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Im Giftschrank Über Bill Gunns aus der Filmgeschichte verdrängtes Regiedebüt Stop!

Von Lukas Foerster

 

Watermelon Man von Melvin van Peebles, Cotton Comes to Harlem von Ossie Davis und STOP! von Bill Gunn: Das waren die ersten drei Filme schwarzer Regisseure innerhalb des Hollywood-Studiosystems. Alle drei entstanden im Jahr 1970. Watermelon Man blickt filmhistorisch gewissermaßen in die Vergangenheit und gehört zur Gattung der liberalen Problemfilme, die sich in den 1950er und 1960er Jahren mit ethnischen Spannungen, dem Nachleben der Sklaverei und dem Weiterleben des Rassismus beschäftigten – zumeist aus weißer, hier aus schwarzer Perspektive. Cotton Comes to Harlem hingegen weist in die Zukunft und gibt die Richtung vor, die das schwarze Mainstreamkino in der Folge einschlagen wird: ‹urbane› Genrestoffe als Marktsegment, rhetorisch changierend zwischen Ausbeutung populärer Klischees und ästhetischem Selbstbewusstsein.

Der dritte Film hingegen steht außerhalb solcher Entwicklungsgeschichten, und zwar nicht nur, weil Bill Gunn sein Regiedebüt mehrheitlich mit weißen Darsteller_innen besetzt. STOP! hat nicht nur keinen Eingang in die Geschichte des schwarzen amerikanischen Kinos gefunden, sondern wurde aktiv aus jeder Filmgeschichtsschreibung (insbesondere auch aus der New Hollywoods) herausbefördert. Nachdem die MPAA dem Film ein X-Rating angeheftet und ihm damit eine konventionelle Kinoauswertung verunmöglicht hatte, war er seinerzeit nur eine Woche lang in einem texanischen Drive-in-Kino zu sehen gewesen und verschwand danach in einem Giftschrank, in dem er aufgrund einer verworrenen Rechtelage vorläufig auch weiterhin verbleiben wird. Allerdings ist dieses Frühjahr, inmitten der Corona-Hochphase, auf einschlägigen Websites ein File hochgeladen worden, das, wiewohl niedrigauflösend und im falschen Bildformat, zumindest eine Ahnung davon gibt, wie die Route aussieht, die das produzierende Studio, Warner, 1970 nicht weiterverfolgen wollte.

«I get the strangest feelings sometimes, that I’m living with a dead man.» Das ist der erste Satz, Lee richtet ihn an ihren Mann Michael, der ihr am bürgerlichen Esstisch gegenüber sitzt. Die Ehe der beiden hat sich in einen Krieg verwandelt, in dem kalte und heiße Phasen, sarkastische Sticheleien und wüste Schimpforgien einander abwechseln, ohne dass freilich die Erinnerung an andere, bessere Zeiten bereits komplett erloschen wäre. Wenn Lee und Michael eine Reise nach Puerto Rico antreten, dann wissen beide, auch wenn sie es vorläufig noch nicht offen aussprechen, dass sie einen letzten Versuch unternehmen, das gemeinsame Leben zu retten.

Ob sie sich freilich für den Beziehungsneustart den besten Ort ausgesucht haben, daran bestehen von Anfang an gehörige Zweifel. Schließlich beziehen sie in San Juan das Haus von Michaels verstorbenem Bruder, der dort kurz vorher, dem Wahnsinn verfallen, zuerst seine Frau und dann sich selbst erschossen hatte. Eine alptraumhafte Rückblende legt nahe, dass Aggression und Todestrieb, wie in The Shining, direkt aus der Architektur entspringen, beziehungsweise aus einer filmischen Verformung häuslichen Raums. Die Bilder sind so gebaut, dass sie die Tiefendimension bizarr überbetonen: Flure werden zu gähnenden Schluchten, eine Balustrade zu einer Klippe, die schwindelerregend hoch über dem Wohnzimmer thront, bereits zwei Schritte Distanz zur einstmals geliebten Frau verwandeln sich in eine unüberbrückbare Distanz, der letztlich nur noch mit einem Projektil beizukommen ist.

Soweit ist es in der Erzählgegenwart noch nicht, doch auch Michaels Blick auf Lee wird, kaum dass die beiden die Tür ihres temporären Domizils hinter sich geschlossen haben, von einem gefährlichen Tiefensog erfasst. Selbst wenn er in einem der wenigen Momente gelingender Intimität seine Hand nach Lees Füßen ausstreckt, wirkt das wie ein tastender, unendlich vorsichtiger erster Schritt auf einem unbekannten Kontinent. Im Folgenden geht es freilich gerade nicht darum, dass sich eine Geschichte der Gewalt wiederholt, ein filmisch vorgeprägtes Schicksal noch einmal vollstreckt wird. Vielmehr wird das innenarchitektonisch vermittelte Beziehungsunbehagen umgeleitet auf gleichermaßen notwendige wie hilflose Versuche, dem Selbstgefängnis der Zweisamkeit zu entkommen.

Zunächst holt sich Michael eine Prostituierte ins Bett – die nach dem Sex, in der eindrücklichsten Passage des Films, ihre Entlohnung von Lee einfordern muss und auch erhält, während sich Michael im Bildhintergrund, in der hier besonders abgründig und rettungslos klaffenden Tiefe des Raums, im Bett zusammenkrümmt wie ein Embryo im Mutterleib. Eine Szene, die ein wenig an die zeitgleich entstandenen frühen Filme Fassbinders erinnert, aber selbst der hätte eine solche ökonomisch-libidinöse Zwangskonstellation nicht derart nüchtern und präzise ausgearbeitet, sondern in theatraler Stilisierung wattiert. Die zufällige Begegnung mit einem anderen Paar führt dann zu einem zweiten, elaborierteren Ausbruchsversuch, in dessen Verlauf schließlich auch – das dürfte der Hauptgrund für das X-Rating gewesen sein – die Grenzen der Heterosexualität überschritten werden.

Der sich zunehmend psychedelisch entgrenzende Bild-und Tonraum der letzten 20 Minuten lässt einem jedoch vor allem schmerzlich bewusst werden, wie inadäquat das einzige derzeit existierende File von STOP! ist. Eine reguläre, qualitativ brauchbare Veröffentlichung darf ab sofort als eines der dringlichsten Desiderate im Heimkinobereich gelten.