dokumentarfilm

Etwas reparieren Eins davon ist Deutschland: Über das Werk des Dokumentaristen Hans-Dieter Grabe

Von Matthias Dell

Der Boden, auf dem Hans-Dieter Grabe erzählt, ist nicht sicher. Dafür gibt es mindestens zwei Erklärungen; die eine betrifft die Machart der Filme, die andere ihren Grund. Die eine lautet: Grabe, der in seinen späten Filmen selbst die Kamera führt, ist es egal, wie stabil eine Einstellung ist, wie sorgsam kadriert das Bild. Nicht weil er ein liederlicher Dokumentarist wäre, sondern weil ihm andere Sachen wichtiger sind, das Wort, das Zeugnis. Die andere Erklärung geht so: Das Schaffen des 1937 in Dresden geborenen Grabe ist geprägt durch die Erfahrung von NS-Zeit und Zweitem Weltkrieg, eine Erschütterung, die in den letzten Kriegstagen, dem letzten alliierten Bombardement der Stadt am 17. April, auch das Haus der Familie erreicht. Grabes haben Glück: Nicht nur kehrt der Vater aus der Gefangenschaft zurück an diesem Tag, es findet sich ein paar Straßen weiter auch ein Ersatzquartier.

Wenn sich Grabes jüngster Film, Waffenstillstand – Mein Sommer ’45 in Dresden (2020), der zum 75. Jahrestag des Kriegsendes auf 3sat ausgestrahlt wurde, nun durch diesen Teil Dresdens bewegt, dann wird der Gang auf einer Straße eben aus der Hand gefilmt. Was zu den Bewegungen des Bilds führt, die sich im Werk von Grabe immer wieder finden, auch in zwei seiner wichtigsten Filme: auf dem unruhigen Hospitalschiff Helgoland in Nur leichte Kämpfe im Raum Da Nang (1970) und bei der ratternden Zugfahrt in Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland (1972).

Waffenstillstand ist der vielleicht letzte Film von Grabe, eine autobiografische Miniatur, gerade 35 Minuten lang, die Erinnerungen essayistisch verdichtet. Es wäre ein würdiger Abschluss dieses großen Werks, insofern zugleich auf den Beginn und die Programmatik der eigenen Filmografie verwiesen wird. Ein Epilog, der eigentlich ein Prolog ist, wenn Grabe etwa zum Bild des heute geschmackvoll sanierten Badezimmers in der Ersatzunterkunft schmucklos erzählt: «Toilettenpapier gab es keins, Zeitungen ersetzten es. Vor dem Zerreißen las ich. So erfuhr ich vom Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki – ein einziges Flugzeug mit einer einzigen Bombe konnte eine ganze Stadt zerstören. Wie viele Bombenflugzeuge und Bomben hatte es gebraucht, um aus Dresden eine Trümmerwüste zu machen? Was wäre jetzt wohl mit Deutschland geschehen – ohne Waffenstillstand?»

Aus dem Glück, davongekommen zu sein, hat Grabe eine Verantwortung denen gegenüber abgeleitet, die es nicht so gut hatten mit dem «Waffenstillstand» wie er. Er hat Filme über Kriege gedreht oder besser Filme über das, was Kriege anrichten: in Vietnam, in Ruanda, die Atombomben in Japan. Nur leichte Kämpfe im Raum Da Nang hat nicht zufällig eine Nachricht zum Titel, die sich fürs Kriegsgeschehen aus ferner Perspektive interessiert. Was «leichte Kämpfe» an konkreten Opfern hervorbringen, was sich also hinter der scheinbar beruhigenden Nachricht verbirgt, das bildet der Film in sturer Reihung ab – im Grunde ist Nur leichte Kämpfe im Raum Da Nang geine nicht enden wollende Visite, die der Zuschauerin Bilder von Verletzungen zumutet, die schwer auszuhalten sind. Wobei das Personal nicht von «Verletzungen» spricht, sondern von «zerschossenen» oder «zerstörten» Körpern, was den Eindruck, den der Krieg aufs menschliche Leben macht, präziser beschreibt.

 

© Absolut Medien

 

Das Reden der medizinischen Besatzung auf dem Hospitalschiff fungiert als eine Art relief, weil die Rationalisierungen – oder auch nur: die Aussagen von Menschen, die dafür da sind, an den kaputten Menschen etwas zu reparieren, sie nicht allein zu lassen mit sich – den Taumel beruhigen, den die Wunden verursachen. Gerade weil der Blick des Filmes auf die Zerstörung der Körper weder schockistisch noch exploitativ ist – sie muss nur gezeigt werden, damit die Welt sie sehen kann. Grabe ist in diesem Sinne ein empathischer Protokollant des Grauens, der noch da bilanziert, wo man lieber verdrängen wollte. Die Nüchternheit des Hingucken-Müssens findet sich auch in dem Gustav Heinemann-Portrait Es gibt schwierige Vaterländer, eins davon ist Deutschland (1970). Der Film begleitet den Bundespräsidenten auf Auslandsreisen in Nachbarländer, die das Deutschland, aus dem nun ein demütiger Repräsentant kommt, eine Generation zuvor überfallen und ausgeraubt hat, deren Bewohner verschleppt und ermordet wurden. Deshalb stoppt das Bild von Amsterdam, Kopenhagen oder Oslo immer wieder, um in Zwischenschnitten zu beziffern (Getötete, Ermordete, Zwangsarbeiter), wie groß die Schuld ist, die Deutsche auf sich geladen haben.

Nur leichte Kämpfe im Raum Da Nang war nicht der erste Film, für den Grabe an Bord der Helgoland gedreht hat (Die‹Helgoland›  in Vietnam, 1966) – und es ist nicht der letzte geblieben, für den ihn dort angetroffene Figuren interessiert haben. Der Filmemacher ist einem der auf dem Schiff versorgten Kinder gefolgt – in vielen Beobachtungen, bis zum schmerzlich-frühen Lebensende mit 35 Jahren (Do Sanh– Der letzte Film, 1998). Und er hat einen der Ärzte immer wieder getroffen bis ans Ende der Zeit als festangestellter ZDF-Redakteur (Diese Bilder verfolgen mich – Dr. med Alfred Jahn, 2002).

Dass Bilder vom Grauen auch das Fachpersonal auf der Helgoland nicht loslassen werden, ist bereits in den kurzen Reflexionen der Krankenpflegekräfte in Nur leichte Kämpfe im Raum Da Nang zu vernehmen. Für Grabes Dokumentarismus leitet sich daraus ein zweites zentrales Merkmal ab – es geht ihm neben dem Hingucken ums Zuhören. Das schreckliche Bild, das Trauma, kann sich nur auflösen durch das Wort, durch Erzählung und Bericht. Insofern findet sich am Beginn von Das Wunder von Lengede oder Ich wünsch’  keinem, was wir mitgemacht haben (1979) eine auktoriale Setzung, die für den zurückhaltenden Grabe bemerkenswert ist, wenn die Gespräche mit den Überlebenden des Grubenunglücks 15 Jahre danach anmoderiert werden mit dem Off-Text: «Was sich dort unten abspielte, darüber zu sprechen, waren einige der Geretteten erst nach langem Zögern bereit. Sie glaubten, durch Schweigen das Geschehene vergessen zu können und so Ruhe zu finden. Ihnen war nicht bewusst, dass sie sich selbst am besten helfen, wenn sie das Erlebte erzählen und dass sie eigentlich auf jemanden warten, der sie ernstnimmt und ihnen zuhört.»

Mit anderen Worten: auf Hans-Dieter Grabe. Der interessiert sich bei Lengede am wenigsten für das «Wunder», das sich pathetisch vereventzweiteilern lässt bis zum Happy End als bundesrepublikanische Kalenderblatterinnerung, sondern schafft ein Gefühl für die seelischen und körperlichen Belastungen, mit denen die elf Geretteten weiterleben mussten. Der Untertitel des Films ist der letzte, unter Tränen geäußerte Satz im Film, der auch nur gesagt wird, um sich gegen den Neid der Nachbarn zu wappnen, in deren Vorstellung jeder Reporterbesuch mit üppigen Honorarzahlungen verbunden ist. Im Spiegel dieser Botschaften, die mit einer Medienkritik verbunden sind (wie Auskünfte gepimpt, verfälscht oder gleich erfunden werden), wird wiederum der Zuhörer Grabe sichtbar – der Jemand, dem die Leute trotz ihrer schlechten Erfahrungen mit Kameras die Tür öffnen und den sie für so integer halten, auch diese Erfahrungen bei ihm richtig aufgehoben zu wissen.

Der Film, in dem die Arbeit am Trauma am sichtbarsten wird, ist freilich Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland. Grabe fährt Zug mit einem Holocaust-Überlebenden von Oslo nach München, weil Schainfeld dort zu einer ärztlichen Untersuchung muss, in der Hoffnung, bescheinigt zu kriegen, dass seine Belastungen groß genug sind, um eine höhere Rente zu erhalten – als Ausgleich für die Arbeit, die er wegen der unbewältigten KZ-Zeit unfähig zu leisten ist. Der dreiviertelstündige Film ist ein einzigartiges Dokument: ein poröser Körper, ganz Stimme, in dem eine Schuld mit sich ringt, die doch die Leute empfinden müssten, die in der sonnenbeschienenen Landschaft hinter dem Fenster des Zugabteils leben; dass er sich fast entschuldigt dafür, nicht das Deutschland erlebt zu haben, von dem sein Vater ihm vorgeschwärmt hat; dass er leidet am Umstand, einem Toten im KZ das Brot genommen zu haben oder an der Tatsache, für die Sowjets nach Kriegsende nur ungenau übersetzt haben zu können (der Unterschied zwischen «Kriminal-» und «Geheimpolizei»), trotz all der Geschichten, mit denen sich Deutsche nach 1945 auf ‹Mitläufer› geschminkt haben, und der Bereitschaft der Siegermacht, Schuldige zu identifizieren. Selbst dafür, keinen Hass zu empfinden auf seine Peiniger, entschuldigt sich Schainfeld noch, auch wenn ihm das vielleicht ein Wohlgefühl verschaffen könnte: «Aber ich schaffe es leider nicht.»

Nicht nur in Bezug auf die deutsche NS-Geschichte kommen bei Grabe bereits vor Claude Lanzmanns Shoah Opfer zu Wort. 1994 wendet er sich mit Er nannte sich Hohenstein – Aus dem Tagebuch eines deutschen Amtskommissars im besetzten Polen 1940–1942  ausnahmsweise einer Tätergeschichte zu – einem Mann, der sich in seinen Aufzeichnungen selbst als Opfer sieht, was ein dominantes deutsches Nachkriegsnarrativ konkretisiert («Ich bin’s nicht, Adolf Hitler ist’s gewesen»). In diesem Film, der durch einen Epilog («Drei Frauen aus Poddembice») noch einmal kommentiert wird, ist der ausgestellte Ekel des Funktionärs («Ich war erschrocken über diese geradezu lächerliche Übertreibung der These vom deutschen Herrenmenschen») immer nur wenige Schnitte von der eigenen Korruption entfernt («Die Apothekervilla hat’s mir angetan, wenn ich sie der Gendarmerie aus den Fingern reißen könnte, würde ich’s mit Freuden tun»). So bekommt man einen ziemlich genauen Eindruck davon, was sich an Opportunismus und Feigheit, Privilegiertheit und Überheblichkeit hinter einem entlastend wirkenden Begriff wie ‹Mitläufer› verbirgt.

Er nannte sich Hohenstein ist zudem ein Film, der vorführt, wie klug die ästhetischen Mittel beim Fernsehmann Grabe gewählt sind. Der Filmemacher bereist die Schauplätze der Erzählung und verschafft allein durch den geschickten Wechsel zwischen Schwarzweiß-und Farbbildern der Geschichte Auslauf aus dem Gatter scheinbar abgeschlossener Ereignisse, wenn sich, im in Farbe gedrehten Heute, plötzlich eine Schultür öffnet und verdutzte Kinder in die Kamera gucken – in einem Gebäude, das in den Aufzeichnungen einen anderen Zweck hatte. Oder wenn der Film mit Blick auf den Kirchturm einer Szene nachspürt, in der Juden am Galgen aufgeknüpft wurden – das Farbwerden des Bildes, das Sich-in-Bewegung-setzen der Kamera fungiert als Interlude der Bewusstwerdung dessen, was hier an Verbrechen geschehen ist.

Es ist interessant, dass für Hans-Dieter Grabe «Bescheidenheit» ein wichtiges Kriterium bei der Wahl seiner Protagonisten war. Das erklärt einerseits, wieso die Arbeit über den so merkwürdig koketten Jürgen Böttcher, den Kommilitonen von der Babelsberger Filmhochschule (Gebrochene Glut, 2001), zu den schwächeren gehört. Und warum Grabe andererseits auf eine Figur wie Ludwig Gehm stoßen konnte (Ludwig Gehm– ein Deutscher Widerstandskämpfer, 1983), einen Antifaschisten aus der Arbeiterbewegung, der nach der Machtergreifung der Nazis 1933 mit seiner Gruppe ungemein originelle Aktionen (allein diese Aufzählung von «Pranks» sollte als Lehrmaterial für Schulklassen dienen) durchführte – aus rein kommunikativen Gründen: um anderen NS-Opponenten Mut mitzuteilen und Verbundenheit. Gehm, der Folter in 77 Verhören überlebte, ohne Mitstreiter zu verraten, der nach 1945 schnell realisiert, dass seine Geschichte als KZ-Häftling und Regimegegner niemand hören will. Und der sich am Ende des Gesprächs dagegen verwehrt, zum Helden gemacht zu werden: «Ich war einer von vielen, mehr nicht, und mehr möchte ich auch nicht sein.»

So besteht ein nicht geringes Verdienst von Hans-Dieter Grabes Werk darin, Geschichten über Figuren aufbewahrt zu haben, die nicht durch Prominenz legitimiert waren. «Es gab für meine Arbeit keine Bezeichnung», sagt der Dokumentarist über die Bedingungen, die er sich beim ZDF40 Jahre lang geschaffen hatte. Den Platz als Fernsehredakteur, den Grabe nutzen konnte, um seine Art von Filmen dem System abzutrotzen, hat er sich gesucht – nachdem klar war, dass er in der DDRnicht ähnlich frei würde arbeiten können an den Dingen, die ihn interessierten, weil für seinen Jahrgang nur ein Platz im Dokumentarfilmstudio der DEFA vorgesehen war (für Jürgen Böttcher, der anders als Grabe auch Parteimitglied war).

Die Stellung, die Grabe dadurch innehatte beim ZDF, von dessen Gründung an, hat außerdem ein hübsches Spätwerk ermöglicht (seit GeschichtenvomEssen, 2008): kleine, persönlichere Porträts, in denen «ich» gesagt wird, Filme über den eigenbrötlerischen Nachbarn Raimund (Raimund– einJahr davor, 2014) oder den nicht weniger individualistischen Bauern, bei dem Grabe Urlaub machte (Anton und ich, 2017). Oder eben die Reise in die Kindheit im Weltkrieg in Dresden, mit der alles beginnt.

 

Bei Absolut Medien ist in der Reihe Die großen Dokumentaristen eine Box mit 13 Filmen zwischen 1970 und 2008 auf 5 DVDs sowie eine Doppel-DVD mit 9 Filmen unter dem Reihentitel Lebenserfahrungen erschienen. Waffenstillstand – Mein Sommer 45 in Dresden ist in der Mediathek noch abrufbar