tiff 2023

24. Oktober 2023

TIFF 2023 21 Filme

Von Bert Rebhandl

Dream Scenario mit Nicolas Cage

© TIFF

 

Das TIFF fand vom 7. bis 17. September statt. Ich war vor Ort und habe danach auf Festivalscope noch weitergeschaut.

 

The Royal Hotel (Kitty Green)

Zwei Kanadierinnen geht in Sidney das Geld aus. Sie verpflichten sich zu einem Work-and-Travel-Program, an einem abgelegenen Ort, «very remote», eine Bergarbeitergegend, sie sollen sich vorsehen, «male attention» wird dort das große Thema sein. In einem Pub im Outback arbeiten sie hinter der Theke, halbwegs unter dem Schutz des Besitzers und seiner Geschäftsführerin/Lebensgefährtin, einer resoluten Aboriginal-Frau. Konsequent geht Kitty Green dann das ganze Spektrum an Verhalten durch, das sich in einer solchen Situation ergibt: von der höflichen Frage nach einem Date, die mit einem Nein sowieso schon rechnet, bis zu aggressiven Trinkgeldspielchen und vielen weiteren Situationen, in denen sich (sehr allgemein gesprochen) männliches Interesse so äußert, dass Hannah und Liv sich die ganze Zeit dazu verhalten müssen – bis Hanna sich schließlich als Girl mit der Axt in einer Rolle wiederfindet, die sie sonst von sich wohl nicht entdeckt hätte. Wir wollten doch einfach nur so weit weg von Zuhause wie möglich, sagt Liv einmal. Das hat sich anders erfüllt als gedacht. Gutes Drehbuch, gut gespielt, auf eine rawkus way nuanciert.

 

Cerrar los ojos [Close Your Eyes] (Victor Erice)

Casos sin resolver heißt eine Fernsehsendung in Spanien, die sich «ungelösten Fällen» widmet. Der Schriftsteller und Filmemacher Miguel Garay, in Melancholie ergraut, wird eingeladen, weil er vor 22 Jahren die Dreharbeiten zu einem einem Film La mirada de adios abbrechen musste – sein Hauptdarsteller Juan Asenas verschwand damals spurlos. Die erste Passage des Films, die 1947 auf einem Anwesen Triste de Roy in Frankreich spielt, erweist sich als Fragment des damaligen Films. Miguel lässt die Sache keine Ruhe, er trifft sich mit Menschen aus der Vergangenheit (Ana, die Tochter von Juan; Lola, eine Frau, die sie beide damals geliebt haben), er findet auf einem Bücherflohmarkt sein erstes eigenes Buch Las ruinas (mit seiner Widmung für Lola, genauer gesagt: die seines jüngeren Selbst). Schließlich lässt er die Sache auf sich beruhen, kehrt in sein Exil – eine kleine Hippie-Kommune in einem Dorf am Meer – zurück. Dann gibt es aber doch eine neue Spur. Erice führt über fast drei Stunden eine Passage vom Kino zum Kino, mit ein bisschen chinesischer Exotik und einem pessimistischen Befund: was der Alkohol aus dem Gehirn gelöscht hat, bleibt im Kino zwar aufbewahrt, wenn es eine Kamera gefilmt hat, die Wiederfindung einer verlorenen Subjektivität durch materielle Bildzeugnisse ist aber nicht garantiert.

 

Los delincuentos [The Delinquents] (Rodrigo Moreno) 

Eine Bank in Buenos Aires, ein altmodisches Unternehmen, in dem noch viel Personal arbeitet und viel Bargeld zirkuliert, und in dem es auch noch einen Safe mit riesigem Verschluss im Keller gibt. Einer der Mitarbeiter heckt etwas aus, er rechnet ganz kühl: noch zwanzig Jahre in diesem Job, oder doch drei Jahre ins Gefängnis, und hinterher irgendwie an die versteckte Beute kommen. Er zieht einen Kollegen ins Vertrauen, dem bleibt nicht viel übrig, als mitzumachen. Zum Krimiplot gesellt sich dann allerdings bald ein grundsätzlicheres Motiv von alternativem Leben, wobei Rodrigo Moreno sich dabei den Spaß macht, dass sowohl Roman wie Morán irgendwo in der Provinz, wo das erbeutete Geld dramatisch unter einem Felsen vergraben wird, mehr oder weniger die gleichen idyllischen Dinge erleben mit drei Menschen, deren Namen auch alle Variationen der besagten fünf Buchstaben sind (Morna, Norma, Ramon): einfach mal Druck rausnehmen. Ein Cowboy sein, oder ein Latin Lover. Im klaren Gebirgswasser baden. Passion und Entspannung. Adonde Está la Libertad, wie es in dem leitmotivischen Song von Pappo’s Blues heißt. Laura Paredes hat eine tolle Rolle als (ohnmächtige) Ermittlerin, sie macht auch als Bindeglied zu dem De la Plata-Surrealismus mit, zu dem Moreno auf jeden Fall zu zählen ist: Trenque Lauquen ist hier immer um die Ecke.

 

Shame on Dry Land [Syndabocken] (Axel Petersén) 

Ein zerknirschter und ramponierter Typ names Dimman taucht in Malta auf, kurz vor der Hochzeit eines früheren Geschäftspartners, der nicht gut auf ihn zu sprechen ist. Bald zeigt sich aber, dass dieser Fredrik keinerlei Grund hat, groß zu tun. Er hat nämlich das Geld gar nicht für die Party. Dimman taucht ein wenig ein in die dekadente Welt der schwedischen Expats auf Malta, er lässt sich von einer reichen Dame auf einen Mann ansetzen, der angeblich wegen Finanzdelikten ermittelt, der sich aber einfach als Profierpresser entpuppt. Axel Petersén lässt seinen Film geschickt zwischen Milieu-Schilderung, Sommer-Fantasie und Thriller im Unklaren, er bleibt mit einem Beim im sicheren Autorenfilm-Terrain bei Ruben Östlund, und lässt gleichzeitig (wie Östlund ja auch) der satirischen Lust freien Lauf. 

 

Dicks: The Musical (Larry Charles) 

Larry Charles gehört zu den Göttern wegen seiner Arbeit an Seinfeld und Curb Your Enthiusiasm. Diesem Musical allerdings konnte ich nicht das Geringste abgewinnen. Zwei Zwillingsbrüder, die von ihrer gemeinsamen Familiengeschichte anfangs noch nichts wissen, suchen nach dem Eltern, von denen sie verstoßen wurden, und geraten an zwei unappetitliche Exzentriker, die wohl in erster Linie schrullig wirken sollen. Harris (Nathan Lane) lebt mit zwei sewer boys, merkwürdigen Figuren aus den Eingeweiden der Stadt, von denen es heißt, dass sie zur gay culture gehören. Die Familienzusammenführung läuft darauf hinaus, dass Craig und Trevor sich als das ideale Paar erkennen, das sie latent immer schon waren: schwule Liebe als eine Form von Selbstbezüglichkeit. 

 

American Fiction (Cord Jefferson) 

Eine Satire auf die gegenwärtige Sprachrohrkultur: Jeffrey Wright spielt den Schriftsteller Monk (Thelonious Ellison, so sein beziehungsreicher richtiger Name). Er ist schwarz, glaubt selbst nicht einmal so richtig an das Konzept race, wie er zwischendurch fallen lässt. Seine Bücher verkaufen sich mäßig, zu komplex, seine Fakultät legt ihm nahe, eine Pause einzulegen, weil er in einer Veranstaltung über Südstaaten-Literatur das exzessivere N-Wort (als Zitat von Flannery O’Connor) verwendet hat. Monk stößt sich an einer schwarzen Schriftstellerin, die einen Erfolg mit einem Sprachrohr-Roman hat, also einem Buch, das für eine Community spricht. Überhaupt geht ihm alles auf die Nerven, und so schreibt er in einem Anfall unter Pseudonym einen Roman, der alles das liefert, was das weiße Verlagswesen sich unter authentischer schwarzer amerikanischer Literatur vorstellt. Die Konsequenzen, die daraus entstehen, zieht American Fiction mit einem Hang ins Grundsätzliche, der Film ist zugleich sehr witzig wie auch genuines (Familien-)Drama, die Satire ist keineswegs die wichtigste Ebene, auch wenn sie sich am Ende noch einmal drastisch durchsetzt. Besonders gut gefiel mir, wie Monk die verachtete Kollegin neu bewerten muss, in fast allen Fragen findet Jefferson gute Zwischentöne. Literarische Vorlage: Erasure (2001) von Percival Everett (deutsch: Ausradiert, 2008) 

 

Dream Scenario (Kristoffer Borgli) 

Nicholas Cage, mit Glatze, spielt einen biederen Akademiker namens Paul Matthews mit unterdrückten Ambitionen, der eines Tages feststellen muss, dass er in den Träumen anderer Menschen aufzutauchen beginnt. Und zwar nicht nur von Bekannten, sondern darüber hinaus. Keineswegs irgendwie als Held, sondern zuerst einmal einfach nur als Mann im Hintergrund, bald aber gewinnt seine Rolle in den Träumen mehr Profil (anfangs war er noch enttäuscht von seinem unspezifischen Auftreten), bald auch in einem Fall ein sehr eindeutig erotisches Profil, wobei dieses wiederum auf komplizierte Weise mit seiner Biederkeit, vielleicht aber auch mit seinem wachsenden Ruhm zu tun hat. Paul Matthews wird zu einem Phänomen, einem Hype, die Sache gewinnt eine Dynamik, der er bald hoffnungslos hinterherstolpert, bis die ganze Sache (einem brillanten Drehbuch des Regisseurs Kristoffer Borgli folgend) so eskaliert ist, dass nicht einmal mehr ein Traumauftritt in dem David Byrne-Anzug aus der Stop Making Sense-Show etwas retten kann, denn das ist dann nur noch ein hilfloser Wunschtraum eines Mannes, dessen Leben ihm entrissen wurde. In einer haarsträubenden, sehr komischen Geschichte, die sich als Allegorie auf unser aller enteignetes öffentliches Ich lesen lässt, nur ist Paul eben wirklich der unwahrscheinlichste aller Kandidaten für einen kollektiv unbewussten Jedermann. Also der naheliegendste. 

 

Woman of the Hour (Anna Kendrick) 

Beginnt wie ein Serienkiller-Film, wird dann eine Mediensatire, und findet im Unklaren zwischen den beiden Formen einen großartigen eigenen Ton. Der Killer, den wir schon aus der ersten Szene als Vergewaltiger kennen, taucht in einer Folge der Sendung The Bachelor auf, an der die erfolglose Schauspielerin Sheryl (Anna Kendrick) als Trophäe teilnimmt: Wer bekommt die junge Frau? Man kennt das Prinzip aus Herzblatt, dem deutschen Ableger mit Rudi Carrell: Die männliche Kandidaten beantworten (idealerweise geistreich) Fragen, die die Frau stellt, alles ist auf Karten vorgeschrieben, die ganze Sendung ist gescriptet, bis Sheryl das Kommando und die Initiative übernimmt. Sie kapert das Drehbuch, sie improvisiert, sie lässt Intelligenz sprühen. In diesen schon dadurch spannenden, weil unerwarteten Ablauf einer Sendung mit Werbepausen, Schminkmomenten, dem Regisseur, der sich die Seventies-Mähne rauft, baut Kendrick einen Suspense ein: eine junge Frau aus dem Saalpublikum hat als einen der drei Bachelors den Killer erkannt, und versucht zuerst einmal vor Ort jemand anzusprechen. Der Mann, langhaarig, nicht eigentlich attraktiv, aber hinter der Wand, nur mit seiner Stimme, eindeutig der Interessanteste, nimmt Sheryl ein bisschen für sich ein. In diesen Strang im TV-Studio ist ein weiterer verwoben, in dem der Killer mit einer Ausreißerin in die Wüste zum Fotografieren fährt (stark und wohl auch kritisch auf das Girl in Tarantinos Hollywood bezogen). Diese Geschichte hängt mit der im TV-Studio insofern zusammen, als damals eine Gelegenheit bestand, den Killer zu stellen. Wann hört den Frauen endlich jemand zu? Dramaturgisch vor allem ein echtes Meisterwerk, schauspielerisch, Zeitkolorit, großartig alles. 

 

Achilles (Farhad Delaram) 

Farid arbeitet in einem Krankenhaus in Teheran als Aushilfs-Orthopäde. Es wird bald klar, dass er diese Arbeit nur macht, weil er in seinem früheren Leben irgendwelche großen Schwierigkeiten hatte. Farid beginnt sich für eine Patientin auf der psychiatrischen Station zu interessieren, und nimmt sie in einem unbeobachteten Moment mit nach draußen. Nun sind die beiden on the run, denn es erweist sich, dass die Frau eine bekannte Regime-Gegnerin ist. Die Flucht führt nach Osten, in Richtung türkische Grenze, in angedeutete Freiheitsräume, mit Musik und einer Hochzeit. Dabei bleibt jedoch die ganze Zeit als Frage im Raum, wie sehr jemand darauf beharren kann oder sogar darf, ein Schwieriger zu sein: Farid hat so viele Menschen vor den Kopf gestoßen, die ihm helfen wollten, nun will er jemand helfen. Ob dafür in der iranischen Raum überhaupt Raum ist, oder ob Depression der einzige plausible Zustand ist, das ist die Frage, die Achilles vor allem beschäftigt. 

 

Defiant (Karim Amer) 

Nahezu die ganze exekutive Ebene der Ukraine (abgesehen vom Top Guy Präsident Selenski) hat an dieser halb offiziösen Doku mitgewirkt, die zugleich Promotion für die diplomatischen Bemühungen der Ukraine im Krieg gegen die Russische Föderation ist: Außenminister Kubelo, der neue Verteidigungsminister (damals noch Parlamentarier und wichtiger Verhandler) Rustem Umerow, die Vize-Premierministerin und weitere Leute aus dem Kabinett (wichtig der Digitalisierungsminister). Es gibt vor allem bei Kubelo auch private Momente (seine Hunde, seine Zigarren), Umerow sieht man einmal bei einem muslimischen Gebet (er ist Krimtatare und schon deswegen antisowjetisch). Interessant eine Szene in Rumänien, in der Umerow anscheinend mit einem normalen Taxi fährt und mit dem Fahrer eine Dialog voller politischer wie sprachlicher Missverständnisse führt. Es gibt nicht eigentlich Szenen, bei denen man etwas substantiell Neues über den war effort erfährt, aber als Mischung aus Dokumentarfilm und Teil des war efforts trifft Defiant ganz gut eine Balance. 

 

Sorry/Not Sorry (Cara Mones & Caroline Suh) 

Eine Doku der New York Times, die ihre Metoo-Recherchen multimedial auswertet. Drei Frauen vor allem sind es, aus deren Perspektive hier der Fall von Louis C.K. noch einmal aufgerollt wird: Der erfolgreiche Comedian hatte immer wieder vor Frauen den Penis herausgeholt und masturbiert. Jen Kirkman war eine der ersten, die versuchte, Louis CKs Verhalten öffentlich zu machen, außerdem kommen Abby Schachner und Megan Koester ausführlich zu Wort. Der stärkste Eindruck, den der Film hinterlässt, ist ein indirekter: die Karrieren dieser drei Frauen stehen nach wie vor oder mehr denn je im Schatten des Erfolgszusammenhangs, der rund um Louis CK und die männlich dominierte Welt der Comedians mehr oder weniger ungebrochen besteht. Nach neun Monaten «Pause» und Nachdenken hatte Louis CK ein Comeback, und das Netzwerk (mit seinem mächtigen Manager Dave Becky und einem Dave Chapelle, der ihm peinlich beispringt) ist intakt, während die Frauen einfach nicht dazu gehören. 2017 lief I Love You Daddy beim TIFF, einen weiteren Spielfilm hat Louis CK seither nicht gemacht. Trotzdem macht Sorry/Not Sorry klar, dass Metoo immer noch oft an harte Buddy-Grenzen stößt.

 

In the Rearview (Maciek Hamela) 

Mein zweiter Lieblingsfilm bei diesem Festival, neben Dream Scenario. Wir sind im Auto bei verschiedenen Evakuierungsfahrten in der Ukraine nach dem russischen Angriff. Es geht in Richtung Polen, aber de facto gibt es keine zu bewältigende Strecke von zum Beispiel Soledar im Donbass (einer der ersten Ortsnamen, der fällt, eine Stadt nordöstlich von Bachmut) bis über die rettende Grenze. Sondern nur verschiedene Abschnitte aus dem ganzen Land. Der Film ist so montiert, dass wir immer eine Passage mit ein paar Leuten verbringen, die eng gedrängt im Auto sitzen, manchmal erzählt jemand, was passiert, Kinder sind oft im Bild und haben ihre eigene Weise, von den Dingen zu reden. Man erkennt Landschaften und Orte und Ereignisse des Krieges am Rande oder im erzählerischen Hintergrund, Mariupol oder Tschernigow, man sieht viel Zerstörung am Straßenrand, man kommt an abgelegene Orte in der Ukraine. Der Film bewegt sich vom Krieg weg, und zugleich auf seine Weise auf den Krieg zu. Man sieht viel, man bekommt vor allem sehr viel zu hören, noch mehr aber muss man sich denken. Ungeheuer bewegend. 

 

Hit Man (Richard Linklater) 

Im Abspann wird deutlich, dass es für die Figur Gary Johnson offensichtlich ein reales Vorbild gab, einen originellen Typ, den Linklater mit einem Schauspieler aus Austin besetzt: Glen Powell (Top Gun-Material). Wir sehen Gary zu Beginn und am Ende als Lehrer an einem College, er unterrichtet eine Mischung aus Psychologie und Philosophie in New Orleans, thematisch kreist er um das Selbst und die Möglichkeit, ein neues Selbst zu ergreifen. Das ist dann auch genau das, was er in Hit Man tut: Gary ist nicht nur akademischer Lehrer, sondern auch eine Art Freelancer für die Polizei, der sich als Auftragsmörder ausgibt, im Rahmen von sting operations, die quasi direkt in ein Gerichtsverfahren übergehen (wo Gary dann, neben dem aufgezeichneten Material, auch als Zeuge gefragt ist). Er genießt diese Aufgabe auf eine schräge Weise, indem er sich immer neue Identitäten ausdenkt, er stilisiert sich (Linklater sorgt da für einige Lacher) zum Teil sehr witzig, einmal sogar halb queer. Es geht dabei implizit immer auch um Männlichkeit, vor allem, als er an eine Frau namens Madison gerät, die ihren Mann loswerden möchte, und die diesen Ron (in diesem Fall das Alter Ego) sehr attraktiv findet: „I upped my game“, so Gary, der im Film auch als seine eigene Supervision fungiert, als Ron ist er ein toller Liebhaber, eine Waffe macht ihn noch erotischer. Linklater akzentuiert das alles noch, indem er Gary/Ron einen abgefuckten Kollegen namens Jasper an die Seite stellt, der wie ein Kommentar zu der Mannwerdung von Gary fungiert. Mit Madison nähert sich Hit Man für eine Weile klassischen Film Noir-Tropen, zugleich bleibt der Film aber strikt Komödie, dabei Hochseilakt eines Spießers, der zunehmend in die Bredouille gerät, und sich im Grunde nur mit einem Vabanque-Akt retten kann. Der gelingt auch formidabel. Irgendwie bleibt doch ein seltsamer Beigeschmack von Populärpsychologie, als Cringe-Comedy aber funktioniert Hit Man gut. 

 

The World is Family (Anand Patwardhan) 

Mit Material aus den frühen nuller Jahren und einer Menge Bilder aus dem Familienarchiv bestreitet Anand Patwardhan diesen Dokumentarfilm über seine Eltern, die beide sehr alt wurden, und die in ihrer Jugend und mit Verwandten und Freunden tief in die heroische Zeit der indischen Staatswerdung involviert waren. Gandhi war ebenso unter den persönlichen Kontakten wie Tagore. So wird im Rückblick auch die mögliche Geschichte einer anderen Nation erzählt, in der die Spaltung zwischen Muslimen und Hindus niemals so tief hätte werden können, in der vielleicht sogar die Abspaltung von Pakistan nicht notwendig gewesen wäre. Man erfährt im Detail so einiges über die verschiedenen Ideologien und Bewegungen, die ihren Einfluss auf die Entkolonisierung gelten zu machen versuchten. Zugleich ein intimer Familienfilm über das Altwerden, und ein Film über das Töpfern. 

 

About Dry Grasses (Nuri Bilge Ceylan) 

Eine Schule im westlichen Hinterland der Türkei. Es ist Winter. Samet und Kenan teilen sich ein Quartier, sie machen auch beide der selben Frau den Hof, einer Kollegin namens Nuray, die bei einem terroristischen Anschlag ein Bein verloren hat. Ceylan entwickelt die Geschichte langsam, in langen Gesprächsszenen in verschiedensten Konstellationen. Samet ist immer dabei, er ist die zentrale Figur, dabei eine des Übergangs, denn er möchte eigentlich weg. Istanbul ist auch für Nuray eine Option, die Provinz ist lästige Pflicht, aber auch so etwas wie naturnaher Rückhalt (mehrfach klettern Samet und Kenan auf einen Berg, um dort ein besonderes Quellwasser zu trinken). Die Sache mit Nuray wird zu einem Konflikt zwischen den Männern. Währenddessen bleibt die zweite wichtige Ebene noch lange im Hintergrund: ein Mädchen aus der Schule erhebt Vorwürfe gegen Samet und Kenan, tatsächlich sieht man in einer frühen Szene eine sehr unbefangene Begegnung und auch körperliche Berührung. Diese Sevim kokettiert deutlich mit ihrer Attraktivität, sie schwärmt für den Kunstlehrer Samet, und reagiert dann auf einen „Verrat“ mit einer Beschwerde, die zu einem dienstlichen Verfahren führt. Mit dem Schlussbild bekommt das Verhältnis zwischen Samet und Sevim (verklemmter Lehrer und Lolita) eine merkwürdige, fast nationalmythologische Bedeutung. 

 

100 Yards (Haofeng Xu) 

Tianjin im Jahr 1920. In einer Martial-Arts-Academy stirbt der Chef, interessanterweise wollte er seinen Sohn Shen nicht in seiner Nachfolge, sondern hatte sich für diesen eine Bank-Karriere erträumt. Der will natürlich nun umso mehr, muss sich dafür aber mit Qi schlagen, der als neuer Chef der Akademie designiert ist. Es geht dann wild hin und her, Gleichgewicht oder Balance (der Schlüsselbegriff) ist dauernd in Gefahr, vor allem durch wildes Freelancen (Martial Arts nicht eingehegt in das Akademische, sondern Bandengründungen draußen auf der Straße). Shen muss nebenbei auch herausfinden, ob es mit dem Kurzschwert, das ihm durch die Familientradition zugewiesen ist, einen besonderen Move gibt, also eine Art Skill-Erbe. Die Kämpfe sind im Vergleich zu älteren Martial-Arts-Filmen auch noch der frühen nuller Jahre noch einmal schärfer, präziser, eine virtuose Choreographie abrupter, komplementärer, auch akustisch ausgewiesener Moves, fast schon so etwas wie Noli me tangere für Schläger (perkussiv, schreibt das TIFF, das trifft etwas: ein bisschen wie Schlagzeugspielen). Ikonologisch sieht Tianjin stark wie ein Chicago 1920 aus, der Westen ist präsent, und interessanterweise ist es die französische Post, die in das Zentrum einer romantischen Handlung gerät, die schließlich zu einer Ausgründung führt: 100 Yards, das ist der Abstand, der eine neue Eingrenzung, eine neue Akademie, einen neuen Schutzraum für die richtigen Martial Arts, ein Ende der Anarchie und des Hooliganismus definiert. 

 

Anak Ka ng Ina Mo [Your Mother‘s Son] (Jun Lana) 

Sarah ist eine Frau in mittleren Jahren, die in einem ländlichen Barrio auf den Philippinen ein Catering-Gewerbe betreibt. Ihre Gerichte sind sehr beliebt, das Geschäft läuft gut. Sarah lebt mit ihrem Sohn Emman, die beiden verbindet ein Geheimnis: der Junge ist in Wahrheit nicht der Sohn, sondern ist mit Sarah verheiratet. Nebenbei unterrichtet Sarah auch noch Online-Kurse, aus diesem Zusammenhang bringt sie eines Tages Oliver mit: er ist noch jünger als Emman, er nimmt noch mehr Drogen, er spielt Gitarre, und er hat (das Detail spielt eine Rolle) einen kleineren Schwanz als Emman. Your Mother’s Sohn läuft auf die Möglichkeit einer unkonventionellen sozialen Form hinaus: eine sexuell und geschäftlich selbstbewusste Frau umgibt sich mit einer Wahlfamilie, die zugleich verlorenen jungen Männern Halt gibt. Allerdings gibt es auch noch Amy, eine jüngere alleinerziehende Mutter, und generell das Gerede der Leute. Filme wie diesen sehe ich nur in Toronto, wo schon aufgrund der großen philippinischen Community in der Stadt beim TIFF ab und zu Mainstream-Filme von den Philippinen laufen: dieser ist im Grunde ein triviales Melodram, aber mit vielen interessanten Aspekten. 

 

Yellow Bus (Wendy Bednarz) 

In einem Golfemirat stirbt ein kleines Mädchen in einem Schulbus, weil es dort vergessen wird und sich aus dem Hitzekäfig nicht befreien kann. Der Vater und die ältere Schwester trauern fast ein bisschen pragmatisch, die Mutter aber will herausfinden, was genau passiert ist, und kommt dabei mit verschiedenen Milieus in Kontakt, die im Emirat das Expat-Leben ausmachen: die Familie selbst ist indisch (wo es eigentlich erforderlich wäre, dass das Vater sich die Haare abschneidet, was er anfangs nicht tut, um in seiner Arbeit nicht aufzufallen), der Bus gehörte zu einer internationalen Schule (deren Besuch die ältere Schwester nicht gefährden möchte), der Busfahrer und die Begleiterin (attendant) sind aus anderen asiatischen Ländern. Wendy Bednarz nimmt den Plot zum Anlass für ein präzises Soziogramm der globalen (Dienstleistungs-)Gesellschaft in einem der Emirate. 

 

Mur [Walls] (Kasia Smutniak) 

Kasia Smutniak lebt schon lange in Rom. Als an der polnischen Grenze zu Belarus eine Flüchtlingskrise ausbricht, kehrt sie in ihr Heimatland zurück und möchte unbedingt die Befestigungen filmen, mit denen Polen die EU-Außengrenze unpassierbar machen möchte. Die ersten Versuche verlaufen konspirativ, sie trifft Aktivisten und geht mit ihnen in den Wald, immer auf der Hut vor der Polizei, die an vielen Stellen Kontrollpunkte eingerichtet hat. Wir lernen einige junge Menschen kennen, die sich für die „cosa giusta“ engagieren, für die gerechte Sache einer humanen (oder revolutionären) Asylpraxis. Wenig später darf Smutniak dann allerdings ganz offiziell an die Grenze,  mit einer Begleitoffizierin und offensichtlich mit einer Pressegenehmigung, sie erfährt nun Genaueres über die 186 Kilometer lange Fortifikation, die gerade im Gange ist, sie kann auch Bilder filmen, und man erklärt ihr die Technologien, die bei der Überwachung eingesetzt werden (Wärmebildkameras). Anschließend kehrt sie nach Lodz zurück, wo sie die Spuren der Mauern des NS-Ghettos im Stadtbild sucht, danach fährt sie an die Ostgrenze zur Ukraine, wo sie Verwandte hat, und wo die Reflexion auf „Mauern“ weitergeht: durch den inzwischen ausgebrochenen Krieg in der Ukraine bekommt die Rolle Polens an der EU-Außengrenze einen neuen Kontext. 

 

Elfogy a levegö [Without Air] (Katalin Moldovai) 

Das Lehrerzimmer in Ungarn. Ana Bauch, beliebt und (statistisch ausgewiesen) erfolgreich in den Fächern Literatur und mit dem Freigegenstand Drama, schreibt nach einer Unterrichtsstunde einen Filmtitel an die Tafel (der nicht zu sehen ist), der begabte Schüler Viktor, 17, schaut den Film daheim auf dem Laptop, wird dabei von seinem Vater «ertappt», obwohl es nichts zu ertappen gibt (es handelt sich um Total Eclipse – Die Affäre von Rimbaud und Verlaine von Agnieszka Holland). Der Vater erstattet Meldung, die Schuldirektorin Eva, zu diesem Zeitpunkt noch sehr zugewandt, erteilt einen Verweis, um die Sache aus der Welt zu schaffen, aber Ana legt Widerspruch ein. Eine kleine Kohlhaasiade, die etwas auslöst, denn nun zieht sich das gesellschaftliche Klima im heutigen Ungarn, das «Normalität» und Unterrichten nach Lehrplan gegenüber dem Bildungsideal Freiheit (das freilich auf einem Wahlspruch zur anstehenden 150-Jahr-Feier der Schule deklamiert wird) durchsetzt, mit philiströsen Kommissionen und im unsichtbaren Hintergrund einem Staat, der jederzeit das Geld abdrehen kann. Without Air ist präzise und subtil inszeniert und gespielt, jedes Detail sitzt, nur am Ende kommen Katalin Moldovai ein wenig die Handlungsfäden durcheinander oder lässt sie zumindest eine Sache zu sehr im Impliziten. Wichtiger Film, ironischerweise kommt er vom Nationalen Filminstitut. 

 

Radnička klasa ide u pakao [Working Class Goes to Hell] (Mladen Djordjevic) 

In einer Fabrik in Serbien sind bei einem Brand mehrere Menschen gestorben. Der Rest der Belegschaft ist lokalen Mächtigen und «Geschäftsmännern» ausgeliefert. Bis eines Tages Mia auftaucht, der aus Belgrad zurückkehrt, und von dort Ideen über «Gruppentherapie» mitbringt, de facto okkultes Zeug näher am Tischerücken. Das reicht aber, um der vagen Wut ein bisschen Form zu geben. Mladen Djordjevic erzählt populistisch in einem guten Sinn, die Arbeiterklasse besteht bei ihm aus Charakteren, die jederzeit das Filmbild interessanter machen. So sehr die an ein Jenseits gerichteten Beschwörungen der verlorenen Kollegen fehlgeleitet wirken, so sehr führen sie doch zu einem neuen Zusammenhalt, und was die im Titel angedeutete Höllenfahrt dann genau ausmacht, ist im Grunde auch so etwas wie Soziologie: die Leute «lesen» die Dekadenz der Mächtigen (die nackte junge Frauen in Gefrierschränke sperren, und sie danach als Buffetunterlage zu verwenden), und beantworten sie mit den Waffen des Alltags (darunter auch Hammer und Sichel, wir sind in Ex-Jugoslawien). Eine Klassenkampf- und Korruptionssatire, die weiter geht als viele andere, und die im Kern vor allem eine Gemeinschaftsfantasie ist. Einfache Menschen organisieren sich selbst unter dem Einfluss dubioser Charismatiker.

 

In the Rearview von Maciek Hamela

© TIFF