berlinale 2018

Was von der Berlinale 2018 bleibt

Von Ekkehard Knörer, Bert Rebhandl und Simon Rothöhler

An Elephant Is Sitting Still ( Hu Bo)  Eine Begebenheit unter jungen Leuten aus der nordostchinesischen Provinz. Bei einer Rangelei stößt Weibu einen Jungen aus seiner Klasse eine Treppe hinunter – mit (vielleicht) tödlichen Folgen. Er muss abhauen, der Bruder des Schwerverletzten hinterher, es gibt aber noch eine Menge zu erledigen an einem langen Tag auf den Wegen durch die Stadt. Mit einer extrem involvierten Kamera und starken visuellen Gewichtungen (viele wichtige Dinge bleiben in der Unschärfe oder ganz außerhalb des Bilds) setzt Hu Bo in seinem ersten und einzigen (und gleich großen) Film auf eine klassische Dramaturgie der Durchquerung. Die Wohnsilos der neuen (unteren) Mittelschicht in China erweisen sich als Zellen, in denen desolate Familien den Ausbruch ihrer Kinder provozieren. reb

Ang Panahon ng Halimaw (Lav Diaz)  Finstere, sehr finstere Zeiten. Die Philippinen unter Ferdinand Marcos. Zivilisten werden bewaffnet, in Uniformen gesteckt und ziehen über die Dörfer, vergewaltigen, morden, entführen. Ein Historienfilm in schwarzweiß, der nach und nach alle Schlingen zuzieht. Ähnlichkeiten zur Gegenwart der Philippinen unter Duterte sind kein Zufall. Die langen Einstellungen, tableaux vivants, Asymmetrien, Schatten, Nebel und Licht: All das ist aus dem Werk von Lav Diaz vertraut. Der Gesang ist es nicht. «Rock Oper», sagt er selber. In fast allen Szenen wird gesungen, Text wie Musik sind von Lav Diaz. Manchmal verstärkt der Gesang die finstere Wirkung, im Lamento oder im zynisch chorischen «La la la». Öfter aber steht die Musik schräg zur akkumulativen Diaz-Ästhetik. ek

Another Movie (Morgan Fisher)  Eine konzeptuelle Überarbeitung von Bruce Conners Avantgardeklassiker A Movie (1958), einem der berühmtesten Found Footage-Filme. In beiden Versionen ist der Soundtrack entscheidend: Ottorino Respighis «symphonisches Gedicht» Die Pinien von Rom, dessen Pathos bei Conner vor allem im Dienst eines zweiten Slapstick steht (neben dem in den Bildern), während Morgan Fisher historisch-kritisch vorgeht: Er lässt das Orchesterstück in voller Länge durchlaufen (Another Movie ist deswegen 20 Minuten lang, also acht Minuten länger), und zeigt sich auf der Bildebene zurückhaltend: nächtliches Schwarz, das man lange für abstraktes Schwarz halten könnte, doch dann geht der Mond auf, und später verschwindet er wieder. Bei Conner türmen sich die Rückkopplungen zwischen Bild und Ton zu einer (bewusst) falschen Erhabenheit. Morgan Fisher hingegen arbeitet mit der bei ihm gewohnten feinen Klinge an der Depotenzierung von Overkill. reb

Grass (Hong Sangsoo)  Eine Beobachterin im Café, die beschreibt, was sie sieht. Sie kommt erst nach dem, was sie sieht, selbst ins Bild. Einer quatscht sie später schwach an. Den Betreiber des Cafés, von dem die Rede ist, sieht man nie. Es wird von Toten gesprochen und davon, was die Sprecher mit ihnen verbindet. Der Film ist schwarzweiß. Die Kamera zoomt wie gehabt. Sie fasst ins Bild oder auch nicht. Drinnen Musik. Draußen Salat. Die Musik, von Wagner bis Pachelbel, marodiert aggressiv auf der Tonspur. Die schreibende Beobachterin ist, wie man später sieht, auch nicht ohne. Zwischendurch geht eine andere treppauf und treppab. Einmal ist lange ein Schatten zu sehen. In der Gasse lassen sich Leute in traditionellen Kleidern fotografieren. Paare, Passanten. Nach 66 Minuten ist alles vorbei. ek

Madame Hyde (Serge Bozon)  Madame Hyde ist Madame Géquil ist Isabelle Huppert ist Lehrerin für Naturwissenschaften an einer multiethnischen französischen Schule. Zuhause hat sie einen sehr liebenden kochenden Hausmann, der sich mit pädagogischen Tipps nicht zurückhält. Die Schule leitet die Karikatur eines eitlen Direktors in Gestalt von Roman Duris. Als Géquil versagt Madame Hyde, als Naturwissenschaftlerin setzt sie sich unter Strom, um als Hyde dann für ihren Job zu brennen und glühen. Ein bisschen sehr wörtlich vielleicht, denn sie glüht über Leichen. Mit Realismus hat dieser Film von Bozon rein gar nichts zu tun, wenngleich vielleicht doch mit französischen Realitäten. Bunt, grotesk, Geschmacksrichtung Jerry Lewis oder so. Isabelle Huppert, stoisch im Sturm, ist in jedem Fall eine Schau. ek

SPK Komplex (Gerd Kroske)  Sehr viele sehr deutsche Geschichten verstricken sich in diesem überaus klug gebauten Film. Sie stecken auch in nicht weiter verfolgten Nebenerzählungen, etwa in jener, die Lutz Taufer – ab 1970 SPK-Mitglied, 1977 wegen zweifachem gemeinschaftlichen Mord im Zuge des Überfalls auf die deutsche Botschaft in Stockholm durch das Kommando Holger Meins zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt – zu seinem Haftantritt in der Justizvollzugsanstalt Schwalmstadt andeutet. Damals standen ihm unvermittelt drei ältere Männer gegenüber, die nicht zurückgrüßen, einfach nur starren und mit denen das RAF-Mitglied fortan das Fernsehzimmer teilen soll. Wer genauer wissen möchte, wer Oswald Kaduk, Josef Klehr und Josef Erber waren, sei auf Ebbo Demants einigermaßen singulären Dokumentarfilm aus dem Jahr 1978 verwiesen: DREI DEUTSCHE MÖRDER. AUFZEICHNUNGEN ÜBER DIE BANALITÄT DES BÖSEN, gedreht in unmittelbarer Nachbarschaft zu Taufers Zelle. Wie hat man sich diese Fernsehnachmittage vorzustellen. rot

To Live and Die in L. A. (William Friedkin)  Gesehen im Zeughauskino, Teil der völlig verständlichen Hommage an Willem Dafoe, der gleich in den ersten Szenen dieses Films als geradezu zeichenhaft selbstzerstörerische Künstlerfigur eingeführt wird. Wang Chungs Soundtrack, Semiotik & Kool Killer, gewiss, aber wirklich verblüffend ist weniger die mitlaufende Trugbildtheorie des ubiquitären Fälschens, Kopierens und Reproduzierens als die dokumentarische Intensität, mit der hier Los Angeles sich selbst spielen darf. Ein Warenhausviertel, die Hafenanlage, schließlich der Terminal Island Freeway als kinetische Actionkunstskulptur. Zwischen Fertigungsstätten und logistischer Infrastruktur: Kunst- und Falschgeldproduktion. Knoten in einem Netzwerk aus falschen Gefühlen, das Gesichter nicht ‹wahrt›, sondern defiguriert. rot

Victory Day (Sergej Loznitsa)  Ein Frühlingstag am Sowjetischen Ehrenmal in Berlin. Menschen finden sich ein, um den Sieg über den Faschismus im Jahr 1945 zu feiern und sich daran zu erinnern. Die Gesellschaft, die Loznitsa mit dem typischen Gestus einer sich nach Möglichkeit unsichtbar machenden Kamera (und mit penibelst gemischten Tonspuren, aus denen sich gelegentlich vernehmbare Sätze heraushören lassen) filmt, bildet einen Querschnitt durch ein Milieu, das in Deutschland vor allem von der AfD, der CSU und der SPD umworben wird: Loznitsa macht aber deutlich, dass hinter dem Phänomen der Putinversteherei auch noch etwas Tieferes liegen könnte, eine genuine Verlusterfahrung: Die Sowjetunion war sicher ein totalitäres Regime, aber offensichtlich auch eine soziale Form, die sich hier in Ansätzen zeigt. reb

When I am Dead and Pale (Zivojin Pavlovic)  Eine Wiederentdeckung nach Restaurierung: Ein junger Sänger namens Jimmy lässt sich durch Jugoslawien treiben, von einem improvisierten Auftritt zum nächsten, von einer Frau zur nächsten. Er singt in der Landessprache, aber nicht nur das zeigt sich als Handicap, als er schließlich in Belgrad an einem Wettsingen teilnimmt. Auch die jugoslawische (blockfreie) Popkultur war 1967 schon ganz wo anders, Bands tun, als wären sie die lokalen Monkees. Jimmy geht nicht zum Regenbogen, sondern kehrt an den Anfang zurück. Ein schneller, ungebärdiger Film in Schwarzweiß, der tief im Neorealismus verwurzelt ist, aber auch schon weiß, was Rock’n’Roll ist. reb

Our Madness (João Viana)  Eine Frau entläuft aus einem psychiatrischen Krankenhaus in Mozambique. Sie sucht ihren Sohn und ihren Mann – und wohl auch so etwas wie eine gemeinsame Geschichte, die auf komplexe Weise mit der (post)kolonialen Geschichte des Landes verbunden ist. Viana belässt vieles in einem Impliziten, das sich einem nicht landeskundlich versierten Publikum wohl nur schwer erschließen dürfte, aber seine Form von « Verrücktheit », die sich in komplexer Bildgestaltung, einer ungeheuer dichten Soundscape und in Zeitlupenchoreografien zeigt, ist auf jeden Fall eine herausragende Symptomkunde für eine Traumalandschaft, deren Entzifferung mit diesem Film beginnen kann. reb