experimentalfilm

Dekaden des Lichts Die Zähigkeit und Materialität von 16 mm: Fünfzig Jahre Canyon Cinema

Von Michael Sicinski

My Name is Oona (1969)

© Gunvor Nelson | courtesy of Canyon Cinema

 

Vor ein paar Wochen ist mein 16 mm-Projektor kaputtgegangen. Etwas mit dem Motor. Das Gerät konnte zwar zurückspulen, aber vorwärts durch den Apparat bewegte sich der Film nicht mehr – und wenn ein Film vor der Lampe stillsteht, dann brennt er schnell durch. Genaus das passierte denn auch mit einem Film, den ich mir für diesen Artikel ansehen wollte: Saul Levines abstrakter Light Licks: Amen. (Zum Glück wurde nur ein einziges Bild, noch dazu aus dem Startband, beschädigt. Glück im Unglück.) Ich muss nicht betonen, dass es in ganz Texas keinen Laden mehr gibt, der einen 16 mm-Projektor reparieren könnte. So muss meiner wohl auf den Müll und ich muss mir einen neuen (gebrauchten) besorgen.

Das ist die Sorte Szenario, mit der der bevorstehende Tod von 16 mm, oder von Zelluloid überhaupt, gerechtfertigt wird: Es handle sich um eine zu komplizierte, unberechenbare, noch im 19. Jahrhundert gefangene Maschine. Höchste Zeit, digital zu werden, heißt es dann. In Wahrheit ist die Zähigkeit und Materialität des Mediums – die Tatsache, dass es in Gefahr war und ich es durch das Bedienen eines einzigen Schalters retten konnte – ganz einzigartig, so einzigartig wie der unerreichte Reichtum und die Textur des projizierten Lichts, das Korn und die Farbe, denen sich digitale Medien annähern können, ohne sie doch je zu erreichen. Ja, es gibt da ein Moment der Nostalgie in der Liebe zum Klacken und Rattern des Projektors, dem raschen Auf und Zu der von Hand bedienten Blende, des Knallens und Klopfens am Klangkopf. Vor allem aber ist es das Bild, die Art, wie Überblendungen auf 16 mm wirkliche Tiefe besitzen, wie unterschiedliche Schattierungen von Schwarz die eine neben der anderen sichtbar sein können und wie der Strahl des Projektors reale Skulpturen von Bildern entwirft, über unsere Köpfe hinweg, auf die aufnahmebereite Leinwand.

In diesem Jahr feiert Canyon Cinema aus San Francisco seinen fünfzigsten Geburtstag, eine der wichtigsten Verleihfirmen für den Experimentalfilm weltweit. Meistens verleihen sie 16 mm-Kopien, aber ein paar Super-8 und reguläre 8mm-Filme haben sie durchaus auch im Programm. Canyon (und das Ostküstengegenstück, die Film-Makers Co-op) haben das Weiterleben eines Kinos der Künstler*innen möglich gemacht: Sie unterstützen das physische Medium Film, seine Archivierung, seine Förderung und den Vertrieb. Es gibt eine wunderbare Sammlung von Interviews und Dokumenten zur Geschichte der Organisation, zusammengestellt vom Filmwissenschaftler Scott MacDonald (Canyon Cinema. The Life and Times of an Independent Film Distributor, 2008). Vor allem aber erzählt Canyon im Moment seine eigene Geschichte mit den Mitteln des Films.

Die Canyon 50-Tour, zusammengestellt vom Filmemacher/Kurator David Dinnell, ist ein vierteiliges Paket von Arbeiten aus dem Canyon-Programm. Sie umspannen fast sechzig Jahre, vom 1958 entstandenen WhatisaMan der Avantgarde-Pionierin Sara Kathryn Arledge, bis zum schon erwähnten Film von Levine. Insgesamt umfasst die Serie 43 Filme, darunter vertraute Klassiker des Experimentalkanons wie Bruce Baillies Valentin de las Sierras (1968) und Gunvor Nelsons My Name is Oona (1969), aber auch Sachen aus den hinteren Winkeln des Katalogs, die die erneute Betrachtung wirklich verdienen.

Einer dieser Filme ist Saving the Proof von Karen Holmes (1979). Der Film ist eine Art kinematischer Antwort auf Michael Snows «Walking Woman»-Gemälde, eine faszinierende Anwendung strukturalistischer Techniken auf eine Reihe expressionistischer Gesten. Holmes zeigt Silhouetten von Frauen, die unterschiedliche Gegenstände und Szenen passieren, mit jeweils unterschiedlichem Gang. Zuletzt aber werden die Frauen reine Bewegung und Form, begleitet von abstrakt kontrapunktischen Klängen. Holmes Film ist damit durchaus recht nahe an der avancierten Videokunst ihrer Zeit. In nicht ganz unähnlicher Weise lässt bei Jean Sousas Swish (1982) Michael Snows <−−−> (1969) grüßen: Close-Up-Reiß-Schwenks, die das Filmbild in die Abstraktion überführen. Wenn die Kamera sich nach und nach verlangsamt und andere Richtungen einschlägt, wird sichtbar, dass der Film eine Studie des weiblichen Körpers ist, nah an der Malerei dank der ‹Pinselstriche› der beweglichen Linse.

Dinnells Auswahl ist bemerkenswert auch deshalb, weil er die Canyon-Filme der 80er und frühen 90er Jahre nicht vergisst, aus einer Zeit also, die als eher schwache Periode in der Geschichte des Experimentalfilms (oder des Films überhaupt) gilt, in Wahrheit aber eine Reihe von Schlüsselfiguren der Kunstform hervorgebracht hat. Michael Wallins Decodings aus dem Jahr 1988 sieht oberflächlich erst mal so aus wie Bruce Conners melancholische Found-Footage-Produktionen, aber Valse Triste und Take the 5:10 to Dreamland stellen dessen Filmsprache auf den Kopf. Wallin geht es um die schwierigen Beziehungen zwischen Müttern und Söhnen. Der Subtext – die Verortung der eigenen Homosexualität in Auseinandersetzung mit einer feindlichen Umwelt – wird dabei nie explizit, das ist gar nicht nötig. Decodingsist ein Meisterwerk, das sich Schritt für Schritt ins Bewusstsein des Betrachters einsenkt.

Auch Abigail Childs Mercy manipuliert unsere Wahrnehmung des Alltäglichen. Der Film besteht vor allem aus kurzen Einstellungen von Frauen, die sich entweder ganz normal durch die Stadt bewegen oder dabei ihre Körper in merkwürdige Positionen drehen und wenden. Zu einem Sound der John Zorn-Mitstreiter Zeena Parkins und Elliott Sharp fragmentiert Mercy Raum und Sprache und lenkt unsere Aufmerksamkeit auf das Gestische und auf kleinste gutturale Phoneme. Der Film ist dicht, funky und vor allem sehr komisch.

 

Degrees of Limitation (1982)

© Scott Stark | courtesy of Canyon Cinema

 

Scott Starks Degrees of Limitation aus dem Jahr 1982 ist ein wahrer San Francisco-Film. Man sieht den Künstler, wie er von hinter der Kamera einen Hügel hinaufläuft. Aber in jeder Einstellung hält der Film an, wenn sich Stark eine bestimmte Distanz von der Kamera entfernt hat. So ist Stark jedes Mal ein Stück weiter weg vom Filmapparat, eine komische Variation auf den strukturellen Film. Mit jeder Umdrehung der Kamera ist Stark stärker erschöpft und es wird einem bewusst, dass der Künstler seine eigenen konzeptuellen Ressourcen zusehends aufbraucht. Ein starkes Stück von einem unterschätzten Filmemacher.

Canyon 50 enthält auch Beispiele von Arbeiten vieler der aktuell interessantesten Künstler, darunter Jodie Mack, Tomonari Nishikawa, Stephanie Barber, David Gatten und Christopher Harris. Diese jüngeren Filme im Kontext der umfassenderen Filmgeschichte zu sehen, belegt nicht nur ihre Vitalität, sondern auch, dass sie ihren Ort in einem Kontinuum der nichtnarrativen Exploration haben, das sich über die Jahrzehnte seine Kraft und Energie bewahrt hat.

So ist, nur zum Beispiel, Jodie Macks Film Point de Gaze (2012) ein Schnellfeuer-Sampling diverser Lagen von Spitze, in extremen Close-Ups gefilmt. Der Effekt ist schwindelerregend, aber zugleich strukturell zutreffend, denn er zeigt einige fundamentale Gemeinsamkeiten in Kette und Schuss dieser einzigartigen Muster. Mack bezieht sich auf frühere Modelle des Flicker-Films (Paul Sharits, Tony Conrad), aber auch auf jene Filme, die Sinn und Bedeutung durch extreme Montage an Grenzen treiben, etwa Childs Mercy. Ein nicht offensichtlicher Vergleich wie zwischen diesen beiden Filmen ist dem breiten Feld des in Canyon 50 Zusammengestellten zu verdanken.

Ein weiteres Beispiel ist Christopher Harris’ 28.IV.81 (Bedouin Spark) aus dem Jahr 2009. Harris benutzt die silbrigen Reflektionen eines Kinderhandys, um farbgedämpfte Muster von Schatten und Glitzern zu erzeugen. Der Film wahrt seine repräsentationalen Qualitäten, auch wenn er in Richtung Abstraktion schreitet und gleitet, und in dieser Hinsicht hat er manches gemeinsam mit den früheren Filmen von Holmes und Sousa. In ähnlicher Weise nutzt Tomonari Nishikawas Market Street (2005) gekippte Blickwinkel und Überblendungen in der Kamera, um die Bewegung der Kamera die titelgebende Straße hinunter in eine komplexe geometrische Studie zu verwandeln. Obwohl Nishikawa Strukturalisten wie Ken Jacobs und Ernie Gehr eine Menge verdankt, lassen sich auch Korrespondenzen zwischen seinen Filmen und denen von Pat O’Neill erkennen, dessen Down Wind (1973) auf ähnliche Weise (Stadt-)Landschaften aus subtil kubistischer Perspektive in den Blick nimmt.

Nun bereitet das Finden von Korrespondenzen und Affinitäten zwischen Filmen immer Vergnügen. Es gibt aber auch die Werke, die einfach nur herausragend sind. Weil sie trockenen Witz besitzen, clever oder auch nur sehr merkwürdig sind. Dies sind die wahrhaft bizarren, ganz und gar einzigartigen Arbeiten, die, jede auf ihr Art, die Avantgarde in ihrer unberechenbaren Verweigerung der Assimilierung je anders definieren. Was, nur zum Beispiel, soll man von Standish Lawders Catfilm for Katy and Cynnie (1973) halten, einer albernen formalistischen Übung, bei der der Filmemacher die Herrschaft über das Bild einer Herde reizender Kätzchen überlässt, im Namen familialer Zärtlichkeit, wenn auch auf Kosten der ästhetischen Strenge?

Oder der Semi-Strukturalist Gary Beydler aus L. A., dessen Hand Held Day (1975) genau eine Einstellung braucht, um die südkalifornische Landschaft in eine Taschenversion von Robert Smithsons klassischen Displacements zu verwandeln. Und dann Greta Sinders Portland (1996), eine fragmentierte Erzählung, die auf den Erinnerungen einer Gruppe von Punks und Indie-Typen basiert. Sie beschreiben einen fatalen Trip nach Porland Oregon, bei dem sie ziemlich auf die Nase geflogen sind. Die Moral der Geschichte? Geh nie nach Portland zurück!

Der seltsamste Film im ganzen Programm, und wahrscheinlich der beste, ist Associations (1975) vom britischen Scherzbold John Smith. Associationshat eine oberflächliche Ähnlichkeit mit dem Werk von Hollis Frampton und den radikalen 70er-Jahre-Filmen Godards. Der Film kombiniert Found Footage und gesprochenen Text auf immer irritierender kontrapunktische Weise. Es geht in letzter Instanz um linguistische Verständlichkeit, das Auseinanderfallen von Wörtern in Phoneme – winzige Bedeutungskrümel stoßen gegen visuelle Informationen, die die Tonspur verwirren oder erhellen, und vice versa. Filme wie Associations, Portland, Hand Held Day und Catfilm sind voller Humor, sonst nicht unbedingt eine hervorstechende Eigenschaft in den Kreisen des Experimentalfilms. Dinnell scheint diesen Humor freilich zu schätzen, zum Glück.

Nicht alles in Dinnells Auswahl ist exzellent. Es gibt, will mir scheinen, einige Arbeiten, die ihre Aufnahme in die Serie weniger ihren Qualitäten als dem Wunsch nach der Repräsentation ihrer Macher verdanken. Manche von ihnen, Thad Povey und Mark Toscano, sind zentrale Mitglieder der Experimentalfilm-Community. Andere Arbeiten sind nicht unbedingt die besten Repräsentanten des Werks ihrer Macher. In der Regel mag ich Lawrence Jordan, aber Duo Concertantes (1964) ist ein schwacher Film. David Gattens Shrimp Boat Log hätte man besser durch einen der What the Water Said-Filme ersetzt. Und nichts gegen Cauleen Smith und Robert Breer, aber eine schmalere Auswahl aus ihrem Werk hätte gereicht.

Andere fehlen verblüffenderweise, aber das ist nicht weiter wichtig. Dergleichen ist beim Kuratieren immer der Fall, letztlich geht es oft nur um mikroskopische Geschmacksunterschiede, und Dinnells Geschmack ist außergewöhnlich. Zu sagen, dass ich oder irgendwer sonst eine andere Auswahl getroffen hätte, ist zum einen offensichtlich, zum anderen respektlos gegenüber Dinnells harter Arbeit. Die versammelten Arbeiten belegen, dass es vor allem um die Wiederbelebung zuwenig beachteter Filme und den Fokus auf unterrepräsentierte Filmemacher ging, und darum, die Vielfalt der Canyon-Filme vor Augen zu führen. Ich war sehr überrascht, dass Diane Kitchens grandiose Naturstudie Wot the Ancient Sod (2002) fehlt – nur um festzustellen, dass der Film sich gar nicht mehr in der Canyon-Collection befindet.

Ich hoffe, dass meine unsystematische Übersicht zeigen kann, dass Canyon 50 eine umfassende und lebendige, vorwärtsblickende und vorwärtsdenkende Retrospektive ist. Alle paar Jahre erklärt jemand die Avantgarde (oder Film überhaupt) für «tot». Ja, es war schon einfacher, mit Zelluloid zu arbeiten, wenngleich niemals wirklich einfach. Aber Canyon 50 ist das perfekte Beispiel dafür, wie das Alte und das Neue, Tradition und Innovation sich gegenseitig befruchten können. Und ich besorge mir einen neuen Projektor, da ich ganz sicher bin, dass gerade irgendwo irgendwer etwas Aufregendes produziert, das ich darin einfädeln kann.