theater

27. September 2023

Nachspielzeit – Rainald Goetz und seine Baracke Zu Claudia Bossards Inszenierung am Deutschen Theater

Von Ekkehard Knörer

Baracke (Deutsches Theater Berlin)

Baracke

© Thomas Aurin | courtesy of DT

 

In der Nachspielzeit im Rangfoyer springt Rainald Goetz im knallroten Adidas-Trainingsanzug auf die kleine Bühne und packt die Bücher aus, die er mitgebracht hat, von eigenen Werken zu Peter Szondis Theorie des modernen Dramas (später wird er auf die Frage, was er daran großartig findet, das Inhaltsverzeichnis vorlesen), auch Hans Thies Lehmann hat er, wenn ich das richtig gesehen habe, im Gepäck. Der Schriftsteller als Selbsterklärer als Immer-Auch-Clown, so sieht er das, so stellt er sich hin, so präsentiert und offenbart er sich den versammelten Fans. Zwanzig Minuten trägt er vor, vierzig Minuten ist danach Zeit für das Gespräch. Alle Fragen nimmt er, Blick zum*r Fragenden, Ohr am Lautsprecher neben der Bühne, freundlich entgegen. Es ist so ziemlich alles denkwürdig an dieser Performance.

Was er macht, sein Schreiben für die Bühne, will er als nach-postdramatisch begreifen, die Errungenschaften bewahren, aber doch zu etwas wie Figuren finden, und Handlung, hineingewebt in eine Textflächenkomposition, die die Schwebe, die ihm vorschwebt, ermöglicht. Und die das ihm teure Zugleich von dem, was man klipp und klar und implizit sagen kann, und dem Geheimnis, als dem, was implizit und latent bleiben muss, auf das seine Poetik tatsächlich zuläuft, in sich aufheben kann. Wobei nicht hier Hegel ins Spiel kommt, sondern später, als er sein Wort vom Staat als der «Hieroglyphe der Vernunft» in anderem Kontext zitiert. Diese Poetik ist eine gute Poetik, es ist auch so, dass man sie den Texten in ihrem Nebeneinander von Lyrik und Theorie, oder eher noch Lyrizismen und Theoretik (um nicht zu goetzianisch Theoretizismus zu sagen), ablesen kann. 

Nur leider: zu gut, was letzten Endes verhindert, dass die Sprachverhältnisse wirklich ins Schwingen, Schillern und Schweben geraten. Das abstrakte Prinzip ist in seinen jeweiligen Konkretionen zu sehr immer schon in sich selbst, in die Goetz-Manierismen und -Sounds verschalt, wenn nicht verbohrt, um offen genug für die geheimnisvolle Verbindung zu sein, die sich in der Rezeption einstellen können soll. Und es ist womöglich das Verbohrte und in der Verbohrung Verdichtete gerade eine Stärke von Goetz, aber ein Weg aus dem Verdichteten ins Offene findet sich nicht, oder selten. 

Seine Stücke, sagt er selbst, sind zu lang, viel zu lang. Auch dieses ist lang, zu lang, obwohl er, das sagt er auch, so vieles gestrichen hat. Er erklärt die Entstehung, dabei wird die Nähe zum Vorgängerstück Reich des Todes sehr klar. Weil sie beide Verarbeitungen der Weltverfinsterung sind, als die er die Nullerjahre erlebte, ohne sich das Erleben, sein Erleben, sein höchst subjektives Erleben, erklären zu können. Bis es sich ihm, mit der Aufdeckung der US-Verbrechen nach 9/11, Abu Ghraib, angeordnete Folter, mit der Aufdeckung der NSU-Morde plötzlich erklärte. Sein eigener Mythos: Das war es, aus diesem dunklen Grund war die Welt, und speziell die Welt von Rainald Goetz, so verfinstert. Beide Stücke sind Nachvollzug dieser Aufklärungs-Momente, ein Eureka, das, Jahre später, um Jahre verspätet, zum Stück werden konnte. Das ist der Verarbeitungsabstand, den Goetz diagnostiziert, den er als Hermeneut und Philologe und Beobachter und Coach und Arzt seiner selbst, offenbar braucht.  

Während er in Reich des Todes die historischen Fakten in seinem viel zu langen, mehr lesbaren als spielbaren lesedramaartigen Text hingestellt, nachgespielt, verfremdet, mit Himmel und Hölle in Beziehung setzt, hat er für Baracke den Ausgangspunkt und Hintergrund, die expliziten NSU-Bezüge, erklärt er, fast alle wieder gestrichen. Für ihn, das ist klar, sind sie immer noch da. Für ihn ist klar, dass sie noch da sind, vielleicht so, wie der Urknall in der Rotverschiebung angezeigt bleibt. Wenn man das Stück aber sieht, oder wie ich die Aufführung an diesem Abend wahrnehme und erlebt, ist das sehr viel weniger klar, stellt sich vielmehr immer wieder die Frage, ob diese Bezüge und die entsprechenden Passagen, der Bankraub von Eisenach – von Claudia Bossard geradezu farcenhaft inszeniert – nicht auf eher frivole Weise dem anderen Stoff, dem Familien-Stoff, zugesetzt sind, ohne eine wirkliche Verbindung mit ihm zu finden.

Das ist eine bittere Diagnose, ich weiß auch nicht, ob sie am Text selbst genauso gestellt werden müsste. Die Inszenierung jedoch hat die Mittel nicht, diese intime Verbindung, die der Ausgangspunkt ist, plausibel zu machen. An den Beginn werden zwei Tische gestellt, eine Schauspielerin (sie ist dann später eine der als solche ausgewiesenen, aus der Textfläche tendenziell herausindividuierten Figuren) nennt Titel von Goetz-Texten, von Irre bis Holtrop und Reich des Todes und eben Baracke. Seltsamer Move, von Techno-Gewummer und Tanz unterbrochen, dies ist der Dichter (Klassiker, fast), falls ihr es nicht wisst, so wird etwas wie ein musealer Rahmen gesetzt, wozu die Museumsraumhaftigkeit der Bühne, zur Mitte fluchtende Wände mit Bildern (entfärbte heilige Familie links) ebenfalls passt. 

Was folgt, das wird mit Goetz’ Nachwort zum eigenen Stück, noch einmal klarer, ist der Abriss einer Entwicklung, Thema, Überschrift: Familie und Gewalt, einer Entwicklung vom Beginn der Liebe und ihres Zaubers, der «Trubelturbulenz» der ersten Annäherung, zu ihrem Ende, letzte SMS, Baracke, Tod, Selbstmord, von der Regie in ein anachronistisch rokokohaftes Interieur gesetzt: die letzten 16 Minuten, ein letztes Abendmahl, ein explizites Aufnehmen der NSU-Implikate. In vielen Szenen, Dialogszenen, sucht sich Goetz seine ständige Tendenz zum Monolog auszureden, bringt ein Ich und ein Du in Liebeskonflikte, aus denen und aus deren lyrisch oder theoretisch verschalter und verdichteter Sprache Claudia Bossard, wo es nur geht, Szenenstoff zu saugen versucht, wobei sie den Ton der Komödie nicht scheut. (Das ist keine Verfehlung, das ist bei Goetz als Element bereits drin.)

Ein Problem ist, dass die Inszenierung in der Verbindung von Goetz-Sprache und Figur auf falsche Abkürzungen setzt. Manches wird wie ganz normales Stadttheater gespielt. Figuren, die sich als das nehmen, was sie nicht sind und bei Goetz nie sein können: reine, als Charakter zu gebende Konkreta. In Auseinandersetzungen, die, auch wenn in den Glaskasten distanziert, familiäre Beziehungstragikomödien ausagieren. Nur dass bei Goetz das Abstrakte fundamental ist, sich als Lyrizismus und Theoretik ausprägt, dass die intime Kommunikation als einersetis Sprachklischee auftritt, das aber aufgebohrt wird, als andererseits aber immer schon zugespitzte Fragmente einer Theorie der Liebe, einer Theorie der unwahrscheinlichen Kommunikation von (noch nicht, sehr, weniger, gar nicht mehr) Liebenden, die den Figuren, die so keine mehr sind, eine hochgepitchte Analyse der Situation, und nicht nur der Situation, sondern der grundsätzlichen doppelten Verdachts-Kontingenz, in den Mund legt, der keiner mehr ist. 

Daraus entsteht dann eine noch einmal andere, eine genuine Komik, wenn also die Analyse szenisch auftritt, als Szene auftritt, die ausagiert, was die Krux intimer Kommunikation grundsätzlich ist. Nur ist der Weg in diese Richtung dieser Komik ein wenig verbaut, denn da beginnt das Spielfeld von René Pollesch. Und so kommt Goetz dann doch am ehesten zu sich nicht als Figurentheater, sondern im Goetzsplaining der Liebe, etwa einer langen, subtil zu nennenden, in der Theaterrezeptionssituation kaum verstehend zu durchdringenden Analyse der als zu begrüßend präsentierten Interaktionsrevolution namens #Metoo. Tiefpunkte des Abends (sie werden im Verlauf nicht weniger, sondern mehr) sind jene, in denen die Regie sich etwas ausgedacht hat, das wie Theater aussieht und wie Theater gespielt wird, während der Text aber (in meinen Ohren) danach schreit, sich von diesen falschen Konkretionen in abstrakteren Lagen wiederfinden zu dürfen. Tiefster Tiefpunkt vielleicht: die Hochzeit, ein endloses, ein wirklich ermüdendes Gelaber am Tisch, der absichtlich schlechte Witz reißt es nicht raus, und auch das absichtlich klamottenhafte Geschauspielere der Schauspieler führt ins Verderben. Es ist am Ende Rainald Goetz in einer Form von Stadttheater gelandet, die einem Text mit Regieeinfällen nahezukommen versucht, die mit Goetz’ Idee der Schwebe von Theorie, Geheimnis, Latenz, Lyrik in zwischen den Extremen springender Sprache nicht kongruiert. Es mag sein, dass das alles sowieso nur in der Theorie funktioniert. Aber nicht einmal die Frage, was Funktionieren in diesem sehr speziellen Fall eigentlich heißt, kommt an diesem Abend überzeugend zur Sprache. (59cp)