare Slapstickeinlage mit Blut, das am Hend klebt und ab ist und dann wieder dran. Und dann beginnt das alles, im Sand und im Schnitzlertext zu versacken. Wie Blei senken sich die Wörter in die Körper hinein. Die tun, was sie können, was sie können, ist Sprechen, aber das Schwerelose, der Zauber ist irgendwann hin. Es hilft da auch nicht der Schlussmonolog an der Rampe. Alles ist, unmerklich ist das vor sich gegangen, nur noch gekonnt. (74cp)

 

Rotation (Wolfgang Staudte, SBZ/D 1949)

Von der Gegenwarts-Rotation der Druckmaschinen und den Kämpfen um die Befreiung Berlins, die Hand eines Toten fällt vom rand her ins Bild, von hier geht es, der Rahmen ist knapp, gleich zwanzig Jahre zurück. An einer Bahnschranke begegnen einander Lotte und Hans, finden, im Grase liegend, zum Du, ein Kind ist gleich unterwegs. Und darauf: Depression. Jobverlust, Jobsuche, Jobverzweiflung, Hans dreht mit anderen Männern mit Muskelkraft ein Karussell. Er findet Arbeit beim Völkischen Beobachter, Rotation, Hitler kommt an die Macht, Schlagzeile, der Schwager geht in den Untergrund und flieht in die Tschoslowakei. Die Salomons, die im selben Haus wohnen, werden abgeholt, Hans leistet sehr passiv Widerstand, hängt das Hitlerbild nicht sofort auf, geht nicht sofort in die Partei, dann aber doch. Und hilft, Rotation, Flugblätter gegen Hitler zu drucken, es ist der eigene Sohn, Hitlerjunge par excellence, der ihn am Ende verrät. Staudte erzählt das ohne Vertun, findet schlagende Bilder, die Kamera fährt die Liste der Toten hinunter, die Orte des Sterbens, bis da nur noch Stalingrad und noch einmal und noch einmal Stalingrad steht. Bei der Befreiung Berlins werden Brücken gesprengt, ein S-Bahn-Tunnel geflutet, Menschen ersaufen, und auch ein Hund. An der Bahnschranke schließt sich der Kreis, an der Gabelung eines Pfades in freier Natur der Aufruf, nie wieder den Weg des Krieges zu wählen: Wir haben es in der Hand. (71cp)

 

13.3. Die Buntkarierten (Kurt Maetzig, SBZ/D 1949)

Die ersten fünf Minuten, der Vorspann, erzählen fast schon die ganze Geschichte. Der Rest ist zugleich hektische und überdeutliche Amplifikation. Der Vorspann: Ein Rahmen ums Bild, die Fotografie setzt sich in Bewegung, und zwar als Kamerafahrt, die über die Generationen hinweg die Figuren und ihre Darstellerinnen und Darsteller vorstellt. Vom Kaiserreich in die Gegenwart, von der Urgroßmutter (über ihre Arbeit gebeugt) zur Urenkelin (später: am Eingang zur Humboldt-Universität), die Heldin als roter Faden ist Auguste (Juste, wo G ist, soll Jott werden), die den Ersten Weltkrieg übersteht, ihr Paul kehrt zurück, glaubt aber ihren Warnungen vor dem nächsten Krieg, den Hitler bedeutet, so wenig wie ihr gemeinsamer Sohn, der mit seiner Familie in den Bomben umkommen wird. Heute würde eine lange Serie aus dem Stoff, der recht konsequent von den unteren Rändern der Gesellschaft erzählt, dafür allerdings einerseits den Schnellduchlauf wählt. Und andererseits immer wieder knirschend zum Stillstand kommt, trotz Tanz und Jahrmarkt in Treptow, um didaktisch für Gewerkschaft zu werben, um mehr als einmal das Bündnis von Krupp und Hitler Marxismus-konform in Anschlag zu bringen. Ende dann: der Zukunft zugewandt. Es muss keinen Krieg mehr geben, wenn wir ihn nicht wollen. (62cp)

 

High Wall (Curtis Bernhardt, USA 1947)

Robert Taylor als Protagonist, dessen Erinnerung flackert. Fest steht, denn das sieht man gleich zu Beginn: Er fährt mit seiner toten Frau neben sich einen Abhang hinunter in einen Fluss. Er steht unter Verdacht, und zwar auch bei sich selbst, sie zuvor ermordet zu haben. Der Moment selbst jedoch ist aus dem Gedächtnis gelöscht, aus dem Krieg hat er eine Verletzung im Hirn, die die beträchtlichen Verwicklungen des Plots möglich machen. Erst kommt der Held in die Psychiatrie, es ist eine Frau, die ihn rettet. Nach längerer Weigerung zeigt er sich bereit, die Erinnerung unter Einfluss der Wahrheitsdroge zurückzurufen: Ein Flashback als wirklicher Traum, die Rückkehr, das Erschrecken der Frau, umgestürzte Stühl, ihr Hals, nach dem er greift. Dann Filmriss. Ansatz an anderer Stelle, bei einem anderen, sinisteren Mann. Es ist keine Frage der Spannung: Hier ist der Täter. Ihm eine Falle zu stellen, mit Umwegen über Liebe und Flucht, Ermittlung in eigener Sache als Mister Kimble avant la lettre; den Mann, der der Geliebte der Ehefrau war, in den Raum des Erinnerns in einem komplementären Flashback zurückzubewegen, auf die Schließung dieses Kreises kommt es hier an. Es ist kompliziert, ein Sohn ist auch mit im Spiel, was die Besiegelung der neuen Familie im Schluss-Kuss möglich macht. (73cp)

 

12.3. Conflict (Curtis Bernhardt, USA 1945)

Humphrey Bogart ist ein Mann zwischen zwei Schwestern, von denen er, wie er findet, die falsche, die ältere geheiratet hat. Die das längst ahnt, so subtil ist ihr Ehemann nicht. Zum fünften Hochzeitstag fasst er den Beschluss, die Gemahlin um die Ecke zu bringen, um so den Weg in eine glückliche Zukunft mit der anderen, einer unschuldigen frei zu machen. Er stürzt sie in dunkler Nacht im Gebirge mit dem Wagen einen Abhang hinab, worauf an der Unfallstelle eine Art Zeltkonstruktion aus Bäumen entsteht. Was wichtig ist, denn dieses Bild (eher: seine abstrakte Struktur) wird ihn verfolgen, indem es, psychoanalytisch verschoben, in anderen Gestalten wiederzukehren beginnt. Überhaupt ist Wiederkehr des (durch Mord) Verdrängten das Szenario des restlichen Films: Die Tote schreibt Briefe. Sie ruft an, ist dann jedoch nicht zu sprechen. Sie hat ein Schmuckstück bei einem Pfandleiher versetzt, den es beim nächsten Besuch nicht mehr gibt. Der Irrsinn beginnt in Bogarts Augen zu flackern, an seiner Unterlippe zu nagen. Als Analytiker, Arzt, Ermittler, Regisseur des Geschehens ist Sydney Greenstreet sein Gegenspieler von formidabler Statur. Mithilfe seiner Lenkung kehrt der Täter an den Tatort zurück, wo er zur Einsicht gelangt, dass er nicht die treibende Kraft, sondern der Getriebene war: Die Rose, die Rose Hobart bei ihrem Tod trug, wird ihm zum Verhängnis. (69cp)

 

The Abominable Dr Phibes (Robert Fuest, GB 1971)

Die Orgel hat Telefon, Doctor Phibes hat am Hals ein Metallkabel, das ihn mit der Sprachausgabe verbindet. Er ist als Vincent Price kaum zu erkennen, trägt Perücke und Maske, unter denen, als er sie abreißt, die im Film als bare Münze zu nehmende Maske eines Verbrannten und Verstümmelten zum Vorschein kommt. Zur Orgel gehört das Orchester der Automaten, sie spielen auf der Zwischenempore Musik. Doctor Phibes, dessen Frau im Sarg auf ihn wartet, hat noch einen Job zu erledigen, bevor er sich zu ihr legt: Nach dem Muster der biblischen Plagen will er all jene töten, die er als die Schuldigen am Tod seiner Frau sieht.  Darum, Motivation des Irrsinns Gialli-artig von hinten, zerschrammen dem einen die Fledermäuse das Antlitz, begegnen einem andern Ratten am Himmel, wird eine andere von grünem Gallert überzogen, von Riesenheuschrecken zerfressen. Sind so aufwendige Konstruktionen, Eine andere Frau, jung, lebendig und schön, heißt Vulnavia, trägt Pelzmütze oder etwas Rotes mit Drähten und spielt die weiße Geige dazu. Die Männer von Scotland Yard legen Stirnen in Furchen und tappsen in einem anderen, etwas biederen Film mit aber gleichfalls interessanten Raum-Design-Architekturen den Mordtaten hinterher. Es ist Wahnsinn, es hat auch Methode, es treibt Blüten der abstrusesten Art, ein wenig schade nur, dass Robert Fuest sich als Regisseur zwar reichlich bemüht, aber kein Meister ist. (71cp)

 

11.3. Der Würgeengel (nach Buñuels Film, Regie: Johan Simons, Schauspiel Leipzig, Leipzig-Premiere)

Keine Schafe, kein Bär, auch kein zum Eindringen unfähiges Außen. Keine Kirche, keine Straßen, keine Schüsse. Es sind auch nur fünf Figuren existenzialistisch versammelt, sie wollen den Raum, der ein Klassenzimmer ist, immer verlassen, was immer unmöglich ist, bis dann auch der Wille zu schwinden beginnt, alles in Wiederholungsschleifen gerät. Die Sehnsucht, wenn sie anderes wäre als die Nachgiebigkeit gegenüber einem Drängen, das nicht aus dem Eigenen kommt, diese Sehnsucht, wenn es hier überhaupt eine gibt, zielt nicht Richtung Schlaf. Man sitzt, erstarrt, hysterisiert, käut die Dialoge des Films wieder, das Unglück im Nizza-Zug, die Reise nach Lourdes, auch das Auftun einer Quelle nach dem Versiegen des Wassers, all das spielt, man weiß nicht warum, aus dem Prätext in den Theatertext hinein und hinüber. Anderes kommt aus dem Inneren der Szene hinzu: Der Name Sandra für die von Sandra Hüller gespielte Figur (falls es etwas wie Figurenkonstanz gibt, einmal werden auf der Bühne die Kleider gewechselt). Das Adressieren der Lage als eben: Theater. Es gibt auch Film, aber nicht aus den fünfziger Jahren, sondern aus der - gut abgehangenen - Gegenwart von Voxi Bärenklau live. Die Kamera fährt sehr langsam (dann steht sie) vorne an der Rampe entlang, fixiert hier und da die ihrerseits durch Text und Existenzialismus Fixierten, das wird auf eine hängende, später sich drehende, später eine weitere Leinwand an der hinteren Seite der Bühne offenbarende Leinwand projiziert. Die meiste Zeit aber ist sie, diese Leinwand, ein unbeschriebenes Blatt. Ganz von außen, als Jugend und als gegenwärtigste Gegenwart akzentuiert, tritt durch eine Tür ganz links hinten eine junge Frau und hält Referate: Über das Perlboot, das vom Aussterben bedroht ist; über die Bienen als kollektive Arbeiterschaft; zuletzt werden Ameisen krabbeln, nicht live, eingespielt, auf der Leinwand. Außerdem links eine Orgel, rechts ein Keyboard, Ausbrüche in Psalmen und Popsongs, die sich auf die Lage nicht immer deutlich beziehen. Dem Buñuelschen Existenzialismus ist das Surreale genommen, die lebende Hand, die Gesellschaftskritik. Es wird ihm ein Referat und die Deutbarkeit als Biodiversitätsausrottungsparabel übergeholfen. Nicht dass das eine zum anderen passt. Aber weil Simons sein Handwerk versteht, fällt es immerhin noch, was es von Rechts wegen sollte, voll und ganz auseinander. (57cp)

 

Geschlossene Gesellschaft (Frank Beyer, DDR 1978)

Solo für Jutta Hoffmann als Ellen. (Im Leopardenrock. In der Strickstrumpfhose. Im von den Kindern beklecksten Mantel.) Solo für Armin Müller-Stahl als Robert. (Mit dem Kamm im Überkämm-Haar. Im Pullover. Am Krankenbett, wo ihm der verunfallte Freund erzählt, dass er des anderen Frau vögeln wollte.) Solo für die Kamera von Hartwig Strobel, die in hyperklaren Bildern das Paar in der Krise in Szene setzt. Ganz buchstäblich: Sie sitzen, nebeneinander, symmetrisch die Komposition, verfahren die Lage, die Betten auseinandergeschoben, staunenswert, wie Hoffmann und Mühler-Stahl die außerordentlich geschriebenen Dialoge theaterhaft, aber im Theaterhaften ganz und gar nicht deklamatorisch sprechen. In Räume hinein. Zum Fenster hinaus. Tisch, Stuhl, Wand, Farbe, Körper: Trocken, sehr trocken, ein Kreisen, ein Suchen nach wunden Punkten, die Ursachen für diese Krise liegen eher im teuflischen dialogischen Kreisen als in anderen, tieferen Gründen. Brutal und blutig und schmerzhaft und Dasein zum Tode ist, grandios verschoben, alles, was außen begegnet: Der Unfall, der elliptisch und repetitiv als Bildpochen die Normalität gleich zu Beginn perforiert. Das Kind, mal wie verschwunden, mal unheimlich redupliziert zur Nachbarschafts-Horde, das Kind mit den schmerzenden Beinen, eine Wunde, die unsichtbar bleibt. Die Begegnung mit dem jungen Mann, den Ellen einst betreut hat, jetzt fast surreal in einer Bodybuilder-Sequenz, und die mit dessen Bruder, der Ellen, wie soll man sagen, zu reißen versucht. Dazu der Nachbar, Sigfrit Steiner, dessen Tiefsinn und dessen Katatonien fast wie aus einem Wenders-Film scheinen; durch seine Umarmbarkeit wird die Figur doch gerettet, Hinaussprung aus den Nahen in größere Fernen. Außerdem Äpfel, an die Bäume geknotet wie in künstlichen Paradiesen. Und im Kinderzimmer wächst das Rettende doch. (80cp)

 

Der Würgeengel (Luis Bunuel, Mexiko 1962)

Existenzialismus in der besten Gesellschaft (geschlossener als sie denkt), surrealistisch grundiert, hier kommt eine Hand aus dem Schrank, da sinken sie, müde, so müde, zu Boden und schlafen. Ismus und istisch, das Leben ein merkwürdiger Traum, der sich, wahrhaft erstaunlich, an einer spät, aber doch ins Bild kommenden Außenwelt scheinbar objektiviert. Zwischen Hier und Da und Da und Hier eine Wand, die, keine ist, die vielleicht ganz aus dem Innen gestülpt ist, an der sich so oder so der Spaten des Verstehens umbiegt, wenn auch auf die meiste Zeit sanfte, müde, sich im Tanz wiegende Weise. Gestorben wird, langsam, Prognosen, die sich erfüllen, Auflösungszustände, Resignation, die reale Wand wird aufgehackt, es wird um Wasser gekämpft, die Zeit ist nicht vergangen, die Zeit ist ein Vergehen und Nicht-Vergehen, ein Eingeschlossensein in der Hölle, die die anderen sind. Oder zu der die anderen spätestens werden, wenn sie nicht gehen, und immer weiter nicht gehen, obwohl längst alles gesagt ist. Die Würde, ohnehin gestohlen, ist hin; das Entkommen bleibt Schein, außer für die Schafe vielleicht und den Bären, der, anders als die Menschen, keinem was tut. (71cp)

 

10.3. Feuer unter Deck (Herrmann Zschoche, DDR 1979)

Am Ende wirft Otto Scheidel (Manfred Krug in einer überaus  Manfred-Krug-haften Rolle) sein Binnenschifffahrtskapitänspatent aus dem Bullaugen-Fenster, das ihm die Lizenz zum Transport bis nach Hamburg und Belgien erteilte. So weit ist die Welt, von der man in Feuer unter Deck allerdings vor allem Magdeburg sieht, Dresden auch und weiter die Elbe hinunter, gelegentlich eindrucksvoll in Totalen, ins Elbstandsteingebirge. Scheidel ist Kapitän auf einem Schaufelraddampfer namens Jenissei, der bessere Tage gesehen hat und nun auf letzte Fahrt geht, bevor er zum am Ufer festgetäuten Restaurantschiff werden soll. In der Stadt wartet auf den Kapitän seine Liebste, Name: Caramba (Renate Krößner, zu hochenergetisch für Carola, wie sie eigentlich heißt), beziehungsweise hat sie vom Warten nunmehr genug. Sie übernimmt als Chefin des Restaurants Ottos Schiff, schickt ihn davon, er blickt von ferne, aber mit den alten Jungs, hat einen Job auf dem Bau. Robust und vulgär geht es zu, Männerbund, Seeleute eben, der Sex ist eine mitunter grobe, jedenfalls keine feierliche, eher eine schön komische Sache, Herz kennt dennoch Schmerz, ein Binnenschiff läuft auf die Sandbank, letztes Hurra für die Jenissei und ihren Käptn. Ins Kino kam der im DDR-Maßstab weltläufig burleske Film denn leider nicht, denn Manfred Krug hatte inzwischen realiter den Pass weggeschmissen und rübergemacht. (66cp)

 

Maigret und die alte Dame (Georges Simenon, F 1950, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Nun wieder Frankreich, Maigret jedenfalls, denn Simenon schreibt das Buch im idyllischen Kalifornien, in Carmel-by-the-Sea. Und nun wieder gerade nicht Paris für Maigret, sondern der Ruf der Provinz. Doppelt gleich ist er erfolgt, dieser Ruf, ins Seebad Étreta nahe Le Havre. Die alte Dame des Titels, Valentine, Witwe eines einst mit einem Akne-Mittel zu Geld gekommenen, dann pleite gegangenen Herrn, sucht Maigret auf am Quai d’Orfèvre, ihre Bedienstete wurde mit einem Gifttrank ermordet, der, denkt sie, eigentlich ihr galt. Die Tote, Rose, war ein Bauernmädchen, das zu viel las, Freud nur zum Beispiel - Simenon weist solchen Ehrgeiz als falschen klassistisch in seine Schranken. Dann ist da Charles, Stiefsohn Valentines Nummer eins, ein Politiker von lokaler Bedeutung, auch er ruft, wiewohl telefonisch, den berühmten Pariser Kommissar zu Hilfe. Der kommt, beobachtet, brütet, geht allen auf die Nerven, spricht mit der Tochter der alten Dame, einer Arlette, die zu ihrem Unglück sexsüchtig ist, wovon ihr Mann, den sie liebt, nichts wissen soll. Dann ist da Theo, der zweite Stiefsohn, der sich kleidet wie der Herzog von Windsor und auch nichts anbrennen lässt. Hinter allem steckt eine fast rätselkrimihafte Geschichte, Schmuck, Geld, Erbe, Arroganz und so weiter. Maigret malt sich eine Selbstjustiz-Lösung aus, übergibt die Täterin dann aber doch den Gerichten, die Recht sprechen, aber Gerechtigkeit bringen sie nicht. (70cp)

(Maigret 33)

 

9.3. The Band Wagon (Vincente Minnelli, USA 1953)

Was den Film zusammenhält, sind die fahrenden Züge. Hier sitzt Tony Hunter (Fred Astaire) hinter der Zeitung, im Off seines Karriereherbsts, mit dem es erst nach der Tour durch die Provinz (Boston, Baltimore und so weiter) wieder vorbei ist, weil mit der Erfolgs-Premiere in New York einer neuer Frühling beginnt. Aus dem Flop wird ein Hit, das ist cum grano salis überhaupt die Geschichte, durch Kuss und Liebe besiegelt, Zugfahrt, Backstage und Hintertreppe, davor und dazwischen die Nummern, als deren Revue der Film insgesamt doch eher denn als narrativer Zusammenhang funktioniert. Souverän ist Astaire als zu alter und zu kleiner Mann, souverän ist er neben den anderen als die Geschwister hassender Baby-Drilling auf Knien. Und mehr als hinreißend die längste der Nummern, ein Hardboiled-Krimi in nicht fürs Theater, sondern für den Film gebauten Kulissen, mit denen die Kamera auf eine Weise verfährt, dass die theatral eingerissene vierte Wand als kubistische Räume-Revue wundersam immerzu wiederaufgebaut wird. Von der Komik zu schweigen, die in der Verbindung von Erzählerstimme, die den Ton der einschlägigen Topoi haargenau trifft, mit Knarre und Femme Fatale liegt, wenn dieser Genreverbund sich plötzlich im Tanz wiederfindet, wirbelnd (die Kamera wirbelt mit) und schießend und mit Stock und Hut. Weniger hartgekocht dann das glückliche Ende, aber es ist verdient, erschossen, erküsst. (74cp)

 

8.3. Nebel (Joachim Hasler, DDR 1962)

Eine Boje im Hafen von Rocksmouth markiert die Stelle, an der die Princess of India sank. Vor genau zwanzig Jahren, ein britischer Kindertransport nach Kanada, von einem deutschen Unterseeboot torpediert. Nun sieht man sich wieder: Bill Smith (Eberhard Esche), eines der Kinder, das einst überlebt, und der undurchsichtige Westdeutsche Eberhard Wedel, einst Verantwortlicher für den Angriff, heute Vertreter von Interessen des militär-industriellen Komplexes. Sein Tod und der Verdacht, der auf Bill Smith fällt, machen den Film zum Krimi bis hin zum Gerichtsfilm, auch wenn er mit einem überzeugend hingesmashten Auftritt von Manfred Krug und den Jazz-Optimisten beginnt: Oh when the saints go marching in; dann sofort Abgang. Auch eine Liebesgeschichte spielt mit, der Vater der Braut ist hin- und hergerissener Polizist. Schauplatz ist Hydes Hotel, dessen Besitzer sich bei den Finanzmachenschaften Wedels verkalkuliert. Es ist sehr sichtbar der Film eines Kameramanns, Joachim Hasler baut jedes Bild mit einiger Sorgfalt, Untersichten, Großaufnahmen, Transparenzstaffelungen in Scheiben, Blicke von droben, Gesicht links, Gesicht rechts, eines dazwischen. Das hat Eleganz, leider sind die ideologischen Versatzstücke, die das Drehbuch in seiner Krimi-Geschichte verpackt und verschiebt, doch eher schlicht. Wer die Verbrechen der Vergangenheit vergisst, wird sie wiederholen. Bill Smith holt vom Grund des Meeres die Trümmer herauf und verschafft dem Film, von der Rückblende unterstützt, bei der Tötung des Schurken ein geschichtspolitisch gutes Gewissen. (62cp)

 

7.3. Play Misty For Me (Clint Eastwood, USA 1971)

Nicht zuletzt ist das: ein Werbefilm für das Monterey Jazz Festival. An den Wänden der Wohnungen hängen die Poster, superlässig ist mit aller Zeit der Welt ein Auftritt gefilmt. Das geht zwanglos, weil Dave (Clint Eastwood mit viel und welligem Haar) ein Radio-DJ ist, von einschmeichelnder Stimme und mit gutem Geschmack, davon zeugen auch die attraktiven Goldwischputzwände, die Kunst und das kleine Paradies an der kalifornischen Küste, genauer: in Carmel-by-the-Sea, wo neue Häuser um Bäume herumgebaut werden müssen und wo Eastwood in den Achtzigern dann zwei Jahre lang Bürgermeister war. Es ist ein sehr schöner Ort, muss man sagen, von rauher Sanftheit das Meer und Felsen, atemberaubend, wie Bruce Surtees mit langen Brennweiten den aufgewühlten Hintergrund fast bedrohlich an das spazierende, liebende Paar heranschiebt. Es ist, in langen Überblendungen werden Muster von Baum und Natur fast abstrakt, das Paradies am Atlantik. Vor nicht zu wildem Wasserfall nackt bis zur Hüfte im Wasser wie fast vom Playboy geschaffen Donna und Clint, aneinander gepresst, skulpturale Sexkörper mit Bögen und Knoten aus Rippen und Fleisch. Und in dieses Paradies dringt, tödlich vernarrt, die Stalkerin ein, Blicke wie Messer, aber auch Messer wie Messer, rammt dies in die Brust, schlitzt das einfach auf. Zwischen supersmooth und ritzend und rasend ist Eastwoods Regiedebüt ein einziger mood swing. Es muss natürlich Kalifornien siegen, die Sonne, das Meer, die Musik: Play Misty For Me. (74cp)

 

Die Beunruhigung (Lothar Warneke, DDR 1982)

Der Rahmen gibt der Beunruhigung, von der Helga Schuberts Drehbuch erzählt, eine Beruhigung vor: Blick auf die Brust der Protagonistin, Inge Herold (Christine Schorn), Mittdreißigerin, ein Schnitt, ein Schock, eine Brust fehlt, Mastektomie. Es sind seitdem drei Jahre vergangen, die Nachuntersuchung steht an, da ist ein Mann in ihrem Bett, mit dem sie sich sichtlich versteht. Der längste Teil des Films ist dann Flashback, ein normaler Arbeitstag im Büro, sie ist Psychologin, ein Ehepaar vor ihr auf dem Stuhl, das sich ganz elend streitet. Dann Anruf beim Arzt, ein OP-Termin wird vereinbart, ein wenig Inge de 5 à 7, Blicke von oben auf Wege in der Stadt, schwarz-weiß gefilmt, fast verloren liegt das Marx-Engels-Forum in Thomas Plenerts Kamera-Bild-Kompositionen. Erzählt wird der Diagnose-Schock als Zäsur, Wegen führen in die Vergangenheit, in die BE-Kantine (Cox Hobbema mit einem kurzen, intensiven Auftritt), aber nicht ins Theater, sie besucht eine Klassenkameradin, sucht den Mann auf, den sie einst, zu Schulzeiten, liebte, er hat eine Tochter, auch bei ihr zuhause ja Mike, der Teenagersohn, die Küche voll Freunden, eine erste Freundin, laute Musik. Bei dem Mann, den sie aufsucht, wobei sie zunächst in den innigsten Alltag der Nachbarwohnung gerät, bei diesem Mann, den wir aus dem Rahmen schon kennen, da wären, im Fall einer Zukunft, von der wir schon wissen, Anknüpfungspunkte. Hinreißend nebenbei ist das alles gespielt, low budget und teilweise improvisiert, Christine Schorn die zugleich weiche und toughe Anti-Pathetikerin, immer schon nicht mehr jung, dem Leben zugewandt, es geht, und gar nicht so schlecht, erst einmal weiter. (75cp)

 

6.3. Vanishing Point (Richard Sarafian, USA 1971)

Ein Mann fährt um sein Leben, nein, er fährt sein Leben an die Wand. Das Fahren, bei dem er ganz cool bleibt, als letzter Exzess, als Inbegriff des Lebens, eine Raserei über die Straße, durch die wüste, von Nevada nach Kalifornien, aber geografischer Art ist das Ende, auf das er hinauswill, ganz sicher nicht: Die Ausweglosigkeit ist das Ziel. Der Vanishing Point: Tod, Feuer und Flamme. Nicht wie bei Monte Hellman das Zerschmurgeln der Repräsentation, sondern das Brettern gegen den Bagger, konkretes Spektakel als Abschluss eines Kinos der Attraktionen, deren Mischung ist von schöner Bizarrerie: ein Korb voller Schlangen, in der Wüste singende Christen, ein blinder, schwarzer Radio-DJ, der zum quasi-göttlich inspirierten Einflüsterer des rasenden Kowalski wird, und dann, nicht zuletzt, eine splitternackte Blonde auf dem Motorrad. Der: Ex-GI, Ex-Cop, Ex-Rennfahrer, jetzt nur noch ex und dann hopp. Mehr als cheesy die Flashbacks, die, etwa mit Charlotte Rampling, erklären, was gar keiner Erklärung bedürfte. Sowas kommt nicht von sowas, sondern von der Lust am Spektakel, Auto und Jagd und Verfolgung, Geschwindigkeit, Konfrontation, Ausweichen, sich leer erstreckende Landschaft und Wüste, eine Lust, die sich auf der Tonspur mit fast schon zu viel Musik unterstreicht. Und weil Kowalski nicht psychologisch, sondern attraktionstheoretisch zu nehmen ist, endet der Film im Triumph: Mehr Knall geht nun nicht. (74cp)

 

Maigret in Arizona (Georges Simenon, F 1949, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Nun die Umkehrung: Nicht der Kollege von Scotland Yard bei Maigret, sondern Maigret als Beobachter in den USA unterwegs. Wobei es zum Unterwegssein erst am Ende, mit dem Flug nach Kalifornien, kommt. Zuvor sitzt der Mann aus Paris in Tucson, Arizona, buchstäblich fest. Und zwar bei einem Prozess. Eine junge Frau, mit 17 schon einmal geschieden, nun verdient sie ihr Geld in einer Bar und als Gelegenheitsprostituierte, verschwindet in der Nähe der mexikanischen Grenze, ein Zug hat sie zerstückelt, der Kopf wird vom Rest des Körpers getrennt. Fünf Männer von der Airforce-Base, mit denen sie unterwegs war, werden verdächtigt, sie womöglich vergewaltigt und getötet zu haben. Der Roman folgt, mit und durch Maigret, der Befragung, bei der es zu widersprüchlichen Aussagen kommt. Maigret sitzt, wie so oft, macht Beobachtungen, der Personen, aber auch, nicht von Klischees frei, der amerikanischen Sitten (warum fragt der Coroner nicht nach dem, was auf der Hand liegt, dem Sex?), doch im Frage-und-Antwort-Spiel will sich die von Simenon sonst so virtuos erzeugte Maigret-Trance nicht einstellen: Es bleibt der Kommissar und mit ihm das Milieuwahrnehmungsdrama stillgestellt, passiv, verhockt. (60cp)

 

5.3. An American in Paris (Vincente Minnelli, USA 1951)

Ein erträumtes, erbautes, gemaltes, halluziniertes Paris, Toulouse-Lautrec was here und ist als bewegliche, verlebendigte Kulisse geblieben. Eine Welt der reichen Prinzessinnen, die sich in Maler vergucken, der armen Maler, die im nicht unanzüglichen Tanz-Kaleidoskop vorgestellte junge Frauen so lange anstarren, bis sie zurückbegehrt werden, eine Welt also, in der es nur Spurenelemente von Wirklichkeit gibt. Die Kamera und die Stimmen setzen auktorial ein, Wände entlang, sehen zu Fenstern hinein und landen da, wo sie landen sollen: bei drei Männern der Kunst. Einer malt, Gene Kellys erster Auftritt als alltägliches Bewegungsballett in die winzige Dachgeschosswohnung hineinchoreografiert. Einer spielt das Piano, erfolglos, und träumt sich in den hyperauktorialen Triumph, in dem er dirigiert und das Klavier spielt und auch die Geige und sich am Ende selbst zujubeln darf. Der Dritte ist der, der in der Wirklichkeit reüssiert, darum wird er zuletzt die Frau, die den anderen liebt, den von einer anderen zugleich Begehrten, aus dem zur Hochzeit fahrenden Auto aussteigen lassen; es hat ihn dazu eine furios durch die Szenerien gleitenden, springende, einen Brunnen aus künstlichem Wasser umtanzende, die Zeiträume und Rhythmen sprengende, in diesem Sprengen alles, was es an Restwirklichkeit noch gegeben haben mag, an sich reißende Sequenz nachgerade gezwungen. Es ist hier das Hinreißende ohnehin von einiger Brutalität, Gene Kelly als Figur, die mehr smug als verführerisch ist; wäre da nicht seine Kunst der Bewegung, die, als wäre es gerade nicht seine, es aussehen lässt, als tanzte nicht er, sondern als würde er selber getanzt, von einem lebendigsten Element, das diesen Körper bewohnt, als eine Beherrschung, die sich der Beherrschbarkeit durch ihren Darsteller als das eigen nicht ständige, sondern als Eigentanz widersetzt. (82cp)

 

Die Schauspielerin (Siegfried Kühn, DDR 1988)

In der Garderobe: nicht ein Spiegel, sondern drei. Links unten ein Foto, die Dietrich. Auf der Bühne ist auf der Bühne, aber nicht auf der Bühne ist, anders, auch auf der Bühne. Zuhause wird gespielt, wird verbrannt, wird das Foto des geliebten Mannes, es sind die frühen dreißiger Jahre, verbrannt. Sie (Corinna Harfouch) darf spielen, blond, sie darf auf Bänken sitzen, die nur für Arier sind, Schiller und Kleist, sind so deutsche Stücke. Sie steht da, deklamiert, in der Rüstung, die Bühne dreht sich ins Dunkel. Er (André Hennicke) wird als Jude existenziell ins Dunkle gedreht. Noch gibt es in Berlin ein Theater, von Jüdinnen und Juden für Jüdinnen und Juden. Sie geht nach München, sie wird gefeiert, sie färbt sich die Haare, besorgt sich einen falschen, einen jüdischen Pass, sie gilt als tot. Harfouch und Hennicke geben Theater-, wenn nicht Opernfiguren (die Musik spielt das mit), von der Bühne in ein fantastisches Draußen, Licht und Dunkel im Wald, sein Gesicht noch geschminkt. Die Historie ist hier kein zur Illusion geschlossener Raum, sondern eine Kulisse, modernistisch ganz ernst genommen, die Figuren sind Gestalten, die sich selbst, zutiefst auftrittsfähig, nicht durchsichtig sind. (74cp)

 

Licht, Schatten und Bewegung. Mein Leben und meine Filme (Volker Schlöndorff, D 2008)

Volker Schlöndorff ist einer, der Erstaunliches erlebt hat: als Schüler das Gehen nach und Bleiben in Frankreich, Abiturklasse am Pariser Elitegymnasium mit Bertrand Tavernier, in dessen vollgerümpeltes Bildungsbürgertum es ihn hineinzieht. Lehrjahre und Freundschaft mit Louis Malle, Assistenz bei Jean-Pierre Melville, der immer ganz, ja engstirnig, genau weiß, wie man es macht (und was gar nicht geht), Assistenz bei Resnais in Marienbad. Sturzstart in den Neuen Deutschen Film, Zusammenhocken mit Werner Herzog und Fassbinder, der Törless als erster großer Erfolg, der Kohlhaas als erstes großes Desaster (der eine oder andere Unhold wird folgen), Liebe zum Zusammenarbeit mit Margarethe von Trotta, deren berüchtigtem Wort über ihn, Schlöndorff, er sei ein «Monument der Schwäche», er ausdrücklich zustimmt. Ausführlich wird das Tagebuch zum Dreh der Blechtrommel buchstabiert, nun ist er weltberühmt, in Hollywood unterwegs, Freund Dustin, Freund John (Huston; auch Malkovich), Faye Dunaway Diva, er schüttelt allen die Hand, alle schütteln die seine, Leben mit zwei Frauen zugleich, Affäre mit Lemper, dann eine, die die ejaculatio praecox für immer heilt. Aufs und Abs, die Studio-Babelsberg-Übernahme, angefeindet von allen außer, naja, Freundin Angela Merkel, mit den Filmangeboten wird es hinterher dünner, aber berühmt ist berühmt. All das, und vieles mehr, schildert das Ich dieses Buchs nach Art eines ziemlich unbeteiligten Protokollanten. Es hat Ansichten, aber die sind handlich, verpackt, verschnürt. Kein origineller Gedanke, nicht einmal eine unerwartete Leidenschaft für diesen Film oder jene Figur ist zwischen die Zeilen geraten. Man sollte annehmen, dass der, der hier berichtet, bei all den aufregenden Dingen, die ihm widerfuhren, dabei gewesen sein muss. Aber es liest sich nicht so. (52cp)

 

4.3. Bis dass der Tod euch scheidet (Heiner Carow, DDR 1978)

Im Anfang sind Ton und Bild, und zwar sind sie geschieden. Ein Paar, das sich mit der gängigen Formel die Ehe verspricht, wir sehen nur Laub, es bewegt sich im Wind. Dann eine Party, Feiern und Trinken, die Schwester des Bräutigams ist in einen Nebenraum ausgeschert mit einem Mann, der nicht ihr eigener ist. Was nun folgt: Szenen einer Ehe. Der Sex, der gut ist und gut bleibt und als Versöhnungssex wieder und wieder das Ende der Beziehung verhindert. Das Kind, das nie ins Zentrum gerät, nur als Zankapfel, weil der Mann nicht will, dass die Frau, Katrin Saß in ihrem Debüt findet für das Leiden wie das Kämpferische schön übergangslose Register, wieder an der Kasse der Kaufhalle arbeiten geht. Hinter seinem Rücken macht sie einen höheren Abschluss. Prügel, heftige Reißschwenks. Er scheitert, hat nicht die Worte zu sagen, was ihn überkommt; klassischer Fall des Schlägers, der, wenn es zu spät ist, bereut. Klassischer Fall der Frau, die nicht einmal, sondern viel zu oft alles verzeiht, bis sie glauben muss, dass gegen den toxischen Mann nur Gift helfen kann. Ein Film der Ellipsen, die wie Schlaglöcher sind. Feierszenen der abgründigen Art, ein Mann demütigt seine Frau und alle schauen nur zu, DDR noir, der Alltag dazwischen. Am Ende der Mann zum Schweigen gebracht, Heulen, draußen vor dem Fenster wird wieder freudlos gefeiert, und Schnitt. (78cp)

 

Monde vor der Landung (Clemens J. Setz, D 2023)

Peter Bender, den es gegeben hat, ist ein Irrer, jedoch der - zumindest in dieser erfolglosen Variante - harmlosen Art. Clemens J. Setz zeichnet, sehr ausführlich und dokumentengestützt und übergenau, seinen Lebensweg nach. Von Worms in den Krieg, fast tödlicher Absturz, das Hineindenken in Thesen der absonderlichen Art, zu Geld und zu Geschlechtern, vor allem die Hohlwelten-Theorie und dann was mit Monden, das hat es in den Titel des Buches geschafft. Auftritte, Traktate, ein Roman, Gründung von Gesellschaften, vieles aus zweiter Hand, ein Privatgelehrter, dem nicht das Eros der Wissenschaft, aber die Fähigkeit zur Überprüfung des Unsinns fehlt, den er verzapft. Setz folgt ihm brav, natürlich nicht gläubig, auch nicht auf psychologische Fassbarkeit reduzierend, aber so, als wäre an dem Mann und seinen windschiefen Gedankengebäuden mehr als nur das eine oder andere interessant: nämlich alles. Die Ehe, die Affären, meist in der Nähe der erlebten Rede geschildert, aber nur in ausgewählten Szenen fast ganz subjektiv, etwa in der Verstörung nach dem Absturz. Sonst aber von einer Beschreibungsredundanz recht ausmalrealistischer Art, in der Irrenanstalt, in der Nazi-Gesellschaft der alles andere als harmlosen judenhassenden  Irren, die ihn, der sich zwischendurch für den wiedergeborenen Hohlweltenentdecker hält, und seine jüdische Frau immer weiter bedrängen; am Ende wird er im Konzentrationslager sterben. Historienroman, der von der sich nicht vermittelnden Faszination für seinen Gegenstand übermannt bleibt. (58cp)

 

3.3. Die dicke Tilla (Werner Bergmann, DDR 1982)

Zwei Mädchen, Tilla und Anne-Sophie, etwa zehn Jahre. Schauplätze sind der Unterricht, wo der Lehrer nicht sehr streng die Ordnung aufrecht erhält. Zum Konflikt kommt es draußen, wo sich Tilla als die Bestimmerin aufspielt, die eigensinnige und kluge Anne mit ihrer Briller, unterstützt vom Kreis der Getreuen (immer dabei: Knutschi), mitten in der Stadt (es ist Potsdam) kujoniert. Bei anderer Gelegenheit hat Tilla einen Fisch aus dem Wasser geangelt, Anne entreißt ihn ihr und wirft ihn ins Wasser zurück. Darauf demoliert Tilla den Vorderreifen am Fahrrad der Kontrahentin, das ziemlich Bonanza-haft ist. Werner Bergmanns Kamera folgt dem Geschehen manchmal ganz nah, strudelt sich in Gesichter und das Zusammenstehen der Körper hinein, manchmal fährt sie auch am anderen Ufer auf Abstand beobachtend mit. Ganz und gar aber lässt sie sich auf die nächtliche Fantasie Anne-Sophies ein: ein fliegender, sprechender Fisch vor dem Fenster, hinaus und hinauf und davon, die kindlichen Gemälde werden zu Wirklichkeitsgrund. Toll, wie die Darsteller*innen hingestemmt stehen, den Text so sprechen, dass er nicht aufgesagt ist, sondern wirklich ihnen gehört. Bezaubernd die Vorgedanken zum ersten Kuss, der dann wie hingetupft wirkt. Am Ende Versöhnung, hoch oben, die Leitern zur Seite gestoßen, auch da geht es ums Küssen und die wirklich wichtigen Dinge des Lebens. (75cp)

 

2.3. Die Kuckucks (Hans Deppe, SBZ/D 1949)

Diese Kuckucks sind die Unschuld hoch fünf: Kurz nach dem Krieg, die Mutter ist tot, der Vater vermisst, die älteste, Inge, führt das Regiment über die drei Jungs und die kleine Schwester. Sie werden von einem Unterschlupf in den anderen geschubst, das ganze Haus ist froh, als sie weg sind, die ältere Dame, in deren puppenstubenartigen Wohnung sie landen, trauert um ihren ebenfalls im Krieg vermissten Sohn und kriegt Zustände, wenn es lärmt oder auch nur ein Möbel verrückt wird. Das ist, zunächst mal, die ältere Generation, später kommt noch ein Herr Schulze als Schurke dazu, dessen Verbrechen aber nichts mit denen der Nazis zu tun haben: Der Neubeginn, von dem dieser Film erzählt, verschweigt fatal und komplett Drittes Reich, Holocaust, überhaupt Schuld; im Tresor im Keller liegen Papiere, dabei geht es aber nur um Eigentumsbetrug. Dafür bauen sich die Kuckucks (eigentlich: Kuckerts) in einer zerstörten Villa ein neues Zuhause, mit Schwung und Pressebegleitung (der Nachbar, jung und fesch wie die Jungen hier alle, arbeitet bei der Berliner Zeitung), über die Beschwerden und Bedenken der Alten hinweg. Ein Nestbauwunder, die Bahn ist frei, der Blick in die Zukunft gerichtet. (65cp)

 

1.3. Lissy (Konrad Wolf, DDR 1957)

Quick heißt das Schnellrestaurant in Berlin, in dem Lissy die Kasse bedient. Sie verliert ihren Job, als sie sich, schwanger, gegen die Zudringlichkeit ihres Chefs wehrt. Auch ihr Mann, der Vater des Kindes, wird arbeitslos, treppauf, treppab geht in Überblendungen die vergebliche Suche  Es ist das Jahr 1932, Vorlage F.C. Weiskopfs 1937 veröffentlichter Roman. Eine Totale, in der am damaligen Bahnhof Danziger Straße die U-Bahnen und Trams kreuzen, wimmelndes Leben mit Autos und Menschen, auch Züge durchschneiden mehr als einmal das Bild. Man sieht sie wieder, diese Kreuzung, scheinbar unverändert, am Ende, aber da haben die Nazis die Macht längst übernommen, davon sprechen auch verkantete Winkel beim Gang hinaus auf die Straße. Auch in Lissys Leben regieren die Rechten, der Mann schleppt bald den feisten Goebbels-Kumpel Kaczmierczik ins Haus, dem Werner Bergmanns Kamera von hinten und unten Züge des Vulgär-Dämonischem gibt. Zum Schaudern ein besoffenes O Tannenbaum am Klavier, das Schnapsglas hüpft bedrohlich dazu. Später ein dunkler Monolog von Kaczmierczik im spiegelnden Glas eines Schranks, Lissys Bruder, erst links, dann Ganove, dann Nazi, wurde, weil er den Reichen weiter ans Leder will, von den eigenen Leuten gemeuchelt. Von Zeit zu Zeit meldet sich eine berichtende weibliche Stimme, kommentiert, ordnet ein, während die Titelheldin Lissy, von der man zunächst noch erfährt, dass sie die Männer liebt und die Liebe, immer passiver wird. (73cp)

 

L'Envol (Pietro Marcello, F 2022)

cargo #57 (73cp)

 

 

FEBRUAR

28.2. Die Brücke (Arthur Pohl, SBZ/D 1949)

Die Umsiedler kommen, man steckt sie ins Lager jenseits des Flusses, über den eine wacklige Brücke geht, die die neuen und die alten Bewohner verbindet und trennt. Groß ist das Ressentiment, am Stammtisch vor allem, in der Kneipe Zur goldenen Kugel, größer wird es, einerseits, als in der jüngeren Generation erotische Energien von der einen zur anderen Seite zu fließen beginnen. In deren Zentrum: Hanne, gerade mal achtzehn, Tochter des Umsiedler-Sprechers Michaelis (exzellent zerknautscht: Karl Hellmer), von gleich zwei Männern umworben, was, weil der eine, Neffe des Bürgermeisters, bereits eine Affäre mit der verheirateten Gastwirtin hat, für zusätzlichen Unfrieden durch Eifersucht sorgt. Zum Beispiel beim Tanz. Andererseits bedeute Liebe natürlich Annäherung, der Bürgermeister ist ohnehin von Anfang an um Ausgleich besorgt. Es hilft dabei der Wacholderschnaps, den Michaelis aus dem Osten mitgebracht hat. Alles Politische übersetzt sich so wie von selbst ins Private. Die Katharsis verlangt dann nach doppelt tragischer Aufgipfelung: Zerstörung der Brücke und ein Feuer, das als Ergebnis von Eifersuchts-Reibungs-Energie vom Schicksal/Drehbuch gelegt wird, schwimmen die Umsiedler über das Wasser solidarisch zu Hilfe, die Bewohner des Dorfes sind unversehens zur Gemeinschaft geformt. (70cp)

 

27.2. Eolomea (Herrmann Zschoche, DDR/Sowjetunion/Bulgarien 1972)

Acht Raumschiffe, die verschwinden; ein Frühlingsplanet irgendwo draußen im All namens Eolomea, das sind die Science-Fiction-Prämissen. Wichtiger aber der Roboter für alles mit dem rechteckigen Kopf, ich küsse Ihre Hand, Madame; der Salz-und-Pfeffer-Norweger-Pulli, der sich im Weltraum gut macht; das Schild über dem Fenster des Gleiters, das vor dem Öffnen vor Halt des Zugs warnt; der Spurt ins Meer, die Kamera fliegt nach hinten oben davon; der Wein, auf der Terrasse am Meer vor den Palmen auf die weiße Hose gekippt; die Schildkröte und die Galapagos-Motive, am Schwarzen Meer in Bulgarien gedreht; das sexy Ringe-Kleid von Cox Hobbema, deren leichter holländischer Akzent für eine der vielen Noten leiser Fremdartigkeit sorgt; das Auditorium der Raumagentur, gefüllt mit mehr People of Color, als man sie in sämtlichen US-Science-Fiction-Filmen der Siebziger überhaupt findet; die dazwischenflirrenden Szenen am Wasser, es könnte Brandenburg sein; das Gleißen der Raumschiffmodelle vor der Schwärze des Raums; die Gespräche vor wilder Bergkulisse mit Schnee, die gezackten und farbigen Felsen des fremden Planeten; die abstrakten Schlierenbilder dazwischen als schiere schöne Anderewelthaftigkeit; alles ist hier heimelig fremd, die DDR fern, nur dass die Synchronsprecher nach ihr klingen, die Körper und ihre Bewegungen von ihr zeugen, wenngleich noch mehr von der ganz und gar einheimischen Sehnsucht, die sich in den Bildern der Ferne nicht versteckt, sondern als entspannte Psychedelik in bewegender Offenheit zeigt. (77cp)

 

Treffpunkt Aimée (Horst Reinecke, DDR 1956)

Deutsch-deutscher, genauer: Ost-West-Berliner Kriminalfilm um einen Mann, der die Verschiebung von PVC orchestriert. Das Weich-PVC trägt, noch von der I.G. Farben her (so ragt die Vergangenheit hier hinein), den Namen Igelit. Beim Grenzverkehr der LKWs von Westen nach Osten geht es zum Schein nur um Gips. Da stimmt aber etwas nicht in den Bilanzen, ein gemütlich scharfsinniger Ermittler von der Volkspolizei gerät auf eine Spur, da räumt man ihn aus dem Weg, oder versucht es. Seine Tochter ist unschuldig mehrfach in alles verwickelt, amourös bindet sie sich ebenso wie beruflich an die ganz Falschen. Der Treffpunkt Aimée ist eine Tanzbar, die Bilder sind atmosphärisch schwarz-weiß, das Schaubild erklärt, wie das Weich-PVC hergestellt wird. Und Gisela May verkörpert das Böse nicht weniger als der Drahtzieher namens Wespe sehr elegant, auch wenn der Plot und das Bild der Zeit nichts Besonderes sind. (63cp)

 

26.2. Träum’ nicht, Annette (Eberhard Klagemann, SBZ/D 1949)

Wo sind wir hier? Alles irgendwie Wien, Operettenfilm, dreißiger Jahre, rollendes Bühnen-R Jenny Jugo. Wie geträumt muss schon diese Wirklichkeit im Deutschland anno 1949 erscheinen, die junge Frau als Französischlehrerin zwischen erst zwei Männern, dann sind es drei. Der eine Diplomat, der andere Wissenschaftler, der dritte spielt nebenan das Klavier. Sie alle wollen von Annette (ohne e zu sprechen) das eine, nämlich die Ehe, sie bemühen sich, auf indirekte Weise zuerst, dann sehr direkt. Annette wirbelt auf einer drehenden Scheibe, sie fährt auf einem Boot durch eine Lustgrotten-Attraktion. Dazwischen realiter U-Bahn, aber vor allem, dem Imperativ des Titels zum Trotz diese Träume. Und die sind, man muss sagen: spektakulär. Träume von Schlössern, sie schrumpft zum Däumling, der Wissenschaftler hat ein Gerät zur Stummschaltung der Menschen entdeckt. Kann aber auch Menschen aus ihren Anzügen zaubern, die stehen als leere Jacke herum. Schlusstraum vom Konzert, bei dem das Publikum sich verdrückt, alles verstummt, Rückkehr in die realitätsferne Wirklichkeit der Liebesromanze. Entscheidung am Bahnhof, Züge fahren nach Paris oder Salzburg, die beiden Verlierer sind galant genug, sich nicht weiter zu grämen, dem küssenden Dritten wird verziehen, dass er der sonst sehr selbstbewussten Annette (immerhin war er besoffen) den Hintern versohlt hat. (70cp)

 

Berichte aus der Ukraine 2 - Tagebuch einer Invasion (Igort, Italien 2023)

cargo #57 (74cp) cargo

 

25.2. Bis ans Ende der Nacht (Christoph Hochhäusler, D 2023)

Shiny objects, im Hellen, im Dunklen, nie ganz hell und nie ganz dunkel, halb durchsichtig alles. Die Räume, in denen semitransparente Barrieren den Blick auf meist attraktive Weise nicht und doch auch versperren. Die Kamera fährt, unruhig, aber nicht aufgeregt, nach rechts und nach links. Sie tigert. Sie nimmt, Küche, Zimmer, Balkon, eine Gesellschaft in den Blick, queer, trans, in der Küche ein Mann, der ist cis. Und doch undercover. Leni, die blonde trans Frau, ist Lockvogel und Liebesobjekt. Hier wird es, ist es von Anfang an kompliziert. Die Szenen sind für die Betrachter*in guesswork. Was ist es, das sie mit ihm und ihn mit ihr verbindet. Beruflich/privat, cis/trans, hetero/queer, um diese Achsen ist alles, und zwar mehrfach, gespiegelt. Es steht das private Glück, die Zukunft und sogar die Vergangenheit auf dem Spiel. (Die Frage, was man füreinander am Ende gewesen sein wir. Blick in die Kamera, zynisches Ende.) Das klingt alles ausgedacht kompliziert, auf dem Papier. Und ist noch komplizierter, als Film. Auf allen Ebenen Brechungen, Spiegel. In den Psychen, Anziehung, Abstoßung, Anziehung, die Unsicherheit, gespielt oder nicht, das zitternde Lächeln von Thea Ehre, das Aufwallen von Timocin Ziegler, Hin und Her und Auf und Ab im Begehren, im Genre-Plot, in den Kamerafahrten, den Bildern. Tolle Kompositionen, hinreißendes Licht, shiny objects als Scherben, an denen sich das Denken und Fühlen schärft, bis es abgestumpft ist. So kommt das Melodram nicht vom Boden, man sieht das Blut, nur wird der Puls des Films mit jeder weiteren Wendung schwächer, nicht stärker. (67cp)

 

O estranho (Flora Dias, Juruna Mallon, Brasilien/Frankreich 2023)

Garulhos ist eine große Stadt im Staat São Paulo, aber was man der Film zeigt, ist zweierlei: Flughafen und Natur. Statt eines Erklärtexts zur Geschichte des Landstrichs Annäherung in Großaufnahmen an Boden und Grund, Jahreszahlen, 1492 zum Beispiel, eine nackte Frau hockt am Fluss. Hier haben Indigene gesiedelt, hier war Land, das man ihnen genommen hat. Auch für den Flughafenbau wurde Boden geraubt, hat man aus Häusern und Straßen Flugscharen gemacht, die Vergangenheit ist nur noch als Erinnerung jener präsent, die man vertrieb - der Titel des Films spricht jedoch nicht von der Vertreibung, O estranho beschreibt die Gegenbewegung: das Eindringen in einen Raum, eine existierende Welt. Manche sind noch da, an diesem nun neuen, anderen Ort, arbeiten in den Jobs, die der Flughafen schuf. Die Szenen, in denen der Film die Geschichten dieser Figuren zeigt, schillern zwischen Dokumentarischem und Fiktion, die Frauen und Männern spielen sich selbst, aber in diesem Spiel gibt es ein Moment der Freiheit durch Treibenlassen, Erfinden, der Eigendynamik, für die der Zwischenraum zwischen der, die man spielt, und der, die man ist, genug Platz ist: Dieselbe und nicht dieselbe. So kehren auch Indigene in ein Dorf in der Nähe zurück, treu ihrem Glauben, treu ihren Sitten, aber es sind nicht nur die, deren Vorgeschichte dort lag. eine Rückkehr, die auch ein Eindringen, wenngleich ins Eigene (ins «Eigene») ist. (73cp)

 

24.2. Llamadas desde Moscú (Luis Alejandro Yero, Kuba/Deutschland/Norwegen 2023)

Vier Kubaner, queer alle, in Moskau gestrandet, in Wohnungen, Zimmern, Betten, denen aller Charme fehlt. Sie kommunizieren, vom Film stets vereinzelt, über ihre Handy, mit Bekannten, mit Freunden, im Hintergrund Geräusche von Wohnung und Stadt (weitab vom Zentrum). Einer vertickt am Rechner teure Quacksalber-Medizin, einer sieht einem irren kubanischen Einpeitscher auf einem Bildschirm zu. Es geht in den Gesprächen auch um den Krieg, der in der Stadt erst gar nicht zu spüren ist, und dann sehr. Draußen liegt Schnee, darunter ist monoton anschwellend dräuende Soundscape gelegt. Über die Einsamkeit der Männer hinaus wird sehr wenig klar, zum Beispiel ihr Verhältnis zur Person, die das filmt; zur Inszeniertheit der einzelnen Szenen. Zu woher und wohin, zu Vorgeschichten, Zusammenhängen, Vergangenheit, Zukunft. Vermutlich fängt gerade das die Situation treffend ein, aber das Gefühl, man werde hier doch etwas angestrengt im Dunkeln gelassen, stellt sich ebenfalls ein. (54cp)

 

Beschreibung eines Sommers (Ralf Kirsten DDR 1963)

Das mit dem Huren und dem Saufen müsse er, Tom Breitsprecher (Manfred Krug), sein lassen, wenn er auf der Baustelle arbeiten wolle, mahnt ihn sein langjähriger Freund. Er sagt es zu und macht sich als Anleiter und Aufseher idealistischer sozialistischer Jugendlicher ans Werk, deren Idealismus er auf knorrige Weise nicht teilt. Und die Jugend hat er mit seinen dreißig Jahren auch hinter sich. Als ihm Grit (Christel Bodenstein) mit dem FdJ-Ausweis kommt, wischt er ihn weg. Nicht wegwischen lässt sich dagegen Grit, die Kamera nähert sich ihren Köpfen, blendet dunkler, blendet wieder hell, da kommt auch, der einen Nacht zum Trotz, keine Lilo dazwischen. Schön und satt und warm ist das schwarz-weiße Bild, am Tag im blühenden Feld, aber auch in der Nacht auf der Brücke, und ganz besonders, als im Wald ein Feuer ausbricht Aufgebaut wird handwerklich ordentlich, kein Gezweig im Beton, Grit wird Haupt-, der Sozialismus bleibt Nachgedanke. So wird der Sommer, der kam, wieder gehen, der Freund mahnt als Stimme der Partei; das Ende hält das Glück, das nicht verweilen kann, noch einmal, und lässig, fest. (73cp)

 

23.2. Roter Himmel (Christian Petzold, D 2023)

Ein Hausfilm. Zwei junge Männer auf dem Weg zum Ferienhaus auf dem Darß: Mit einem Knall explodiert was im Automotor. Kein Netz. Das Haus ist wider Erwarten bewohnt. Zwei schlechte Nachrichten und ein Achsensprung in der Küche: Hier ist noch mehr, als es scheint, aus dem Lot. Es dauert, bis die Frau sich materialisiert: erst als Geräusch, beim Sex, dann, wie direkt der Fantasie entsprungen, im roten Kleid, draußen. Das Spielfeld ist übersichtlich, ein weiterer Mann kommt hinzu, dann noch einer, es ist eine Geschichte, die warten kann, die mit Erwartungen spielt, die Omen früh streut, quiekende Schweine, am Horizont Feuer, eine Erzählung die aber mit sich zurückhält, sich selbst als unzuverlässige Erzählung markiert (ob das mit dem zitierten Werner Hamacher ein Beben der Darstellung ist, ist eine andere Frage; das Feuer vom Darß ist nicht das Beben von Chili, Petzold schlägt sich auf die Seite des ironischen Romantikers Heine). Ohnehin legt sich Roter Himmel nicht fest auf ein Genre. Da ist ein Araber mit Teppich unter dem Arm, in Tausendundeiner Nacht sind wir auch, das Erzählen als die Kunst, ein überzeugender bullshit artist zu sein. Der Protagonist, der Schriftsteller ist, hat bullshit geschrieben, zum artist muss er noch werden, der Film erweist sich, per finalem Achsensprung anderer Art, als sein ganz persönlicher Selbsterkenntnisroman: Erzählbar geworden als comedy of embarrassment des beschränkten Horizonts und klassistischen Blicks. Und so hat der Film ein doppeltes Ende, die Tragödie, die Schlag auf Schlag und ziemlich eiskalt serviert wird; obendrauf das romantische Erlösungs-Happy-End, mit dem sich Petzold selbst als ultimativer bullshit artist erweist. Der Tod muss warten, die Liebe darf vorläufig siegen. (73cp)

 

Mein Freund Maigret (Georges Simenon, F 1950, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Porquerolles, Insel der Seligen vor der französischen Mittelmeerküste, hierhin flieht Maigret aus dem kühlen Paris und hat dabei seinen Kollegen von Scotland Yard, Inspektor Pyke, im Gepäck. Der ist auf der Spur der Methoden des berühmten Kommissars, der sich allerdings seinerseits im Spiegel betrachtet und kaum glauben kann, dass ihn nicht das Kind anblickt, an das zu sein er sich so gut erinnert, sondern der in die Breite gegangene, kahl werdende erwachsene Mann, als den ihn alle Welt auch behandelt. In Porquerolles ist einer gestorben, nachdem er behauptet hat, Maigret sei sein Freund. Der kann sich nur mit Mühe erinnern, lernt, dem süßen Nichtstun nur unter Anstrengungen nicht erliegend, Existenzen kennen (redend, sinnend, sitzend), die das Weite gesucht haben, vielmehr das Enge: die Überschaubarkeit einer Insel. Ohne dass der Inspektor eine Methode erkennt (das tut er erst im Finale, in der Verhörsituation, und macht sich intuitiv klein), schieben sich die Puzzlestück zusammen zu einem Bild, das von van Gogh zu sein scheint, aber nicht ist. Ein Kunstfälschungsroman, der schlimmste Schurke bekommt auf Maigrets Wunsch mal wieder einen Schlag ins Gesicht. Es ist aber eine ganz und gar Unschuldige, die am Ende stirbt. (73cp)

 

22.2. Music (Angela Schanelec, D 2023)

Der Nebel, in einem langen ersten Bild, versetzt nicht den Berg, den man kaum sieht, aber er setzt etwas aus, oder, wie sich dann zeigen wird, neu: die Zeit und den Raum, das Verhältnis von Körper und Geist, den Zusammenhang von mythischer Vergangenheit und einer Gegenwart, die sich davon Welten entfernt sieht. Der Ödipus-Mythos, der hier licht und verdeckt wie der Nebel in unsere Gegenwart dringt, impliziert ein Walten der Götter, aber es sind andere Kräfte, die hier walten als die gewalttätigen Schicksalsmächte der Griechen. Dabei sind das Blut und das Töten im Spiel, die blutigen Füße des Jonathan-Ödipus, das Sterben, mit dem schon alles beginnt, und die Neugeborenen, mit denen alls nicht endet. Ein dunkles Zimmer, in dem man das Licht draußen nur ahnt, und die leisen, fast enden wollenden, aber nicht, hier noch nicht endenden, Laute eines Säuglings. Urlaute, noch keine Sprache. Sprache als Kommunikation ist auf ein Weniges reduziert, fast nur Nennung von Namen, mit kargen Worten ist, was zu sagen ist, schon gesagt. Selbst der Chor, der im Bild steht, blickt nur und schweigt. Ins Innere, in die Mitte gerückt sind nicht die Worte, sondern die Körper, die Füße und Beine vor allem, sie streifen den Kothurn von sich ab, noch die Blendung des Ödipus ist eine unsichtbare Transformation, man erkennt sie am schleppenden, tastenden Gang seiner Füße eine Treppe hinab. Es geht nicht um ein Denken oder Bewusstsein im Sprechen der Menschen, sondern um das Elementare, das sie mit der Natur und der Mitwelt verbindet (und von ihr trennt): Beim Gehen und Schwimmen, sie umarmen einander und töten einander, elementar ist das, aber ohne jede Schwere, die Bilder vom Menschen unter den Menschen und in der Welt sind mit schöner Selbstverständlichkeit leicht, noch wo sie Last und Tod in sich tragen. Das Verblüffende ist: Das Elementare ist einfach, alltäglich, banal, nicht bedeutend, symbolisch, abstrakt, oft eher hässlich, jedenfalls kaum je ausdrücklich schön, es geht um die Anfangsgründe der Wirklichkeit, nicht um Metaphysik. So ist das Entkernen der Granatäpfel zu sehen, das Tischtennisspiel (und noch dazu schlecht), das Gebanntsein vom italienischen Tor in der Verlängerung bei der Fußball-WM, die Blendung findet auf dem zutiefst funktionalen Polizeirevier statt. Nicht einmal der Potsdamer Platz, kahler Stadtraum, wenn es je einen gab, darf hier fehlen als Ort, an dem ein Politiker stirbt. Dagegen aber steht, gegen das Banale, das Funktionale, das Elementare in seiner Sprachlosigkeit, die Musik, die Barockmusik, einmal eine Anrufung der Namen von Pergolesi bis Händel, aber vor allem, vom Band erst, dann von Menschen, etwa in der Küche, gesungen, die Musik selbst, die nun tatsächlich, eingebettet in die Welt, diese doch, wenngleich in strikter Innerweltlichkeit transzendiert. Wobei über die Art und Weise, wie sie das tut, lange zu sprechen wäre, denn das Transzendieren ist kein Überwinden und kein Entheben, sondern eine Abart des Fügens, das kein Einfügen ist, aber es ist die Musik mit der Wirklichkeit (der Welt und der Mitwelt) im Fugen verbunden, als etwas, das eine Form hat, die (und darum Barock und darum zuletzt auch nicht nur Barock) ein tiefstes Ausdrücken ist in so einfacher wie elaborierter Mittelbarkeit. Und genau darum ist es Schanelec auch zu tun, das Finden einer Kinosprache, deren Barock (via Ozu, Angelopoulos, Bresson/Green, wer auch immer) die Kunst seiner Mittel im offen zutage liegenden doch auch zugunsten des Einfachen wieder verbirgt. (90cp)

 

Le mura di Bergamo (Stefano Soldano, I 2023)

Die Bilder von Beerdigungen kommen nur aus dem Archiv, in das der Film zwischendurch ohnehin greift, ohne zu sagen, was man hier sieht und warum dieses, nicht jenes. Die Bilder aus den Hospitälern greifen tief ins Leben und Sterben, bleiben um Pietät dabei sehr bemüht. Man kommt Menschen und Schicksalen nahe, auch wenn der dokumentarische Betrachter seine Anwesenheit ganz heraushält und jede Rede darum bis ins Irritierende indirekt bleibt. Dass einer, der filmt, dass eine Kamera, die, was man sieht, für nicht Anwesende festhält, sich geben, als gäbe es sie nicht, dass sie intervenieren, als intervenierten sie nicht, und zwar in privateste Räume, ins Sterben, ins Trauern, in Dinge weit jenseits allen Begreifens, auch in ein Sprechen, das nicht nur das Leben, sondern den Tod hinter sich hat, das ist aber doch eine Form dokumentarideologischer Ungerührtheit, die das, was geschehen ist, radikal unterläuft, auch wenn ihm vielleicht gar nichts angemessen sein kann. (57cp)

 

21.2. Le Gang des Bois du Temple (Rabah Ameur-Zaimeche, F 2023)

Großer Schwenk über die Häuser zu Beginn eines Films, der durchs Genre ins Offene sieht. Der Sehnsucht zu Gehör bringt, und sei es die Sehnsucht des Mörderprinzen nach Freiheit beim Tanz, sei es der Wunsch nach einer Prothese auf dem Stand der medizinischen Dinge, der Wunsch nach Gemeinschaft mit Menschen, die sich nehmen, was ihnen, anders als anderen, nicht geschenkt worden ist. Mitten unter ihnen ist dieser Film, unter denen in den Siedlungen draußen, mit den Tauben in den Grünflächen, die nicht viel hermachen, mit den kleinen Wohnungen mit Billiglaminat und den Wannen, in denen man würdelos stirbt, vom Schicksal erdrosselt. Unter jenen ist der Film, deren Unterhaltung in den Wetten auf Pferde besteht, die Prinzen gehören, aber wer die Ordnung der Dinge eigenmächtig, nein, nicht auf den Kopf stellt, sondern ihr nur kurz in die Speiche zu greifen versucht, kommt unter die Räder. Es ist nicht das Genre, das das so will, sondern eine Realität, die Ameur-Zaimeche nicht verleugnet. Das Recht wird dabei um ein Haar gar nicht beteiligt, es richtet nichts wieder ein, es schützt vor der Übermacht nicht. Die Gerechtigkeit, die der Film herstellt, eher mit Hilfe des Genres als der Realität, kann nur eine bittere, poetische und zuletzt doch nur falsch befriedende sein. (79cp)

 

White Teeth (Zadie Smith, GB 2000)

Ein Gesellschaftsroman, dessen präzise geplanter Grundriss immerzu durchscheint, beschreibungs- und ausspracheselig, es wird hineingepackt, was ich hineinpacken lässt, das ist bestürzend virtuos und belesen, eine Geschichte, die mit festem, nie zierlichem Schritt durch die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts spaziert. Themen werden zu Figuren und ihren Konstellationen, zu Familien- und Freundschaftsverhältnissen, eine waltende und zwischendurch sich einschaltende Erzählinstanz gibt es auch. Dickens spricht mit, ein bisschen magischer Realismus blinkt, etwa bei Münzwürfen, auf, es geht um Herkunft und Ökonomie und Rassismus und das Clonen. Es ist, mithin, eine Form von Literatur, an der alles gekonnt ist. Bewundernswert also, und langweilig auch. (60cp)

 

20.2. This is the End (Vincent Dieutre, F 2023)

Kommt ein Mann nach L.A. Vielmehr: ein von einem Auto bewegter Kamerablick fährt hinein in die Stadt. Autos, Lichter und Straßen. Und Sprache. Die des Ichs, das hier spricht, das sich der Stadt annähert und in der Stadt, unter dem Hollywood-Zeichen, einem Mann namens Dean. Mit dem ihn eine Vorgeschichte, eine New Yorker Affäre oder Beziehung, verbindet, sie liegt vierzig Jahre zurück. Auf Facebook haben sie sich wiedergefunden. Nun ist das Ich, mehr oder weniger Vincent Dieutre, im Haus dieses Mannes, und dann auch im Bett. Dazwischen die Fahrten, drive by shooting von Menschen, Straßen und Szenen, Malls sieht man, die Zelte von Obdachlosen, Brachen und dann doch, der Pandemie zum Trotz, sehr viel Leben. Und auch dazwischen, wieder und wieder, Auftritte in einer Poetry Lounge, Jean-Marc Barr oder Elina Löwensohn und viele andere sprechen Texte im Bühnennebel, Bewegtbilder im Hintergrund projiziert, die Stimmung ist so elegisch, wie sie es auch sonst in diesem Film ist, der in seinen Texten das Gefühl einer Endzeit beschwört. Der Text will, zitiert, ist emphatisch L.A.-Theorie, Philosophie zur Konglomeration, die das Stadtsein verweigert, in der nur Riots, aber keine Revolutionen möglich sind. Der Text ist, wie es die Bilder auch sind, vor allem ein Fluss, der Gedanken und Worte, vom Privaten ins Weite, die Wörter oft übergroß, aber man kann sich ja auch auf den Blick konzentrieren, die Fahrten, von schöner Endlosigkeit, durch die Stadt und das, was sich an ihr im Vorbeigleiten festhalten lässt. Und dann auch, als Kern vielleicht, die immer mehrfach geloopten Szenen der Körper, Dean und Vincent, Vincent und Dean, einander streichelnd, einander küssend, viel Begehren, heißt es einmal, ist nicht mehr da, aber etwas, und etwas von allem, in Endzeiten doch. (74cp)

 

Ingeborg Bachmann. Reise in die Wüste (Margarethe von Trotta, D 2023)

Reise in die Wüste, vor allem aber in ein Niemandsland. Ein Max Frisch, der nicht nach Schweiz, eine Ingeborg Bachmann, die nicht nach Österreich klingt. Eine Abstraktion, aber nicht einmal eine halbe, denn einfühlen in ihre Körper, in ihre Figuren sollen Vicky Krieps und Ronald Zehrfeld sich doch. So zehrt die Geschichte von der ziemlich notorischen Wirklichkeit, der sie nachstellt, es werden Texte zitiert und in Münder gelegt; es werden Körper gestellt, gesetzt und gebettet in meist schön ausgeleuchteten statischen Bildern (zu denen es Ausnahmen gibt), beim Sex zwischen Bachmann und Frisch bleibt es andeutungsweise. In der Beziehung mit Adolf Opel, den sie als dagegen montierten Heilungsprozess in die Wüste begleitet, hilft der Sex nicht zum Du; in der mit Hans Werner Henze viel Liebe und Du, aber kein Sex, er ist ja schwul. Da hat man also die Geschichte zweier mehr oder minder bedeutender Literat*innen, die es privat nicht packen aus Gründen, die man so und so sehen kann, Eifersucht hier, zu große Strenge da, Schreibmaschinengeräusche wie Schüsse, sie hasst die Schweiz, sie flirtet mit aller Welt. Dazu entschlossen Zeitkolorit (wobei die Farben der Wände in Frischs Haus aussehen wie von Farrow & Ball). Kaum eine Frau, die sich bei der Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden im Publikum findet. Der schreckliche Ernst, mit dem Bachmann über Wort und Sprache philosophiert. Darin platziert der zarte und der massige Körper, noch die Verbindung zwischen Körper und Sprechen bleibt, ist es Methode oder These, abstrakt. Interessant wäre es als individuelle oder als exemplarische Sache. Seltsamerweise hat von Trotta einen Mittelweg zwischen beidem gefunden: Er führt in die Wüste, aber nicht die, die ihr vorgeschwebt hat. (58cp)

 

19.2. Irgendwann werden wir uns alles erzählen (Emily Atef, D 2023)

Die Leinwand kann gar nicht groß und weit und hoch genug sein für die spätsommerlich hingebreitete Landschaft. Und sie gibt den intimen Szenen in engen Innenräumen die emotionale Weite, auf die die Geschichte hinauswill. Eine amour fou von eminenter 19-Jährigkeit, eine Gefühlsberschiebung zwischen den Höfen, hineingelegt in den Nachsommer der DDR, die nachdrücklich, aber nicht überdeutlich (höchstens überdeutlich untermarkiert) präsent ist, präsenter wird, wenn der an den Westen verlorene Sohn wiederkehrt, alle, und noch der grummelige Großvater, ins Lied von den Moorsoldaten einfallen müssen, als musikalisches Bild dafür, wie eine Gesellschaftsform tief in allen steckt. Und doch verbindet sich das eine, die vergehende DDR, mit dem anderen, der großen, großen Liebesgeschichte, dermaßen kontingent (oder alternativ: als Aufbruchs-Allegorie so platt), dass zur Beliebigkeit wenig fehlt. Und diese Beliebigkeit ist es, die Atef mit Qualitätskinobildern und Streicher-Ost-inata auf der Tonspur in einen Ernst überführt, der Kitsch werden muss, weil er sich vom Trivialen seiner Grundsituation Bild für Bild distanziert. (61cp)

 

Orlando, ma biographie politique (Paul B. Preciado, F 2023)

Paul B. Preciado nimmt Virginia Woolf, nimmt ihre Orlando-Figur, nimmt den Orlando-Roman und rennt mit ihm in die offene Form. Der dokumentarische Grund wird jederzeit performativ überformt, die trans Personen, die hier ins Bild treten, die sprechen, sind, ganz genau wie sie es eine*r nach der*m anderen sagen, namentlich sie selbst und zugleich auch mit Orlando gequeert. In Kostüme gesteckt, in denen sie als Orlando sich selbst kenntlich machen, mit Worten, die ihre eigenen und übergangslos solche aus der Vorlage sind. Preciado greift nach Motiven, verrückt, was im Roman noch nicht hinreichend verrückt ist, Istanbul etwa, hier gegen Osten, lässt sprechen (eröffnet via Woolf Räume zum Sprechen), lässt performen, ohne dass man die Hand einer Regie dabei spürt: Es ist alles nur für die Selbstrepräsentation arrangiert, in der sich Unerwartetes zutragen darf. Ob das jeweils gelingt, ob jedes Bild, jedes Arrangement überzeugt: mal mehr so, mal mehr so, aber im Grunde egal. Nur konsequent, dass dieses Öffnen und Queeren auch komische Bilder erzeugt, Cameo Pierre und Gilles nur zum Beispiel, auch Rilke, der Hund, mit Orlando-Kragen, die Medikamentenfrage wird in Song transformiert, die OP-Frage (neben stolz getragenen Narben) in die Operation eines Buchs umgeschrieben. Eine Ermächtigung, die soviel Spielerisches wie Selbstverständliches hat. Und Virginie Despentes höchstpersönlich darf am Ende als Richterin die neuen Pässe verteilen, in einer Utopie der Passage in die politische Realität. (75cp)

 

The Adults (Dustin Guy Defa, USA 2023)

Das Bild ist scharf und unscharf zugleich. Der nicht mehr ganz junge Mann kommt an, wird in ein Hotelzimmer gesteckt, Rechner auf Soundbox an, er ist zurück in der Hometown, es werden Termine gemacht, ein Scott hat nunmehr ein Baby, den Pokerfreund sucht er auf, der scheint nicht unmittelbar erfreut, aber es wird eine sich absturzfähig steigernde Nebengeschichte daraus. Im Zentrum aber das Verhältnis des jungen Mannes zu seinen Schwestern, der Kontakt ist, so scheint es, seit Jahren schütter, dennoch bleiben nur ein paar Stunden Zeit, erst, es ist aber kein großes Ding, Pläne über den Haufen zu werfen, oder eher scheinen die Dinge, denn das ist die manchmal enervierend nonchalante Manier des Films, vom Haufen zu rutschen. So ist auch das Geschwister-Dreieck als Tragödie oder Komödie eines Rutschens der Rede, und zwar ins eingespielt Regressive: Alle drei wissen sich nicht anders zu helfen, als ins Stimmenverstellen zu geraten, was ein Ausweichen ist, und da, wo es ihnen mit anderen widerfährt, nachgerade verstörend. So weit so Mumblecore-psycho-erratisch. Defa belässt es bei Skizzen, verlässt sich darauf, dass sich die Figuren im Rutschen, und durch Ellipsen, aufschließen lassen. Es ist programmatisch so wenig zu Ende gedacht wie zu Ende erzählt, man könnte auch sagen: auf frustrierende Weise mit der eigenen Unausgegorenheit zu schnell zufrieden. (58cp)

 

18.2. Die Alleinseglerin (Herrmann Zschoche, DDR 1987)

Obstinates Dingsymbol: das Segelboot, das Christine vom Vater geerbt hat. Sie will es verkaufen oder auch nicht. Sie macht es den Winter über mühselig fit für den Einsatz im Frühling. Eine Plane zum Schutz findet sie nicht, wenngleich einen Georg mit blonden Locken (Götz Schubert, sehr jung), mit dem sie im Segelboot schläft. Er ist dennoch der Richtige nicht. Es gibt auch den Vater des Kindes, der on and off auch in ihrem Leben präsent ist. Beruflich beschäftigt sich Christine mit Literaturwissenschaft, sie kommt mit ihrem Teilprojekt, es geht um das Frauenbild in der Literatur, nur unzureichend voran. Nicht jeder nimmt sie für voll, die Ministerin nennt sie Mädchen. Eine Freundin sucht, findet auch, Männer und lästert über deren Annoncen. So prekär ihre Aussichten sind, niemand muss hier verhungern, sagt jemand an einer Stelle. An einer anderen steht eine lange Schlange vor einem Laden auf der Schönhauser Allee. Stolz präsentiert einer eine Tüte ziemlich grüner Bananen. Nüchterner Alltagsproblemfilm, der sich mit Bildern vom Segeln auf der Müritz erfrischt. (66cp)

 

Ming On (Soi Cheang, HK 2023, Berlinale Special)

Es braut sich etwas am Himmel zusammen, und braut sich und braut sich, da sind Schicksalsmächte am Brodeln. So auch auf Erden. So auch im Kopf der Männer, die in den Straßen und auf dem Dach und in winzigen, vollgestellten Apartments, vielleicht eher Höhlen, immerzu aufeinander prallen. Oft ist ein Messer dabei. Alles sehr blutunterlaufen. Frauen gibt es auch, Prostituierte, vor allem müssen sie sterben, es ist ein Killer unterwegs. Aber auch in einem anderen Mann steckt ein schrecklicher Trieb, er agiert ihn aus an räudigen Katzen, während der andere Mann, für den das Schicksal den Gang in den Wahn vorgeplant hat, ihm und überhaupt aller Welt nur das Schlimmste vorhersagt, Kalamitäten aller Art, oder gleich Tod, das dann meist tatsächlich eintritt. Viel Theaterdonner, Beethovens Fünfte (unter anderem auf der Gitarre) und der Colonel-Bogey-March (schmetternd) kommen zum Einsatz. Immer wieder macht der Film, nie farbecht, sehr Regen-affin, Anstalten, jetzt aber loszulegen, tut es dann jedoch nicht, kommt nur auf die eigenen Manierismen zurück. Zum Finale pfeift er sich eins, hinein in die Gassen, das ist sehr hübsch. (64cp)

 

17.2. Sweet Sweetback's Baad Asssss Song (Melvin van Peebles, USA 1971)

Gleich die ersten Bilder bleiben einem im Halse stecken: Mario van Peebles, gerade mal vierzehn, beim etwas ratlosen Sex mit einer älteren Frau. Ganz der Sohn seines Vaters, Regie und verrückte Ideen und Musik und Hauptrolle und überhaupt, as independent as it gets, alles: Melvin van Peebles. Der agiert als männlicher Prostituierter, Sweet Sweetback, beim Sex von Menschen umringt. Die Bilder so explizit wie dunkel wie immer wieder recht psychedelisch farbverzerrt, weiße Cops jagen African-American-Männer. Roh, brutal, blutig, Gewalt, Mord und Verfolgung, dazu ein zwischen wildem Jazz und Blues hetzender Soundtrack mit atonal ins Ohr schneidenden Spitzen. Bilder-Geschnetzel-Montage, es gerät so manches unvorhersehbar dazwischen, oft nicht ganz klar, wo oben und unten, wo hinten, wo vorne, nicht nur die Figuren blutunterlaufen, aber dann kommt alles ein wenig zur Ruhe, paradoxerweise, wenn Sweet Sweetback, von Cops und Hunden gehetzt, zu laufen beginnt: Erst durch die ausgetrockneten Kanäle der Stadt (die Los Angeles ist), dann hinaus in die Wüste, sich schleppend, verwundet, die Wunde verbindend, zur Tarnung noch Sex zwischendurch, ein endloser, unermüdlicher Lauf, der kein Ziel haben kann, die Hunde, nicht der Gehetzte, zu Tode gejagt, Auflösung des immer mehr als körnigen Bilds fast ins Abstrakte, es bleibt nur die Drohung: «Watch Out. A Baad Asssss N***** is coming back to collect some dues.» (71cp)

 

Das Mädchen Christine (Arthur Maria Rabenalt, D 1948)

Erst scrollt in altertümelnder Schmuckschrift ein Schiller-Zitat über den im (Dreißigjährigen) Krieg zum Soldaten verwilderten Menschen über die Leinwand. Und dann: «1641, im 23. Jahre dieses schrecklichen Krieges, begab sich abseits der großen Heerstraße Folgendes:» Doppelpunkt, Übergang von der Schrift und ihren Zeichen in den Film und seine Bilder. Innen Studio, außen Kloster Chorin. Ein Anführer namens Merian, Wolfgang Lukschy schneidig schön anzusehen, sein Bursche Christian, der eigentlich eine Christine (Petra Peters) ist. Die Courasche (Tilly Lauenstein), Marketenderin, sieht das gleich, bei den anderen fällt der Groschen sehr langsam. Die Geschichte näher an Conrad Ferdinand Meyer (Gustav Adolfs Page) als Brecht, dem Gender-Spiel zum Trotz ein leichtes Historiendrama, keine Klamotte. Christine als Christian liebt Merian, der sich Gespielinnen hält, die auch nicht immer sind, was sie scheinen. Spät, zu spät, eine false-cover-Liebesnacht zu spät, erkennt Christine den Rohling im Mann und bringt ihn, versatil in vielen Männern vorbehaltenen Dingen, beim Fecht-Duell zur Strecke. Hinreißend der Prozess, den man ihr darauf macht, ganz buchstäblich von zwei Seiten. Die Militärjustiz und das Stadtrecht sprechen ihr Urteil über den Leutnant, der sie war, und entlassen die Frau, das Mädchen Christine, das in ihm gesteckt hat, ins Freie. (67cp)

 

16.2. Nachtspiele (Werner Bergmann, DDR 1978)

Potsdam, das Inter-Hotel, diesen Raum verlässt der Film recht eigentlich nicht. Es gehen aber Blicke nach draußen, mit dem Aufzug bewegt sich die Kamera nach oben und auch nach unten, hinten hinaus liegt wenig Stadt und viel Wald und viel See. Vorne, man sieht es durch die Foyer-Fenster, die Straßenbahn und reger Menschenverkehr. Drinnen bedient eine Frau am Empfang ein riesiges Pult. Zwei Paare, um die geht es. Die einen sind jung, ein Jahr verheiratet, das Kind ist zuhause, sie gönnen sich, auch zur Überwindung von Beziehungsproblemen, die Nacht im Hotel. Und haben da Sex. Wobei zwischendurch der Fernseher explodiert. Am Ende verlängern und vergrößern sie das Gemälde zum Wandbild. Es wird draußen Nacht. Das andere Paar, er mittelalt, sie nicht mehr ganz jung, eine Zufallsbegegnung. Ihr Skoda ist in der Werkstatt, sie weiß nicht, ob sie den Zug nehmen soll, vielleicht wird auch noch ein Zimmer frei im Hotel. Da begegnet sie einem Mann, den sie kennt, ein Bruno, man ist zunächst noch per Sie. Sie sitzen im Foyer, einmal kurz draußen legt er einen sehr übermütigenr Tanz auf den Parkplatz, später geht es in den 17. Stock, ins Café, wo sie der Zufall an den Tisch mit dem jungen Paar setzt. Die einen nehmen die anderen in den Blick, sie tanzen, beim Partnertausch kurze Erinnerungsfetzen von schräg unten an wildere Tage. Ein Kind kommt nach Mitternacht weinend ins Café, die Eltern eilen herbei und davon. Auch bleibt der Aufzug zwischendurch stecken. Das L des Hotel-Schriftzugs hat einen Wackelkontakt, das dient optisch und akustisch als lässiges Zäsur-Instrument. Am Morgen kommen die Reparateure. So nahe die nicht mehr ganz junge Frau, von Christine Schorn gespielt, auf ihre eigene Übermütigkeit zögerlich und doch freudig wartend, und der etwas ältere Mann, Horst Drinda, einander auch kommen, bis ins gemeinsame Zimmer, so sehr er mit ihr schlafen will und sie den Gedanken nicht von der Bettkante stößt: Es bleibt bei der Versuchung. Und nicht weil der Film prüde wäre, vielmehr ist alles sehr direkt, dann aber wieder verspielt. Das Buch und die tolle Kamera schütteln aus dem Handgelenk unerwartete Dinge. Die ORWO-Color-Farben sind unglaublich siebzigermäßig, aber auf die schönste und unaufdringlichste Weise, die Mütze ist rot, aber es ist nur die freundliche, bescheidene Schwester der Röte des Rots von Technicolor. Kleiner Film ganz groß, Charme ohne Ende. (79cp)

 

Bedknobs and Broomsticks (Robert Stevenson/Ward Kimball, USA 1971)

Das ist ein Film, der weiß vor Überfluss an Ideen nicht wohin mit sich. Es ist die Zeit des Zweiten Weltkriegs, in England, das wird dann am Ende sehr wichtig. Da nämlich tritt ein Heer aus Ritterrüstung, menschenlosen Fanfaren und hohlem Pferdegeschirr an, die soeben angelandeten Nazis zurück auf das Meer hinauszutreiben. Damit war nicht zu rechnen, obgleich man da schon gelernt hat, dass alles möglich ist, im Guten und auch im Bösen. Bieder geht es los, ein paar Kids geraten aufs Land, ins Haus einer Frau, die bieder scheint, aber (Angela Lansbury) eine Amateurhexe ist. Das Bett lernt fliegen, Funkenflug, farbverfremdete special effects. Der Zauberlehrer, ein Dilettant vor dem Herrn, stößt zur Truppe hinzu, die auf eine verwunschene Insel und zwar als Animationsfilm gerät. Davor noch eine doch recht grandiose Song-and-Dance-Einlage, auf der Portobello Road sind diverse Ethnien zur schmissigen Musik aus dem Häuschen. Zwischendurch ist auch jederzeit die Rückverbiederung möglich, die Irrsinnsrevue als weißes Kaninchen. Unter Wasser jedoch Fischemusik und Körperflugtanz. Im Inseldroben der Fußball der Tiere, das ist wieder ein ganz anderer Film, dem seinerseits von den heranrückenden Nazis nichts schwant. Disney hat erst einmal und dann nochmal zwanzig Minuten gekürzt, das Werk bleibt ein Bastard, bei dem einem Hören und Sehen vergeht. Immer abwechselnd reißt man die Augen auf, dann werden die Lider sehr schwer. Wechselbad im Gewühle. (73cp)

 

15.2. The Bad and the Beautiful (Vincente Minnelli, USA 1952)

Wo drei in seinem Namen versammelt werden, ist ER nur per Telefon unter ihnen. Er: Jonathan Shields, einst erfolgreicher Hollywood-Produzent, ein getriebener Mann, von Kirk Douglas, was passt, abgefeimt narzisstisch gespielt. Schon Vater Shields war so wenig beliebt, dass der Sohn für die Beerdigung Darsteller casten musste. Hier macht er die Bekanntschaft des Mannes, mit dem er, erst in der Poverty Row, das Filmgeschäft von der Pike auf lernt. Im Moment des Erfolgs lässt er ihn schnöde im Stich. Opfer Nummer eins, sitzt am Tisch, von dem aus die die Rückblenden eine schön nach der anderen organisiert sind. Nummer zwei ist der weibliche Star, Lana Turner, Bilderbuch-Blondine, Shields hat sie aus der Trunksucht errettet und hinter ihrem Rücken betrogen. Und dann Dick Powell als Professor, der Romane mit viel Sex schreibt und seine Frau (Gloria Grahame! Oscar für einen Auftritt von 9 min 32 Sekunden) unter Mithilfe von Shields an einen Gaucho verliert, mit dem sie dann abstürzt. Shields übernimmt bei der Verfilmung des Romans selber Regie und bringt den Film, sein Scheitern erkennend, nie ins Kino. Das Drehbuch spielt nicht zu knapp Schicksal und schiebt die Schuld immer auf Shields; also ein Geschäft, dessen Teil der Film, wie er weiß, selber ist. Sehr schwarz-weiß setzt Minnelli das ins Bild, seinem Drang zur gemächlich diffundierenden Charakterisierung kommt das Bündige der Flashback-Episoden nicht recht entgegen. So rasant sich das beim Aufstieg durch Set Design und Studiobauten bewegt, elegant sie zwischen Licht und Dunkel gesetzt sind (von Lana Turner sind beim ersten Auftritt nur die Beine zu sehen), so suggestiv die eine neben dem einen, oder gegen ihn, sitzt, geht und steht, so wenig beginnt hier etwas eigenständig zu atmen, nicht der Mensch, nicht der Ort. Keine schwülen Seitentriebe am Plot, alle im Dienst der Zentralfigur, die weitestgehend Konstrukt bleibt, auch wenn sie noch als abwesende die drei Opfer zu einem hinreißenden Schlussbild vereint. (70cp)

 

Ray Donovan. The Movie (David Hollander, USA 2022)

taz-dvdesk (67cp)

 

14.2. Broker (Hirokazu Kore-eda, Korea 2022)

Klar, Kore-eda dreht auch in Südkorea - Busan - einen Film, der nichts so sehr wie einem Kore-eda-Film gleicht. Auf nicht ganz unkomplizierte Weise wird eine alles andere als konventionelle Familie zusammengeführt. Zwei Männer im Zentrum, die von einer Babyklappe hier und da einen Säugling abzweigen und auf dem Adoptions-Schwarzmarkts verkaufen, des Zuverdiensts wegen. Was, wie es Kore-edas Law will, noch lange nicht heißt, dass sie schlechte Menschen sein müssen. Der eine wuchs selbst in einem Waisenhaus auf, als sie dort vorbeikommen, kommt als blinder Passagier ein Junge gleich mit. Wahlfamilien wachsen recht schnell, was auch daran liegt, dass sie instabil sind: Das Happy End ist zeitlich und relational entsprechend komplex. Auch die Mutter des Säuglings ist längst mit dabei, sie hat einen ermordet, der es vermutlich verdiente, es haben alle ihre guten Gründe, nicht zu gut, nicht zu schlecht, es regiert der entsprechende Mittellagen-Humor. Das familiäre Humanitätsunternehmen ist diesmal, über Busan hinaus, ziemlich mobil, über Stadt und Land, Straßen und Buchten. Die Polizei, zwei Frauen als nebenprotagonistisches Team, eine Partnerschaft gar nicht so anderer Art, beobachtet die Verbrecherbande lange genug, um sich, wie die Zuschauer auch, in sie hineinzusympathisieren. Das ist das außergerichtliche Verfahren, für das sich Kore-eda gemächlich viel Zeit lässt. Dann kommt er zum Schluss. Das Urteil ist freundlich. (69cp)

 

Seitensprung (Evelyn Schmidt, DDR 1980)

Zum Internationelen Frauentag wird im Betrieb in der Theorie über Beziehungen und Partnerschaft diskutiert. Am Abend geht der Mann zu Frau und Kind, die aber nur seine Zweitfamilie sind. Die Ehefrau mit dem jüngeren Sohn wartet zuhause, er bringt spät am Abend Geschenke und lügt. Zwar weiß seine Frau von der zwölfjährigen Tochter, hält aber diese Affäre für lange zurückliegend und beendet. Sie täuscht sich. Kurz darauf sitzt das Mädchen vor der Tür, ihre Mutter ist tot. Dass der Mann die Affäre fortgeführt hat, fliegt schnell genug auf. Es stellen sich Fragen. Ob das klappen kann, die uneheliche Tochter in die eheliche Familie zu adoptieren. Oder ob die Frau mit ihrem Kind den Mann nicht verlässt. Das steht, nur drucksend besprochen, in der mittelprächtigen Wohnung. Lösungsversuch: Die Tochter kommt ins Heim, Henry Hübchen balanciert als Erzieher in der Strickjacke über ein Seil. Dabei wird es nicht bleiben. Evelyn Schmidt erzählt das sachlich, mit gelegentlichen - klar begrenzten - musikalischen Ausbrüchen ins Stillgestellt-Operatische, sonst aber vielleicht etwas allzu sediert. Schön ist der ins Versöhnliche tendierende Schluss, eine Serie von freeze frames aus der Bewegung, am Meer. (60cp)

 

13.2. 1-2-3 Corona (Hans Müller, D 1948)

Vorspannsequenz in Sütterlinschrift, einer der jugendlichen Hauptdarsteller stellt die Schauspieler und zuletzt die Corona-Darstellerin mit frischem Mut vor. Auf den Sommer 1945 datiert ist das, was sich dann abspielt - der Krieg ist erst gerade vorbei, die Schulen bleiben vorerst geschlossen. Angesiedelt ist die Geschichte auf einem Stück Trümmerberlin in der Stadt, Kinder, spielen hier, bekämpfen einander in Banden, treiben schwunghaften Schwarzhandel mit Zigarettenstummeln, Kohlen und anderem mehr. Vollkommen unsichtbar ist die Elterngeneration, so unsichtbar wie Völkermord und Verbrechen. Die unbelasteten Jungen knüpfen bei den Großvätern an, die denn auch in mehrfacher Ausfertigung auftreten dürfen: der Lehrer, nicht unkorrupt, streng, aber belehrbar; als durch und durch positive Identifikations- und Erklärer-Figur der noch ältere Arzt, der auf die selbstorganisierende Kraft der Jungen vertraut, die sich denn auch, die inneren Kämpfe befriedend, als männliche Corona und die weibliche Heldin Corona scharen, nachdem sie sie mit ihren Zwillen-Attacken im Zirkus zu Fall gebracht haben. So beginnt das Wiedergutmachungs-, Wiederaufbau-, Heilungsprojekt. Nun ist Corona, die gestürzte, von den unschuldig Schuldigen aufzupäppelnde Zirkusfrau, sicher nicht nur oder ganz die Allegorie Deutschlands, aber der heitere Ton des Ganzen, der Optimismus der Erneuerung, des direkten Anküpfens an die Großvätergeneration, der sehr flotte Die-3-Coronas-Triumph, der aus der wackligen Utopie der von Schule und Autoritäten befreiten Jungmänner sich wie Phoenix aus der Asche erhebt, all das ist gut gemeint, gut gemacht ist es auch, aber die Verdrängungsleistung ist nicht weniger groß. (72cp)

 

Blood on Satan's Claw (Piers Haggard, GB 1971)

Der Teufel geht um, seine Klaue, haarig und plump, greift nach (den Fantasien der) Menschen. Eine junge Frau wird entführt, zur Bande der Teufelsjünger*innen in den Wäldern gebracht, Vergewaltigung findet statt, und Mord, und Rituelles mit Dornenkronen-Einsatz und Landei-, Mittelalter- und misogynen Hexen-Klischees. Der Pfarrer wird von einer Nackten verführt und widersteht, wird falsch verdächtigt und bekommt am Ende sein Recht. Das Stück Fell, das den vom Teufel Befallenen wächst, ist etwas zwischen Schamhaar und Tumor, so oder so etwas abjekt. Das aber alles in Wäldern und Fluren, in Räumen gefilmt in Fernsehmanier, so dass sich das Spiel wie die Szenerie eigentümlich naturalistisch ausnimmt. Oberammergau als Horrorspektakel. Klingt auf dem Papier interessanter, als es in der Regie von Piers Haggard dann ist. (50cp)

 

12.2. Mystery of the Ordinary/Floridas (William Eggleston, Anastasia Samoylova, c/o Berlin)

Revisiting Eggleston: Die Serie, die nun unter The Outlands firmiert, ist eine Serie von Outtakes. Dasselbe Konvolut, aus dem John Szarkowski mit der Eggleston-Ausstellung im MoMA die Geschichte der künstlerischen Fotografie revolutionierte, Tausende Fotos aus dem US-amerikanischen Süden, nun mit anderen, bislang (bis zur Veröffentlichung der drei Bände im vergangenen Jahren) unbekannten Aufnahmen. Manches Motiv ist vertraut, das rote Zimmer, in dem einst ein nackter Mann stand, Schrift - etwa: GOD - an der Wand, ist nun enger gerahmt Blick in die Ecke, da steht eine große Gasflasche, vielleicht ein Sauerstoffgerät, der Mann ist verschwunden. Zum längst Ikonischen nun also Varianten. Im Drive-In-Kino wird schon lange nichts mehr gespielt, sehr verblichen ein Plakat von John Hustons The Bible. Die Leinwand, massiver Aufbau, von hinten: durchlöchert. Die leicht verschobenen Akzente, die Tassen und Kotflügel, das Banale im Zentrum, die alltägliche Wirklichkeit, die nicht einfach dokumentiert, sondern ins Unheimliche überführt wird. Und sei das Rätsel nur die Frage, warum dies, das nichts als das Banale, wenn nicht Schäbige zeigt, bewahrt wird, als wäre es zu bewahren auf ewig. The Mystery of the Ordinary, der Titel der Ausstellung, ist das geronnene Klischee der Eggleston-Bilder. Und dieser Vertigo-Effekt der Eggleston-Fotografie, die Entzeitlichung des Ephemeren durch die Kompositionen, durch die noch das Banalste lackierende Farbe, er hat sich erhalten, auch wenn die Fototheorie den Schock von einst längst verdaut hat. (So sehr verdaut hat, dass es schwierig ist, ihn überhaupt noch für möglich zu halten. Bilddatenverarbeitungsprobleme ganz vergangener Zeiten.) Von hier führten Wege zu Gregory Crewdson, aber auch zu Anastasia Samoylova, mit deren Florida-Bilder (Floridas) die Eggleston-Revisite (die am Ende eine Handvoll Berlin-Bilder zeigt, nichts aber aus den Afrika-Serien, auch keine Blumen) hier kombiniert wird. Sie forciert an Florida das Klischee, zieht die Farbigkeit hoch, lässt die Fläche, gerne in Rosa, überhand nehmen, zeigt den Pink Flamingo im Wasser, wie überhaupt die Verläufe und Grenzen zwischen scharfen und verschommenen Umrissen absichtlich fließen. Ein Mann, kein Gesicht, aber Wampe und Jeans, zwei Pistolen auf den Bauch tätowiert, deren Läufe in Richtung Schwanz zielen. Venus Mirror: Raffiniertes Spiegelbild, in dem sich Vorder- und Hintergründe collageartig durchdringen. Die Farben sind bunter und greller, das dokumentarische Moment kommt immer leicht ironisch daher. Hier wird zugespitzt, was Eggleston, wenn auch mit hellem Sinn fürs Absurde, festgestellt hat. (78cp)

 

Mein lieber Robinson (Roland Gräf, DDR 1971)

Robinson, mutterlos, ist 19, kurz vor dem Abitur, will Medizin studieren, sammelt als Krankenwagenfahrer schon Erfahrung: Ein alter Mann, zuhause zusammengeklappt, eine junge Blonde, ein Motorradunfall auf der Straße. Er bringt sie, mit seinem kinosüchtigen Kollegen, ins Krankenhaus, das bleibt fast ausnahmslos ganz episodisch, in Robinsons Leben, so auch im Film. Der das zur Methode macht und noch die Geschichte, die er erzählt, bewusst episodisiert. Robinson lernt eine junge Frau kenne, Studentin, sie landen im Bett, sie wird schwanger, sie ziehen in eine kleine gemeinsame Wohnung, Robinson verschweigt die Sache dem Vater, der doch sein bester Kumpel sein will. Einmal führt er, der Vater, eine kubanische Delegation durch eine Ausstellung im Haus des Lehreres, da schweift der Film bereitwillig ab, Richtung Alexanderplatz und Musik. Es folgt daraus nichts. Er schweift ins Schwimmbad, kurze Anfälle von Farbe, meist ist er schwarz-weiß. Baustellen in der Stadt, Weißensee, Mitte. Robinson Luftikus, am Ende renkt sich das alles auch ein. (68cp)

 

11.2. Die Frau im Nebel (Park Chan-wook, Südkorea 2022)

Busan und Ipo, Südkorea und China, Sex einmal die Woche, ein aufgeräumter Swimmingpool-Mord, Sprachnachrichten, Textnachrichten, der Blick auf das Handy, der Blick aus dem Handy (ein Kühlschrank oder Kamin ist gar nichts dagegen), die Wand mit den Fotos, eine von der Katze getötete Krähe wird begraben, am Ende verschwindet jemand spurlos im selbst gebuddelten Loch, die Lichtstimmung sandig bis gelb. Kurz eilt die Erzählung sich selbst voraus, holt sich wieder ein, rechte Tasche, linke Tasche, es bewegt sich Haken schlagend voran oder zurück, nicht immer gleich ist das eine vom anderen unterscheidbar, verausgabt sich die Treppen hinauf ziemlich abseits des Plots, findet zurück. Es ist also allerlei unterwegs in dieser Geschichte, Objekte, Personen, Lebende, Tote, etwas wie eine romantische Sehnsucht, vom Edel-Sushi-Begehren auch nicht zu schweigen. Ob das alles einen inneren Zusammenhang hat oder eher nach Lust und Laune auch noch hineingestopft ist: Schwer zu sagen, auch wenn man es sich bei einem der nicht so wenigen Durchhänger fragt. (66cp)

 

Meet Me in St. Louis (Vincente Minnelli, USA 1944)

Alles an diesem Film: Locke und Rüsche. Judy Harlands gebügeltes Haar, Innenräume von äußerster Etuihaftigkeit, Gaslicht, das zum charmantesten Beleuchtungsschummer abgedreht wird. Reizend die Übergänge in den Gesang, der Mann, der sich räuspert, worauf die Frau am Klavier noch einmal ansetzt. Die Schneemänner stehen als tönerne Körper auf tönernen Füßen, die Trolley-Bahn clang-clang-clang vor verschwommen ahnbarer Rückprojektion. In irgendeine Wirklichkeit hinaus geht es nicht, das Telefon verbindet in ein inneres, kein äußeres, angekündigtes, aber nie aufgesuchtes New York. Die Straße wie in den MGM-Backlot gemalt (#3, stand noch sehr lange), vom Ketchup zum Braten kulinarisch alles versammelt, noch Halloween ist auf erschreckende Weise gemütlich. Das Liebespaar schlägt sich und küsst sich, Weihnachten selbst wird zum merry little Christmas verniedlicht, alles nur, ganz buchstäblich, Verlebendigung eingefrorener Postkartenidylle. Wir schreiben das Jahr 1944, es ist Krieg, in der Fiktion aber World Fair, Film als Zuhause in höchster Steigerungsform. (61cp)

 

10.2. Ca commence aujourd'hui (Bertrand Tavernier, F 1999)

Ein Städtchen, das seine Bergarbeitervergangenheit hinter sich hat. Der Vater liegt im Bett mit COPD. Der Sohn, Daniel Lefebvre (Philippe Torreton mit ganz anderen Tönen auf einem ganz anderen Schlachtfeld), der unter ihm viel zu leiden hatte (man erfährt es, wie manch anderes, recht nebenbei), ist Lehrer und Direktor einer Vorschule, die Kinder sind klein, hier starten sie in ihr gesellschaftliches Leben. Manche tragen schweres Gepäck, Eltern, die trinken und arbeitslos sind, denen der Strom abgedreht wird. Einmal stürmt Daniel aufs Amt, wo ihm der Bürgermeister die schwierige soziale Lage des Ortes erklärt, die Probleme, die Tavernier eines ums andere sehr konkret vor Augen führt, sind systemisch. Zwischen dem Engagement Tag für Tag und einer Lösung klafft ein Abgrund, der gerade die Engagiertesten an den Rand der Verzweiflung bringt. Also Daniel, der tut, was er kann, der ertragen muss, dass zwei Jungs in die Schule einbrechen und sie verwüsten, Blindgänger der Gesellschaft; der kaum ertragen kann, dass eine Mutter keinen anderen Ausweg sieht, als sich und die Kinder zu töten; der sich mit allem, was über ihm steht, anlegt, Schuld sucht, wo im schlimmsten Falle Resignation ist. Tavernier und Alain Choquart filmen das al fresco, oft quasi-dokumentarisch, dazu abrupte Szenenwechsel, die Übergängikeit von Beruf und Privatem (Daniel ringt mit dem Sohn seiner Freundin), selbst die Musikspuren schlieren manchmal unversehens ineinander. Slices of life, in gekonnter Unordnung serviert, gelegentliche poetische Abstandhalter dazwischen. Nahe an Ken Loach, aber loser verpackt. (74cp)

(Bertrand Tavernier)

 

Chemie und Liebe (Arthur-Maria Rabenalt, D 1948)

Wo anfangen? Mit der Erzählinstanz, erster Auftritt am Anfang des Films, eine kleine Overhead-Projektion, gemütlicher älterer Herr als eine Art Gott, der von der Chemie und der Liebe berichtet. Der die Geschichte, die folgt, in einem nicht ganz realen, aber den USA sehr ähnlichen Staat situiert, der eines vor allem ist: kapitalistisch. Der Herr, also Gott, tritt im weiteren auf, kommentierend, peripetierend, aufhaltend, wo der Held, erotisch vor allem, auf einen Abweg geriete. Der Held: Doktor Alland, gerade dabei, eine ungeheure Erfindung zu machen, nämlich die Butterherstellung aus Gras ohne den Umweg über die sieben Mägen der Kuh. Die beiden Großkonzerne Nitro und Zellulose bekommen Wind von der Sache, via einen Herrn da Costa, der als Agent ein Einfädler und derjenige ist, der die Preise hochzutreiben versteht. Es schwirren diverse Frauen um Alland, beziehungsweise werden zum Schwirren gebracht. Er ist die Unschuld selbst, landet aber schnell im Bett einer blonden Aimée und wird von Georgia Spaldi, Psychoanalytikerin, durch Mark und Bein analysiert. Männer sitzen an großen Tischen und rauchen, in ihrer Fantasie (und in den Bildern des Films) schweben halb und ganz nackte Frauen, zum Beispiel als Hörer über der Telefongabel. Ein Krieg wird angezettelt, weil es einen nur im Nordland verfügbaren Stoff als Katalysator der Gras-Butter-Reaktion braucht. Gerannt wird, gesucht, Tempo ist drin, Anzüglichkeiten sind es auch, und böser Witz, explizite, aber doch eher in den Beinahe-Screwball hineingebutterte Kapitalismus-Kritik. Eine Mixtur von erstaunlicher Weltläufigkeit. (73cp)

 

9.2. Gesicht der Erinnerung (Dominik Graf, D 2023)

Salzburg also, ein überschaubarer Ort, Begegnungen und Wiederbegegnungen jederzeit möglich. Auch im metaphysischen Sinn: Eine Frau erkennt im neuen Lover (er spielt ihr ein Lied, sie massiert ihn, eins führt zum andern) den alten, der allerdings – Kreuz und Grab bezeugen es doppelt und dreifach – seit zwanzig Jahren tot ist. Die Frau, Christina (Verena Altenberger), sitzt auf der Couch beim Therapeuten, sie nimmt Tabletten – neue, wünscht sich die alten zurück –, sie ist in jeder Hinsicht auf der Borderline unterwegs. Also passende Graf-Protagonistin (Buch Norbert Baumgarten, nach Idee des Regisseurs), deren Gesichte der Erinnerung Graf zwischen Wahn und Realität schillern lässt. Es schillert mitunter arg deutlich, mit Spinne und Gespinst, als Seelenwanderungs-Männer-Vision. Zwischendurch geht es weit hinaus ins konservative Geschäftserfolgs-Wohlstands-Milieu wie zu Derricks Zeiten. Eine andere Frau kommt, es ist ein Dorf, bei der Massage, in der Apotheke ins Spiel und tritt mit Wucht ins Leben des verlassenen Lovers. Die Zeichen des Anfangs, eine kleine Schlucht im Gebirge, kommen am Ende zu sich, sie waren ein Omen, dessen Vorausdeutung sich nun erfüllt. Die Auflösung ist schön, weil haarscharf auf die Kante zwischen Erklären und Nichterklären gesetzt. Graf im Spökenkieker-Modus, gebremst frenetisch, doppelt romantisch, Hauptsendezeit-Metaphysik. (65cp)

 

Maigrets erste Untersuchung (Georges Simenon, F 1948, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Es geht, im dreißigsten Fall, mehr als dreißig Jahre zurück, Maigrets erster Fall, noch ist er nicht Kommissar, sondern Kommissariatssekretär, wir schreiben das Jahr 1913, den 15. April, Maigret ist 26, auch wenn sich das mit den wenigen anderen genauen Zeitangaben der Serie nicht deckt. Als Erzählposition schimmert die Zukunft gelegentlich durch, der Erzähler weiß, dass Maigrets Rückzug in den Schweißgeruch seines Betts eine Gewohnheit sein wird, hier ist es das, wie er auch weiß, noch nicht. Der Fall ist, hier schon und wie so oft später, fast wie geträumt. Ein Schuss ist gefallen, durch ein offenes Fenster, oder jedenfalls behauptet das ein Flötist, der unten auf der Straße vorbeiging. Maigret soll ermitteln, schnell stellt sich heraus, dass beste Gesellschaft verstrickt ist, sein Vorgesetzter ist mit den Verdächtigen nur zu bekannt, heikel und schwierig das alles, am Ende gibt Maigret, der doch eigentlich Arzt werden wollte oder Priester, «Schicksalsflicker» jedenfalls. Das wird er, das ist er, der Alkohol hilft, das Herumsitzen in der Kneipe, das Umschalten in den brütend erkennenden Modus, auch wenn das alles, nicht zuletzt er selbst, schmächtig, mit gezwirbeltem Bart, noch nicht seine Vollgestalt hat. Der Ausblick in die Zukunft am Schluss geht dreißig Jahre voraus, allerdings auch in ein Alternativuniversum: Die Wiederbegegnung mit der Familie Balthazar findet in den Maigrets, die wir haben, nie statt. (70cp)

 

8.2. The Andromeda Strain (Robert Wise, USA 1971)

Science-Fiction als Procedural: Gesetzt den Fall, es käme tödlicher Staub aus dem All. Das Dorf, ein kleines Pompeji der Zukunft, mitten aus dem Leben gerissen liegen hier vor allem die Toten. Und zwar stillgestellt im Split-Screen der fotografischen Bilder: die Unbeweglichkeit ist final. Das Rieseln des zu feinem Sand geronnenen Blutes. Der Rest ist dann die Wissenschaft als Fünfstöckigkeit, farbcodiert, mit einer Desinfektion nach der anderen geht es hinab. Das Team ist angenehm frei von Glamour, auf die Sache fixiert, verschwiegen wir die Rotlicht-Epilepsie. Die slicken Geräte, Greifarme, Helme (weißer Sand vs. Glitzermetall), Oberflächen von Tickern, Monitoren, noch die Bauchbinde, die die Uhrzeiten angibt, ist elegant im Design. Gil Mellés Sound dazu ist Jazz aus Stahl, muss wirklich Zukunftsmusik sein. Sie tut nicht viel und dadurch gerade genug. Lebensbedrohlich grünes, pulsierendes Lebendkristall. Genauer und genauer und genauer: Faszination mikroskopisches Vergrößerungsbild. Punktgenau auch grünes Licht dann der Laser, Aufstieg im Treppenhaus aus Metall. Ein Film über das Slicke, Glatte, Aseptische, Wissenschaft als die Kunst, der Messiness zu Leibe zu rücken. Die Körper sind fast keine Körper, weshalb der Film auf Flirt und Erotik verzichtet (Ausnahme: Altherrenklaps durch den Schutzanzug auf den Po), alles Leben als Wachstum und Blutwert auf Computer-Bildschirme bannt. Letzteres ist hier mit großer Eleganz lustbesetzt, ersteres nicht. (78cp)

 

Die seltsamen Abenteuer des Herrn Fridolin B. (Wolfgang Staudte, D 1948)

Die Knattermimen sind nun in die Verwaltung gegangen, unabsehbar die Decke, riesengroß die Augen hinter den Gläsern der Brille, eine Leiter ohne Ende, die Paragraphen als Argument, mit dem sich alles, und also die Liebe, totschlagen lässt. Als wäre es eine Geschichte von Kafka (allerdings mit Aszendent schätzungsweise Heinz Erhardt), tritt das Dilemma paarweise auf: Es gibt den echten Fridolin B. und den falschen. Die Blonde dazu und auch die Brünette. Alles fängt an, weil die eine, die Blonde, gerne offiziell den Beruf der Künstlerin zu ergreifen verlangt. Als Unverheiratete darf sie das nicht, das verbieten die Sitten. Sie sucht sich, selbst ist die Frau, einen Schwindler als Mann. Das scheint sehr einfach und wird unendlich kompliziert, es kommt der Falsche in den Knast und die Richtige in den Schrank. Eher gegen Ende bricht der Film dann auch noch aus in Gesang. Wolfgang Staudte lässt einen an der Decke hängenden Engel im Mittel- und Vordergrund schweben, rückt, als hätte er zu tief in den Expressionismus geschaut, Gegenstände nach vorne, fokussiert dräuend dies und schlagschattenscharf jenes. Es ist und bleibt ein bisschen zu viel unseliges Geknatter hinter der angenehm lockeren Front aus Axel von Ambesser und Ilse Petri; ein bisschen viel Lust am müden Wortspiel, aber sehr viel mehr als eine Bürokratie-Klamotte ist diese Komödie doch. (70cp)

 

7.2. Un peu de soleil dans l'eau froide (Jacques Deray, F 1971)

Da ist Gilles (Marc Porel), Journalist bei Agence France Press in Paris, da sind die Nachrichtenticker. Da ist Nathalie (Claudine Auger), verheiratet in Limoges. Da ist der coup de foudre, als Gilles, wegen Depressionen aus Paris nach Limoges zu seiner Schwester geflohen, auf einer Party Nathalie sieht; und sie ihn. Ihr Blick harrt auf ihm, der Blick der Kamera harrt mit ihr mit, eine Sekunde zu lang oder zwei, sie wendet sich ab, es ist um die beiden geschehen. Dann Gänge zu Fuß durch die Natur, ein See, sind so unendlich blühende Blüten. Und da ist, immerzu, verführerisch duftend, aber immer etwas zu stark, die Musik von Michel Legrand, die so süß ist, oder eben auch süßlich, wie diese Bilder, die unschuldig tun, die einerseits gerne ein wenig zu lange verharren (oder eher verweilen), bevor dann andererseits die Dinge in Windeseile geschehen, aber ausgelassen oder im Vorübergehen erwähnt, hier nur kurz eine Brust, da ein schneller Tanz, und jedenfalls nicht dramatisiert, sondern untermarkiert. Und doch hat das alles ein Timbre, das den schrecklichen Ausgang im Süßen, im Flirrenden, in dieser leicht aseptischen, den Überschwang nur behauptenden Liebe stets vorausahnen lässt. Er tritt dann tatsächlich ein, der Ausgang. Da war ein coup de foudre, aber er hat sehr in die Irre geführt. (69cp)

 

Real Life (Brandon Taylor, USA 2020, Hörbuch, Sprecher: Kevin R. Free)

Wallace, schwul und schwarz und aus Alabama, kommt an das nicht wahnsinnig berühmte College in der Stadt im Mittleren Westen, studiert Biologie und ist mit Nematoden, also transparenten, für Experimente darum bestens geeigneten Würmern befasst. Er ist Außenseiter, als Schwarzer unter sehr vielen Weißen, ein schwules Paar ist aber auch im Freundeskreis, den er findet. Außerdem: Miller, der attraktive, vielleicht oder eigentlich nicht schwule Mann unter den Freunden, dessen Begehren er, der sich nicht schön finden kann, dennoch weckt. Zwei Felder sind es, die Brandon Taylor bespielt, die Wissenschaft mit Labor, kollektiven Experimenten, Nematoden, Ehrgeiz, Konkurrenz auf der einen, das der Freundschaft, des Begehrens, der Liebe, der Eifersucht und auch des Hasses auf der anderen Seite. Als Einzelgänger, der Wahlverwandtschaften sucht und zugleich stört, fungiert Wallace, in dritter Person, aber dichtester erlebter Rede als Seismograf, über den kaum zu sagen ist, ob er korrekt oder überempfindlich justiert ist, wenn es um seine Wahrnehmung des Rassismus der anderen geht. Sehr gezielt steuert Taylor Wallace in Konflikte, im Labor und mit Miller, Höhepunkt eine beinahe zerstörerische Indiskretion am Essenstisch. Die Beobachtung über Bande ist dabei nicht kühl, die Erzählinstanz sucht nie Distanz, immer Nähe, das gilt auch für die Aufladung mit philosophisch nicht ausgereiftem existenziellen Pathos, die Wallace, aber vielleicht doch auch das Buch mehr als nur gelegentlich überfällt. (65cp)

 

6.2. Capitaine Conan (Bertrand Tavernier, F 1996)

Tavernier kehrt zurück auf die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs, nun im südeuropäischen Osten, die Kämpfe gehen zu Ende, ohne dass Frieden einkehren will, im Krieg nach dem Krieg mischen sich die Allierten noch in den russischen Krieg. Die Szenerie ist in Zwielicht getaucht, im moralisches Zwielicht steht auch der Protagonist, Capitaine Conan, Philippe Torreton mit ungebändigter, nicht zu bändigender Energie als Held, der Fleisch ist vom Fleisch des Krieges, der die Regeln des Militärs überschreitet, weil ihre Einhaltung den Erfolg auf dem Schlachtfeld unwahrscheinlicher macht. Tavernier und sein Kameramann Alain Choquart stellen das Geschehen, das Warten und das Morden, die Schlacht und den von der Scheißerei konterkarierten Hymnentriumph (wie das Kreatürliche hier ohnehin als Rückseite des Heroischen immer im Spiel ist) in natürliches Licht, davon nicht selten recht wenig, Explosionen, Bajonette, Schüsse, die Kamera ist beweglich, stürmt mit, mobilisiert, und fast sticht sie auch zu wie der Capitaine und seine Leute, vor die er sich noch stellt, als sie in Bukarest zu Räubern werden und morden. Eine Welt, in der die Maßstäbe heillos verrutscht sind, in der Frauen nichts als bei Gelegenheit Gespielinnen sind. Ein anderer, ein kategorial anderer Mann namens Norbert (Samuel le Bihan), wird gerufen, ein Freund und Bewunderer Conans, einer, der nicht ganz Wolf war und nun wieder ganz Hund ist, einer, der nicht die Strenge, sondern die Milde des Rechts zur Geltung bringen soll. Er ist das Zivile in der herrschenden Barbarei, ein Mann der Literatur, nach dem Krieg wird er Lehrer. So kommen die Mörder davon, ein Feigling wird zum Tode verurteilt, da können die Interventionen seiner Mutter nicht helfen, die als Einspruch der zivilisierten Welt gegen das Morden der Wölfe nicht gehört werden kann, denn es ist diese zivilisierte Welt, aus der das Morden kommt. Im Epilog ist die alte Ordnung wiederhergestellt, der Wolf spielt mit den alten Männern in der Kneipe noch Karten, dann geht er sterben, einen alles andere als heroischen Tod. (73cp)

(Bertrand Tavernier)

 

Die Geschichte der Dreizehn - Ferragus (Honoré de Balzac, F 1833, Print)

Im Prolog ist gut munkeln, über das Erzählen, und über die Fäden, die dreizehn Männer ziehen, eine Bande, die so perfekt verschworen, dass keiner sie kennt. So sind sie kaum mehr als Schemen, keine Turmgesellschaft, dunkel leuchtender Hintergrund einer Stadt, in der selbst keineswegs alles Vordergrund ist. Als beinahe lebendiges Wesen wird Paris zu Beginn lange und genau beschrieben, als Ort aus Orten, manche sind hell, und an anderen ist es so dunkel, dass keiner, der auf sich hält, sie aufsuchen kann. Ausgerechnet hier aber begegnet Auguste de Maulincour der Frau, Clemence Desmarets, die er im gesellschaftlichen Droben, in den Salons der besten Gesellschaft, so verzweifelt wie aussichtslos liebt: Sie gehört einem anderen, in mehr als glücklicher Ehe, ein gegenseitiger Anhimmelungstatbestand, wenn es je einen gab. In dieses Glück führt Balzac nun den Verdacht ein, als Wurm, der alles verdirbt. Der Liebende konfrontiert die Geliebte, sie leugnet, auch dem Ehemann gegenüber wird sie schweigen, das dunkle Geheimnis, das sie und ihre Besuche in der schlechten Gegend umgibt, strahlt so stark, dass der Gatte in Zweifel gerät. Ferragus ist die dunkle Gestalt, deren Nähe Clemence sucht, suchen muss, denn er ist ihr verlorener Vater. Das vollendete Glück aber ist, vom leisesten Zweifel berührt, sofort zerstört. Und so kennt Balzac kein Pardon, das Conclusions überschriebene letzte Kapitel dieser schauerromannahen Geschichte bringt Tod und bringt Père Lachaise. Auch und gerade der Friedhof ist Teil von Paris, hier findet die Erzählung ein Ende, dreizehn Kutschen fahren vor, sie sind jedoch zum größten Teil leer. (73cp)

 

5.2. Der Zauberberg (Thomas Mann, Regie: Bastian Kraft, Burgtheater Wien)

Der Berg ist, bühnenbildtechnisch, ein Fels, auf den, als Film, Thomas Manns Roman projiziert wird. Leinwand und Fels, in und auf dessen Vorsprüngen die Darsteller*innen sitzen, stehen, klettern und liegen. Und sprechen. Die Körper sind doppelt, als reale auf der Bühne im Fels, zugleich aber als projizierte, vorher gefilmte, kostümierte, deren Bild, ihm beispringend und von ihm gelöst, die unprojizierten, real anwesenden Körper und Stimmen synchron, ja synchronisierend, eine andere Form von Präsenz verleihen. Und zwar hochvirtuos präzise und in die Quere zugleich: genderquer nämlich, Frauenstimme mit Bart, Settembrini und Naphta, Joachim und erst recht Castorp, von dem es, ewig nur Besucher, lange kein Aufzeichnungsbild gibt. So quer das ist, so sich selbst synchronisierend technisch originell, so brav ist es dann leider als Digest des Romans. Eine Auswahl, als dürfe nichts und niemand von Bedeutung fehlen, ein Schnelldurchlauf, dessen Höhepunkt eine Stillstellung ist: Sieben Minuten lang kein Film-Bild, kein Text, hier einmal unverlaberte Zeitphilosophie, Herumlungern im Fels, die Inszenierung misst sich das Fieber: um diesen Moment herum bei aller beflissenen Geschäftigkeit keine erhöhte Temperatur. (62cp)

 

Now is the Time (Kiki Kogelnik, Kunstforum Wien)

Die Anfänge, in den USA vage abstrakt expressionistisch, ohne eigene Note, dann drängt sich als Ahnung ein erster Körper hinein. Später steht schwarz in Umrissen The Painter als Figur im Bild, der Pinsel menstruiert Blutprobe Farbe. Ein Selbstporträt, mehr oder weniger, selten im Werk, dessen Körper sonst andere, auseinandergenommene, zusammengesetzte, ausgeschnitten sind. Letztere sind am ehesten noch berühmt, schlapp hängen sie, aus Latex, über den Bügeln, Körper ohne Volumen, wie Modezeichnungen, die zu schlappen Herumhängenachleben erweckt sind. Oder doch tot. Auf anderen Gemälden nur Teile, Torsi und Arme, von Popartfarben oder auch robotischen Signalen und Stücken umspielt, teils entzwei, selten ganz, aber das Entzweisein hat kaum je den Effekt von Zerstörung. Daran ändert auch, ja erst recht, das Auftauchen von Scheren im Bild selbst nichts. Sie scheinen eher Instrumente der Ermächtigung als der Bedrohung, selbstbewusst steht die Schere einmal als Wesen für sich neben dem Model im Bild. Das passt zu den anderen Ambivalenzen, der Präsenz der Technik und ihrem Potenzial zu Vernichtung wie Rettung. Im Zweifel fliegt Kiki Kogelnik mit einer Rakete aus Muffinformen zum Mond. Beim Moonhappening filmt sie Neil Armstrongs erste Schritte auf dem Mond am Fernseher mit und setzt sehr selbstbewusst und gar nicht Kontemplation ihre eigenen Siebdruckabdrücke dazu und daneben ins Bild. 

 

4.2. Wozzeck (Georg C. Klaren, D 1947)

Als Wozzeck Marie dann getötet hat - ein echter Mord, ein schöner Mord - spiegeln sich die Wellen des Wassers in seinem Gesicht. Eine Unruhe im Bild, sie hat an der Stelle weder Anfang noch Ende. Sind so viele Schleier, von den Bildrändern her, sind fast immer gekantete Bilder, ist alles von Anfang an, wiewohl grau, blutunterlaufen. Auf gemäßigten Expressionismus setzt Georg C. Claren, schließt an eine Vergangenheit an, zu deren nicht wegzudenkenden Vorläufern Büchner gehört, mit seiner Sprache aus Rasiermessern und blutigen Eisen, mit dem Großmuttermärchen vom Kind, das bis ans Ende des Universums keine Eltern mehr fand. Der Großmutterkopf tritt in, wiewohl grauem, Strahlenkranz auf, so sehr das Zentrum des Ganzen, dass die dem Drama für den Film imputierte Büchner-Figur, die versteht und erklärt, was des Erklärens so wenig bedarf wie es ihm in seiner eigenen Sprache auch widersteht, jenes Zuviel ist, das anders als das intensiv expressive Spiel von Kurt Maisel tatsächlich stört. (67cp)

 

Die Eingeborenen von Maria Blut (Maria Lazar, Regie: Lucia Bihler, Akademietheater Wien)

In der Mitte, groß, rot und ragend: die Jungfrau. Zur Rechten und Linken die Engel, die abbaubar sind wie auch die Marienstatue in der Mitte. Am Ende tragen Männer sie raus. Am Ende, wenn in Maria Blut der kommende Sieg der Nazis absehbar ist, im prophetischen Roman, den Maria Lazar 1935 verfasste (und der erst 1958 dann auch erschien). Lucia Bihler hat die Prophetie nun nachholend auf die Bühne gebracht, mit Figuren, die im vagen Niemandsland zwischen Individuum und Typus liegen, zwischen Karikatur und Dämonisierung, allerlei Handlung verbindet sie, die einerseits in kurzen eingesprochenen Zeilen aus dem Roman erzählend mindestens angedeutet wird, andererseits aber (vielleicht durch die Verkürzung) aus mancher Plattheit besteht. Weil alle in organenen Kleidern mit gelblich-schmutzigen Überhängen einander so gleichen, erst recht, wenn sie die riesigen Köpfe überstülpen (dann sprechen sie nicht, sondern werden von zwei Sprecher*innen am Rand her gesprochen, vielleicht lässt Susanne Kennedy hier grüßen, aber besonderen Sinn macht es nicht), wird das ganze ein allegorisches Spiel, das zeigt, was alle heute längst wissen. Lichtblitz/Dunkelheit als Szenenbegrenzung, es geschieht nur, was vorhersehbar ist. Und dann doch zu viel. Investiert werden kann hier nur ins böse Bekannte, ein Lehrstück, aber alle V-Effekte drehen sehr hohl. (49cp)

 

3.2. Home From The Hill (Vincente Minnelli, USA 1960)

Vor den Söhnen sterben die Väter, aber das ist auch das einzige, das in dieser Texas Town so ist, wie es sich nach den Sitten gehört. So befindet sich das Ehepaar Hunnicutt (Eleanor Parker, Robert Mitchum) seit achtzehn Jahren im Krieg. Seitdem hat er sie nicht mehr berührt. Auch über die Erziehung des gemeinsamen Sohns Theron (George Hamilton) liegen sie in heftigem Streit. Der wird von den Männern der Stadt als zu weichlich verspottet, der Vater drückt ihm ein Gewehr in die Hand, hetzt ihn mit seinen Hunden in den Wald auf die Jagd. Nun liegt er im Wald und klappert, lange vergeblich. Im Wald ist der Sumpf, wer in ihn gerät, kommt darin um. Hier wird am Ende, nach fast zweieinhalb Stunden, einer liegen, ein anderer Vater, dessen Hass auf das falsche Objekt zielte. Er hat getötet, er muss nun sterben, es ist durchaus das Schicksal, das als giftig gelblicher Nebel von den Sümpfen her weht. Viel Raum ist hier wieder, viel Zeit für das Ausagieren verfehlter Leidenschaften, von Kriegszuständen und auch für das Schweigen über das, was allen präsent ist. So viel Zeit lässt Minnelli den Dingen und den Figuren, drinnen und draußen, im Haus, in der Natur, auf dem Dachboden, im Wohnzimmer mit den vielen Trophäen auf dem Boden und an der Wand, so viel Zeit, dass sie sich, in satten, warmen, zu warmen Farben mariniert, langsam, aber sicher zersetzen. Am Ende: ein riesiger, hässlicher Grabstein. Eine Form von Erlösung, die Entstehung einer neuen, besseren Familie, eine andere Mutter akzeptiert einen anderen Sohn, als läge in der Familie jemals das Heil. (72cp)

 

Johnny Got His Gun (Dalton Trumbo, USA 1971)

Eine Stimme und dazu ein Körper. Zusammen kommen sie nicht. In den Abgrund füllt Dalton Trumbo, nach seinem eigenen Buch, in seinem einzigen Film, eine Suada aus Bildern und Tönen und Texten, eine Suada gegen den Krieg. Mit der Vorgeschichte des Körpers als junger Mann, der sich verliebt, der in den Ersten Weltkrieg zieht, beginnt es. Kaum kann man den Menschen, den man sieht, auf das beziehen, was - in Schwarz-Weiß noch dazu - im Bett liegt, zunächst von einer Art Zelt und einer Art Maulkorb noch zusätzlich deformiert. Es ist da nur ein schrecklicher Rest, taub und blind, die Arme sind ab, die Beine sind ab, nur ein Torso mit Kopf ohne Mund (ein Torso mit Schwanz, an dem später eine Krankenschwester wie in einer handelsüblichen Fantasie handgreiflich wird). Die Stimme, die aus dem Voiceover kommt (ein ganz anderer Körper als der, den man sieht), konstatiert das Schicksals dieses Subjekts, das sie ist, das sie nun beinahe restlos verkörpert, mit einem Schrecken, dem Trumbo Erinnerungen, Fantasien (Donald Sutherland als eine Art Jesus) fiebrig hinzufügt, als gälte es, diesen Abgrund zwischen Körper und Stimme mit Bildern nun aber ganz restlos zu füllen. Eine Überproduktion, ein Kratzen am Surrealen, ein Darstellungs-Furor, der von der Unmöglichkeit, eine solche Situation in die Subjektive zu bringen,  durch die fast verzweifelte Hilflosigkeit seiner Potenzgesten zeugt. (65cp)

 

2.2. Ehe im Schatten (Kurt Maetzig, D 1947)

Zwischen Kabale und Liebe und der Jungfrau von Orléans erstreckt sich der Film, von der Bühne des Jahrs 1933 in die private Wohnung, wo Hans Wieland (wie der Abspann ausdrücklich sagt: nach dem realen Joachim Gottschalk modelliert, nach Hans Schweikarts Novelle Es wird schon alles nicht so schlimm) seiner Frau, der Jüdin Elisabeth Maurer, und sich tödliches Gift in den Kaffee gemischt hat: «Kurz ist der Schmerz und ewig währt die Freude». Musik und Großaufnahmen, durchaus umflort, es ist ein Melodram, als das Kurt Maetzig die Geschichte des Dritten Reichs, der Judenverfolgung hier in UFA-nahe DEFA-Form bringt. Brecht hat es gehasst, vermutlich weniger die gelegentlich allzu didaktischen Dialoge als das, was als Drama tatsächlich funktioniert: die Verdrängung und falsche Hoffnung, die Angst und der Schrecken, das erst schleichende, dann offene Grauen, die Bilder der Pogromnacht, die Überblendung-Fantasie von Deportation, Lager und Tod; der Ernst und die Würde, mit der das, nah an einem Brecht sehr fernen Theater, gespielt ist. (70cp)

 

Le départ (Jerzy Skolimowski, Belgien 1967)

Schöner Quatsch neben anstrengendem Quatsch, und alles von vorne bis hinten durchhysterisiert. Im Zentrum: Jean-Pierre Léaud, Friseur in Brüssel, der von der Teilnahme an einer Autorallye träumt und dafür einen Porsche braucht, und zwar nicht irgendeinen, sondern den 911 S. Das ist Vorwand für diese Geschichte, in die dann der schöne Quatsch hineingeräumt wird (und eine schöne Frau, Catherine Duport), etwa Er und Sie lässig im aufgeschnittenen Auto (auf sehr ähnliche Weise hat Tati in Trafic wenig später Spaß im Salon), Er und Sie, die einen Spiegel durch die Stadt transportieren, surreal spiegelt er sich als sie, noch surrealer geht der Spiegel zu Bruch und wird durch rücklaufenden Film wieder ganz. Schöner Quatsch sowieso: perspektivisch sehr divers gefilmte Raserei per Auto oder Motorrad (Kamera: Willy Kurant). Der anstrengende Quatsch sind allerlei Faxen, zu denen Léaud ohne Unterlass und ohne (narrativ oder anders) zwingenden Grund aufgelegt ist. Am Ende wird dann nicht mehr gefahren, es gibt Diabild-Schmelze und zum Schluss brennt, mit Aussichten auf finalen Sex, Jean-Pierre Léaud realiter durch. (62cp)

 

1.2. La femme bourreau (Jean-Denis Bonan, F 1969)

Hart stoßen sich die ästhetischen Dinge im Raum: die radikale Handkamerasubjektive, in die der Film immer wieder zurückfällt, und ein nüchtern berichtender Voiceover-Kommentar, der die Daten nennt und die Namen, die Namen der Prostituierten, die ein Serienkiller ermordet, die man zuvor, meist mehr oder weniger nackt, auch zu sehen bekommt. (Einmal beim Sex von unter einem engmaschigen Bettgitter nach oben gefilmt; ein paar seltsame Ideen hat der Film, nicht immer schlecht.) Mal hört man angenehm atonalen Free Jazz, noch etwas irrer jedoch sind die sehr spröden und schrägen und an ihren Melodien entlangschrammenden Chansons von Daniel Laloux, der etwa die Schönheit der Guillotine besingt. Dazu wird auf einen See raus gerudert, der Mörder (er hat die Mordserie sozusagen von einer nun hingerichteten Vorgängerin übernommen) ist bekannt, mit einer Frau unterwegs, die am Ende seine Nemesis wird. Das alles ist inmitten der 68er-Unruhen gedreht, irgendwas zwischen Nouvelle-Vague-Imitat und Genre-Dekonstruktion (und darin aber auch Nouvelle-Vague-Imitat) und radikalerem Experiment, Jackie Raynal von der Zanzibar-Gruppe spielt mit, Jean Rollin in einer kleinen Rolle auch, Regisseur Jean-Denis Bonan hatte zuvor schon großen Ärger mit der Zensur gehabt, war Mitgründer der Gruppe Cinélutte; La femme bourreau ist (trotz der Bemühungen des Produzenten Anatole Dauman) nie ins Kino gekommen, war eher nicht existent als vergessen, wurde ein bisschen wiederentdeckt. Kein großer Wurf, aber interessant zwischen diversen Stühlen gelegen. (64cp)

 

Raw Meat (Gary Sherman, GB 1973)

taz-dvdesk (70cp)

 

 

JANUAR

31.1. Men (Alex Garland, GB 2022)

Ein Mann im freien Fall, unten dann ein toter Christus am Zaun: Selbstmord, vermutlich, und die Frau, die den dann toten Christus vom Weltgebäude an der Themse herabstieß (so lautet sein Vorwurf, sie hat ihn verlassen, er hat sie geschlagen, sie hat ihm die Tür zugeschlagen), steht mit blutiger Nase und starrt auf seinen Zeitlupenflug. Ihr Name ist Harper und sie flieht vor dem Trauma, das der Anblick und die Schuld ausgelöst haben. Sie flieht aufs Land, ein einsames, riesiges Haus, sie kann es sich leisten, sie spielt Klavier und ist amüsiert über Geoffrey, fast die Karikatur eines exzentrischen Landadligen. Er führt sie herum, sie erkundet die Gegend. Da ist ein Tunnel, Harper ruft, sie hört, sie ist Echo, es ist, als rufe sie damit die Gestalten herbei, die Männer, die sie von nun an verfolgen. Ein Nackter, ein Priester, ein Polizist, einer mit Maske, im Pub versammeln sie sich. Auf der Tonspur Klänge wie Klingen, dann auch eine Klinge, unterarmspaltend, das noch nicht recht Verdrängte kehrt sogleich wieder, ist da, wandelt seine Gestalt, die Äpfel fallen vom Baum, schweres Zeichen, Licht an und Licht aus. Dann die Geburten, die Männer, die nicht nur aus der Vagina schlüpfen, auch aus dem Rücken, auch aus dem Mund, Inbegriff von Ausgeburten, immer derselbe, mit sich nicht identisch, hinter dem am Ende der eine steckt: der untote James, aus Blut und Schleim auferstanden, nicht tot zu kriegen, zur Befriedung setzt sich Harper - wie der Film stets an der Grenze zum freiwillig oder unfreiwillig (schwer entscheidbar) Komischen balancierend - die Axt in der Hand neben ihr ganz persönliches Trauma auf die Couch. (73cp)

 

Razzia (Werner Klingler, D 1947)

«Wir machen Musik» steht auf einem der Panzer, der in den Trümmern neben anderen steht. Hier spielen die Kinder. Ernst geht es zu bei der Polizei, die auf der Jagd sind nach Kriminellen, die auf dem Schwarzmarkt Waren, nicht zuletzt wertvolle Medikamente verschieben und so an der Not der Menschen verdienen. Einer ist die Spinne im Netz des Verbrechens, sein Name ist Noll, er betreibt einen Nachtclub namens Ali Baba, der Weg zum Eingang von Haufen aus Steinen gesäumt, innen jedoch der Glanz einer anderen Welt. Eine Chanteuse namens Yvonne singt Lieder, die Männer im Saal genießen das Licht, die Musik, den Alkohol und die Abwesenheit der Zerstörung. Als der Kommissar dem Ganoven auf die Schliche kommt, räumt man ihn beiseite, ein Schlupfloch hinter dem Wandteppich führt in den Luftschutzkeller als Räuberhöhle, da liegen die Waren, da kann man die Leiche entsorgen. Zuvor noch hat die Frau des Kommissars Geburtstag gefeiert, zwei Söhne starben im Krieg, ein Dritter kehrt, fast war die Hoffnung schon aufgegeben, zurück. Die Tochter ist mit einem Polizisten liiert, der zurückgekehrte Bruder findet als Musiker keinen Job und gerät auf die schiefe Bahn Richtung Ali Baba. Fast ist der Film eine Ali-Baba-Mise-en-abyme. In die Trümmer und zwischen die Panzer und den vor dem Reichstag blühenden Reichstag baut Werner Klingler eine Genre-Schwarz-Weiß-Welt mit viel Studioatmosphäre, Ganoven aus dem Bilderbuch und auf den Flügeln des Gesangs eine Ahnung von mondäneren Welten. Mit acht Millionen Besuchern der erste große DEFA-Erfolg. (71cp)

 

30.1. Filmzeit, Lebenszeit (Edgar Reitz, D 2022, Print)

Der Vater ist Uhrmacher im hunsrückischen Morbach, der Sohn Edgar Reitz beschreibt sich als einen, der zuerst mit den Händen denkt. In München studiert er bei Artur Kutscher, vom Theater kommt er bald ab, als er an Willy Zielke gerät, der Kameramann für Riefenstahl war, von dieser als Konkurrent (so vermutet er und so vermutet auch Nina Gladitz) in die Psychiatrie abserviert wurde, wo man ihn zwangssterilisierte und erst nach fünf Jahren wieder entließ - damit er bei Tiefland wieder die Kamera führen konnte. Reitz wird, ein glücklicher Zufall, Assistent dieses unglücklichen Mannes, der, aus der Zeit fallend, auch wenn er noch lange lebt, an die Industriefilme, die er produziert, die höchsten künstlerischen und technischen Ansprüche hat. In Oberhausen gehört Reitz zu den Unterzeichnern, das Verhältnis zu Alexander Kluge ist freundschaftlich, bleibt aber ambivalent und bekommt einen Knacks, als dieser Reitz den Film Der starke Ferdinand gegen die Abmachung wieder aus der Hand nimmt. Das aber erst sehr viel später. Weiterer glücklicher biografischer Zufall: Reitz bekommt einen Job bei einem erfolgreichen Werbefilmproduzenten namens Handwerk, der sich überzeugen lässt, den jungen Regisseur zum Chef einer Avantgarde-Abteilung zu machen, in die Reitz Kollegen aus Ulm holt, wo er an der Hochschule für Gestaltung in der vor allem von Alexander Kluge auf die Beine gestellten Filmabteilung auch lehrt. Es entstehen experimentelle Filme, Höhepunkt eine sechzehn-Kanal-Montage für die Bahn. (Und den Werbespruch Alle reden vom Wetter. Wir nicht. hat Reitz nebenbei auch erdacht.) Schlimm scheitert ein von Kluge vermitteltes Treffen deutscher Filmemacher mit der Gruppe 47, für seinen Anspruch, Film als Autorenfilm zu begreifen, wird Reitz namentlich von Günter Grass und Ingeborg Bachmann beschimpft und verlacht. (Das Kunstreligiöse als Avantgardebewusstsein allerdings steckt Reitz in den Knochen und hält das Lässige, den Pop aus seinem Werk fern.) Er lernt Ula Stöckl kennen, eine Studentin dortselbst, und lieben, trotz Frau und Kind, er tritt in Neun Leben hat die Katze kurz auf, das anarchische Kübelkind-Projekt ist eine gemeinsame Sache. Für die man das Fördergeld, das es nach dem zweiten Film Cardillac gab, auf den Kopf haut, die 22 Episoden werden in Kneipen-Kinos gezeigt. Für Die Reise nach Wien will er Romy Schneider besetzen, sie macht zur Bedingung des Treffens, dass er ihr ein starkes Psychopharmakum besorgt; das klappt, es wird eine durchzechte Nacht, aber am Morgen fällt ihr ein, dass sie keine Filme mehr dreht, in denen sie nicht die alleinige Hauptdarstellerin ist. Mit Heimat bricht dann der Welterfolg über den deutschen Autorenfilmer herein, der glücklich ist, nach der Zweiten Heimat und erst recht angesichts der Qual mit der Dritten viel mit dem deutschen Fernsehen hadert, dabei weltweit gefragt ist, Professur in Karlsruhe, glückliche Ehe mit Salome Kammer, Einladungen immer wieder nach Venedig, faszinierend noch die Geschichte seines jüngeren Bruders Guido, der zurückgezogen in Morbach das Uhrengeschäft des Vaters weiterbetrieb; erst nach seinem Tod entdeckt Reitz die riesige Linguistik-Bibliothek und Tausende Blätter mit Notizen zum Hunsrücker Platt und den Sprachen der Welt, der schweigsame Bruder als outsider scholar, der sein Wissen in sich gekehrt hat. (74cp)

 

The Deceptions (Jill Bialosky, USA 2022, Hörbuch, Sprecherin: Elisabeth Rodgers)

Die Ich-Erzählerin: mittelalte Lyrikerin, Dozentin an einer Akademie für männliche Schüler, anerkannt, aber nicht so berühmt, wie sie es gerne wäre, mit Hoffen und Bangen sieht sie der avisierten Rezension ihres jüngsten Bands in der New York Times entgegen; die wird ein Desaster, das erzählerisch von recht langer Hand vorbereitet sein will. So lernen wir den Gatten kennen, Mediziner, in anderen als den New Yorker Kunst- und Literaturwelten unterwegs. Nach zwanzig Jahren haben sie kaum noch Sex, der Sohn ist aus dem Haus, im privaten College, es bleiben Sorgen. Da ist die Nachbarin, die später mit dem Yoga-Lehrer durchbrennt, der ihr Sohn sein könnte; ihre Tochter dagegen wird zur Intellektuellen, der Ich-Erzählerin bis zur Schlusspointe sehr nahe. Überpräsent sind die Bezüge zur griechischen Mythologie, Homer, im Met besucht die Erzählerin die Antikenabteilung, wieder und wieder; überdeutlich ins Zentrum gerückt: die Geschichte von Leda und dem Schwan, dessen Gestalt Zeus annimmt und so mit ihr schläft. Oder: Sie vergewaltigt, so jedenfalls die Deutung der Erzählerin, der dann im wahren Leben eine gleich doppelte Vergewaltigung widerfährt: ein Dichter hat an der Akademie eine Gastprofessur, sie begehrt ihn, vielleicht, liebäugelt mit einer Affäre (die letzte Chance womöglich, denkt sie), dann bedrängt er sie, wie der Schwan, und münzt die Quasi-Vergewaltigung noch dazu in einen literarischen Missbrauch um. A bit too much schon das, aber es kommen noch misogyne Kollegen und manches Böse mehr obendrauf. Alles gut mythosgestützt, bei allem konstruierten Doppel- und Dreifachsinn am Ende doch von verblüffender Einsinnigkeit. (59cp)

 

29.1. Minnie and Moskowitz (John Cassavetes, USA 1971)

Männer, die monologisieren, auf engem Raum, den die unruhige, abstands- und schon gar totalenunfähige Kamera immer noch enger macht. Die Enge sorgt für Druck von außen, aber auch von innen scheinen alle geladen, nicht nur Seymour Moskowitz, der Autoeinparker, der sehr stark etwas will, das er eher behelfsweise als Liebe begreift. Im Restaurant sitzt einer, leicht schwammig, und klagt über das Leid, das ihn traf, der Tod der Frau, wer weiß, ob das stimmt, vielleicht hat er, als Rechtfertigung für das Leid, oder vielmehr die Klage, das auch nur erfunden, denn einen Grund haben muss, was man tut. Es sind aber Grundlose, die in diesem Film aneinandergeraten, und Nervenzusammenbrüche nie fern. Nicht nur die Ehefrau, die sich die Adern aufschlitzt, worauf der Mann namens Jim (John Cassavetes selbst, ohne Credit) seine Geliebte, die Frau namens Minnie (Gena Rowlands) verlässt. Vor dem Sohn, im Museum der zeitgenössischen Kunst, da arbeitet sie, blond ist sie, sehr blond, mit schwarzer, sehr schwarzer Brille. Was zwischen den beiden war, außer Sex: Schläge, wie überhaupt die grundlosen Körper sich hier nicht anders zu helfen wissen, als zu prügeln und geprügelt zu werden, wo von Liebe die Rede ist, oder sein sollte wie zwischen Mutter und Sohn, sind Aggressionen nicht weit, in der Rede nicht und nicht in den Körpern, beides ohnehin durch ständigen Kurzschluss verschaltet, der zu Druck und Gewalt führt, oder zu Stocken oder Monoloisieren oder hysterischem Lachen, noch vor dem Altar. Der Bart ist dann ab, vorher schon eine Küche in Rosa, nun quietschbunter Kindergeburtstag im Garten. (74cp)

 

Irgendwo in Berlin (Gerhard Lamprecht, D 1946)

Durch die Trümmer und Ruinen der Stadt, es glotzen die Räume durch Wände, die fehlen, flieht ein Mann, der Zaubertricks kann. Was er auch kann, ist stehlen, er kann auch den jungen Gustav beschwatzen, der mit seinem Freund Willi und andern mit ihrerseits gestohlenen Feuerwerkskörpern in den Trümmern und Bunkern den Krieg nachstellt, der auch für einen traumatisierten Ex-Soldaten noch lang nicht vorbei ist: Er sitzt katatonisch im Sessel, dann steht er auf und salutiert auf dem Balkon, stundenlang. Die Polizei ist auf der Jagd nach schwarz gehandelten Waren und den Hehlern und Händlern, ein älterer Herr malt ein Bild, die Mutter von Gustav hat die Hoffnung nicht aufgegeben, dass ihr Mann aus der Gefangenschaft heimkehrt. Dies geschieht, gegen dieses Glück rennt Willi, eine Hauswand hinauf, in Richtung Unglück und Sturz. Verlorene Seelen in defigurierten Straßenzügen, die Oberbaumbrücke steht noch, Zusammenrücken und Aneinandergeraten, eher halbgeformt in Dialogen und Bildern, was nicht ganz schlecht passt. (64cp)

 

28.1. Die Reise nach Wien (Edgar Reitz, BRD 1975)

Geschichten von der Heimatfront: erste Begegnung mit Simmern im Hunsrück, da kommt, wie man heute weiß, aber Reitz damals noch nicht wusste, noch mehr, auch von einem Hermann Simon ist schon die Rede. Zwei Frauen, deren Männer im Krieg sind, mischen bei heimlichen Schlachtungen mit (ein Kapitalverbrechen im Krieg) und eilen zurück auf die Tanzfläche, die Blicke schweifen herum, auf der Suche nach brauchbaren Männern. Toni (Elke Sommer) hat mit dem Ortsgruppenleiter (Mario Adorf) was laufen, das sich mit Blick auf potentielle Bredouillen rentiert. Außerdem findet sie im Keller Geld, es ist schmutzig, der Gatte hat Juden erpresst, sie haut es auf den Kopf mit der Freundin Marga (Hannelore Elsner, eine Rolle, für die Reitz gerne Romy Schneider gehabt hätte), auf einer Reise nach Wien mit Grand-Hotel-Übernachtung. Der Ton streift schon im Simmern fast das Burleske, auch später wieder, als es um die Wurst und den Tod geht, in Wien wird es erst recht turbulent, und mondän, Robby Müller zieht massiv Weichzeichner drüber, die beiden verlieren ihr Geld an einen undurchsichtigen Pseudo-Rumänen, gewinnen es wieder, durch zwei  Galane in Uniform protegiert (der eine muss aber nächsten Morgen zurück an die Front und kriegt keinen hoch, der andere aber schon). Ein Film über weibliche Lebenslust trotz Widrigkeiten. Die beiden gehen zur Not über Leichen, kurzer Schwenk an die Front. Jeder Schritt führt ins Dunkle, dann lieber Tanz und Sex und Hausmacher-Wurst, die Gatten, die nicht zurückkehren werden, juckt es ohnehin nicht. (67cp)

 

Remote Control (Nnedi Okorafor, USA 2021)

Sankofa ist ein Engel des Todes, die adoptierte Tochter des Todes, genauer gesagt, und erinnert sich, rückwärts, wie es dazu kam, und nähert sich, vorwärts, dem Ort wieder, an dem sie von einem Kind, das gerne im Garten im Baum saß, zum Mädchen wurde, das auszieht, die Welt das Fürchten zu lehren. Diese Welt ist ein etwas zukünftiges Ghana, in dem sie Männer auf der Straße bedrängen, in dem sie in einem Ort namens Robotown eine Frau kennenlernt, die technische Geräte vertreibt (und mit Stromkreisen tätowiert ist), und eine andere, die Gattin des Imam, die die Erfinderin des Robo-Cop ist, der mit seinen Drohnen die Stadt kontrolliert. Sankofa hat einen Fuchs als Begleiter, der nach einer Hotelkette den Namen Mövenpick trägt. Sie tötet, wenn sie glüht, und sie zerstört alles technische Gerät in der Nähe. So übt sie Rache am Morder an ihren Eltern, an einer Welt, die für eine junge Frau wie sie ständige Lebensgefahr birgt; eine Gefahr. Die Geschichte schließt sich weder zur Allegorie noch hält sie eine Botschaft parat. Sie bringt Dinge zusammen, das Kind und die Macht, Fleisch und Metall, Mensch und Tier, Magie, Religion, Science Fiction, deren Überlagerung eine immer wieder faszinierende, in die Fantasy hinüberschillernde Landschaft hervorbringt. (70cp)

 

27.1. Escape From the Planet of the Apes (Don Taylor, USA 1971)

Fish out of water, Affen aus der Zukunft, in der die Erde zerstört ist. In einem Raumschiff landen sie an, 2000 Jahre zurück, zum Drehzeitpunkt seinerseits leichtes Futur: Es ist das Jahr 1973, Umweltverschmutzung, Atomkrieg und nun die sprechenen Affen, die über das nicht allzu ferne Ende der Mensch- und der Affenheit informieren. Die Politik wird mit komödiantischem Akzent vorgeführt, human und humaner als die meisten Menschen sind, als liebendes, in der Liebe miteinander scherzendes Paar Cornelius und Zira. Das Buch verbindet mit leichter Hand Apokalypse und komisch schillernde Verfremdungseffekte, die Kleider-Shopping-Tour durch downtown L.A., ein Schaumbad, die heftige Abneigung Ziras gegen Bananen. Präsdidentenberater Hasslein trägt im Namen, was er im Herzen trägt, warnt vor dem Ende der Menschheit und sieht die inhumane Vernichtung der Affen als einzige Lösung. Mit Jerry Goldsmiths fast abstrakter Spannungsperkussion endet es auf einem Schiffsfriedhof, wie es enden muss, nämlich finster, auch wenn, ins Dunkle der Schwarzblende hinein, ein erstes und letztes, verzweifeltes Hoffnungswort bleibt: Mama … Mama. (67cp)

 

Freies Land (Milo Harbich, D 1946)

Der Vorspann verkündet: «Dieser Tatsachenbericht schildert die wahren Erlebnisse deutscher Flüchtlinge, Bauern und Siedler nach dem Zusammenbruch im Mai 1945. Sie selbst haben in diesem Film mitgewirkt und waren die Darsteller ihres eigenen Schicksals.» Eine Dokumentation im strengen Sinn ist dieser zweite DEFA-Film aber nicht, wenngleich er seine erzählende Fiktion in ein Bild- und Personanematerial einträgt, das der Fiktionalisierung die selbstbewusste oder ungelenke Sturheit seiner Körper, seiner Dialekte, seines Stehens und Blickens und Sprechen darbietet, entgegenstellt, sich dem Spielfilmhaften, das die Kamera evoziert, immer auch widersetzt. Dazu aus dem Off eine Wochenschau-Stimme, die von Bodenreform berichtet und Gegenseitiger Bauernhilfe, die in Spielszenen dargestellt wird. Aus der Mühsal des Daseins der Bauern, der Geflüchteten, der Fremdheit, der Ablehnung auch wird kein Geheimnis gemacht. Neorealismus auf deutschem Boden, in der Landschaft um Lebus stehen in freier, befreiter, wieder zu unterwerfender Natur die Ruinen. Hier wird gerodet, gepflügt, das Stroh gedroschen, der Mensch im Sinne des Sozialismus instruiert. (63cp)

 

26.1. Deux hommes dans Manhattan (Jean-Pierre Melville, F 1959)

Der französische UN-Botschafter ist verschwunden, ein Reporter von Agence France Press (Jean-Pierre Melville, Ringe unter den Augen) und ein Fotograf machen sich auf die Suche. Von der UN-Versammlung geht es hinaus, ins niemals endende Rattern der Agenturmeldungen, in die Straßen New Yorks, noir wie die Nacht, die Nacht als Schauplatz von Noir, die Namen der Filme und Stars auf den Boards der Kinos, die Lichtreklamen blinkend, zuvor Pigalle, nun also Manhattan, und auch nach Brooklyn wird es die beiden Reporter als Gumshoes noch führen. Das Genre ist aber nichts weiter als Vorwand, Melville spricht Hollywood mit starkem französischem Akzent, will gar nicht auf das Finden der Leiche hinaus, gefunden wird sie, aber eine Tat gibt es nicht, und also auch keinen Täter. (Gäbe es einen, es wäre der Fotoreporter, drinking and driving, bis er zuletzt sein Gewissen wiederentdeckt.) Was Melville will, und sich nimmt, sind Hinterbühnenbesuche, Blicke durch Fenster auf Frauen, über spanische Wände auf Brüste, Abgang des brünetten Stars von der Bühne des Mercury Theater in die Garderobe, Gesang des blonden Stars im Studio, Livemusik, Jazz, ganz bei sich ist Melville, ist sein Kino, wenn die Kamera wie automobil durch die nächtliche Stadt streift, dazu auf der Tonspur Musi, und vielleicht noch mehr bei sich ist dieses Kino, wenn die Kamera die sehr genau weiß, von wo aus sie blickt, in Räumen Aufenthalt nehmen kann, in denen Menschen an ihren Instrumenten sitzen; Plattenspieler in wohnlicheren Räumen tun es auch, zur Not sogar das leere Rauschen am Ende der Rille, tschkrktschkrktschkrk. (65cp)

 

Maigret und sein Toter (Georges Simenon, F 1948, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Maigres Toter ist ein Mann, den er nicht kennt. Von dem Anrufe kommen, er fühlt sich verfolgt, und er ist es, und bevor Maigret ihn finden kann, ist der Mann tot. Der Kommissar liegt mit Erkältung zuhause, als ihn der Richter besucht, stopft Madam Maigret dem Gatten die Pfeife, als der Richter weg ist, bringt sie ihn auf die richtige Spur. Die führt auf Umwegen zu einer tscheschischen Bande (Simenon macht ein Wortspiel mit Scheck), sie führt in ein einfaches Restaurant, Petit Albert, das der Tote mit seiner Frau, der schielenden Nine, betrieb, bis er start. Nine, die keiner für hübsch hält, nur ganz am Ende Maigret beinahe doch, Nine lebt, sie ist in Sicherheit, das Bild, das andere von ihr zeichnen, hilft Maigret dabei, sich seinem Toten, der rundum beliebt war, zu nähern. Halb Falle, halb Reenactment als Annäherung: Die Polizei übernimmt für ein Paar Tage das Restaurant, Maigret hinter dem Tresen, die Frau des Kollegen kocht, und sie kocht gut. Ein zweiter Toter fällt an, eine Mittäterin mit Säugling übt sich im Schweigen, Maigret hat Geduld und das Petit Albert macht nach kurzem und erfolgreichem Nachleben dicht. (73cp)

 

25.1. The Beguiled (Don Siegel, USA 1971)

Der Mann ist lädiert, nicht kastriert, zunächst jedenfalls, und er wird in der Schule der Frauen mitten im Bürgerkrieg sofort zum Objekt diverser Begierden, durchaus um ihn als einzigen verfügbaren Phallus zentriert; die Frauen (mit mindestens einer Ausnahme) dagegen sind, was der Titel verspricht: die Betörten. Die Bäume hängen voll Bärten, Bruce Surtees gewinnt dem Außenraum, mit altmeisterlicher Lichtsetzung erst recht den Innenräumen seinerseits Betörendes ab. Das Südstaaten-Haus bekommt Augen und Ohren und Zungen und Hände und Clint Eastwood als John McBurney verführt um sein Leben, mit sanfter Stimme und Augenaufschlag und nimmt, was er kriegt: Sex und Amputation. Und Pilzgericht auch. Es präsidieren Bilder an Wänden, die Anstaltsleiterin Martha (Bühnenstar Geraldine Page weich und stahlhart zugleich) mit ihrem verschwundenen Bruder, mit dem sie wohl mehr als Bruderliebe verband. Nachgestellt wird ein Gemälde mit Eastwood als Christus, zwischen Kreuzabnahme und Pieta. Geschmackvoll sieht das aus, wie alles andere auch, etwa eine per Montage ins Bild gesetzte Threesome-Fantasie; dabei wagt sich Siegel, nicht nur in der Szene, in der ein Bein abgesägt wird, weit ins Groteske, in Southern-Gothic-Register. Ein Film, der Frauen alles zutraut, nur nicht, einen gegen den Anschein sehr mobilen Mann zu durchschauen. Wäre vielleicht einfach nur misogyn, gäbe es nicht noch eine Schlüsselfigur, als Sklavin, wie man im Rückblick sieht, vergewaltigt und durch symbolische Ordnungen unverführbar zu Realismus verdammt: Mae Mercer als Hallie, die nicht nur dank Rasur das wahre Gesicht der Beteiligten kennt. (74cp)

 

Black Noon (Bernard J. Kowalski, USA 1971)

Der Reverend und seine Frau drohen in der Wüste zu sterben. Ray Milland und seine sprachlose Tochter Deliverance (unfassbar Barbie-esk: Yvette Mimieux) kommen zur Rettung und bieten Kirche und Bett im Städtchen San Melas. Zu denken gibt eine Klapperschlange, die sich beim Anblick der Frau lieber verzieht. San Melas ist ein Westernort wie aus dem Klischee, einst gab es Gold, nun nur noch Terror, den ein Mann in Schwarz namens Moon ausübt. Auch nicht ohne: Deliverance, die in ihrer Kammer Wachskerzen dreht und die Gattin des Reverend in effigie quält. Ihre Katze ist vom ersten Bild an unbestimmbar satanisch. Nach einer flammenden Predigt wirft ein junger Mann die Krücken von sich und kann wieder laufen. Der Reverend wird in Visionen vor dunklem Hintergrund von einem blutigen Mann mit nacktem Oberkörper verfolgt. Das alles geht in aller Ruhe vonstatten und steht unsubtil da, eine Fernsehproduktion, auf die das Licht in nichts schattierender Gleichmäßigkeit fällt. Und hat gerade deshalb einen Schrecken, der nicht aus der Finsternis kommt, die Bilder sind einem taghellen Alptraum entsprungen und greifen in ihrer ungeschliffenen Art tief in die Fantasie des Betrachters. (74cp)

 

24.1. Die Mörder sind unter uns (Wolfgang Staudte, D 1946)

«Der Mann, den ich töten werde», so der ursprüngliche Titel, aber nach Selbstjustiz-Bedenken der sowjetischen Zensurbehörde tötet er ihn am Ende nicht. (Die Zuständigen der anderen Zonen wollten von deutschen Filmen vorerst nichts wissen.)  Das Ich ist der Mann, den der Krieg traumatisiert hat, den so sehr wie der Krieg die Barbarei eines anderen Mannes verstört hat, Hauptmann Brückner (Arno Paulsen sieht Himmler recht ähnlich), der Unschuldige töten ließ und sich selbst, O du fröhliche singend, unschuldig fühlt. Es klingt nach einer zu privaten Geschichte. Das Uns wiederum von Die Mörder sind unter uns sind die Deutschen des Nachkriegs, als ob sie Unschuldige wären, von den Mördern geschieden. Sonst aber nimmt das Buch kein Blatt vor den Mund: Auf dem Tisch die Zeitung, die von zwei Millionen Vergasten in Auschwitz berichtet. Ein Judenstern wird zerdrückt. In den Trümmern der Geschichte erzählt Staudte im ersten deutschen Nachkriegsfilm nun Geschichten, vom Monster, das überlebt und mit seiner Frau und seinen Söhnen am Tisch sitzt; vom alten Mann in seiner Werkstatt, der auf den Brief seines Sohns hofft, der ihn dann zu spät erreicht; vom Wahrsager, der den Leuten erzählt, was sie hören wollen und vor allem von der jungen Frau, die aus dem Lager zurückkehrt und in der Wohnung den Mann findet, mit dem sich eine Zukunft vorstellen lässt. Gefilmt in einem neorealistisch-expressionistischen Stil, der Anschlüsse in Weimar sucht, mit riesigen, einander verschlingenden oder ins Groteske gehenden Schatten, in ragenden, stürzenden, liegenden Trümmern, die vom Untergang zeugen. Schwer diese Zeichen, schräg sind die Bilder, dagegen das leise Klingen der Glockenstäbe am Eingang. Die Vergangenheit präsent, als Zerstörung, aber auch als Instanz, die mit schlechtem Timing Botschaften schickt: Der eine Brief ist liegengeblieben und erreicht den Mörder als schlechter Scherz, der andere Brief ein Nachgedanke der Vergeblichkeit. Großaufnahme des Gesichts, das Heulen des Krieges darunter. Die Erlösung zum Arzt per Luftröhrenschnitt. Viel Pathos, aufgehoben in Stil, ein Versprechen, das das deutsche Kino, auch der DEFA, dann nur noch sehr gelegentlich hielt. (79cp)

 

Fata Morgana (Werner Herzog BRD 1971)

Ein Flugzeug landet, und noch eins und noch eins, die Brennweite schmilzt den Grund zu flirrendem Licht. Ankunft, Ankünfte, fragt sich nur wo. Afrikanische Bilder, Wüste und streunende Häuser, man sieht keine Menschen, dazu erzählt Lotte Eisner mit charismatisch schartiger Stimme den Maya-Schöpfungsmythos von Popol Vuh, der Mensch gelingt erst nach mehreren Würfen. Das ist, die afrikanischen Bilder, auch auch einmal Eis, Teil eins, Eisner plus Mythos plus klassische Klänge, Überschrift: Schöpfung, darunter macht Herzog es nicht. Teil zwei kennt dann Menschen, hier lernen die Bilder das Fliegen, es wird auch weiter gefahren, durch Wüste hindurch, an Siedlung vorbei, drei Songs von Leonard Cohen laufen betörend dazu. Es mischt sich auch der Irrsinn darunter, der Text, nun von einem Mann, nicht mehr Lotte Eisner, aber auch nicht von Herzog, gesprochen, ist poetisch, indem er Risse in den logischen Zusammenhang fügt. Afrikanische Kinder, die deutsch vom Blitzkrieg sprechen, erst einzeln, dann chorisch. Auftritt auch ein Mann mit dunkler Fliegerbrille, ein Mann, wie es Männer nur bei Herzog gibt, voll von nüchtern klingendem Wahn, in den Händen einen Waran, der sich windet, der züngelt, Echo (oder Fata Morgana) von weit her aus der Zukunft, die Echse in Herzogs Bad Lieutenant, so viel und so vieles später. Und dann folgt Teil drei, Das Goldene Zeitalter, aber hier sitzt nun auf einer engen Bühne wie in einem Wirtshaus erhaben ein Mann am Schlagzeug und singt, unverständlich, vom Mikrofon verzerrt, eine ältere Frau spielt, ernst blickt sie dazu, recht brutal das Klavier. Auch sieht man Menschen in Löchern im Sand, eine alte Frau ein alter Mann ringend, als wollte er vielleicht fliehen und sie wollte ihn vielleicht daran hindern. Auch ein Taucher mit Flossen, eine große Schildkröte in den Armen, sie gehte dann ins Becken, er hinterher. Ankünfte, Abflüge, woher und wohin, spätestens in Teil zwei hebt das Ganze ab, stürzt in schönstes Delir, geht in Herzog-Gangart mit Aszendent Achternbusch über den Verstand. Was soll man sagen. (80cp)

 

23.1. Neun Leben hat die Katze (Ula Stöckl, BRD 1968)

Die Katze hat neun Leben, und dieser Film hat sehr viel mehr als nur eins. Von Dingen der Liebe erzählt er, von Ehe und Sex, vom Protest auf der Straße, vom Verspeisen der Blumen im Feld, er hört zu und legt Worte in nicht sprechende Münder, eine Frau kommt an aus Frankreich (und einer französischen Idee vom Film sicher auch), eine andere Frau nimmt sie in Empfang, sie sitzen auf einer schwingenden Bank und Edgar Reitz sitzt da auch, drängt sich zwischen die beiden, weil er, ironisch und nicht ironisch, die Ordnung der Welt, in der der Hahn im Korb zwischen zwei Frauen gehört und nicht an den Rand, wiederherstellen will. Die eine Frau, Liane Hielscher, ist Journalistin und testet ihren Marktwert selbstbewusst in einem Bewerbungsgespräch. Sie porträtiert einen Schlagerstar, worauf sich Ula Stöckl auf eine Weise einlässt, die den kritischen Impetus, der nicht nur hinter dem Artikel steht, weit überschießt. Zwischendurch hebt ein Flugzeug ab aus dem Stand, kurz wird über die Utopie des Flugverkehrs diskutiert, der keiner Start- und Landebahnen bedarf, dann aber knickt dem kuriosen Flugzeug beim Landen das Rädergestellt weg, und das war es dann wohl. Außerdem verwandelt eine Kirke Männer zu Schweinen, geschlachtet wird, gelacht wird und getanzt wird und es ist ein Film, der sich mit so großer Selbstverständlichkeit Freiheiten nimmt, dass man ihm und den beiden Frauen überallhin folgt, in die Natur, ins Bett, ins Hängemattenbett in der Natur, zu Flugzeuggeschichten, Widerstandsgeschichten, Feminismusgeschichten und Arbeitsgeschichten. Neun Leben hat die Katze, der Mensch hat nur eins, in dem aber geht es um alles, nicht wenig davon, also von allem, findet in Ula Stöckls Debüt seinen Platz. (80cp)

 

Bob le flambeur (Jean-Pierre Melville, F 1956)

Sacré-Coeur oben, Pigalle unten, Deauville am Meer, das Apartment in Montmartre, fast alles von Melville im Studio erträumt. Das Flanieren, oder eher Streunen, des Blicks, Bobs Blick, der auf eine junge Frau fällt, unschuldig, weil ohne Prinzipien, von deren Aufstieg in der Nachtwelt von Paris der Film auf der einen Seite erzählt. Sie fängt die Männer, Paulo vor allem, aber lässt sich nicht fangen, sie hält ihren Körper für geldwert, was er auch ist. Auf der anderen Seite: Bob, der Spieler, so süchtig, dass er in einer Kammer seines Apartments einen einarmigen Banditen verwahrt und, wenn er hereinkommt, bedient. Er, der vom Verbrechen kuriert war, zur Polizei freundschaftliche Beziehungen unterhält, er, der durch die Kasinos und der durch Pigalle streunt (nicht unschuldig, nur zum Schein souverän), lässt sich nicht durch die junge Frau (oder überhaupt Jugend), aber durch das doppelte Versprechen des Geldes und, vielleicht mehr noch, der Beinahe-Unmöglichkeit seiner Pläne verführen. Melville setzt seinen Film auf die Gleise des Heist-Films, aber spätestens wenn er im Bild die Tat selbst antizipiert, ist klar, dass diese Geschichte darauf nicht hinauslaufen will. Sie wird auf parallele Gleise gesetzt, ernst und doch, in den (leise, aber doch) aufmerksamkeitsheischenden Blenden (nicht oft, aber doch), und den insistenten Großaufnahmen zum Trotz, mit großer Eleganz auf Abstand gebracht - ein Abstand, der die Bindung zu den Figuren nicht löst, aber als Abständigkeit so sehr eine Markierung von Objektivität ist wie die Stimme des Erzählers, die zwischendurch den Stand der Dinge weniger kommentiert als notiert (nicht allwissend, aber doch). Und so kommt, was kommen muss, aber nur unter diesen Voraussetzungen kommen kann, eine leise Verschiebung ums Ganze, hinreißende Ironie, fast komödiantisches Finale, in das sich, als Name, Plakat und Porträt Juliette Greco, der Star von Melvilles vorangegangenem Film, sanft hineindrängt. (80cp)

 

The Banshees of Inisherin (Martin McDonagh, Irland/UK/USA)

Heavy lifting: die Augenbrauen von Colin Farrell. Schnipp-schnapp: die Finger sind ab. Gibt so kleine Esel, gibt so sture Männer, gibt eine Insel, die Martin McDonagh sich ausgedacht hat. Eine Insel, von der aus der Bürgerkrieg des Jahrs 1923 nicht mehr als Wetterleuchten vom Festland her ist, eine Insel, auf der eine alte Frau als Banshee umgeht, ein Polizist erst nackt im Suff daliegt, dann seinen Sohn schrecklich verprügelt. Es bleibt nur, und nur für die Frau, weil sie lesen kann und Mozarts Geburtsdaten kennt, als einziger Ausweg die Flucht. Mythischer Quatsch das alles, durch Totalen einer Landschaft besiegelt, die schweigt, aber sie schweigt mit einer Größe, die Menschliches klein macht. Few and far between Dialoge von grimmiger Komik, im Beichtstuhl vor allem, für Augenblicke die Hoffnung, dass McDonagh das alles weit weniger ernst nimmt, als es gleich darauf wieder daherkommt. Bewundernswert aber doch der Einsatz von Brendan Gleeson (zerfurcht), Colin Farrell (geknickt) und Kerry Condon (ausharrend, up to a point), die sich dem Unfug nicht beugen, die ihren Esel begraben, ihre Geige mit Fingerstümpfen noch spielen oder besser doch die erpresserischen Verhältnisse fliehen, denen McDonagh, der hier die Scheren führt und die Fäden zieht, mit leichter Hand kurz vor Schluss noch den jungen Dominick opfert. (52cp)

 

22.1. Some Came Running (Vincente Minnelli, USA 1958)

Das Schicksal fährt Bus und lädt Dave Hirsh (Frank Sinatra) in seiner Heimatstadt aus, Parkman, Indiana. Er trägt Militäruniform, hat in seiner letzten Nacht in Chicago eine lose Bekanntschaft gemacht, Ginnie (Shirley MacLaine), kann sich, er war völlig betrunken, kaum noch erinnern. Sie steigt mit aus und wird bis zum bitteren Schluss bei ihm bleiben. Das Breitleinwandbild ist geräumig, Zeit nimmt Minnelli sich auch, und zwar, um Parkman im Großen und Kleinen auszumalen. Im Kleinen liegen auf Sofas Kissen herum, auf einem ist ein menschlicher Grashüpfer drauf; im Hintergrund eines malerisch vor dem recht majestätisch breiten Fluss gelegenen Hauses unübersehbar ein Kraftwerk. Am Ende ein Friedhof, ein Engel, Schwenk auf den Fluss, das Schicksal zieht sich mit dem Segen der Toten aus dem Leben zurück. Das Kleine ist, wie man sieht, bereits groß; das Große ist medioker. Der Bruder, der es in Parkman zu Geschäftserfolg und Familie gebracht hat, mit Daves Ankunft beginnen die Fassaden zu bröckeln. Das Große, das nun klein ist, ist der Schriftstellerehrgeiz von Dave. Zwei Romane hat er veröffentlicht, die Dozentin für Creative Writing, Gwen French, Tochter seines Professors (von früher, ein mythisches, ein nicht wieder einholbares Früher), verehrt sie und verehrt, und verehrt nicht, den Mann. Der trinkt und spielt und begegnet beim Spielen einem Trinker und Spieler, Bama (Dean Martin), der den Hut nie vom Kopf nimmt. Das Begehren ist unterwegs, die Eifersucht auch, Heiratsanträge aus heiterem beziehungsweise wolkigem Himmel, das Wünschen ist selbst wie betrunken, die Objektwahl instabil, Küsse und Wünsche verrutscht, Motive verschwommen, Gründe aus Ankern gerissen, der eine haftet am Hut wie bekloppt, der andere haftet nicht, dafür klebt an ihm das Verderben. Herzensklug und naiv und zu allem entschlossen nur Ginnie, die nicht weiß, wie ihr geschieht, aber was ihr geschieht, das fühlt sie genau. So konfrontiert sie Gwen, die in Ansehen und Verstand unendlich überlegene Frau, in deren Revier, ist siegreich, auch wenn nicht klar ist, ob da überhaupt ein Widerstand war. So rennen sie weniger, als dass sie rutschen, und rutschen, auf Unglücke zu, aus Parkman davon. Es ist Raum, es ist Zeit, aber es gibt keinen Halt für diese Figuren. (76cp)

 

Le souffle au coeur (Louis Malle, F 1971)

Einmal schneiden sie den Corot aus dem Rahmen und ersetzen ihn durch eine Kopie. Die wird später vor den entsetzen Augen des Vaters zerstört, der von der Sache nichts ahnt. So sind sie, die Kinder, drei Söhne, zu bösen Pranks aufgelegt. Der Vater: Gynäkologe, die Mutter, viel jünger als er, längst läuft nichts mehr zwischen den beiden, dafür läuft bei ihr viel nebenher. Lea Massari ist als diese Mutter vital und lose, liebevoll und ahnungslos, eine Frau, die keine Hemmungen kennt und als sie, betrunken, mit dem eigenen Sohn schläft, findet sie, nüchtern, wenig dabei. Der Ort ist Dijon, das Milieu ein Großbürgertum, das die Bediensteten liebevoll quält, in dem der Sohn, unser Held, Laurent Chevalier, in vieler Hinsicht Louis-Mall-autobiografisch, Jazz hört, Platten klaut, von einer Prostituierten entjungfert wird, jedenfalls fast, einen titelgebenden Herzschaden hat und im Sanatorium die Erziehung seines Schwanzes fortführen darf. In dieser Welt, die Malle mit scheinbarer oder tatsächlicher Nonchalance schildert, mit einer Fluidität erzählt und montiert, einer Fluidität als Flucht vor jedem Nachdenken oder Beharren,  ist die Übergriffigkeit Regel und bleibt in jedem Fall straffrei. Alle Türen sind im Zweifel offen, das Herz murmelt, aber es wird daraus keine Mördergrube gemacht. Von Geld ist nur anlässlich des Corot mal die Rede, ansonsten wird geschwiegen über das, was jede Unmöglichkeit möglich macht. (63cp)

 

21.1. Leonce und Lena (Georg Büchner, Regie: Ulrich Rasche, Deutsches Theater Berlin, Premiere)

Hier wird keine Komödie gespielt. Es geht schon los mit Friede den Hütten und Krieg den Palästen, also politisch. Dunkel ist die Bühne, und hell wird sie nicht. Es hängt, schwebt, richtet sich auf ein Sechs-mal-Sechs-Lichtschienen-Raster, das weniger Beleuchtung als Lichtstimmungen gibt, rot und gelb und blau, aber nicht bunt, da die Farben sich in der Schwärze verlieren. Es ist der abstrakte Kontrast, sich senkend und hebend, der das Dunkel, den Nebel nicht erhellt, sondern erst recht modelliert. Aus dem Dunkel der sich endlos drehenden Bühne (keine Scheiben mehr, keine monströsen Bauten) nahen langsam, mühsam, auf die von Rasche bekannte Weise, mit Atemholdirigat chorisch sprechende Figuren, Schemen nur, und viel mehr als Schemen, als helleres Dunkel im dunkleren Dunkel werden sie nicht. Die Bühne dreht sich, aber langsam. Individuen schälen sich heraus, aber gerade mal so, es fällt alles immer auch wieder zurück in den Chor, alles Sprechen ein Pressen, ein Anschreien gegen eine namenlose, gegen eine dunkle Last. Auch das Gehen wie von Tonnen niedergedrückt, ein Schreiten und Scheren, Bewegung gegen Bewegung, aber niemals voran, nur das Standhalten, mühsam, gegen den Strom. Wenn später, aus dem diffusen Hinten und Dunkel unter der Lichtraster-Schräge Leonce und Valerio erscheinen, wie in einem Alptraum, in dem man geht und geht, und doch nicht vorankommt, wobei der eine den anderen Huckepack trägt, dann ist da kein Band, das sie bindet, aber sie könnten auch Lucky und Pozzo sein (und die Schräge ein einsamer Baum). Rechts und links, ohne Unterlass, nur einmal zu leisem Klopfen erstickt und verlangsamt, die Musik, sie beginnt technoid elektronisch, steigert sich zu gusseisernem Schmerzens-Inferno, ist eher Wand, die sich schließt als Weg, der sich öffnet. Und so dreht sich alles in der richtungslosen Lichtraumskulptur ewig im Kreis, langsam, unendlich langsam, Gehen als Ächzen, Sprechen als Pressen, der Büchner-Text und sein Irrsinn mit dem Pathos dieser Langsamkeit, dieses Leidens und oft auch beinahe Flehens freigestellt und herausmodelliert, die Nase, die in der Wiese erblüht, die Hochzeit der Automaten, hier, gegen Ende, sind schon alle (in hautfarbene Kostüme) entkleidet, nackt gehen sie da, gebückt gehen sie, schreitend, es ist, nicht nur hier, schon mehr Tanz als nur Gehen, mehr Singen vielleicht auch als Sprechen, das Pathos verdichtet die Prosa zu gebundenen, ächzenden Formen. Komödie wird nicht gespielt, auch nicht, wenn sich in der Hochzeit am Hof, mit Almut Zilcher als König, die den Rascheschen Intonationen den eigensten Individualstil abringt (aber auch sonst ist es nie eintönig, nie monoton), wenn sich in diesen Minuten, zum tupfenden Klopfen, das expressive Pathos verschlankt. Es folgt darauf ein Aufbäumen, ein mächtig anschwellendes chorisches Sprechen, Lichtstimmung rot, die Vision vom Zerbrechen der Zeit, eine Schlaraffenland-Utopie vom Ende des Unterdrückungs- und Ausbeuterstaats. Die Vision ist mächtig, aber auch finster, sie dreht sich in der Wiederholung im Kreis und führt zu nichts, oder doch, der eiserne Vorhang geht nieder. (80cp)

 

Maigret macht Ferien (Georges Simenon, F 1938, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Das Zentrum bleibt leer, hinter verschlossener Tür: Odette, die Ehefrau des Arzts Bellamy, die dieser, hoch geachtetes Mitglied der Gesellschaft von Les Sables-d’Olonne, mit den eisernen Spangen seiner Eifersucht liebt. Maigret, in diesem Roman wieder Kommissar, ist in dem Atlantikörtchen im Urlaub, als Madame Maigret ins Krankenhaus kommt, akute Blinddarmentzündung. Dort stirbt eine junge Frau, ein Mann verschwindet, Maigret, im ganzen Land berühmt wie schon lange, beginnt zu ermitteln und geht von sich öffnender Tür zu sich öffnender Tür. (Nur die zu Odette bleibt geschlossen.) Er fragt, bekommt Antwort, er kreist und sucht den Zusammenhang zwischen dem Tod der einen, dem Verschwinden des andern und dem Tod, er gibt sich einen Teil der Schuld, einer Dritten. Der Arzt Bellamy wird ihm zum ebenbürtigen Andern, ein so vernünftiger Mann, dessen Kehrseite die blanke Unvernunft ist. Es ist dieser Abgrund, in den sich Maigret, der in allen Abgründen zuhause ist, aber selbst keine hat, für die lange Schlusskonfrontation, die ihm wie stets zugleich Leiden und Lust ist, begibt. (73cp)

 

20.1. Avec amour et acharnement (Claire Denis, F 2022)

Klar ist nichts, und unklarer wird alles noch, wenn die Liebenden einander versichern, dass alles jetzt klar sei. «Mon amour, mon amour», sagt Sara (Juliette Binoche) beim Sex mit Jean (Vincent Lindon), sie sagt, flüstert, fleht es emphatisch, und es ist wahr in diesem Moment, es ist wahr, aber klar ist es nicht. Denn da war François, von dem sie sich für Jean trennte; und nun ist François, neun Jahre später, wieder da, als neuer Geschäftspartner Jeans, so viel an der Vorgeschichte ist, nun ja, klar, aber warum genau Jean im Knast war, warum genau es zur Trennung kam, Sara schildert einen Abend, einen Impuls, das bleibt im Dunkeln. Dunkel, verschattet, ist die Szene, in der die Intensitäten des Films kulminieren, die Annäherung, die Wiederannäherung von François und Sara, Gesicht an Gesicht, die sich flächig und geduldig und doch immer insistierender sich steigernde Tinderstick-Musik umspült den Moment, wie am Beginn das Meer die Körper von Jean und Sara, und die Musik auch dazu, wie Wasser es tut, diesen Auftakt umspült, es ist, schon hier, kein fester Grund unter dem Boden. Dieser feste Grund schwindet, und den Figuren schwindelt es, auf dem Balkon hoch oben, Blick über die Dächer, Paris. Jean, der festen Grund sucht in seiner Vergangenheit, er fährt dafür drei Stunden lang zum Einkaufen nach Vitry. Da lebt seine Mutter, große Altersrolle für Bulle Ogier, bei ihr lebt sein Sohn, der schwarz ist, die Mutter ist schon lange verschwunden, hier nimmt Denis einen von zwei Abzweigen in Richtung Identitätspolitik, später noch ein Radiogespräch Saras mit dem Ex-Fußball-Profi Lilian Thuram. Eine Predigt des weißen Vaters für den weißen Sohn, er müsse um Freiräume kämpfen, er dürfe sich nicht fesseln lassen durch die ihm von der Gesellschaft auferlegte Identität. Thuram zitiert im Gespräch mit Sara Fanon, auch hier geht es um den Widerstand, nicht nur den äußeren, sondern viel wichtiger um den Widerstand gegen das, was internalisiert ist, was sich wie ein Eigenes anfühlt, das einen ohnmächtig macht. Was einen ohnmächtig macht, das ist auch die Liebe, ein Behaupten von Klarheit, wo nichts, gar nichts klar ist. Sara liebt den einen und den anderen auch, sie lügt um dieser Wahrheit willen, sie hängt sich mit der Macht der Verzweiflung an den Kuss, der nicht stattfand, aber es fand ja, unter und neben und über dem Kuss, ganz anderes statt, in Gefühlen und Blicken, ob sie es nun, vor Jean und, schwieriger noch, vor sich selbst anerkennt oder nicht. Aus diesen Dramen des Bindens, ja Fesselns, und Lösens, ja Losreißens, gibt es keinen einfachen Ausweg, keinen Weg in die Klarheit, es sind die Körper, es sind die eigenen Gefühle im Weg, die sich von Worten und Gedanken so wenig sagen lassen, die die Wörter, kaum sind sie ausgesprochen, geschrien oder geflüstert, verdorren lassen; da hilft nur, und hilft wieder nicht, der Cut, die Klarheit der Gewalt, der Löschung der Daten, der Neuanfang, der, hilfsweise: Ende, niemals einer ist. (76cp)

 

Quand tu liras cette lettre (Jean-Pierre Melville, F 1953)

Schwenk vom Meer herüber nach Cannes, Schwenk von Cannes übers Meer Richtung «Fin»: So hält Melville diese Geschichte, ein Melodram sondergleichen, umklammert, als wüsste er, dass nichts sonst das, was sich hier dicht gedrängt zuträgt, Hals über Kopf, Herz, Schmerz und Unfall und Tod, zusammenhalten kann. Da ist Thérèse, Juliette Greco, die einen Heiligennamen trägt, und tatsächlich ist sie anfangs im Kloster. Sie kehrt in die Welt zurück, und weltlicher als nun in Cannes wird es nicht, als ihre Eltern sterben und sie an Eltern statt die jüngere, die nicht volljährige Schwester Denise, in ihre Hut nehmen muss. An anderer Stelle in Cannes, an einer Tankstelle genauer gesagt, braut sich bereits Unglück zusammen, ein Unglück, das den Namen Max Trivet trägt und das Engelsgesicht von Philipp Lemaire. Er ist der Mann, der sich ohne nachzudenken nimmt, was er kriegt, eine Frau nach der anderen, etwa Irène, die mit ihrem schnittigen Wagen an deren Tankstelle vorfährt, deren Fahrer er wird, und Liebhaber auch, aber im Nachtclub greift er sich ebenfalls, was ihm gefällt. Und so nimmt er sich auch Denise, die kleine Schwester von Thérèse, vergewaltigt sie, worauf sie sich ins Wasser stürzt, überlebt, und Thérès hasst nun, mit einer Inbrünstigkeit, die schon Liebe ist, diesen Max, der nun seinerseits ihr, der weltlichen Nonne mit streng gescheitelter Frisur, verfällt, auf fast schon hündische Art. Sie fängt, buchstäblich, Feuer, er löscht es, buchstäblich, aus, so sind, reines Melodram, die Musik schlägt ebenfalls hoch, die Zeichen und Wunder des Films, der mit dem Plot und mit den Wendungen sich selbst kaum hinterherkommt und fürs Hinterherkommen auf erzählerische Kurzschlüsse, nämlich Unfälle, setzt. (Zwischendrin, gegen Ende, filmt Melville wieder einen atemberaubenden Raum: Von tief hinten und unten gegen das Licht und das Fenster, an dem Juliette Gréco die Jalousie herunterlässt, das Licht an der Wand in Hell-Dunkel-Streifen gefächert, und geht, sehr langsam, auf die Kamera zu. Kurzes Verharren im Auge des Sturms, der der Plot ist, und dann sofort weitergeht, weiterweht. So sind schon die Eltern, um die Sache in Gang zu bringen, gestorben, so serviert Max/der Film die reiche Irène ab, weil er sie nicht mehr braucht. Und so setzt ein Unfall auch Max selbst ein Ende, schwarz und bitter ist es, er liegt dann auf dem Bahnsteig, Decke drauf, der Zug, und Irène darin, fährt wieder an, sie Richtung Kloster, der Film Richtung Meer, Richtung «Fin». (74cp)

 

19.1. Aftersun (Charlotte Wells, GB 2022)

Bilder, die die Erinnerung gibt: der Vater im Zentrum, der Vater am Rand, am Himmel die Glider, das Billardspiel, der Junge, den sie küssen wird, auf dem Motorrad beim Videogame. Nichts ist, nichts wird dabei jemals ganz: scharfe Ränder, der Blick gleitet ab, die Impressionen sind zu kurz oder zu lang, verschwinden, kehren wieder, sind real oder sind wie geträumt, nicht immer ist das eine vom anderen klar zu unterscheiden. Die Bilder der Erinnerung bleiben, wo die technischen Bilder der Kamera enden, es sind diese Bilder der Erinnerung, zu denen der Film Zugang findet und sucht. Subjektiv sind sie nicht im technisch ganz engen Sinn, eher sind es Bilder der Subjektivität selbst, zu der auch das Einbilden und Fantasieren gehört, das Verschieben, das Aus-dem-Zusammenhang-Reißen, das Vermischen und Wiederholen. Für all diese Aktivitäten findet Charlotte Wells Korrelate, der Stimmung, dazu über Vorder- oder Untergründe verbunden Musik. Markiert ist der Abstand, kurz sieht man die erwachsene Sophie, damit ist das Konstruktive, das Nostalgische der Konstruktion ausgesprochen, ist aber nicht die tiefe Unruhe, das Drohende, die Trauer, die unter allem liegt, wirklich erklärt; der Vater ist tot, wenn nicht real, dann symbolisch, um diesen Tod geht es, der sich so oder so mehr als wirklich anfühlt. Es geht um das Aufsuchen eines Erinnerns, das wie eine Wunde den Übergang zum Erwachsensein sucht, groß die Szene, in der die virtuose Frankie Corio schauerlich, fast schon komisch schlecht singt, trotzig, vom Vater verlassen, sich von ihm lösend, losing my religion, ein öffentlicher Akt, an dem alles schmerzt, und zwar beide, eine Szene der Verletzungen im generischen türkischen Ferienort. Die Fülle der Bilder in ihrer Balance von Präsenz und Absenz, der Entzug eines letzten Zusammenhangs, dem die aus Fragmenten gebaute Totalität von Tönen und Stimmungen trotzt, der präzise kalkulierte Impressionismus: Von welcher Seite man schaut, ein erstaunlicher Film. (80cp)

 

Whose Body? (Dorothy L. Sayers, GB 1923, Hörbuch, Sprecher: B.J. Harrison)

Eine Leiche zu viel und eine, die fehlt: Frivol die Konstruktion von Sayers’ erstem Wimsey-Roman. Frivol auch die Wimsey-Figur, der Hobby-Detektiv am Rand zur Karikatur. Sein bester Freund, Parker, als zu den Hebeln von Recht und Gesetz verlängerter Arm. Sein Diener Bunter, rechte Hand und Watson, aber der verständigen Art. Wimsey liest Dante, kennt Raffles und Holmes, das ist Kriminalliteratur, die sich selbst von Anfang an als schöne Kunst betrachtet. Realia finden immerhin Zugang, Wimsey durch die Kriegserlebnisse posttraumatisch belastungsgestört, dazu Börsenspekulationen, das aber als Bild, das die Dowager Duchess of Devonshire alliterativ quert, in das auch ein locked room mystery passt, mit Pincenez auf der Nase und einem mad scientist in den Kulissen, der die Leichen beruflich zerstückelt, über die er im Selbstversuch geht. (62cp)

 

18.1. Vampyros Lesbos (Jesús Franco, BRD/Spanien 1971)

Wo sind wir: Istanbul, das Meer, ein Schiff, das vor dem Himmel und den Augen verschwimmt. Aber auch: in einem Nachtclub, eine Strip-Performance, in der eine nicht ganz nackte Brünette mit sehr rotem Schal einer nackten Blondine ihren Slip und BH überstreift, worauf sich die Blonde mit abgehackten Roboterbewegungen zu beleben beginnt. Diese Szene gibt es, abgewandelt, ein weiteres Mal. Wie auch die beiden Frauen zueinander in fantasmagorischen Körper-Übertragungsverhältnissen stehen, ein paar Männer dazwischen, Morpho mit den blau getönten Brillengläsern, Doktor Seward, stämmige Verkörperung einer Vernunft, die von der Wahrheit gar nichts versteht, die Frau aber umso entschiedener einsperrt. Die Männer aber stehen am Rande, werden umstandslos beiseitegeräumt, dann geht es wendeltreppenförmig ins Unbewusste hinab, auf dem roten Bett geschehen vampirische Dinge, wie überhaupt rot dominant ist, der Schal, das Kunstblut am Fenster, das Kunstblut am Hals nach dem Kuss-Biss der Vampirin, wobei der Film nicht so sehr auf die Bisse hinaus will, auf Sex ebenfalls nicht, von Penetration ganz zu schweigen, eher sind es die traumwandlerischen Übergänge, das rabiate Gleiten des Zooms, das Sieh-Hier und das Schau-Da der Großaufnahmen. Und darunter, daneben, darüber, alles entscheidend, der auf völlig eigenen Wegen vor sich hin improvisierende elektrojazzrockpsychedelische Soundtrack von Manfred Hübler und Sigi Schwab. Zu dieser Musik ist alles möglich, das Gleiten der Bilder und Körper, Skorpione im Pool, Vampirmythos, der das Männliche eliminiert. (75cp)

 

The Big Boss (Lo Wei, Hongkong 1971)

Bruce Lee: Blicke und Posen. Die Füße, die Beine, der Körper in den Boden gerammt und doch, ohne dass sich etwas verselbständigt zum Tänzeln bereit. Das Erschrecken beim Anblick der Hände, das Lecken des Bluts, sehr buchstäblich, der Flug über den vierköpfigen Schäferhund-Zerberus im Garten des Bosses. Verwurzelter Luftgeist Bruce Lee, Körper, der blutet, Körper, der die Schwerkraft mit Leichtigkeit überwindet. Details, Details: Der Umriss, der bleibt beim Flug durch die Wand wie im drastischen Zeichentrickfilm. Der Schnitt auf die Beine, eine leichte Drehung des Fußes, der eine leichte Drehung des Gegner-Fußes korrespondiert. Die Kamera rast Richtung Gesicht, aber leicht rechts versetzt, in letzter Sekunde zieht sie nach links. Der Vogel im Käfig, der Käfig, der wie von Geisterhand im Baum landet. Der eiskalte Boss, die noch eiskältere Glut in den Augen Bruce Lees. Zum Schluss wieder Pose, vom rasenden Töten zu halb erhobenen Armen erstarrt; Siegerpose, die sich in erhobene Hände verwandelt. Abgeführt wird der Held, das gebrochene Versprechen an die Mutter, sich Ärger vom Leib zu halten, aus der fernen totale als Gegenteil des Triumphs ad absurdum geführt. (71cp)

 

Hinter den Augen die Dämmerung (Kevin Kopacka, D 2021)

taz-dvdesk (64cp)

 

17.1. Godzilla vs. Hedorah (Yoshimitsu Banno, J 1971)

Schmutz, Schlamm, Müll, Smog, Gift, tote Fische, das ist die eine, die schmutzige Seite, hier frisst sich Hedorah, wiewohl im Kern aus dem All importiert, zum für die Menschheit lebensgefährlichen Monster heran. Erst als Schiffezerstörer im Meer, dann als eine Art fliegende Sepia mit glotzroten Augen, aber vor allem als Zottelwesen im elefantösen Duell mit Godzilla, in dessen Echsenhaut Haruo Nakajima oft mehr ungelenk beinahe tanzt als irgendjemandes Fürchte erregt. Auch das Godzilla-Signaltrompetenmotiv sorgt für verlässliches Erbeben des Innern, durchaus erhaben, nur dass es eine kleine, feine Erhabenheit ist. Das ist alles sehr schön, wenn nicht rührend. Getanzt wird auch sonst, vor popbuntem Blasenhintergrund in der Disco. Und auf dem Berg, wo die Jugend erst demonstriert, dann auf Hedonismus umschaltet. Zuhause der Wissenschaftler mit Experimenten vor Aquariumshintergrund. Zwischendurch vervielfältigen sich die Nachrichtenbilder erst zum Chor sprechender Köpfe, dann zu nur noch popartbuntem Discogeflacker. Selbst Hedorah wird bei der Elektrokution (die Menschen versagen, Godzilla schüttelt melancholisch das Haupt und schreitet zur Tat) zum grellroten Farbblitz-Spektakel. Umweltzerstörungs-Sludge meets Elektropop, der Weltuntergang hat einigen Drive. Und findet zuletzt, Godzilla sei Dank, dann doch noch nicht statt. (74cp)

 

Die Muse des Departements (Honoré de Balzac, F 1843, Print)

Eine Königin, aber nur der Provinz, und dort von den Frauen beargwöhnt, ist Madame de la Baudraye. Schön und belesen hält sie Hof in Sancerre, aber auch der Erzähler mischt immer wieder Sarkasmus unter seine Beschreibung, beschreibt sie als Frau von nicht urbanem Geschmack, die sich selbst zur Salon-Intellektuellen dressiert hat, ihr Geist ist einer, der über das Wiederholen nicht wirklich hinauskommt, und ihre Texte in Versen, denn sie hat unter anderem Namen Bücher veröffentlicht, Auszüge gibt es zu lesen, sind Subliteratur. (Wie der Wein von Sancerre mit den besseren Weinen nicht mithalten kann.) Balzac bricht die Regeln, wie er, oder der Erzähler, auch zugibt, indem er Prosa mit Versen vermischt. Eine Hybridisierung, die als Spiel noch einmal forciert wird, als aus Paris der Arzt Bianchon und der Feuilletonist Lousteau in Sancerre sind, der Provinz, aus der sie kommen, aus der sie in die Sicherheit der Hauptstadt entkamen. Nun kehren sie also ohne Risiko und auf Zeit nur zurück, aber voller Neugier auf Madame de la Baudraye, von der man, jedenfalls als Mann aus Sancerre, auch in Paris schon gehört hat. Lousteau will eine Eroberung machen, es werden Anekdoten erzählt, auch die aus der Zweiten Frauenstudie wird erwähnt (am Rande nur, denn die Erzählung weiß: Sie ist schon bekannt). Bei der großen Abendeinladung führt er im ironischen Umgang mit trivialliterarischen Fragmenten aus Einwickelpapier (auch sie werden als Brocken in den Text eingeschoben mehr als -gewoben) die Provinzborniertheit der Versammelten vor - von der Madame de la Baudraye hier allerdings frei ist. Bianchon kehrt zurück nach Paris, Lousteau jedoch ist bald zu verstrickt, halb zieht sie, Dinah, Didine, ihn, halb sinkt er hin, mehr Nutz als Frommen im Sinn, er wird zum verehrendsten, aber moralisch unwürdigsten ihrer Verehrer. Auch den Gatten gibt es, klein und alt und geizig und in seinen Berechnungen bis zuletzt immer nur andeutungsweise durchschaubar. Er bleibt in Sancerre, als Dinah mit Lousteau nach Paris geht, das Idealbild, das sie von ihm hat, nur mit Mühe aufrecht erhält, zwischen Fronten laviert, Kinder gebiert, absteigt und dank des sie immer weiter stützenden Anwalt-Verehrers und des Gatten, der immer gesunder wird und voller Absichten steckt, auch wieder aufsteigt. Die Katastrophe, die von Anfang an im Hintergrund dräut - die Katastrophe bleibt aus, oder ist zumindest, als auf Dauer gestellte, entschärft. (72cp)

 

16.1. Les enfants terribles (Jean-Pierre Melville, F 1950)

Ein Raum, erneut, den zwei Menschen sich als Zuhause erschaffen haben, in den Fremde, Fremdes eindringen. In diesem Raum, mit zwei Betten, mit Postern an der Wand, mit einem gemeinsamen Bad, leben quasi-inzestuös die Geschwister Lise (erneut: Nicole Stéphane, nun alles andere als stumm) und Paul (der für die Rolle viel zu alte Geliebte Cocteaus, Edouard Dermithe). Eindringlinge: Natürlich die Kamera selbst, jede Einstellung eine Setzung, Artifizialität bis zum Manierismus (sich steigernd). Ein zugleich aufdringliches und distanzierendes Außen: die Stimme des Erzählers, der sich allwissend gibt, gesprochen von Jean Cocteau höchstpersönlich, Autor des Romans und des Drehbuchs. Ein und aus gehen: Ärzte, dann der noch als Dritter akzeptable Gérard, zur Konkurrenzfigur wird Agathe, in der Dargelos, der Paul mit einem Schneeball ins Herz traf und so in einem nicht nur übertragenen Sinn verwundet hat, wiederkehrt. Übertragene Sinne, sehr wörtlich genommene Dinge, die Einstellungen nie fluide (Truffaut, großer Bewunderer des Films, hat das ästhetische Konzept, das Aufwallende der Musik, übernommen und, man könnte sagen: fluidisiert). Eine Geschichte, die wilden, fast märchenhaften Setzungen und Umschwüngen gehorcht, Willküreinfällen eines Erzählers: die Reise ans Meer, die Verschiebung von Dargelos zu Agathe, das Lied Michaels, die Hochzeit, das Erbe, die Rekonstruktion des Ausgangszimmers im Schluss, nun mit viel Hall, eine Schließung, die bei aller Anstrengung nicht mehr gelingt. Wie ja eigentlich von Anfang an alles leck ist: das Herz, das Begehren, der Kampf gegen seine Unmöglichkeit, das Tabu, das auch der erklärfreudige Erzähler mit jeder weiteren Wendung immer nur weiter umkreist. (68cp)

 

Carnal Knowledge (Mike Nichols, USA 1971)

Jules Feiffers, neben Little Murders, zweiter Drehbuch-Streich im Jahr 1971. Eine Männer-Studie, alle Frauen nur passager. Susan, zum Beispiel, zum Anfang, Candice Bergen, ein Dreiecksverhältnis, von dem Sandy (Art Garfunkel) nichts ahnt. Er darf ihre Brüste berühren, dann darf er mehr, er berichtet dem weltläufigeren Jonathan (Jack Nicholson) brühwarm vom Stand der Dinge. Der ist bald weiter, und bleibt doch, weiter treibend, zurück. Eine Serie der locker room talks über Vorlieben bei Hintern und Brüsten, beginnend im gemeinsamen Wohnheimzimmer im College, dann, Jahre später, am Rande einer Eislaufbahn, eine Frau dreht freigestellt Pirouetten, dann kommt Bobbie (Ann-Margret) ins Bild. Von Mike Nichols, dessen Ambitionen übers Kammerspielhafte des Drehbuchs weit hinausgehen, in Pirouetten im Weißen, die ins ganz Weiße blenden, geradezu freigestellt. Spektakulär, wenngleich nur bedingt sinnhaft, ein Diner im Restaurant, bei dem sich der Vordergrund (Jonathan/Tisch/Bobbie) vom Hintergrund (das Restaurant) wie schwebend ablöst. Und es geht weiter. Bei aller Liebe zu Bobbies Brüsten: Sich durch Heirat verhaften lassen will Jonathan nicht. Spurlos wird Susan, die Sandy geheiratet hat, in den Ritzen der vergehenden Zeit verschwinden, Cindy taucht auf und ist wieder weg. Die Markierungen der vergehenden Zeit bleiben vage und in der Tat ändert sich wenig, das ist der Kern des Syndroms, um das es dem Film geht. Erbärmlich eine Dia-Show, bei der Jonathan die Frauen, die er begehrt hat, buchstäblich vorführt, es kommt, was passt, zur ersten Verwendung des Worts «cunt» im Hollywoodfilm. In seinen Fixierungen auf das Sprechen und Erleben seiner auf je eigene Art im arrested development gefangenen Männer bleibt der Film, mehr carnal als knowledge, natürlich Teil des misogynen Syndroms, das er beschreibt. (65cp)

 

15.1. The Cobweb (Vincente Minnelli, USA 1955)

Die psychiatrische Anstalt als Reforminstitut, es ringen die Instanzen um Kompetenz, exponiertes Dingsymbol in der Mitte: die Frage, wer für die neuen Vorhänge zuständig ist – die Leitung oder die Patienten. Alles verwirrend mischt sich die zu junge und fast schon gewaltsam nach Anerkennung lechzende Gattin des Chefarzts dazwischen (eigentümliches Paar: Gloria Grahame und Richard Widmark). Alles wird neben der offiziellen auch auf erotischen Ebenen gespielt. Besonders gilt das für den Leiter der Anstalt, dem es an Autorität wohl, aber an Lastern – neben den Frauen der Alkohol – keineswegs fehlt. Aber auch der liberale Arzt folgt einer anderen Ärztin, Lauren Bacall, die mit einem Verlust ringt, in deren Wohnung und sehr liberal auch in deren Bett. Ein junger Mann, John Kerr, steigt ins Auto von Gloria Grahame, dann liegt er auf der Couch ihres Mannes, dann entwirft er Designs für die Vorhänge, dann läuft er in suizidaler Absicht auf und davon. Minnelli hält die Breitleinwand für das rechte Format, fürs Rennen und Liegen, für Sitzungen auch, mehrfach treten die Instanzen zur Beratung zusammen. Das sind die zentripetalen Momente, aber an zentrifugalen Momenten und Szenen, und schierer Hysterie, zu der die Musik sich mühelos mit hochschaukeln kann, fehlt es ebenfalls nicht. Am Ende sind die Probleme eher erschöpft als gelöst, alles scheint fürs erste befriedet, in gelber Handschrift fürs Schlussbild überdeutlich bestätigt: the trouble was over. (69cp)

 

Maigret in New York (Georges Simenon, F 1948, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Ein junger Mann reißt Maigret, der nicht widerwillig scheint, aus dem Rentnerdasein. Sein Vater, sagt der Mann, schreibe sehr beunruhigende Briefe, sein Leben sei womöglich bedroht. Da bucht Maigret sehr kurzerhand ein Ticket fürs Schiff, das nach Amerika fährt, verlässt, eine Premiere, Europa, landet an in New York. Hat mit Sprachproblemen zu kämpfen, ist mit einem befreundeten Polizeikommissar und diversen Privatdetektiven zugange, einem stets betrunkenen Reporter und vor allem dem Vater des jungen Manns, der im Nobelhotel logiert und reich geworden ist als im ganzen Land, und in Südamerika auch, tätiger Jukebox-Verkäufer. Worauf Maigret nach und nach stößt, worein er sich nach und nach bohrt: ein Verbrechen, das in der Vergangenheit liegt. Aber auch in der Gegenwart kommt es zu einem Mord. Maigret deduziert, wie in Frankreich gelernt, auch in Amerika nicht, sondern versenkt sich in die andere Person, fühlt sich und identifiziert sich hypnotisch hinein. Am Ende wieder eines der langen Verhöre, diesmal mit Telefonleitung nach Frankreich. Was gewesen ist, klärt sich, aber zu retten ist nichts. Leer aus geht das Recht, auch wenn die Gerechtigkeit Kollateralsiege mitnimmt. Zurück auf das Schiff, die Bar, Melancholie. (70cp)

 

14.1. Tár (Todd Field, USA 2022)

Cate Blanchett trifft einen Ton, von Anfang an, im selbstgefälligen Gespräch mit Adam Gopnik (himself, no less) auf einer Bühne, als bis zur Karikatur erfolgreiche Star-Dirigentin-cum-Komponistin und feministische Vorkämpferin im Klassikbetrieb, vor Kulturbürgerpublikum. Es ist ein Ton der Inauthentizität; sie ist eine Frau, die sich abschirmt, die glaubt, Lydia Tár performen zu müssen. So sitzt sie und spricht, agiert und bewegt sich im Vollgefühl ihrer eigenen Bedeutung. Nicht nur in New York, auch in Berlin. Nicht nur vor diesem Publikum, selbst vor ihrer Partnerin Sharon - Nina Hoss in der Nähe ihrer kühlen Petzold-Figuren, aber ungeschützt im Vergleich. Lydia Tár ist exemplarisch, in ihrem Self-Fashioning (sogar auf den eigenen Namen hat sie sich, wie es scheint, selbst getauft), sie ist typisch, als jemand, die sich für eine immer anwesende Öffentlichkeit selbst performt und keine Schwäche zulassen kann. Todd Field hat sie jedoch als Vexierbild entworfen, weil Tár vor allem eins, nämlich ein Vexierfilm sein soll. So legt er, was die Gegenwart umtreibt, hinein: eine lange Sequenz, in der sie als Dozentin einen identitätspolitischen Einwand gegen Bach mit guten Gründen und mit schulmeisterlicher Bösartigkeit attackiert; nicht ganz ohne Ironie (unter der Oberfläche dieses sich selbst mit Ernsthaftigkeit versiegelnden Films) nennt ein alter weißer Ex-Star-Dirigent in einem Atemzug James Levine und Wilhelm Furtwängler als Opfer von Cancel-Kultur. Tár ist manipulativ, hat sadistische Züge, es fehlt nicht an Hochmut, auf den dann der Fall folgt, der keine Tragödie, aber vielleicht auch nicht gerechtfertigt ist: Fest steht nur, dass sich die Angelegenheit mit den Informationen, die man bekommt, nicht endgültig beurteilen lässt. Der Film verfolgt den Sturz der eisigen Figur mit eisiger Kälte, ist dabei seinerseits im ständigen Streuen von Zeichen und Insinuationen immer manipulativ, geradezu manisch (keinesfalls lustvoll) auf den Entzug von Eindeutigkeiten fixiert. So brillant, so enervierend und ungenießbar wie die brillante, enervierende und ungenießbare Protagonistin. Noch das buchstäblich groteske Schlussbild verweigert eine befriedigende Auflösung, setzt bewusst eine weitere Dissonanz. (75cp)

 

Stay True (Hua Hsu, USA 2022, Hörbuch, Sprecher: Hua Hsu)

Hua Hsu, Ich-Erzähler dieses Memoir, Student in Berkeley, Derrida-Leser, der beim unkonventionellen Politologen Micheal Rogin im Seminar sitzt, ist ein selbsterklärter Virtuose der feinen Pop-Musik-Unterschiede und kann einen wie Ken, der die Dave Matthews Band und Pearl Jam hört, nur verachten. Und doch werden sie Freunde, vielleicht schon auch wegen ihres Asian-American-Hintergrunds. Dabei kommen Kens Eltern aus Japan, die von Hua aus Taiwan, was seinerseits einen mehr als feinen Unterschied ausmacht, wenn auch nicht unbedingt in den Augen der Mitwelt. Hua Hsu situiert sich in der Migrations-Vorgeschichte, deren Bedeutung tritt aber (wenngleich sie präsent bleibt, präsent bleiben muss) hinter die der persönlichkeitsprägende Popkultur-Sozialisation und der postmodernen Lektüren zurück. Alles erscheint einigermaßen exemplarisch, für eine liberale Uni, ein progressives Milieu, geradezu generisch die Wiedergaben der für den Hausgebrauch angeeigneten Theorie. Dann aber wird Ken, der beste Freund, zum Opfer eines Raubmords, das Memoir zum Erinnerungsbuch in diesem spezifischen, tragischen Sinn; ein Nachruf, wobei Hsu selbst schreibt, dass Nachrufe die unselige Tendenz haben, das Ich des Überlebenden ins Zentrum zu stellen. Das Memoir ist eine anders schwierige Form, die dann problematisch wird, wenn, wie hier, das sich selbst erzählende Ich, und das Erzählen des Ichs, weder spezfisch noch exemplarisch genug ist, um anderes als auf mehr oder weniger interessante Weise generisch zu sein. (61cp)

 

13.1. Eine alltägliche Geschichte (Iwan Gontscharow, Russland 1847, Hörbuch, Sprecher: Gert Westphal)

Beginn: in der Provinz, vor dem Aufbruch. Alexander Fedorytsch Adujew, Augapfel und einziger Sohn der Witwe Anna Pawlowna, will weg aus der Enge der Herkunft, hinaus in die Weite der Zukunft, von der er sich Gott weiß was verspricht. Einundzwanzig Jahre alt ist er, sein Diener Jewsej kommt mit und lässt seine Liebste Agraphena zurück. Nach St. Petersburg geht es. Hier stößt Alexander auf den wohlhabenden und erfolgreichen, mit einer jungen Schönheit verheirateten Onkel Pjotr Iwanowitsch, der ihm den Weg in die Gesellschaft nach erstem Widerstreben zu öffnen versucht. Er ist das Realitätsprinzip, an dem die Blütenträume und Herzensergüsse und der Schriftstellerehrgeiz des jungen Mannes abprallen und langsam zerschellen. Alles Handeln ist vom Diskurs in Gesprächen begleitet, umwegig ist die Erziehung des Herzens, ist Alexanders Desillusionierungsbiografie. Drei Frauen, drei Lieben, am Ende ist ihm die Leidenschaft ausgetrieben. Die eine will einen anderen haben (das Duell redet der Onkel ihm als immer schon unsinnige Sitte einer nun vergangenen Zeit ausführlich aus), die andere will er dann nicht mehr und bei der Dritten kommt es zum Einschreiten der Vaterinstanz. Gescheitert, abgemagert und weitgehend kahl kehrt Alexander nach acht Jahren mit Depressionen in die Provinz und zur Mutter zurück. Ein Held wird erwartet, es kommt ein geprügelter Hund. Zwei Jahre leidet er, ins Unglück verpuppt, dann schlüpft er als desillusionierter Pragmatiker zurück in die Hauptstadt. Fast sind nun die Rollen zwischen Neffen und Onkel verkehrt: Der will, deutlich gealtert, seiner Frau zuliebe, in den Ruhestand treten. Der Neffe dagegen hat eine Heirat ohne Liebe in Aussicht. Statt Leidenschaft, Ehrgeiz, Liebe und Lust: Einverständnis mit der vorgezeichneten Bahn. (73cp)

 

Una lucertola con la pelle di donna (Lucio Fulci, I 1971)

Orgien finden statt, nebenan. Ob real oder herbeifantasiert, das lässt sich, bevor der Film zur Krimi-Vernunft kommt, kaum unterscheiden. Alles ist hier im Fieber, die Kamera zittert und ist stets auf der Suche nach dem maximalen Effekt. Wenn getötet wird, tötet sie mit. Sie dreht sich und kippt. Gut, dass Ennio Morricone sehr lässig die Ruhe bewahrt, er gibt dem Horror, was des Horrors in dunkler Verfolgungsjagd ist, aber für anderes hat er Swing und das, was Fulci nicht haben will und nicht hat: Sinn für Abständigkeit. Dabei ist die Geschichte ziemlich vertrackt, ihre Auflösung auch. Eine Parade der Verdächtigen, darunter die psychischen Instanzen nach Freud. Florinda Balkan ist Carol Hammond (alles in London, kein Giallo, ein Yellow) ist die Sonde, die in den Strudel aus Begehren und Neid eingeführt wird. Und was findet sich alles darin, in diesem Strudel. Aufgeschlitzte, lebende Tiere. Die Orgel in der riesigen und leeren Kirche. Träume mit dicht gedrängten Gruppen von Nackten in Gängen im Zug. Die verdammten Hippies und ihre Drogen. Fledermäuse im Dunkeln. Die Analytikercouch. Das Tonband der Träume. Das unübersichtliche Team der Ermittler, Derrick und Harry sind gar nichts dagegen. Sprünge von einem Genre zum andern, Sprung in der Schüssel, ein Schlamassel von Psyche und Körper, verdammt elegant. (74cp)

 

12.1. Trafic (Jacques Tati, F 1971)

Eine Studie über Bewegung. Von A nach B, einerseits. Ein vom Autodesigner Hulot einfallsreich mit Gadgets versehener Wagen wird vom Händler zu einer Automesse in Amsterdam transportiert. Er kommt dort auch an, aber zu spät, zu spät, es ist alles vorbei. Also ist Trafic auch, oder in erster Linie, ein Film über Bewegung, die nicht zum Ziel kommt. Da ist schon der Schlenkergang Hulots, aufgescheuchtes Huhn mit Pfeife im Mund, Hut auf dem Kopf, Schirm in der Hand. Passend am Schluss das Wimmelbild mit Schirmen, die zwischen geparkten Autos herumirren. Passend zwischendrin das Chaos, das durch Unfälle entsteht, weil ein Polizist den Verkehr nicht mehr regelt. Visuelle Gags wie der Käfer, der mit auf- und zuklappender Motorhaube einen rollenden Reifen verfolgt. Auditive Gags, herausvergrößerte Geräusche, die Tonspur ausgefeilter denn je. Technophilie-Gags (ohne sehr spürbare kritische Stoßrichtung, im Gegenteil: Es geht im Fernseher Richtung Mond), der Barbecue-Grill vorne am Auto, natürlich geht auch vieles schief. Vieles ist eher Alltags-Phänomenologie, in quasi-dokumentarischer Form, das Nasenbohren und anderes der Männer am Steuer, deren Hände und Finger im Stau nach Betätigung suchen. Aus der Bewegung von A nach B choreografiert Tati, als diesmal sogar sprechender Hulot mittendrin, ein einziges, nein, ein vielfältiges Durcheinander, hängt selbst gar im Geäst. Eine junge Frau braust als Irritationsmoment immer mit und häufig dazwischen; ihr zum Schein toter Hund sorgt für die veritabel komischste Szene. Sonst ist das aber meist fast nicht lustig. Die Gags spitzen nur noch leicht, als Beobachtungs-Form, Wirklichkeit zu, eine Minimaldramaturgie der Pointen, denen es reicht, diese Form zu gewinnen, die nicht mehr als diese leicht Zuspitzung sein wollen. Der Wille, über all das noch zu lachen, geht öfter als nicht leer aus dabei. Man bleibt auf mehr als eine Weise durcheinander zurück. (66cp)

 

Sunday Bloody Sunday (John Schlesinger, GB 1971)

Ein Mann (Murray Head, der Jesus Christ Superstar war), er ist Künstler, steht oder liegt oder bewegt sich zwischen einem mittelalten Mann, Peter Finch, und einer recht jungen Frau, Glenda Jackson. Von Wohnung zu Wohnung, von Bett zu Bett, mit beiden hat er Sex, die eine weiß vom anderen, das ist der Deal. Als Vermittlungsinstanz ist, vom ersten Bild an, eine rein weiblich besetzte Telefonzentrale dazwischengeschaltet, die (prä Anrufbeantworter) Nachrichten weitergibt. Das Buch ist kaum gewillt, sich auf diese Dreiecksfigur zu konzentrieren, sammelt vielmehr, gewollt polyphon, andere Eindrücke ein. Ein beinahe tödlicher Unfall, denn da sind noch die Kinder aus der geschiedenen Ehe; eine Bar Mitzvah, denn da ist der jüdische Hintergrund des von Finch gespielten Arztes; außerdem fängt die Glenda-Jackson-Figur mit einem älteren Mann etwas an, der ihr in einem Gespräch von seinen Botox-Maßnahmen erzählt. In der Londoner Nacht sind marodierende junge Menschen unterwegs. Hinaus läuft es auf den Aufbruch des Künstlers in die Vereinigten Staaten, seine Partner bleiben verlassen zurück. Aus heiterem Himmel Schlussmonolog Peter Finch in direkter Kameraadressierung. Der Film hat Ideen, zwingt sie, nicht so richtig organisch, aber kaum je uninteressant, kantig zusammen. (64cp)

 

Schlachthäuser der Moderne (Heinz Emigholz, D 2022)

taz-Kritik (57cp)

 

11.1. La sirène du Mississippi (Francois Truffaut, F 1969)

Die Insel Reunion, Überseedepartment Frankreichs, bei Madagaskar gelegen. Auf den Feldern arbeiten Menschen, alle sind schwarz, wie man in einer einzigen, mittellang gehaltenen Einstellung sieht. Das aber wird nicht als, und kurz, Hintergrund sein. Denn im Vordergrund steht Jean-Paul Belmondo, ihm gehört ein Riesengelände und ein sehr großes Haus, er ist Teileigentümer einer Zigarettenfabrik. Dann kommt Catherine Deneuve auf einem Schiff namens Mississippi hier an, aus Festlands-Frankreich, moderat verspielt zeichnet Truffaut Karten und Wege ins Bild. Deneuve ist blond, ist schön, auch sie kann immer nur Vordergrund sein. Sie spielt eine Frau, die nicht die ist, als die sie sich ausgibt. Er hat sie per Heiratsannonce gesucht; sie setzt sich an die Stelle der Frau, die er fand. Eine Kriminalgeschichte, auf verschlungenen Wegen, später geht es nach Aix-en-Provence, Lyon, in den Schnee und die Berge. Zwei Morde geschehen, die Liebe fesselt ihn, Belmondo, an sie, Deneuve, die Frau, als Schuldige, die den Unschuldigen zum Schuldigen macht. Für ihn wird sie zwischen Sie und Du changieren, er ist ihr hörig, und sei es in den Tod. Diese Hörigkeit will Truffaut als fatale, aber große Liebe erzählen, im Ton dabei immer leichthin; er nimmt, was Woolrich an Genreelementen ihm bietet, und nutzt es als Sprungpunkt, wirft sich aber nie ganz hinein. Die Absolutheit, die allein ein solches Drama glaubhaft machen könnte, liegt ihm ganz fern. So hat man zwei Stunden mit bei Lichte besehen so banalen und uninteressanten wie schrecklichen Menschen zu tun, von Chemie zwischen Deneuve und Belmondo wenig zu spüren; und der Film besieht sie bei Licht, tut aber so, als täte er’s nicht. (57cp)

 

The Omega Man (Boris Sagal, USA 1971)

Ein Mann, ein Auto, allein unterwegs in verlassenen Los-Angeles-Straßen. Im Kino sieht er den Woodstock-Film, den er schon mitsprechen kann: Vision einer Endzeit, biologische Kriegsführung zwischen Sowjetrussland und China hat die Menschheit weitestgehend vernichtet. Es bleiben neben pittoresk verstaubenden Leichen ein paar Reste, die einen mutiert, mit Wunden und weißen Haaren und heller Iris und hellen Pupillen, Horrorfiguren, lichtempfindlich, aber normalintelligent, von Matthias als Anführer einer in der Nacht durch die Straßen ziehende Bande, die Family, zusammengehalten. In Sachen Waffen sind sie Ludditen, sie kämpfen nur mit Feuer und Schwert. Da ist Charlton Heston als Neville ganz anders. Er hat sich in seinem Apartment verbarrikadiert, an den Wänden Renaissance-Hochkultur, Rembrandt & mehr. Mit einer Puppe in Uniform spielt er Schach. Da ist aber auch ein Arsenal an Schnellfeuerwaffen, mit denen er Mitglieder der Family tötet. Dann stößt in diesem postapokalyptischen Kampf Lisa, eine nicht mutierte schwarze Schönheit, zu ihm. Sie ist Teil einer Überlebendengruppe, für die sich der Film aber nicht weiter interessiert. Vielmehr geht es ihm in erster Linie darum, im weißen Waffenmann Neville, der sich seine Wohnung als Festung mit geklauter Hochkultur dekoriert, das verbliebene Humanum, am Ende gar den Erlöser, und im nächtlichen Kollektiv die Barbarei auszumachen. Es gäbe guten Grund, das anders zu sehen. (65cp)

 

10.1. Pink Narcissus (James Bidgood, USA 1971)

Fantastische, fantasmagorische, falschfarbene Welt, Apartment-Natur, schwelgende Musik von gerne Mussorgsky, schwellende Körper, schmachtende Kamera von unten und hinten, Falter der Animation, Schleier und Sichthindernissse und dann, in your face, eine Ejakulation, das Sperma aber hastenichtgesehen zu Sternenlicht transsubstantiiert. Blau und pink und pink und blau, Mond hinter Busch hinter Spinnennetz, das am Ende als Hauchglas zerspringt, dann wieder Netz ist und wie hier alles, handgemacht, schwülen Wünschen nach Weltraum im Engen entspringt. So ist, sieben Jahre saß Bidgood daran und darin, alles ein Etui, das sich ins Innere öffnet, aber im Inneren Weiten eröffnet, von Begegnungen am Pissoir zur Matador-Fantasie zum Rom- und Lustknaben-Traum. Das Explizite und das Verschleierte, das Verwunschene und das Direkte, Ziegfeld Follies die queere Version, Lichter-Pigalle, farbfrohe Spiegel und leuchtende Tafeln, Radiotöne dazu, es wird orientalisiert, exotisiert, laszive Unschuld nach Outsider-Art, ein Wunschraum und Schutzraum der Hülle, der Fülle. (82cp)

 

1000 Things Falling (Showcase Beat le Mot, HAU 1 Berlin)

Im Anfang ist die Bühne öd und leer. Dann fällt, und zerbirst, ein Skelett. Dann fallen, und rollen, Bälle. Schnipsel, dies, das, eine Matratze, oben zählt eine Anzeige mit, sie zählt die gefallenen Dinge. Gerumpel, es werden Dinge, sie zählen nicht, auf die Bühne gerollt, eine Klebstreifen-Mitzähltafel, zum Beispiel. Aus dem Nichts ein Dialog, Englisch und Deutsch, über Dinge, die auf Deutsch Zeugs heißen können. Wunderzeugs, meinetwegen. Dann erscheinen, während weiter dies und das fällt, auch Menschen, in bunten, harlekinesken Kostümen. Sie zählen ebenfalls nicht zu den Dingen, deren Fallen ein wenig ins Stocken gerät. Der Schnürboden, Füllhorn und Fallhorn, versiegt, eine Weile, während auf der Bühne die Menschen in ihren Kostümen Allotria treiben. Eine Lichtshow, eine Hypnose-Beschwörung, nicht wirklich klar, was das soll. Dann fällt wieder was, wird was gefangen. Fällt Zuckerwatte, fällt Fallobst und wird, beides, das eine direkt, das andere zum Saft ausgepresst, ans Publikum weitergereicht, das Zubereiten und das Zu-Essen-Bekommen gehört bei Showcase nun mal dazu. Vorne, noch etwas später, hangeln zwei Männer an Haken mit Gewichten an Seilen in prekärer Balance. Hinten Wittgenstein an der Wand. Mehr Klirr als Knall beim Fall (an der Schnur): Geschirr geht zu Bruch. Am Ende bühnenbreite Stangen von oben, denen die Menschen als-ob-musizieren. all dies geschieht, es bleibt ein wenig die Frage, ob die schöne Idee der tausend fallenden Dinge die kleinen Einfälle, die sie verwässern, überhaupt braucht. Sie steht im Raum. Der Vorhang fällt nicht. (61cp)

 

9.1. WR: Misterije Organizma (Dusan Makavejev, Jugoslawien/BRD 1971)

Hier kommt so manches zusammen, Wilhelm Reich (quasi-dokumentarisch stapft der Film los), der Kommunismus (mit Stalin im Spielfilm), der Krieg (ein Mann mit stählernem Helm und zotteligem Bart, der ein Gewehr masturbiert), der Eiskunstlauf (Künstler später wie in der Boulevardkomödie im Schrank), ein erigierter Penis (der für einen Dildo-Abguss eingegipst wird), aufgekratzte Musik, Befreiung der Körper (und ihrer Sexualität), der Gesellschaft (durch Befreiung der Sexualität), des Eiskunstläufers im Schrank (es kommt nur zum Kuss). Mal körnig und schmutzig, mal in Spielfilmfarben präzise choreografiert, mal bricht ein Mann durch die Wand, mal erzählt ein Talking Head was von Reich, Orgon-Akkumulator auf, Orgon-Akkumulator zu, mal turnt die eine Frau nackt im Bett, mal verkündet die andere sexualkommunistische Theorie. Episodisch gereiht, ohne Vermittlung, aber nicht zusammengezwungen, eher ein Suggestionszusammenhang, der durch Tempo gutmacht, was ihm an Durchdringung fehlt. (67cp)

 

Maigret regt sich auf (Georges Simenon, F 1948, Hörbuch, Sprecher: Walter Kreye)

Der Komissar ist nunmehr der Gärtner, zumindest denkt das Madame Amorelle, 82, als sie den Pensionär in Meung-sur-Loire aufsucht. Sie bittet ihn, im Todesfall ihrer Enkelin zu ermitteln, und so gerät Maigret nach zwei Jahren Ruhestand in alte Fahrwasser, in einen (fiktiven) kleinen Ort namens Orsenne, an der Seine. Was nicht fehlt, wie fast schon Maigret-leitmotivisch recht selten: Treidelpfade am Rand, am Ende werden Polizeiautos darauf stehen. Zunächst aber, sehr lange, kommt Maigret nicht voran. Trinkt zuviel, noch dazu Kümmel, den er verabscheut, mit der einst attraktiven Wirtin; hat eine Ahnung oder mehr als das, einen Verdacht, wird zudem von einem ehemaligen Schulkameraden, den er schon damals nicht mochte, geduzt. Bald will man ihn loswerden, er aber bleibt, holt gar die alten Kollegen zu Hilfe, Nebenschauplatz ist seine Stadtwohnung an der Place des Vosges (nicht mehr Boulevard Richard Lenoir; Simenon selbst wohnt jetzt auch da). Revolver werden gezückt. Revolver werden gezückt, am Ende geht einer los und bringt, wenn auch nicht auf dem Weg des Gesetzes, den Übeltäter zur Strecke. (68cp)

 

8.1. Le silence de la mer (Jean-Pierre Melville, F 1949)

Abend für Abend, etwas später als neun, kehrt der Gast wieder ein, in die Stube mit dem Kamin und der Uhr, deren lautes Ticken diese Szenen grundiert, nicht wie das Pochen eines Herzens, sondern als drohendes Verstreichen der Zeit. In der Stube sitzt der Mann, nah am Feuer, manchmal wärmt er die Hände daran, Hand in Großaufnahme, jede Einstellung ist, mit den Rahmen, die sie zieht, mit den Perspektiven, die sie wählt, ein Gedanke. In der Stube sitzt, meistens strickend, seine Nichte. Beide sind und bleiben stumm, wenn der Mann wiederkehrt. Sie ist es und bleibt es, mit Ausnahme eines einzigen Worts, ganz am Ende. Er ist es und bleibt es in der Erzählung, dafür spricht er, von außen, als Erzähler, fast vom ersten Bild an bis zum Schluss. (Am ersten Anfang, am letzten Schluss steht das Buch, das Melville hier verfilmt hat, der 1942 im Untergrund veröffentlichte Roman von Vercors.) Der Mann, der in diesem Raum des eisernen Schweigens Auftritte hat, in denen er spricht, sich einen Freiraum nimmt, den das Schweigen lässt, ohne sich aufzudrängen, dieser Mann steht beim ersten Erscheinen als helles Gesicht im Dunkel der Nacht. Er ist, als National-Idealist, die Höflichkeit selbst, Komponist, der Bachs Musik bewundert und für unmenschlich hält, dessen eigene Musik menschlich sein will. Howard Vernon, prononciertes Französisch, kantige Züge, groß, und größer, wenn, wie oft, von unten gefilmt, zwei-, dreimal sogar von hinter dem Feuer, entwirft im Hell-Dunkel des Raums, den der Mann und die Frau ihm lassen, Visionen, sie haben mit der Wirklichkeit nichts und wieder nichts zu tun. Die Fahrt nach Paris, Vernon/Ebrennac von unten im Profil for Notre-Dame, Arc de Triomphe und so weiter, er kehrt mehr als ernüchtert in die Provinzstadt zurück. Film der Kontraste, das Reden, das Schweigen, aber auch der Schutzraum des Innern mit pochendem Ticken, dem Kamin, der Zimmerorgel. Wärme und Zivilisation und dagegen das Äußerste an Barbarei. Die Kontraste, das ist Melvilles Genie, sondern nicht das eine vom andern, sondern zeigen, wie der Idealist in seiner Verblendung in die Barbarei heillos verstrickt ist. (85cp)

 

Utvandrarna (Jan Troell, Schweden 1971)

Der Alltag ist Mühsal, die Tiere, die Ernte, das Land, das zum Leben nur, und höchstens, das Notwendige hergeben will. Gott ist Trost, aber der rechthaberische Pfarrer ist in Konflikte mit den kirchlichen Obrigkeiten verstrickt. Sex ist Trost, aber es ist kaum möglich, immer mehr Münder zu ernähren. Ein junger Mann wird von seinem Arbeitgeber vermöbelt, das ist die Form von Zukunft, die den Körpern eingebläut wird: ein Geräusch und ein Schmerz, die nicht mehr aufhören werden. Die Scheune mit dem Getreide brennt nieder, der Horizont ist eng und wird enger. Keine Erzählstimme kommentiert, was geschieht, man ist einfach dabei, beim Ernten, beim verbotenen Gottesdienst, beim Versuch, sich, es ist die Mitte des 19. Jahrunderts, diese Form des Daseins, bei der die Mühe kaum je belohnt wird, irgendwie zu erklären. Jan Troell hat die Ruhe weg, er bettet seine Menschen in Kleidungen, in Landschaften ein, und in Räume, ohne Angst vor Dauer und ohne Angst vor Ellipsen, manchmal beschleunigt er auch zu schnellen Ausschnitt-Montagen. Die Komposition ist unaufdringlich doch rhythmisiert. Nach den Mühen des Landes dann die Überfahrt ins gelobte amerikanische Land, mit Seekrankheit, Skorbut, Elend und Tod. Auch dafür nimmt der Film sich ausschnitthaft-episch die Zeit, die es braucht. Bis zur Ankunft, an Land Handkamera, Tempo, die Menge, und die Eisenbahn auch: Es stürzt alles auf die Ankommenden ein. Zuletzt der Trek zu den Seen, zum eigenen Grund, dessen Bearbeitung Lohn der Mühen verspricht. Mit der Axt werden Besitzansprüche an Bäumen markiert, als lebte sonst niemand hier. Offener Horizont im Mittleren Westen, die Fortsetzung folgte. (82cp)

 

Zweite Frauenstudie (Honoré de Balzac, F 1848)

Je später der Abend, desto größer die Erzählfreude bei der Salongesellschaft, in der tout Comédie-Humaine-Paris versammelt erscheint, vom Arzt Bianchon über den Journalisten Blondel und den Politiker de Marsay bis zu Madame d’Espard und vielen anderen mehr. Die Runde beginnt, als wäre es die Pest und Boccaccio, mit dem Erzählen kleiner Novellen. De Marsays erstes Liebesabenteuer leitet über zu kritischen Anmerkungen über die elegante Frau, die Heldin des silbernen Zeitalters, in dem man lebt, nur noch ein Abglanz des Adels, schon mit den Eigenschaften der Bürgerlichen vermischt. Es folgt eine Anekdote aus dem Krieg, dann ist Bianchon an der Reihe, dessen Geschichte ins Schauerromantische tendiert. Ein dem Verfall überlassenes Landgut, dessen Geheimnis sich nach und nach erst enthüllt. Eine weitere Dreiecksgeschichte, la donna e mobile und leistet sogar einen falschen Eid auf das Kreuz. Der Liebhaber wird eingemauert zur Strafe, das Landgut ist eine Krypta, deren Betreten testamentarisch auf Jahrzehnte hin untersagt bleibt. (64cp)

 

7.1. Lust For Life (Vincente Minnelli, USA 1956)

Nicht nach dem Leben, sondern nach der Kunst gemalt, in Ansco Color. Spiegelverhältnisse: Minnelli schleppt ein Hollywood-Filmteam nach Auvers-sur-Oise, Kirk Douglas formt Haarfarbe, Bart und Frisur nach dem Bild, das die Welt von van Gogh hat. Die Bilder des Künstlers hängen im Dutzend herum, von Zeit zu Zeit füllt ein Bild, meist eines, das die Welt sehr gut kennt, die Leinwand des Kinos komplett, so geht die Referenz in der Reverenz auf. Ein Film, der der Legende des Künstlers auf den Leim geht, aus Irving Stone gemeißelt, der aber mehr noch eine Wirklichkeit zur Darstellung bringen will, indem er sie aus den Bildern, die man hat, redupliziert. Was noch am originalen Ort des Geschehens nicht passt, wird gelb angemalt, nur zum Beispiel. Ganzkörperangemalt ist die Performance von Kirk Douglas, der das begeisterungs- und verzweiflungsfähige Kind mit dickem Pinselstrich auf- und in seinen Körper auch einträgt; dem steht Anthony Quinn als Gauguin in nichts nach. So entsteht ein Biopic-Melodram als Allover, in dem alles explizit gesagt und gezeigt werden muss. Als Darstellung eines Künstlers, der die Wirklichkeit mit Ausdruck abbilden will, ist der Film ein mimetisch verdoppelnder Versiegelungsakt, der vom Leben und der Lust keine Vorstellung hat. Hinter diesen schönen Farben keine eigene Welt. (58cp)

 

10 Rillington Place (Richard Fleischer, GB 1971)

Der Fall des Frauenmörders Christie war real und berühmt. Berüchtigt als Fehlurteil der Justiz, weil zuerst ein Unschuldiger aufgehängt wurde. Der Film folgt, nach einem Sachbuch, den Fakten, ist sogar am Schauplatz selbst gedreht, wie der Titel verkündet, wenn nicht verspricht: 10 Rillington Place. Hier hat Christie die Leichen mehrerer Frauen, auch eines Kindes, versteckt und vergraben und kam als Zeuge gegen den Mann, dessen Frau und Kind er ermordet hatte, zunächst noch davon. Richard Fleischer inszeniert das als Kammerspiel, mit kunstvollem Naturalismus. Richard Attenborough, der der Figur etwas Schleichendes und Zischendes gibt, saß jeden Tag stundenlang in der Maske, zur Präparation seiner Glatze. Man sieht ihr das an, ein irritierendes Punctum des Films, dessen Sterilität sonst wenige Freiräume lässt. Alles schreitet ohne Gnade voran, die Tat, der Prozess, der Tod am Strang (es wurde sogar der reale Henker als Berater engagiert). Mit der Wirklichkeit, der es nachstrebt, hat das alles so viel zu tun wie eine Wachsfigur mit dem, den sie darstellt. (62cp)

 

Justice est faite (André Cayatte, F 1950)

Im Raum des Rechts - im Gerichtssaal - wird eine Gesellschaft versammelt. Angeklagt ist Elsa Lundenstein (Claude Nollier ist eine eisige Schönheit), sie hat den todkranken Mann, den sie liebte, getötet. Es war, sagt sie, sein eigener Wunsch. Sie wollte ans Erbe, sagt die Anklage. Was sich herausstellt: Es gab einen anderen Mann. Das Sich-Herausstellen ist der eigentliche Prozess, dafür verlässt der Film den Gerichtssaal (und auch den Raum des Rechts), folgt den Mitgliedern der Jury aufs Schlachtfeld der meist familiären Moral. Ein soldatischer Vater, der die Welt seiner Tochter nicht mehr versteht. Eine nicht mehr junge Frau, die das Umschmeicheltwerden von einem jungen Mann zu sehr genießt. Habent sua fata alle in diesen Geschichten, und so haben sie auch ihre Schicksale, Prägungen, die nun ihre Perspektive auf den Fall der Elsa Lundenstein bestimmen. Cayatte nimmt die etwas schematische Konstruktion ernst, aber auch nicht zu sehr, komische Unter- und Obertöne sind ohnehin drin. Die Wahrheit über Elsa Lundenstein, sagt und weiß eine unverortete Voiceover-Stimme, werden wir nie erfahren. Der Prozess, der anders hätte ausgehen können, wurde ihr dennoch gemacht. (65cp).

 

And Now For Something Completely Different (Ian McNaughton, GB 1971)

Zwischen der ersten und zweiten Staffel des Flying Circus entstand dieser Film, auf die Initiative des Playboy-Chefs London, der in den Credits groß rauskommen wollte. In den USA, für die das vor allem gedacht war, kamen die Pythons hier noch nicht, dafür später umso gründlicher an. Auf 35 Millimetern, mit dennoch schmalem Budget, wenn draußen, dann in den Outskirts von London gedreht, werden ein paar der besten Sketche der Fernsehfolgen neu inszeniert: ohne Publikum, das dazu lacht. Der Papagei ist noch immer tot, aber bunter. Der tödliche Witz tötet weiter. Terry Gilliams Animationen sind noch etwas barocker in ihrer Lust am Übergang von einer Absurdität in die nächste. Ein Colonel sitzt amtlich am Tisch. John Cleese geht über Wasser und wird am Spieß gedreht. Gefälle verschafft diverses Autoritätspersonal: Aus dem gemachten Witz wird einer, der fortgesetzt werden muss. Mal wird das Normale, etwa das Fernsehinterview mit dem Filmregisseur, immer abstruser, mal wird das Abstruse immer abstruser: So stolpern und stürzen die Upper Class Wits töricht voran, das Ende setzt dann wie so häufig der Tod. (70cp)

 

6.1. Lo strano vizio della signora Wardh (Sergio Martino, I 1971, Stream)

Attraktives: Die weiß-grün-gestreiften Wände des Apartments, mehr oder minder nackte Körper von Frauen, das Blitzen des Skalpells, eine Kamera, die nicht stillhalten kann, die Musik von Nora Orlandi. Unter anderem. Da ist außerdem Wien, später spanische Küste, sehr malerisch. Wie immer beim Giallo: Die Zutaten stehen fest, daraus wird dann, Smörebröd ramtamtamtam, mit Hilfe sehr gut aussehender Leichen ein noch blutiger Plot. Am Ende: eine Autofahrt zweier Männer, in Kurven, den Berg hinab, sie sehen nicht recht. Davor wird ein dritter erschossen. Diese drei sind, als Ehe- und definitiv Nicht-Ehemänner, in einer Geschichte unterwegs, in der es, in Wohnungen, im Park, aber auch in der Tiefgaragen ausgesprochen gekonnt suggestiv gruselig zugeht. Ein Stück Eis schmilzt wie bei einem cleveren Rätselkrimi geklaut. Viel hilft beim Giallo stets viel, das wird von Sergio Martino beherzigt. Dass er ein echter Könner der dichten Stimmungen ist, am hellichten Tag und in finsterer Nacht, ist des Guten noch längst nicht zu viel. (76cp)

 

5.1. The Last Movie (Dennis Hopper, USA 1971, Stream)

40 Stunden Material hat Dennis Hopper zu einem Film, nun, nein, nicht kondensiert. The Last Movie ist eine Sammlung des Diskontinuierlichen, von der Schießerei auf dem Set (des «realen» Films im Film, real, denn schließlich gibt Sam Fuller hier die Kommandos) geht es in die Berge, in den Bergen singt Kris Kristoffersen von Bobby McGee, Freedom is Another Word For Nothing Left to Lose. Um Goldschürfen geht es, am Anfang und dann gegen Ende noch einmal, es kommt hier wie da aus recht heiterem Himmel, weil anderes kurz in den Vordergrund rückt: der Sex vor dem Wasserfall, die Fahrt in die Stadt, der Besuch des Bordells, alle sind ständig betrunken, bekifft oder mit Kokain aufgeputscht. Die Ebenen geraten ins Rutschen, nicht erst, wenn die Bewohner des peruanischen Dorfs das Kino, das Set als Cargo-Kult nehmen und mit aus Holz gebastelten Kameras und Tonangeln und einem großen Pferd die Fiktion des Films nach Abzug des Teams (nur Dennis Hopper, der Stunman, ist geblieben) als Ritual nachzustellen beginnen. Man spürt das Bemühen Hoppers, aus alledem etwas wie Kritik an Kolonialismus zu destillieren; in der Montage des allzu heterogenen Materials aber streckt er wieder und wieder die Waffen, und gerade in der Aufgabe, die zur Hingabe wird, zur Hingabe an Momente, Stimmungen, ans Lyrische und ans Delirante, im Verlust der Kontrolle noch und gerade und wieder beim Versuch, Ordnung in etwas zu bringen, das nichts als Zeugnis einer fundamentalen Unordnung sein, bleiben, werden, kann, gerade darin gelingt doch recht Großes, mindestens Inkommensurables, ohne dass das Öde, das Grundverwirrte, das Misogyne, ja, das im Grunde Verfehlte dieses Projekts getilgt werden könnte (von Aufhebung ganz zu schweigen). (77cp)

 

4.1. Little Murders (Alan Arkin, USA 1971, Stream)

In einem User-Kommentar der IMDB heißt es: «During a theater viewing it seemed to isolate audience members from each other.» Filmischer Entfremdungseffekt, und ja, der Film ist danach. Ursprünglich ein Theaterstück von Jules Feiffer (er hat das Drehbuch selbst verfasst), das am Broadway 1967 mit Elliott Gould nicht reüssierte (in London zwei Jahre später dann schon). Irgendwann kursierte gar die Idee, Godard könne die Regie übernehmen, es wurde nichts daraus, aber Alan Arkin, der in einer kleineren Rolle auch mitspielt, macht die Sache nicht schlecht. Es ist ein hysterischer, ein sich selbst ständig neu hysterisierender Film. Elliott Gould, pouty mouth and brooding body, ist ein Fotograf namens Alfred, und zwar erfolgreich, Motiv vorzugsweise: buchstäblich Scheiße. Eine Frau schlägt Männer in die Flucht, gegen die sich Alfred nicht wehrt. Es folgt Liebe, Vorstellung bei den Eltern, erster Höhepunkt der Hysterisierung, das Overacting von Mutter, Bruder und Vater, eine große Peinlichkeits-Show, prallt auf Goulds Underacting, mit beträchtlichem Entfremdungseffekt. Es folgt die Hochzeit, ein unvergesslich hirnzerstörender Monolog von Donald Sutherland als gottloser Priester, es gibt keine denkbaren angemessenen reaction shots auf das, was er sagt. Endet alles unvermeidlich in hysterischem Chaos. Weiter im Text. Brüten im Park. Besuch Alfreds bei seinen Eltern, die Fragen nach seiner Kindheit mit psychoanalytischer Fachliteratur kommentieren. Dann ein Schuss, die Heldin ist tot, Alfred nunmehr ganz katatonisch, Bewaffnung, die Fenster verbarrikadiert. Bürger, zückt die Gewehre! Kleine Morde, eine Gesellschaft kommt auf den Hund. (75cp)

 

3.1. Stars at Noon (Claire Denis, F/Panama/USA 2022)

Die Verhältnisse: undurchsichtig. Nicaragua, in den Straßen Männer mit Waffen, in Uniform. Politik wird angetäuscht, für Hintergründe interessiert Denis sich kein bisschen, auch wenn es sie braucht, als dunklen backdrop, aus dem sich drohende Schattengestalten konturieren, verschwinden, wiederkehren, verschwinden. Sie, die Amerikanerin, die als Journalistin arbeiten will, er, der Brite in Weiß, auf ein Spielfeld geraten, dessen Kräfte er offensichtlich nicht mehr kontroller. (Was genau hier der Fall ist: unklar.) Die Amerikanerin lebt nicht von Artikeln, sondern von ihrem Körper, den sie verkauft. Mit dem Briten gerät nun, vielleicht, etwas wie Leidenschaft in den Mix. Artikel-Business jedenfalls deutlich am Ende: Zoom mit John C. Reilly als haarsträubend krissellockiger Chefredakteur - die Karikatur eines Klischees. Wie ohnehin das Pfeifen auf Reales der zentrale Punkt der Geschäftsordnung ist: Karikaturen, Klischees, ein erotischer Polit-Thriller, der sich die vertrauten Momente out of thin air zitiert und erfindet. Im Rückgriff auf den im Jahr 1984 angesiedelten Roman von Denis Johnson, nun in der Pandemie-Gegenwart angesiedelt, die Masken als Realitäts-Marker und Unheimlichkeits-Signale zugleich. Das Szenario bleibt ganz und gar Kulisse, an der alles second hand ist außer die Präsenz zweier zusehends erschütterter Körper ohne Halt (außer, vielleicht, aneinander), von Anfang an auf der Flucht. Pass, Geld, Sex, die ständige Suche nach der Möglichkeit von Passagen. Woher, wohin ist egal, der Film gleitet zwei Stunden lang auf einer von den Tindersticks sehr zurückhaltend mitgemalten Stimmung dahin, als Thriller aus zweiter oder dritter Hand, der im Klischeegewitter nach der Wahrheit von Windstillen sucht. (74cp).

 

2.1.2023 Anleitung, ein anderer zu werden (Edouard Louis, F 2022, Hörbuch, Sprecher: Patrick Güldenberg)

Die Autosoziobiografie, nun als Bildungsroman. Der Wechsel der Instanzen, an die das im Rückblick (sich be)schreibende Ich sich adressiert: Der Vater als Du, an dessen Vorschriften es sich abzuarbeiten, dessen Setzungen es zu überwinden gilt. Dann geraten die Pronomen und Perspektiven ins Wanken: Kurz wird das Ich selbst, Eddy Bellegueule, zum Er, dann zum anderen Ich, im neuen Namen besiegelt. Die wichtigste Instanz des Übergangs heißt hier Elena (und Nadja, der Name der neuen Mutter): Sie öffnet die Tore zum Bildungsbürgertum, zu Brahms, zum Programmkino, zur richtigen Handhabung des Bestecks. Auch sie aber gilt es zu überwinden, weil das Ich auch über diesen Aufstieg, den nach Amiens, noch hinauswill. Der Ehrgeiz akzeptiert nicht die Grenzen, die Elena für sich akzeptiert hat; sie will, bei aller Liebe (nicht mit Begehren zu verwechseln, diese Erziehung folgt als internetgestützte Selbsterziehung noch einmal später), später nicht mit. Edouard (wie er nun heißt) lässt mit Amiens auch die erste Erziehungsinstanz wieder zurück; mit Bedauern, das er allerdings zuletzt noch in die Anmaßung (eine Anmaßung der Gerechtigkeit) transformiert, sich selbst und seinen Aufstieg aus ihrer Perspektive beschreiben zu wollen. Die nächste, die letzte Instanz: Didier Eribon. Sein Vortrag, seine Einladung hinterher öffnet neue Wege und Türen, deren Name als Versprechen: Paris. Schwindelerregend, was hier nun folgt, die Beziehung zum Bürgermeister von Genf, Ludovic im Marais, das selbst auferlegte, von Didier geformte Bildungsprogramm, die Ecole Normale Superieure. Edouard, sich selbst beschreibend, seinen unbändigen Willen zu dem zu werden, der er nun ist, als einer, der sich in Literatur selbst zu beschreiben und zu verstehen versteht. Ob nicht das méthode des Titels (die Anleitung) eine falsche Verallgemeinerbarkeit verspricht, und darum nicht doch auch eine Anmaßung ist, bleibt die Frage. Der Epilog: ein melancholischer Rückblick, keine Bilanz des Verlusts, eher ein Schlussbild, das noch einmal festzuhalten versucht, was uneinholbar für immer vorbei ist. Die Zukunft nun: offen. (76cp)

 

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