routine pleasures

Dinslaken

Von Birthe Mühlhoff

Gegen Ende des Wonnemonats März entwischte schließlich auch der westlichen Hemisphäre ein Rülpser. Schneller Blick in die Runde, ob grad niemand herschaut, dann pökelte sie sich hinter vorgehaltener Hand reihenweise Expats aus ihren Zahnzwischenräumen. Mehr oder minder eilfertig verließen die Weltenbummler ihre Wahlheimat und kehrten zurück ins Hotel Mama.

Zur Wahrheit gehört auch, dass mein Visum ohnehin bald abgelaufen wäre. Die Aussicht, in den USA womöglich aus Versehen zum illegalen Einwanderer zu werden, fand ich besorgniserregend. Also nichts wie hin zu meinen Eltern: Dinslaken. Die niederrheinische Kleinstadt sowie ihren tristen Negativrekord – hier gibt es die kleinste Trabrennbahn Deutschlands – gebührlich zu beschreiben, fehlt mir hier der Raum. Ich hätte mir jedenfalls nicht träumen lassen, dass meine Kolumne über Kinoerlebnisse in Paris, Florenz, New York und Berlin in Dinslaken Station machen würde.

Unseren Abschied vom Land der aufgehenden Doughnuts feiern mein Freund und ich mit einer Netflix-Doku. Nur wenige Tage später redet das ganze Internet davon: Tiger King. In den USA soll es ungefähr 10 000 Tiger in Privatbesitz geben – in der freien Wildbahn sind es Schätzungen zufolge inzwischen weniger als 4000. Joe Exotic ist einer dieser Hobbyzoobesitzer, außerdem ist er Countrysänger, mit zwei Männern verheiratet – und Präsident wollte er auch werden. Momentan sitzt er allerdings wegen versuchten Auftragsmordes im Gefängnis. Denn er hasst die ebenfalls in Großkatzen vernarrte, ums Tierwohl besorgte Carole Baskin, die aber selbst möglicherweise einen Mord in Auftrag gegeben hat, bis aufs Blut. Das alles ist so irre, dass mein Papa auf dem Sofa sich zunehmend irritiert über die Augenbrauen streicht, während meine Schwestern hysterisch kichern.

Es ist fast zu schön, um wahr zu sein, dass ausgerechnet eine Doku über eingesperrte Großkatzen und deren ebenfalls hinter Gittern sitzende frühere Besitzer einen Großteil meiner Bekannten in der Corona-Quarantäne fesselt. Dass die Doku einhellig auch als Allegorie auf den Präsidentschaftskampf Trump vs. Hillary gelesen wurde, potenziert den Wahnsinn nur. Eine Doku! Als Allegorie! Auf die Realität! Ja da schau an, dieser eine Mensch ist ein bisschen wie dieser andere Mensch! Dieses allegorische Abstraktionsniveau ist nur schwer zu unterbieten, außer vielleicht durch Spielfilme wie DiezweiPäpsteoder DieGetriebenen, in denen allegorische Verfremdung als Möglichkeit, das Reale zu fiktionalisieren, gar nicht erst in Betracht gezogen wird.

Auf der Trabrennbahn von Dinslaken hat man unterdessen ein Autokino eingerichtet. Wir sind leider keine Autokinogänger. In Paris und Berlin und New York braucht man keinen Führerschein, dachte ich immer. g