Körper und Raum Ein Kino der kleinen Geschichten mit choreografischem Sinn: Über das Werk von Damien Manivel
Damien Manivel war Tänzer, bevor er Filmemacher wurde. In seinen ersten Arbeiten scheint diese Vorgeschichte kaum durch, zumindest nicht auf den ersten Blick. Hat man die Wahrnehmung aber erst mal auf die Elemente der Körper justiert, auf ihre Sprachen, Formen, ihre Haltungen und Gesten und die Art und Weisen, sich durch den filmischen Raum zu bewegen, kann man sie eigentlich kaum mehr anders betrachten denn als latente Tanzfilme. Zum Beispiel die erste Szene in dem Kurzfilm La dame au chien (2010). Ein sehr junger, sehr blasser Mann, vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, sitzt befangen auf dem Sofa einer fremden Frau. Alles an ihm ist lang, die Arme, die Beine, die Finger. Der junge Mann bzw. sein Darsteller Rémi Taffanel weiß das natürlich, und es beschäftigt ihn. Sein Körper stellt ihm Aufgaben. Beim Sitzen kommt es etwa dazu, dass die Knie dem Oberkörper auf gut halbem Weg entgegenkommen, und dann, was tut man mit den Armen? Was auch immer er damit anstellt, es sieht spinnenhaft aus – erst recht, wenn er, um einen Satz zu unterstreichen, eine ausholende Bewegung macht.
Ganz anders im Ausdruck sein Gegenüber. Die Frau (Elsa Wolliaston) ist nicht mehr jung, schwarz und füllig. Als sie sich in den Sessel hinabsinken lässt, wirkt ihr Körper noch mächtiger. Alles, was an ihm ungelenk und agil ist, fällt bei ihr weich und erschöpft aus. Der Film betrachtet diese beiden sehr gegensetzlichen Körper, er setzt sie ins Bild und er setzt sie zueinander in ein Verhältnis. Auf der Erzähloberfläche, die hier jedoch eher zum Hintergrund eines Körperspiels wird, ist Ladameauchiendie Geschichte einer ziemlich merkwürdigen Begegnung. Der junge Mann hat den entlaufenen Hund der Frau gefunden und zurückgebracht. Sommerhitze steht in der Luft, sie trinken Rum. Er erzählt, dass er Schwimmer sei, sie stellt träge forsche Fragen wie: «Magst du es, dich um deinen Körper zu kümmern?» Die Stimmung schwankt zwischen Lethargie – die Frau nickt zwischendurch ein und schnarcht ein bisschen – und der Möglichkeit einer erotischen Annäherung. Manivel erzählt das Aufeinandertreffen, das – wie in anderen seiner Filme – mehr ein Verfehlen ist, mit einem fast schon filigranen Gespür für Situationskomik, darunter aber liegt ein tief melancholischer Ton: jugendliche Einsamkeit trifft auf die Einsamkeit einer alternden Frau. Ihre Hautfarbe, das muss der Film nicht explizit machen, deutet dabei noch mal auf eine ganz andere Erfahrung von Abgetrenntheit.
Eine einfache Frage liegt Manivels Filmen zu Grunde: Was passiert, wenn sich ein Körper durch den Raum bewegt? Der 1981 in Brest geborene Filmemacher betrachtet seine Figuren mit der Aufmerksamkeit eines Tänzers, egal ob es sich dabei um einen sehr gewöhnlich aussehenden Mann handelt, der im Ödland der Pariser Vororte mit seinem Hund einen Spaziergang macht (in dem Kurzfilm Un dimanche matin, 2012) oder um ein drolliges Kind, das ohne Bewusstein über den eigenen Körper durch eine nordjapanische Schneelandschaft stapft (La nuit où j’ai nagé, 2017). Manivel interessiert sich für alle möglichen Körper: alte und junge, baumlange und hüfthohe, anmutige und unbeholfene, schmale und breite, feste und teigige, weiße und schwarze. «Unser Körper ist ein Garten, und unser Wille der Gärtner» sagt der junge Mann in Ladameauchienmit Shakespeare. In einem anderen Film, Le Parc (2016), wird eine verhaltensauffällige junge Frau gefragt, ob sie «alleine in ihrem Körper» sei. Manivels Filme bewegen sich im Spannungsfeld dieser beiden Pole. Es gibt darin einerseits etwas sehr Sorgfältiges und Choreografiertes, andererseits Anteile, die sich nicht einhegen oder eben gärtnern lassen – die Körper machen ein bisschen das, was sie wollen. An dieser Stelle kommen Zufall und Improvisation ins Spiel, und die Eigengesetzlichkeit der (fast immer) Laienkörper.
Vor dem ‹eigentlichen› filmischen Werk, das drei kurze und vier lange Arbeiten umfasst, stehen zwei experimentelle Videoarbeiten, die während des Postgraduiertenstudiums am Le Fresnoy, einer Kunst-und Medienschule in der nordfranzösischen Stadt Tourcoing, entstanden. Beide, Viril (2007) und Soissage, ô madouleur (2008), sind konzeptuell angelegte Körper-und Geschlechterstudien, im fahlen Licht gefilmt und mit einem existentiellen und schroffen Ton. Danach hat sich Manivel komplett neu orientiert – hin zu einem Kino der kleinen, überschaubaren Geschichten mit choreografischem ‹Sinn›. Die Offenheit der Erzählung – es gibt kein Drehbuch – findet Halt in einer markanten Struktur (Kapitel, Zwischentitel, Zwei-bzw. Dreiteilung) und einem klaren Bildkonzept: statische Einstellungen, ein, zwei Figuren, meist im Freien mit viel Licht gefilmt, eine Stimmung von impressionistischer Pleinairmalerei. Die Aufmerksamkeit gilt dem Momenthaften und dem Zusammenspiel von Körper und Raum (und Klang). Oft werden Manivels Filme schlicht oder auch minimalistisch genannt, dabei sind sie das nur in Maßen. Sie verzichten einfach auf jedes Getue. Verspielt sind sie durchaus – ganz im Sinne von Spiel und Musikalität, nicht Spielerei. Unbedingt wichtig ist der lakonische Humor, der fast immer ein visueller Humor ist – manchmal kann man entfernt an Tati denken. Am nächsten an die Körperkomik des Stummfilms kommt der in Zusammenarbeit mit dem japanischen Regisseur Igarashi Kohei entstandene La nuit où j’ai nagé (auch bekannt unter dem Titel Takara). Komplett ohne Dialog folgt der Film einem sechsjährigen Jungen, der sich auf dem Schulweg davonstiehlt, mit dem vagen Ziel, den in einer Fischfabrik arbeitenden Vater aufzusuchen. Der bald auf dem Gesäß hängende Schulranzen und der tiefe Schnee machen die Fortbewegung nicht eben leicht. Als Film über kindliche Erfahrungswelten ist La nuit où j’ai nagé entzückend komisch. Die stille Abwesenheit des Vaters und das gegenseitige Verpassen lassen aber auch immer den melancholischen Liebesfilm mitlaufen.
Manivels Spielfilmdebut Un jeune poète (2014) ist die zweite Zusammenarbeit mit Rémi Taffanel, der inzwischen noch ein Stück in die Höhe geschossen ist. Er verkörpert Rémi, einen siebzehnjährigen, sonnenempfindlichen Teenager, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, ein Dichter zu sein. Inspiration sucht er im südfranzösischen Küstenort Sète, es ist Hochsommer, die Straßen sind menschenleer, lähmende Hitze liegt über der Stadt. In die relative Bewegungslosigkeit tritt nun der für jede Eingebung offene, ganz und gar empfangsbereite Dichter. Und es passiert: nicht so viel. Er hat sich wohl mehr erhofft. Wobei sich Rémi bemüht – wenn auch mit den abgenutztesten Ideen von Kreativität. Er läuft mit Notizbuch und Stift durch die Straßen, betrachtet die Natur und mischt sich unter die Einheimischen, er besucht die Bibliothek und blättert auf der Suche nach interessanten Wörtern durch das Dictionnaire, er betrinkt sich mit Wodka, guckt sich eine junge Frau zum Verlieben aus und besucht regelmäßig das Grab des von ihm bewunderten Paul Valéry. Un jeune poète – Manivel erzählt den Film literarisch, in acht, durch Zwischenüberschriften eingeleiteten Kapiteln – ist weniger das Porträt des Künstlers als junger Mann als das Porträt des jungen Mannes als verhinderter Künstler. Denn wenn Rémi so etwas wie eine Begegnung hat, dann vor allem mit seinem Körper, in dem sich das ganze Drama des Erwachsenwerdens manifestiert. Rémis Physis erzeugt eine ganz eigene Choreografie: wie er mit seinen Flipflops durch die Straßen schlappt, hektisch nach brummenden Insekten schlägt (das sind so die Tati-Momente). Wie er seinen langen Körper ungeschickt auf irgendein Mäuerchen hievt oder dynamische Bewegungen regelrecht abdrosselt. Bei aller Vergeblichkeit stößt Un jeune poète in keinem Moment in die Bereiche der Scham oder auch Fremdscham vor, das ganze psychoaktive Theater interessiert Manivel überhaupt nicht. Noch in den abgetretensten Künstlerklischees vermag er eine anrührende Wahrhaftigkeit zu entdecken.
Le parc (2016) ist im Werk des Regisseurs sicherlich der konsequenteste Versuch, das Verhältnis von Körper und Raum in eine kompositorische ‹Ordnung› zu bringen. Der Film richtet den Blick auf die Übergänge zwischen dem Alltäglichen und dem Außergewöhnlichen in einem zwischen suburbanen Wohnhäusern gelegenen Park – und er spielt auf eine leichtfüßige Weise mit den verschiedenen Darstellungs-und Wahrnehmungsformen von Zeit. Ein Junge und ein Mädchen (Maxime Bachellerie und Naomi Vogt-Roby) treffen sich zu einem ersten Rendezvous. Sie gehen ein Stück zusammen, lassen sich nieder, gehen weiter, verweilen erneut, auch ihre Gespräche wechseln zwischen Bewegung und Stocken. Mit jeder Einstellung faltet sich der Raum des Parks weiter auf – der auch ein präzise orchestrierter Klangraum ist. Vor dem punktuell bespielten ‹Bühnenhintergrund› durchmisst das Paar Wege und Seitenwege und sucht bald in den verborgenen Bereichen zwischen Bäumen und Gestrüpp seinen privaten Raum. Die jugendlichen Körper stehen unter Spannung, man spürt die Erwartung, aber auch die Bange vor dem ersten Kuss. Es kommt zu Annäherungen, erst scheu und dann ein wenig entschlossener, nach der Hälfte des Films bleibt das Mädchen alleine im Park zurück, per SMS erfährt sie, dass das, was gerade begonnen hat, auch schon wieder vorbei sein soll. Rund zehn Minuten lässt Manivel Noemi Vogt-Roby im Gras sitzen, während der Tag zu Ende geht und ihr Gesicht nur noch von ihrem Handydisplay beleuchtet wird. Ein geheimnisvoller Nachtfilm beginnt, der einer ganz eigenen Logik von Zeit und Bewegung folgt. Was zunächst wie der Versuch wirkt, eine Enttäuschung zu konzeptualisieren – das Mädchen beginnt stur rückwärts zu gehen, die Zeit buchstäblich zurückzudrehen –, entfaltet mit Auftreten eines komischen Vogels von einem Parkwächter (Sobéré Sessouma) surreale und schließlich fast unheimliche Züge. Der Verlust jugendlicher Unschuld erzählt sich als eine tiefgreifende Metamorphose von Körper und Raum.
Um den Tanz im gebräuchlichen Sinn geht es erst in Les enfants d’Isadora (2019). Manivel arbeitet, auch das ist neu, mit sanften Kamerabewegungen und einem bereits vorhandenen Text: zum einen Isadora Duncans Erinnerungen Ma vie, zum anderen einem visuell nicht dokumentierten Solo, das als Labanotation überliefert ist. La mère ist eine Choreografie als Trauerarbeit. In Form eines rituellen Abschieds versuchte die US-amerikanische Tanzpionierin vom Tod ihrer beiden kleinen Kinder zu erzählen, die bei einem Sturz ihres Autos in die Seine den Tod fanden. Die gewaltigen Dimensionen des Verlusts finden sich in behutsamen, dabei aber durchaus expressiven Gesten nachgezeichnet. Zum berührendsten Moment wird eine wellenförmige Bewegung der Arme (eine Duncan-Signatur). Manivel nun lässt das Solo durch vier sehr verschiedene Körper sprechen, oder vielleicht noch mehr: durch sie hindurchhuschen. Sie gehören einer jungen Tänzerin (Agathe Bonitzer), einer Choreografin (Marika Rizzi) und einer Schauspielerin mit Down-Syndrom (Manon Carpentier). Zuletzt einer älteren Zuschauerin des im zweiten Teil geprobten Stücks, verkörpert wird sie von der «Dame mit dem Hund», der Tänzerin und Choreografin Elsa Wolliaston. Der Tanz verbindet die vier Frauen zu einer imaginären Gemeinschaft von Bewegungen, Gesten und Körpern, seine Motive werden von einer an die nächste weitergereicht. «Ich habe meinen Tanz nicht erfunden, er existierte lange vor mir. Er schlummerte jahrhundertelang und meine Trauer hat ihn aufgeweckt», schrieb Duncan. Auch Manivel benutzt das Solo wie ein Fundstück, das sich mit dem jeweiligen ‹Material› formen und wiederbeleben lässt. Im letzten Teil begleitet er Wolliaston durch einen einsamen Abend, der ganz von der Erinnerung an das Stück durchwirkt ist. In ihrem schweren, leidgezeichneten Körper, der sich in mühevollen Schritten nach Hause schleppt, hallt ihr eigener Verlust nach. Wenn Duncans Gesten schließlich ihren Körper erfassen, bedeutet diese Anverwandlung auch eine Phantomwerdung. Lesenfantsd’Isadoraist vielleicht noch mehr ein Gespensterfilm.
Un jeune poète und Takara sind als französische DVDs erhältlich. Les enfants d’Isadora kann unter dem deutschen Titel Isadoras Kinder über den Streaming-Dienst Kino on Demand gesehen werden