berlinale 2018

Residuen der Vergangenheit Zu dokumentarischen Arbeiten über das Gestern im Heute

Von Cristina Nord

Waldheims Walzer

© Ruth Beckermann Filmproduktion

 

Der Ärger beginnt mit der Bezeichnung. Ein Archipel im Südatlantik, bewohnt von Schafen, Vögeln und weniger als 3500 Menschen. 1982 war er Schauplatz eines Krieges zwischen Argentinien und Großbritannien. Er dauerte drei Monate, knapp 1000 Soldaten kamen dabei ums Leben. Die Niederlage Argentiniens trug dazu bei, dass die Militärjunta von General Vileda ein Jahr später ein Ende fand. Obwohl die Waffen seit mehr als 35 Jahren schweigen, bleibt der Groll, was sich zum Beispiel daran zeigt, wie sehr die Argentinier auf dem Namen «Islas Malvinas» und die Briten auf «Falkland Islands» beharren.

Die Regisseurin und Dramatikerin Lola Arias – bisher vor allem für ihre Theaterarbeit bekannt – hat Veteranen aus Großbritannien und Argentinien nach Buenos Aires eingeladen, damit sie gemeinsam ein Stück über den Krieg und dessen Nachwirken einstudieren. Flankierend zur Inszenierung ist ihr erster Langfilm entstanden, Teatrodeguerra, eine von mehreren Arbeiten im Programm des Berlinale-Forums, die sich mit zeitgeschichtlichen Ereignissen auseinandersetzten. Das ist für sich genommen nichts Besonderes; besonders war in diesem Jahr, dass das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart eine neue Qualität angenommen hat. Denn deutlicher als noch vor drei Jahren trägt die Gegenwart die Residuen der Vergangenheit in sich, schließt sie überkommen Geglaubtes ein. Identitäre Bewegungen und politische Parteien berufen sich heute viel affirmativer auf ein angeblich besseres Gestern, als sie es noch vor kurzem gewagt hätten. Filme wie Ruth Beckermanns Waldheims Walzer, Gerd Kroskes SPK Komplex, Sergei Loznitsas Den’ Pobedy oder eben Lola Arias’ Teatrode guerra treten dieser Verklärung entgegen, so unterschiedlich sie in der Wahl ihrer Mittel auch sein mögen.

Teatrode guerra arbeitet mit Reenactments und ausgetüftelten Settings; gleich die erste Szene – die Männer beziehen in einem Abbruchhaus Position wie auf einer Bühne, aber auch wie in einer Gefechtssituation – zeigt, in welche Richtung sich der Film bewegt. Die in dieser Szene evozierte Kampfhandlung wird im weiteren Verlauf immer wieder aufgerufen, variiert und durchgespielt. In einer anderen Szene stehen die Akteure in Badehosen an einem Pool; einer der Argentinier springt ins Wasser, man sieht ihn nicht, hört aber, wie er um sich schlägt und in Not zu sein scheint; die anderen retten ihn, danach erzählt er, wie er, obwohl er nicht schwimmen konnte, eines Tages, lange nach dem Krieg, beim Feiern betrunken und voller Lebensüberdruss in einen See hineinsprang. Seine Freunde zogen ihn aus dem Wasser, danach, sagt er, lernte er schwimmen – in eben dem Pool, an dem die Männer nun stehen.

Was ist hier gespielt, was ist eigene Geschichte, was ist gespielte eigene Geschichte? Lola Arias entscheidet sich dafür, die persönlichen Erlebnisse in einen artifiziellen Rahmen zu überführen: der bietet Schutz. Zugleich wird deutlich, dass das Verlangen nach einem Abschluss, nach einem Fertigwerden mit der Geschichte illusorisch bleibt. So sehr man sich beim Zuschauen über die versöhnlichen Begegnungen zwischen Briten und Argentiniern freut (etwa wenn die Männer neugierig ihre Tätowierungen vergleichen), so schnell kommt das Harmoniebedürfnis an eine Grenze, etwa wenn sie – zwar gemeinsam, aber doch sehr aggressiv – ein Punk-Rock-Stück performen, in dem sie wütend ihre Kriegserfahrungen herausschreien.

Während für Arias’ Film das Wechselspiel aus Improvisation, Rolle, Inszenierung und Reenactment prägend ist, schaut Loznitsa in Den’ Pobedy vor allem hin. Selbstredend tut er dies in sorgsam kadrierten Bildern und nicht minder sorgsam arrangierten Montagen. Wer Maidan oder Austerlitz gesehen hat, weiß, wie gut Loznitsa Menschenansammlungen beobachten und ins Bild setzen kann – und dass diese Beobachtung, so zurückhaltend sie scheint, zum Geschichtsnihilismus neigen kann. Den’ Pobedy entstand am 9. Mai 2017 am Sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow. Menschen aus Deutschland und Russland kommen hier zusammen, um den Sieg der Sowjetunion über Nazi-Deutschland zu zelebrieren. Diese Feier hat in Den’ Pobedy Elemente von Folklore und Familienausflug, zugleich bietet sie Raum zum Ausagieren von Verschwörungstheorien, und auch diejenigen, die sich Russland in den Grenzen der Sowjetunion zurückwünschen, artikulieren diesen Anspruch mit Parolen und Gesang. In der Summe ergibt dies einen Karneval der Zeichen: militärische Orden neben Dead-Kennedy- und Slime-Aufnähern, Putin-Konterfeis, erstaunlich viel schwarzes Leder, Biker-Monturen, khakifarbene Uniformen, dazwischen montiert Aufnahmen der Denkmäler und der Friese mit ihren monumentalisierenden Darstellungen von Heldentum und Leid.

Was Loznitsa interessiert, ist die Ritualisierung von Erinnerung, das, was geschieht, sobald der konkrete, offene, widersprüchliche historische Moment erstarrt ist und in der Folge überformt wird von den Wünschen, die die Gegenwart an die Vergangenheit stellt. Für die Akteure in Den’ Pobedy hat die Geschichte nichts Beunruhigendes mehr, sie bietet ihnen Grund zu Stolz und Selbstbewusstsein. Für den Film selbst ist genau dies das Beunruhigende: die Unverfrorenheit, mit der die Männer und Frauen am Ehrenmal für sich in Anspruch nehmen, mit der Geschichte fertig geworden zu sein.

Gerd Kroske arbeitet sich nicht an einem ritualisierten, sondern an einem fast vergessenen Stück Geschichte ab: Mit SPK Komplex erinnert er an das Sozialistische Patientenkollektiv aus Heidelberg, das, geboren aus der Not, die die Psychiatrie der 60er und frühen 70er Jaher produzierte, Menschen mit psychischen Problemen eine Anlaufstelle bot und dabei das individuelle Leid vor allem als gesellschaftlich produziertes begriff. Der Universität und den Behörden war das Kollektiv rasch ein Dorn im Auge, es wurde observiert und kriminalisiert, Wolfgang Huber, Mediziner und treibende Kraft, wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, und er verlor die Approbation. Im Gegenzug radikalisierten sich die Mitglieder, einige von ihnen schlossen sich später tatsächlich der RAF an.

SPK Komplex ist ein reicher Film, und ein Teil dieses Reichtums verdankt sich Kroskes Entscheidung, auf Einordnungen der Menschen, die vor der Kamera stehen, zu verzichten. Ob es ein ehemaliger Polizei-Kommissar, ein Patient, ein RAF-Mitglied oder eine Rechtsanwältin ist, muss man sich selbst erschließen. Man weiß nicht von vornherein, wie man das, was man sieht und hört, werten kann, man konzentriert sich deshalb stärker als sonst auf Gestik und Mimik, auf Pausen, argumentative Finten und Ausweichmanöver. Dass Kroske darauf besonders viel Aufmerksamkeit verwendet, ist eine wunderbare Strategie, um die Offenheit des historischen Augenblicks nachvollziehbar zu machen.

Ruth Beckermann schließlich begibt sich zurück ins Jahr 1986: das Jahr, in dem Kurt Waldheim, in den 70er- Jahren UN-Generalsekretär, für das Amt des österreichischen Bundespräsidenten kandidierte. Während des Wahlkampfs wurde bekannt, dass der Politiker seit 1938 SA-Mitglied war und viel mehr Zeit an der Front verbrachte, als er bis dato öffentlich eingeräumt hatte. In Kriegsverbrechen und Deportationen war er wenn nicht direkt verwickelt, so doch mindestens ihr Zeuge. Mit der Diskussion um die Vergangenheit Waldheims kam in Österreich die Grundannahme, man sei das erste Opfer der Nationalsozialisten gewesen, ins Wanken.

Ruth Beckermann befand sich damals in einer Zwischenposition: Einerseits dokumentierte sie als junge Filmemacherin die Proteste gegen die Kandidatur von Waldheim, zugleich war sie als Aktivistin Teil dieser Proteste. Mit Videobildern von erregten Straßendiskussionen, die sie selbst in Wien gedreht hat, eröffnet der Film, klug montierte Aufnahmen aus Fernseharchiven verdichten sich nach und nach zum Bild eines nicht auflösbaren Konflikts: auf der einen Seite der unbedingte Glaube an die Unbescholtenheit des Kandidaten, die gespenstische Beteuerung von Anstand im Angesicht einer immer offenkundigeren Lüge, auf der anderen der Wunsch nach Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Annahme von Verantwortung. «Vielleicht ist es kein Zufall», sagt Ruth Beckermann am Anfang aus dem Off über die Schwarzweißbilder, die in ihrem eigenen Archiv verschollen waren, «dass dieses Material heute aufgetaucht ist.» Damit hat sie ohne Frage recht, denn wenn man Waldheim zuhört, wie er von einer Verleumdungskampagne gegen ihn spricht, oder ÖVP-Politiker sieht, die von einer jüdischen Verschwörung schwadronieren, kommt man nicht umhin, an das Reden der Rechten in der Gegenwart zu denken.