gespräch/webmagazin

16. Januar 2014

Steigerungslogik mit Stirn Ein Streitgespräch über Martin Scorseses The Wolf of Wall Street

Von Lukas Foerster und Ekkehard Knörer

Wolf of Wall Street

© Paramount Pictures

 

Das folgende Gespräch ist die extended version einer Diskussion, die nach der Pressevorführung auf Facebook entbrannte. Ein Bezugspunkt war zunächst der ganz am Anfang erwähnte sehr Wolf-kritische Text, den David Denby im Culture-Desk-Blog des New Yorker veröffentlicht hatte.  

 

Lukas Foerster: Beim ersten Versuch hatte ich Denbys Text schnell entnervt beiseite gelegt. Jetzt habe ich ihn, nach Deiner Zustimung, doch gelesen. Wenn man die Moral abzieht, würde ich zu fast jedem einzelnen Punkt sagen: It's not a bug, it's a feature.

Ekkehard Knörer: Ich stimme Denby in vielen Punkten zu, und zwar auch in der Wertung. Das passiert selten genug. Ich muss in diesem Fall mit meiner Seherfahrung beginnen: Mich hat der Film genervt und gelangweilt. Nicht dass ich Seherfahrungen per se unhintergehbar finde, manchmal begreife ich auch bei Filmen, die mir während des Sehens gar nichts sagen, die mich komplett kalt lassen, warum sie intelligent sind, klug gemacht, vielleicht sogar, warum es richtig ist, dass sie mich kalt lassen. (Wobei das schwierig ist: Oft packt es mich, wenn ich Kälte und Distanz spüre, es gibt nicht nur ein Gepacktsein durch Intensität, sondern eben auch durch Distanz.)

Hier aber nichts, nur sehr schnell eintretende Ermüdung, die in bleierne Langeweile überging, und beim Nachdenken wurde ich nur immer erboster über die Selbstgefälligkeit des Ganzen. Es gibt ein paar Momente, die ich ganz lustig fand, schon die lange Drogen-Slapstick-Sequenz am Ende, wobei die auch das Problem hat, das ich mit dem ganzen Film und mit dem ganzen Scorsese seit Kundun habe (Hugo war am ehesten noch eine Ausnahme, und wer weiß, ich habe nichts davon in letzter Zeit wiedergesehen, vielleicht würde ich auch frühere Filme jetzt nicht mehr mögen): Es gibt da keine wirklichen Modulationen. Immer durchgetretenes Gaspedal. Immer zeigen, was er kann. Jede Szene überinszeniert, alles zu laut, zu deutlich. Für Wolf of Wall Street trifft das besonders zu – und auf den ersten Blick könnte das Argument, dass das ein «feature» und kein «bug» ist, da einleuchten. Schließlich ist das eine Welt ohne wirkliche Modulation, mit durchgetretenem Gaspedal, die er da zeigt. Kann man also sagen, da hat er für seine Ästhetik einen passenden Gegenstand gefunden.

Aber gerade daraus entsteht das eigentliche Problem, das ich habe: Der Film genießt sich. Und damit gerät er in hoffnungslose Schwierigkeiten seinem Gegenstand gegenüber. Natürlich muss er einerseits seinen Helden verurteilen, das versteht sich sozusagen von selbst, der ist ein skrupelloses Arschloch, da gibt es kein Vertun. Aber er kann ihn nicht verurteilen, weil diese großspurige Angebertype viel zu gut in die Ästhetik passt, in die sich Scorsese mit DiCaprio, der eben auch ein furchtbar unnuancierter Darsteller ist, verrannt hat. Ästhetisch ist das die totale Komplizenschaft mit der Figur und ihrer Welt. Man kann mit inszenatorischer und darstellerischer Großspurigkeit nur das Verkommene dieses Typen verdoppeln. Und das ist einerseits sehr problematisch, weil es für Kritik und Analyse nicht den winzigsten Raum bietet (sondern zum Beispiel auch die Misogynie mitverdoppelt); und andererseits ist es ermüdend, weil diese Typen und ihre Welt auf so schrecklich unnuancierte Weise vulgär sind.

Lukas: Ich muss sagen, dass ich es tatsächlich weitgehend uninteressant und eigentlich auch nicht wirklich naheliegend finde (zumindest aus unserer Perspektive; über direkt Betroffene möchte ich mir natürlich kein Urteil anmaßen), den Film aus der Perspektive einer moralischen Kritik an real existierenden Praktiken der Börse etc zu betrachten. Es gibt ja schon einen zeitlichen Abstand: Wer erinnert sich noch an den Börsencrash von 1987? Hätte Scorsese an die aktuelle Bankerkritik anschließen wollen, hätte er problemlos naheliegendere Bezüge verwenden können. Man müsste dann ja auch überlegen: Wie hätte er es sonst machen sollen? Zumindest innerhalb des Systems, in dem er seine Filme dreht, wäre ihm kaum etwas anderes übrig geblieben, als einen auf die eine oder andere Art «verlogenen» Film zu drehen. Es gehört nun einmal zu den Eigenschaften einiger Hollywood-Genres, dass sie Genüsse ermöglichen und zelebrieren, die gleicheitig als illegitim gebrandmarkt werden und am Ende durch Bestrafung eingehegt werden müssen, mal mehr, mal, wie hier, aber darin liegt ja sogar ein Realismusmoment, weniger pro forma. Was wären denn auch die Alternativen? Bestrafung ohne vorherigen Genuss? Genuss ohne Bestrafung? Was mir an Scorseses Film gefällt, ist, dass er die katholische Variante wählt, dass also alles erst einmal fast ungefiltert ausagiert werden darf, und der Konflikt nicht immer schon ins Innere der Figuren verlegt wird, als protestantische Verzichtsethik.

Das Vulgäre und einen Anschreiende: Ich kann verstehen, dass das in der Begegnung mit dem Film ein Problem sein kann, ich konnte mich damit für die drei Stunden prima arrangieren; das ist eine Form der Fremderfahrung, der ich mich gerne aussetze. Wobei ich zumindest das mit dem Gaspedal anders sehe: Ich sehe da schon einiges an Modulation, zum Beispiel, wenn er den Film, der ansonsten zu zwei Dritteln aus Montagesquenzen und Musikvideostilisierung zu bestehen scheint, sich selbst mehrfach wieder komplett herunter bremst, während einiger ausführlicher Gesprächsszenen (über die auch Denby schreibt), vor allem aber auch während des zentralen finalen Drogenrauschs, wo plötzlich jeder Meter Wegstrecke zu einer Qual und die physikalische Welt wieder in ihr Recht gesetzt wird.

Vor allem aber finde ich, dass der Film die Entdifferenzierung, die seine Ästhetik natürlich trotzdem in mancher Hinsicht ist, rechtfertigt und mitreflektiert. Es gibt ja einen Agenten der Entdifferenzierung, der die Hauptfigur und auch alle Zuschauer in einer frühen Szene eindrücklich in die Logik des Films einweist: Matthew McConaughey, der dem vorher noch einer klassischen Form kapitalistischer Arbeitsethik verpflichteten DiCaprio vor eindrücklicher Kulisse, dem Boden der Tatsachen enthoben, erläutert, welche Möglichkeiten die schöne, neue Finanzwelt, die auf Zirkulation von Geldwerten ohne Basis in materieller Produktionswirklichkeit (keine originelle Ausgangsthese, klar; aber der Film macht einiges mit ihr, finde ich), eröffnet. Und der gleichzeitig vorführt, was für eine Art von Individuum, was für ein Körper auch dieser schönen neuen Welt entspricht: Der schlanke, irgendwie nicht richtig greifbare McConaughey (noch heruntergehungert vom Dreh zu Dallas Buyers Club), der nur noch aus seinen Narzismen und Neurosen zu bestehen scheint, fast ohne Basis in irgendeiner Physis, zumindest in keiner, die er nicht selbst gründlich chemisch verunreinigt hat.

(McConaughey spielt DiCaprio da an die Wand - aber auch das ist kein Problem für den Film, finde ich. Di Caprio versucht im restlichen Film, das zu kopieren, was ihm da vorgeführt wurde, aber es kommen ihm immer wieder Reste von Innerlichkeit, vielleicht auch ein gewisser «physischer Überhang» in die Quere.)

Ekkehard: Der Auftritt von McConaughey hat mich zunächst einmal irritiert, weil ich mich gefragt habe, wie man von diesem Level an Übersteigerung aus eigentlich weitermachen will. Stellt sich aber heraus: Das kann man nicht steigern, was an der Figur vorgeführt wird. Was aber stattdessen? Es gibt in der Folge nicht wirklich eine Differenzierung, sondern nur den Versuch, dieses Level immer wieder zu erreichen. (Ich habe, das nebenbei, gerade die erste Folge der neuen HBO-Serie True Detective gesehen: Da ist McConaughey sozusagen komplett sediert, die depressive Seite der Wolf-Manie. Schon ein irre guter Schauspieler, dieses ständige Runterhungernund Draufpacken sieht ja erstmal wie Method aus, aber er führt seine sich wandelnden Körperoptionen in der Regel eher als Performance auf und tut nicht figurenpsychologisch-naturalistisch rum. Das hat DiCaprio für meine Begriffe hier eben nicht nachgemacht. Er meint die Figur.) Insofern stimmt das mit dem durchgetretenen Gaspedal so tatsächlich nicht: Mal fährt er 200, mal 250. Aber immer auf der linken Spur. Und mit Lichthupe. Drei Stunden lang.  Das mit dem Körper dagegen sieht nicht einmal der Film so simpel: Es hat auch der Jonah-Hill-Körper in dieser Welt seinen Platz, der dann – wenn man das so sagen kann – mehrfach auf sehr viel unkontrolliertere Weise außer Rand und Band gerät. Wobei für meine Begriffe der Film in der Drogendelirszene zum Beispiel eher auf die Spur einer Hangover-Komik gerät, die sich dann als eigene Exzessform wieder aus dem Rest des Films löst. Die Treppen- und die Autoerkletterungsszene sind aber zugegeben sehr gut gemacht. Ein schlechter Körperkomiker ist DiCaprio nicht, obwohl er mir auch da ein «Seht her, ich kann auch Körperkomik» immer mitzuspielen scheint. Das kann man als mein Vorurteil abtun, aber es ist wirklich mein Scorsese-Problem in nuce, als Kant-Variation: «Das: ‹Ich kann es› muss all meine Darstellungen begleiten.»

Ich möchte zurückkommen auf Deine Frage, was Scorsese anders hätte machen können. Wir sind uns, glaube ich, einig, dass Scorsese vor allem eine Erzähl- und Inszenierungsstrategie hat: Die ohnehin schon übertriebene Selbstdarstellung aus Jordan Belforts Autobiografie noch einmal zu übersteigern. Er geht immer noch einen Schritt weiter, als Belfort, das Arschloch, schon in der Wirklichkeit ging. Er bzw. Drehbuchautor Terence Winter tun das aber nicht in konterkarierender Absicht: Sie führen Belfort nicht vor, sondern unternehmen es, seinem Selbstbild ein sozusagen objektives Korrelat in Bildern, und zwar in Kino-Bildern, ach was, in Kino-Kino-Bildern zu geben. Was dabei herauskommt, ist dann alles andere Exploitation, obwohl mir die groteske Übersteigerung der Exploitation ein sinnvolles Mittel schiene. So wie Du das beschreibst «Genüsse ermöglichen und zelebrieren, die gleichzeitig als illegitim gebrandmarkt werden», das wäre Exploitation. Das ist Wolf of Wall Street aber nicht. Freiwillige Exploitationstrategien, das könnte Scorsese nicht, dafür versteht er sich viel zu sehr als Groß- und Exzellenzregisseur. (Lee Tamahori, der zwar ein Bond-, aber kein Großregisseur ist, hat in seinem höchst merkwürdigen Saddam-Hussein-Film The Devil's Double ganz andere Sachen versucht - nur um mal einen ganz anderen und vermutlich nicht besseren, aber interessanteren Übersteigerungsfilm als Referenz aufzurufen.)

Es gibt auf Youtube ein Videodokument von einer Weihnachtsparty bei Stratton Oakmont 1994 mit einer Ansprache von Belfort. Das sieht unfassbar unglamourös aus, auch Belfort selbst hat nichts von der Faszination, die DiCaprio seiner Figur so verzweifelt zu geben bemüht. Ich scheitere beim Versuch mir vorzustellen, dass Scorsese dieses Material in seinen Film integriert hätte. Er will nämlich den Glam. Das beginnt schon mit dem Stratton-Oakmont-Werbevideo ganz zu Beginn, das er vermutlich nachinszeniert hat (ich weiß es nicht, aber der CGI-Löwe deutet medienhistorisch darauf hin, oder?) – auch das soll gleich professionell aussehen. Er will aber keine Wirklichkeit und keine Wahrheit zeigen, sondern einen großen Mann zeigen. Und er macht ihn mit eigenen Mitteln und auf eigene Faust und mit aller Kraft so groß, dass er eine Scorsese-Figur ist: macho, brutal, verführerisch, ein faszinierender Teufel. Die ganze Männerfreundschaftsscheiße, die der Film lustvoll reproduziert (bis ins Hangover-hafte hinein), ist auch reiner Scorsese. Noch in den Erniedrigungen folgt er Belforts Zug zur Übertreibung. Er übertreibt das Übertreiben, aber nur um noch belfortscher als Belfort zu sein. Wenn es um eine Kapitalismusanalyse ginge (wie Du oben kurz suggerierst), dann müsste – ja, dürfte – man die nicht auf die eine Figur, schon gar diese Figur Jordan Belfort konzentrieren. Der Finanzmarktkapitalismus ist Scorsese und Winter aber scheißegal. Es interessieren sie nur seine Begleiterscheinungen: der Exzess, das Schmierentheater, das aber nicht als lächerliches Schmierentheater erscheinen darf, sondern vom Großschauspieler Leonardo DiCaprio geadelt werden muss. Dass man DiCaprio dann vor allem eines ansieht, nämlich die Arbeit, die er in den Entwurf seiner Figur steckt, das ist dann Künstlerpech bzw. es passt eben zu Scorseses Konzept. Aber es trägt sehr viel dazu bei, dass dieser Film einfach überhaupt nicht funktioniert.

Lukas: Das Scorsese keine überzeugende oder auch nur ernsthafte ökonomische Analyse leistet: geschenkt. Wo man aber glaube ich doch nicht unbedingt als analytisch, aber als hellsichtig beschreiben könnte (wo er Bilder zur Verfügung stellt, die es vorher nicht gab), ist auf der Ebene einer Subjekttheorie des Kapitalismus (als eine von mehreren dieser «Begleiterscheinungen»). Das Erkenntnismoment läge dann in der Erfahrung von Differenz, die man machen kann, wenn man in dem Film Figuren begegnet, die man aus anderen Filmen, nicht nur aus denen Scorseses, zu kennen glaubt, die aber plötzlich teils gar nicht mehr, teils anders funktionieren, als man es erwarten dürfte. Das ist aber etwas, was ich gar nicht überbewerten möchte… für mich liegt das nur deshalb nahe, weil ich gerade die Szenen, die nicht nur Denby besonders deutlich kritisiert, für die stärksten des Films halte: Die ausführlichen, verbal wie gestisch exaltierten, sich einander zu überbieten versuchenden Anfeuerungsreden, die DiCaprio vor seiner Belegschaft hält. Denbys Text liegt für meine Begriffe sogar in den Details daneben: Die ständigen Wiederholungen der und in den Ansprachen sind gerade der Punkt, weil die Männerfreundschaften genauso wie die Geldzirkulation an der Börse nur in der reinen Performanz einen Wert besitzt (das heißt auch: sich von ihrer Umwelt nicht irritieren lässt). Gerade in diesen besonders exzessiven DiCaprio-Momenten hat der Film einige seiner stärksten Szenen, zum Beispiel wenn der Wolf einmal, kurz vor seinem Sturz, eine Frau, die vorher überhaupt keine Rolle im Film gespielt hat, anspricht, ihre Lebensgeschichte als Erfolgsgeschichte nacherzählt und für sich reklamiert. Wie da eine ganze Biografie ohne jeden Widerstand (im Gegenteil: sie weint vor Glück) zu einem bloßen selling point in einer Motivationsansprache wird, das ist für mich ein unglaublich starker Moment und viel wichtiger als eine «konsequente» moralische Haltung.

Ich nehme an, dass genau diese Szenen auch Deine Kritik am Film auf den Punkt bringen, bzw dass der Film da für dich auf verräterische Weise sich selbst figuriert: Als einen lautsprecherischen, die eigene Potenz als Verkaufsargument nehmenden Showman, der die Zustimmung seines Publikums gewissermaßen immer schon voraussetzen kann, weil wichtige Fragen (zum Beispiel der Moral) von Anfang an außen vor bleiben. Wie di Caprios Figur sich mit dem sowohl realwirtschaftlich als auch moralisch freidrehenden Gewinnstreben überidentifiziert, überidentifiziert sich der Meisterregisseur und mit ihm auch das milliardenschwere Hollywood-Studiokino insgesamt mit eben dieser Figur. Vielleicht würde ich da sogar ein Stück weit mitgehen. Aber höchstens, soweit es das Verhältnis von Film / Regisseur / meinetwegen auch Hauptdarsteller (obwohl mir DiCaprio tatsächlich von Film zu Film besser gefällt, vor allem hinsichtlich der oft fast wie für sich selbst agierenden Stirnpartie) zur Hauptfigur, vielleicht auch zum realen Herrn Belfort geht. Denn die Frage bliebe ja immer noch: macht dieses DiCaprio-Scorsese-Belfort-Monster wirklich den ganzen Film (eine andere Frage wäre, die lasse ich einmal beiseite: und dessen Zuschauer?) ebenso gefügig wie die Angestellten der fiktionalen Firma? Driftet The Wolf of Wall Street, gerade, weil er unter der Oberfläche einem klassischen Modell von Erzählkino verhaftet bleibt, nicht ganz im Gegenteil in sehr unterschiedliche Richtungen auseinander? Das mit dem Glam (der ja tatsächlich so etwas wie ein stilistisches Korrelat der Hauptfigur wäre) sehe ich zB auch nicht wirklich: Gerade in den exaltiertesten Passagen bleiben die Bilder (durchaus ähnlich wie in Spring Breakers, finde ich) brüchig, gerinnen nie zu sich selbst ganz ernst nehmenden Fetischen, oft (zum Beispiel in dieser sonderbaren Jonah-Hill-Zeitlupenszene) scheinen sie den angepeilten Effekt absichtlich zu verfehlen. Das von Dir angesprochene Werbevideo vom Anfang wird ja ebenfalls später von anderen, teleshoppingartigen Werbeclips regelrecht dekonstruiert.

Was mich an dieser Argumentation außerdem irritiert: Wenn der Film mit Wall-Street-Realitäten nichts zu tun hat, läuft die moralische Kritik von Anfang an in die Leere. Ich denke nicht einmal, das Ersteres unbedingt stimmt, aber Scorsese nimmt schon erst einmal Abstand, beziehungsweise sucht Vermittlungsinstanzen, bei ihm gibt es keine Realität, die loszulösen wäre von popkultureller Imagination… Mich interessiert eher eine Perspektive, die von auteuristischen Überlegungen ausgeht: Die Parallelen zu den früheren Mafia-Filmen Scorseses sind ja offensichtich, vor allem Casino scheint sehr direkt, bis in die Figurenkonstellationen hinein, ein Vorbild zu sein (die zerquälte Liebesgeschichte um seine zweite Ehe ist fast eine direkte Kopie; wobei dieses Steinzeitpatriarchat, das da noch einmal in seiner ganzen Destruktivität vorgeführt wird, natürlich vor allem auf Raging Bull verweist). Aber gleichzeitig ist es so, dass alles, was in den früheren Filmen Melodram war, sich in The Wolf of Wall Street in eine Groteske verwandelt hat. In den älteren Filmen waren diese Aufstiegs-und-Fall-Geschichten geerdet, in Milieus, aber auch in einer durchaus materiellen, sogar blutigen Gegenwirtschaft. Diese Verankerungen, die narrative Routinen ebenso implizieren wie eine gewisse «Tiefe» der Figuren, die nicht einmal unbedingt eine psychologische sein muss, die oft eher eine soziale Tiefe der Lebenswelt, eine zeitliche, geschichtete Tiefe der Biografie ist, gibt es im neuen Film nicht mehr. Oder soweit sie es doch noch gibt, wird sie zu einem Problem, für die Figuren (du wirst dann sagen: für den Film…).

Was zum Beispiel die «Männerfreundschaftsscheiße» angeht: für mich ist das gerade «Männerfreundschaftsscheiße» nach Maßgaben der Groteske. Schon, weil DiCaprio kein de Niro und Jonah Hill kein Joe Pesci ist, weil den jüngeren Schauspielern die method-Ambitionen fehlen. Es gibt aber vor allem nicht mehr die Rituale und gegenseitigen emotional-familiären Verstrickungen der Mafiafilme, sondern nur noch die hohlen Formeln der Buddykultur, die darauf abzielen, sich beim gegenseitigen noch-mehr-Geld-verdienen, noch-mehr-Drogen-nehmen, noch-mehr-Nutten-ficken gegenseitig den Rücken frei zu halten. Das in dem Film Figuren herumspuken, die er noch der alten Logik der gegenseitigen Verstrickung angehören, auftauchen, ist so gesehen natürlich inkonsequent. Andererseits führt der Film ja gerade vor, wie diese Typen abgewickelt werden. Und er führt auch vor, dass trotz allem Menschen übrig bleiben, die sich weiterhin zu ihrer Körperlichkeit, zu ihrem Begehren, zu ihrer Imagination irgendendwie verhalten müssen.

Ekkehard: Ich sehe hier keine Abwicklung, sondern nur eine Verschiebung in ein anderes Register: die Groteske. In der Tat: Das funktioniert nicht. Aber es ist nicht das Nicht-Funktionieren, das Scorsese hier vorführt, sondern er scheitert mit seinen ästhetischen Mitteln daran, seine alten Geschichten in diesen neuen Zeiten weiter als relevant zu behaupten. Und er hatte ja auch zu seinen Gangstern und ihren Triebschicksalen kein ungebrochenes Verhältnis. Oder vielleicht doch, aber er möchte sie wenigstens als gebrochene Figuren (also Helden im traditionellen Sinn) auf die große Bühne stellen. Das Grunddilemma ist vielleicht: Scorsese kann die Loyalität mit seinen Heldenfiguren nicht aufkündigen, und zwar ist das dasselbe Problem, aber ich wiederhole mich, wie mit seinem Kino überhaupt: Er kann auch seine Hörigkeit gegenüber der großen Autorenkinotradition nicht aufkündigen. Das ist sein Selbstbild - obwohl er Bewegungen in ganze andere Richtungen macht, Cape Fear oder Shutter Island als wichtige Beispiele. Er möchte seinen Impulsen zu Pulp, Genre, Trivialität folgen, aber auch da gelingt das nur sehr bedingt. Er ist und bleibt halt ein Mythenmacher. Da würde ich Seesslen (ganz provisorisch, ich habe seinen monografischen Ziegelstein vor allem als erschöpfend in Erinnerung) folgen: Er kann Figuren nur als Selbstprojektion entwerfen. Eine Figur wie die von McConaughey kann er dann schon mal komplett freistellen – und ich finde tatsächlich, dass der Films als Ganzer nur in der kompletten Freistellung seiner Zentralfigur wirklich funktionieren könnte. An diesem Belfort klebt immens viel Mythenrest, obwohl der Film zugegeben viel Zertrümmerungswillen ausagiert. Aber das finde ich nicht interessant, das könnte ich in der Tat höchstens in einer auteuristischen Perspektive interessant finden. Aber dafür interessiert mich wiederum Scorsese viel zu wenig. Und schon gar keine drei unendlichen Stunden lang.