spielfilm

19. Januar 2014

Nimm 2: The Wolf of Wall Street

Von Simon Rothöhler

© Paramount Pictures

 

An Cassavetes' quasi letzten (und besten) Film Love Streams musste ich denken, als ich gestern The Wolf of Wall Street im ausverkauften Cinestar sah, an die letzten zwanzig Minuten vor allem: das anwachsende Tierchaos, die irre Gewitterszene, bei der das Haus zum Schiff in Seenot wird und Cassavetes zum ironischen Captain Ahab. Schien mir ein generell vergleichbares Konzept von Performance, die in beiden Fällen obsessiv um das Moment der «Freistellung» generischer Bedeutungszuweisungen kreist: keine einfache Parodie (bei Cassavetes: auf den Abenteuerfilm, aber auch auf den Cassavetesfilm, eine bestimmte Idee von Krise und Intensität im Spiel, in den Beziehungen), sondern den unterschiedlichen Zersetzungsstrategien ausgesetzten Formen zutiefst und absichtsvoll verhaftet. Darin ähnelt Wolf aber tasächlich auch Spring Breakers, zwei kongeniale Filme über kapitalistische Bilder / Bilder des Kapitalismus (Bikini- vs. Brokeruniform: Gertrud hat Recht: der Körper muss gezeigt und performt werden, ob Beach oder Floor). Großartig, wie Scorsese den ganzen reaktionären Oliver-Stone-Schrott (das «Böse» und die «Gier» als Primitivanthropologie, der gefallene Charakter, der kathartisch vor den Trümmern seines Wirtschaftens und Lebens stehen wird usf.), die Vorstellung, dass Belfort, ein Milieu, eine korrupte Finanzpraxis in einer Dreiaktstruktur zu entlarven wäre energisch wegwischt. Stattdessen: eine volldebile (und eben als Performanz einer Dauerdurchsage markierte) Serie von Maschmeyer-Ansprachen, trashig, ohne Mainstream-Diabolik (wie noch Gelhelm Douglas bei Stone), eben alles auf AWD-Niveau (und: DiCaprio nie so gut gesehen wie hier mit Jonah Hill; letztlich viel komplexer als Pesci und De Niro, auch in Bezug auf die Kartografie des Hollywoodschauspiels; außerdem natürlich die beste Zeitlupe des Films als Literalscherz: Hill hat eine «geniale Idee»). Niemand ist hier auf smarte, sinistre Weise «gierig», der reinste Affenzirkus, der entfesselte Aufstiegswille einer eben noch kellnernden Drückerkolonne regiert, tribalistische Stammesrituale inklusive (McConaughey summt es im World Trade Center noch so, dass es wie eine persönliche Melodie klingt; auf dem Floor geht es dann nur noch darum einen Kollektivkörper zu formen, der fürs Dauertelefonieren fitgemacht wird). Was Leuten wie Denby hier wohl wirklich Angst macht ist diese Vision einer Reservearmee, die maß- und ziellos «umverteilt», Wert unten wie oben vernichtet und die damit verbundene Obszönität dann auch noch aggressiv öffentlich auslebt und nicht hinter abgedunkelten Scheiben an Orten exklusiver Unsichtbarkeit (die gibt es in Wolf nur als telepathisches «Mind Game», wenn DiCaprio vom Schweizer Bankgeheimnis erleuchtet wird). Sehr plausibel sowieso, dass Terence Winter und Scorsese keinen Erzählbogen spannen, sondern strikt in Serien denken, die immer wieder in konventionelle Genre-Muster (Aufstieg und Fall eines bösen Brokers, Freundschafts-, Familien-, Ehegeschichten) reinpendeln – aber nur, um dann immer konsequent rauszudrehen, die Form leer zu spielen, eine neue Episode zu starten. So gibt es etwa mehrfach Szenen, die schlicht wie Outtakes wirken (insbesondere das ewig lange Gespräch des Inner Circle über dienstbare Zwerge, in das schließlich auch noch der Vater reinstolpert, um über zeitgenössische Intimhaarrasurtrends informiert zu werden: Die Gesten sind Broker-mäßig intakt, alles sitzt, nur die Sprache, der Content ist komplett dereferentialisiert, was aber egal ist, weil die Performance im Glaskubus des Vorstands für die Mannschaft auf dem Floor aufgeführt wird, die alles sieht, aber nichts hört). Wenn DiCaprio drogenverstört am «öffentlichen Telefon» (im Country Club) zusammenbricht (ein Lasse-Hallström-Exorzismus, wenn es je einen gab), um Hill dann per Bruderkuss das Leben zu retten, erinnert das ohnehin am ehesten an die großen Jahre von Castorfs Volksbühne (DiCaprio ist Wuttke, Hill Spengler). Und die «Moral»? Eine Frage der Erzählperspektive, der konsequenten Entscheidung, von Innen, von «Hollywood» aus zu erzählen: mit maximal aufgeblasenen Wall-Street-Bildern, mit einem verlässlich unzuverlässigen Erzähler (wem hier die «moralische Verurteilung» fehlt, hat von Systemkritik keine Ahnung oder an ihr kein Interesse), einem Erzähler, der direkt in die Kamera blickt und eine entscheidende Szene seines Lebens nur im Medium des «Infomercials» erinnern kann. Außerdem, auch sehr gemocht, gibt es zwei kleine, sehr präzise Szenen mit dem als Pfadfinder (der Boy Scout Jimmy Stewart in den Filmen Capras ist damit natürlich aufgerufen, Scorseses Cinephilie ist manchmal eben doch zu etwas gut) bezeichneten FBI-Mann. Das sehr hintersinnig geschriebene Gespräch auf der Yacht, die große, souveräne Ruhe von Kyle Chandler (wunderbarer Schauspieler), der wie aus einem anderen Film in diesen eintritt und spricht und dann, fast am Ende, einen dokumentarischen Blick in eine New Yorker U-Bahn wirft. Aber auch für dieses Pathosmoment ist Scorsese zu klug: dieser Blick muss in der Logik des Wolfs wieder überschrieben werden, mit einem neuen Publikum, einer weiteren Performance.

The Wolf of Wall Street (Martin Scorsese) USA 2013