theater

8. September 2023

Dito Weltuntergang Die Volksbühne eröffnet die Spielzeit mit Julien Gosselins Fünfstünder Extinction (nach Schnitzler, Hofmannsthal, Bernhard)

Von Ekkehard Knörer

© Simon Gosselin | Volksbühne

 

Zum Reinkommen, bei Betreten des Saals: ein Dj-Set auf der Bühne, Willkommen zum Rave, Bier an der Seite, das Publikum sitzt und steht nicht dumm rum, oder nur manche davon (ich),  sondern tanzt, während die Bässe wummern, und sie wummern sehr ordentlich, es tanzt auf der Bühne, wo Nebel ist, dazu auf drei Leinwänden, eine oben hinten, zwei auf den Flügeln, die DJs, nicht nur beim Live-Set gefilmt. Mit Druck geht das los, ganz unkommentiert, es mischen sich zwei Darstellerinnen in die Crowd, von der Live-Kamera aus der Menge heraus fokussiert, sie verlassen die Bühne, Dialoge, über dem Lärm nur schwer zu verstehen, es geht noch nicht richtig los, bevor eine Schrift auf der mittleren Leinwand verkündet: «Die Show geht in zwanzig Minuten weiter.»

Nach Rumstehen und Loslabern draußen ist die Bühne drinnen nun zur Bühne verwandelt. Links die Andeutung eines Schlafzimmers, rechts die Andeutung einer Toilette beziehungsweise da ist in der Tat ein Klosett, da ist dann auch gleich eine Frau, die da hinein pinkelt. In der Mitte eine Glasfront, die Türen oft zu, aber auch wenn sie auf sind, ist der Blick nicht nur durch die Fassade geframet, sondern immer in Teilen blockiert. Ganz vom Nebel zu schweigen, der von Zeit zu Zeit aufkommt, und vom Vorhang erst recht, der im Inneren den Blick zum Tisch im Salon später gänzlich versperrt.

Dieses Theaterdispositiv steht aber ein wenig wie bestellt und nicht abgeholt da herum, als Skelett seiner selbst. Abgeholt werden wird aber schon, und zwar sehr, und zwar sowas von, von der Live-Kamera nämlich, die hier in den Händen unaufdringlich schwarz gekleideter Kameramänner vom einen Schauplatz des Geschehens zum anderen wuselt. Zusammen kommt es droben, auf der nun einzigen Leinwand, dem Screen, hinter dem sich nichts halb verbirgt, sondern auf dem das halb Verborgene zur Welt kommt, und zwar als Film, der aus den Live-Aufnahmen auf der Stelle und nach einem festen Skript zusammenmontiert wird.

Doppeltes Triyptychon. Nicht nur hat der Abend drei Teile, von denen der mittlere deutlich länger als die beiden anderen ist, auch die Bühne hat also drei Flügel, ausgeklappter Theateraltar mit dem Film als Dreifaltigkeit oben darüber. Das Ganze ist, in diesem zweiten Teil, eine Live-Schaltung ins Wien des Jahrs 1913. Die Texte, als Dialoge zumeist, aber auch zu monologischen Schaustücken wächst es sich aus (etwa einer kabukihaften, großartigen Szene von Marie Rosa Tietjen), diese Texte stammen von Hugo von Hofmannsthal und Arthur Schnitzler, auch Thomas Bernhard, auf den es im dritten Teil hinauslaufen wird, kommt schon ins Spiel.

Ein Prolog noch, der nur als Film: In schwarz-weiß liegen nicht so ganz tote Leichen im Zimmer herum. Hier ragt ein Messer, da rinnt das Blut. Ein Gemetzel hat stattgefunden. Wir spulen zurück. Zur Vorgeschichte, in drei Kapiteln, eins heißt «Albertine» (die hat Gosselin aus Schnitzlers Traumnovelle entführt), eins heißt «Tabu» und das letzte «Les Animals», es geht, kreisend eher als zielführend, um Amouren, um das Wollen eher als Können, um den Betrug, der beinahe stattfand, in Dänemark einst, um das Burgtheater zudem. Freud liegt in der Luft, die Geliebte liegt im Schlafzimmerbett. Es wird sich entkleidet, verbal und buchstäblich, es ist von Schönberg die Rede und von Berg, Schnitzlers Fräulein Else ist mit ihrem Ex-Kollegen Nachtigall zugange, der das Klavier mal streichelt und mal malträtiert. Man sitzt zu Tisch, windet sich auf dem Boden der Toilette, blickt hinaus in den Park (alles dunkler als dunkel), dazu verbreitet die Musik elektronisch ungute Stimmung. 

Die Atmosphäre, die Situation: Es ist, als hätte Gosselin einen Kreuzungsversuch zwischen Cristi Puius Malmkrog (auch hier ein Krieg, der im Hintergrund lauert) und Lars von Triers Melancholia (dito Weltuntergang) unternommen. Bis zur Dekadenz zivilisierter Welteruntergang. Vielleicht noch ein Schuss Grandrieux für die Abgründigkeit. Von der Auslöschung, die bevorsteht, die nicht nur im Titel bevorsteht, ahnt zwar der Abend in seinen Stimmungen und Rahmungen, in seinen Übergängen von der Konversation in Schwarzbilder was, und lässt es uns mehr als nur ahnen, nämlich durchaus in die Glieder fahren, es ahnen aber die in ihrer Weltfremdheit um sich Kreisenden, vom Schlafzimmer durch den Salon auf die Toilette und wieder zurück torkelnden Begehrenden nichts.

Es gibt zu diesem zweiten Teil noch ein Satyrspiel. Kurze Umkleidepause, dann plötzlich eine zünftige österreichische Trachtengesellschaft zu zünftiger Volksmusik im Salon, der nun die Stube eines Wirtshauses ist, das Bild mit VHS-Streifen und immer wieder eingeblendetem «Play» medientechnisch als auch nicht vom Frischsten markiert. Ooans, zwooa hebt es an, es wird mit Fingern gezeigt, einer erkoren, der sich auf den Tisch legen darf. Eine Frau in der Tracht greift zur Axt und, kein Vertun: Blut spritzt, heftiger Splatter. Ein anderer wird noch gekeult, dann gleich wieder Schwarzbild. Was aggressiver Unterton war, tritt nun in grotesker Drastik aus dem Subtext ins Aktionsbild hervor. Das geht zack zack. Hic sunt nun Leichen, zum Prolog schließt sich ein weiterer Kreis.

Vor der Pause – «Die Show geht in 20 Minuten weiter» – noch eine Passage, wie schon von Teil eins zu Teil zwei, wie dort schon geht auch hier nichts wirklich los, auf der Hinterbühne tastendes Gespräch über den Sinn des Theaters, keine Kraft mehr übrig für Aggression oder Resignation, während auf der Vorderbühne die Kulissen schon abgebaut werden: not a bang, but a whimper, kein Knall, kein Fall, sondern Schrauben und Hämmern, Überführung der Apokalypse in die Arbeit der Theater-Gewerke.

So geht es nach der Pause im letzten Teil weiter. Bühnenarbeiter fragt nach, ob alles bereit ist, auch Rosa, die Schauspielerin, die Rosa Lembeck ist und nun eine knappe Stunde Monolog aus Thomas Bernhards Auslöschung vortragen wird. Es steht da ein Stuhl, alles andere als ein Thron, nicht weit vom Klappstuhl entfernt, etwas erhöht, mehrere Stuhlreihen bieten Platz für ein Publikum von fünfzig Personen, die Reihen des Theaters sind entsprechend (nun gut, in dieser fünften Stunden etwas mehr als entsprechend) geleert. 

Rosa Lembeck ist Murnau, aber als Frau, oder als Tochter, als Nichte, denn um den Vater, den Onkel, um Österreich geht es, mit all dem Hass, als Suada, wie man das von Bernhard kennt. Bei Lembeck jedoch wird dieser Hass nicht geschleudert, es ist vielmehr, mit suchenden, rudernden Händen, mit einer Stimme, die manchmal fast wie von Tränen grundiert ist, eine Verzweiflung darin, ein Wissen darum, dass die Ursache dieses Hasses, der verachtenden Übertreibung, nicht der Hass ist, sondern ein anderer Abgrund, einer, der jeden Halt nimmt, so dass die Hände und die Stimme ein Ringen sind, ein Greifen ins Leere, an niemanden adressiert, an niemanden mehr adressierbar. Der Hader und die Verzweiflung sind echt, die Worte nur noch Symptome, eine Rechthaberei, da an sich selbst zu glauben längst aufgehört hat. Es geht passend am Ende in reinen Klang über, ein Summen erst, später chorisch, ein letztes Licht, das lässt der Abend sich nehmen, erlischt. Damit ist es wirklich und wahrhaftig aus. (82cp)

Nach Texten von Thomas Bernhard, Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal
Adaption, Regie Julien Gosselin, Bühne: Lisetta Buccellato, Dramaturgie: Eddy d’Aranjo, Johanna Höhmann, Musik: Guillaume Bachelé, Maxence Vandevelde, Licht: Nicolas Joubert, Video: Jérémie Bernaert, Pierre Martin Oriol, Sounddesign: Julien Feryn, Übersetzung: Francesca Spinazzi (Panthea), Kostüme: Caroline Tavernier mit Unterstützung von Marjolaine Mansot, Kamera: Jérémie Bernaert, Baudouin Rencurel, Regieassistenz: Sarah Cohen, Max Pross.
Mit: Guillaume Bachelé, Joseph Drouet, Denis Eyriey, Carine Goron, Zarah Kofler, Rosa Lembeck, Victoria Quesnel, Marie Rosa Tietjen, Maxence Vandevelde, Max von Mechow.