fernsehgeschichte

6. Januar 2014

Clear Eyes, Full Hearts Zur NBC-Serie Friday Night Lights

Von Rüdiger Graf

Friday Night Lights

© NBC

 

Als Julie, die Tochter des High-School Football Coachs Eric Taylor, im Vorstellungsgespräch an einem College gefragt wird, ob sie noch etwas über sich sagen wolle, was nicht schon im Motivationsschreiben stehe, zögert sie einen Moment. Nachdem ihr Vater den Job in Dillon/Texas angenommen und sie als Teenager dort habe hinziehen müssen, erwidert sie dann, sei ihr Dillon wie der schlimmste Ort der Welt vorgekommen. Jetzt aber, kurz vor ihrem Schulabschluss und dem beginnenden College, erscheine ihr Dillon liebenswert, und sie begreife, dass es ein Teil von ihr geworden sei, den sie überallhin mitnehmen werde. Ganz ähnlich ergeht es einem nach fünf Staffeln Friday Night Lights, einer Serie über die fiktive Kleinstadt in Texas, in der sich alles um das lokale High-School-Football Team der «Panthers» dreht, weil es nichts anderes gibt, das die Bevölkerung aus dem trüben Alltag herausreißt. Auch wer wie Julie Taylor wenig mit American Football anfangen kann oder kaum etwas davon versteht, wird schnell von der hierzulande fast unbekannten NBC-Serie gefangen genommen, die in gewisser Weise das Kleinstadt-Pendant zu The Wire bildet, dabei aber auf soziologischen Anspruch und pessimistische Grundstimmung verzichtet,  sondern souverän das Flair von Teenager-Serien wie Beverly Hills 90210 verströmt.

Das Vorbild für Dillon ist Odessa/Texas, das die texanischen Ölbooms des 20. Jahrhunderts mitgemacht hat, 1987 aber vom Money Magazine zur fünftschrecklichsten Stadt der USA erklärt wurde und ein Jahr später in einem Ranking der stressträchtigsten Städte der Vereinigten Staaten in Psychology Today auf dem siebten Platz landete. Im gleichen Jahr entschloss sich Harry G. Bissinger, nachdem er als Journalist beim Philadelphia Inquirer den Pulitzer Preis erhalten hatte, für ein Schuljahr mit seiner Frau und seinen beiden Kindern nach Odessa zu ziehen, um dort eine Saison des Highschool-Football Teams der Permian Panthers zu beobachten. Das daraus hervorgegangene Buch Friday Night Lights. A Town, a Team, and a Dream (1990) verkaufte sich mehr als zwei Millionen Mal und bildet die Grundlage für Peter Bergs gleichnamige NBC-Serie, die von 2006 bis 2011 ausgestrahlt wurde. Ein Bestseller und eine Fernsehserie über ein Highschool-Football-Team mögen aus europäischer Perspektive seltsam erscheinen, nicht aber in Odessa, das mit seinen 90.000 Einwohnern jeweils mehr als 300 Meilen von größeren Städten wie Dallas, Austin oder Tucson entfernt liegt. Dort versammeln sich regelmäßig freitagabends im Flutlicht – daher Friday Night Lights – 20.000 Zuschauer im Stadion, um die Spiele der Panthers zu sehen, die in der lokalen Community wie Helden verehrt werden.

Es gelingt Friday Night Lights auf beeindruckende und zugleich verstörende Weise, in den Geist einer amerikanischen Kleinstadt einzutauchen, die nicht nur abgeschieden liegt, sondern sich von der Welt isoliert. Bei den häufigen Autofahrten durch suburbane Siedlungen oder vorbei an traurig platzgreifenden Einkaufszentren läuft beständig das Radio, in dem entweder über das vergangene oder das zukünftige Spiel der Panthers berichtet wird. Die Stars des Teams werden von den lokalen Fernsehsendern interviewt, die Dillon/Texas mit ihrer Berichterstattung vom Rest des Landes und der Welt abschotten. Von dieser erfährt niemand durch die lokalen Medien, sondern allenfalls durch das Auftauchen konkreter Personen: Der Vater des Quarterbacks ist als Soldat im Irak, und nach der Flutkatastrophe kommt ein hochtalentierter Spieler aus New Orleans, der ein neues Team sucht. Da Friday Night Lights sich auf Bissingers Erzählungen stützt, wird dies auch nicht durch das Internet kompensiert, das eine vergleichsweise geringe Rolle im Leben der Jugendlichen spielt, obwohl die Geschichte in die Gegenwart versetzt wurde. Dillon/Texas ist seine eigene kleine Welt, in der man freitags ins Stadion und sonntags in die Kirche geht; Odessa hatte Ende der 1980er Jahre sechzig Baptistengemeinden, 19 der Church of Christ, zwölf der Assembly of God, sieben katholische und fünf der Pfingstbewegung. Während viele der Schülerinnen und Schüler in genau dieser Welt aufgehen, in der die Football-Spieler Helden sind und überall gefeiert werden, solange sie gewinnen, sehen andere ihre Begrenztheit und wollen sie überwinden. Viele der männlichen Charaktere halten es aber für die erfolgversprechendste Option, Dillon zu verlassen, im Team der Panthers den Talentscouts aufzufallen und so ein College-Stipendium zu ergattern.

Wie vergeblich und gefährlich dieser Versuch ist, macht Friday Night Lights gleich von Beginn an klar. In der ersten Folge der ersten Staffel bleibt der Star-Quarterback Jason Street nach einem versuchten Block regungslos auf dem Feld liegen und wird querschnittsgelähmt. Die körperliche Gefahr, der sich Football-Spieler in jedem Spiel aussetzen, die in den vergangenen Jahren nach spektakulären Todesfällen in der NFL intensiv diskutiert wurde, ist aber nur ein Teil der Problematik. Schon in der ersten Staffel tauchen Spieler vergangener Panthers-Teams, die es bis zur State Championship gebracht und danach vermeintlich geschafft hatten, als verkrachte Existenzen auf, denen es eher geschadet als genutzt hat, dass sie zu Schulzeiten wie Stars verehrt wurden. Ein Held in Dillon zu sein, qualifiziert für nichts im Rest der Welt, und außerhalb des Ortes wird nur erfolgreich, wer sich seinen Regeln und Vorstellungen entzieht. Das gelingt aber vor allem denjenigen, die dazu gezwungen werden, weil sie ihnen nicht entsprechen. Im Rollstuhl schafft Jason Street es bis nach New York und der Ersatzquarterback Matt Saracen, der schnell wieder ersetzt wird, als ein jüngerer Schüler mit einem «besseren Arm» auftaucht, an die Art School nach Chicago. Letztlich darf man guten Gewissens niemandem wünschen, ein erfolgreicher Dillon Panther zu sein; genau das ist es aber, was man sich während der ganzen Serie wünscht: Dieses Team mit dem Schlachtruf „Clear eyes, full hearts, can’t loose“ soll nicht verlieren, sondern seinen Weg gehen bis zur texanischen Meisterschaft: «all the way to state».

Dass auch nicht Football-begeisterte Zuschauer, mit jedem Spiel der Panthers intensiv mitfiebern, liegt nicht zuletzt an der Figur des Trainers, Eric Taylor, der mit seiner Familie im Zentrum der Erzählung steht. Um noch einmal die Dimensionen des Highschool-Footballs in Dillon zu verdeutlichen: Eric Taylor ist nicht der Trainer, sondern der Cheftrainer der Panthers, dem vier weitere Trainer zuarbeiten. Die Serie beginnt damit, dass Taylor die Dillon Panthers übernimmt. Wie gnadenlos dieser Job ist, erfährt er, als er nach der ersten Niederlage unzählige «For Sale» Schilder aus seinem Vorgarten entfernen und sich tagelang Radioberichte über seine Unfähigkeit anhören muss. Die Stadt und die Panthers werden beherrscht von einer Gruppe lokaler Einzelhändler und Kleinunternehmer, die sogenannten Boosters, die von dem schmierigen Autohausbesitzer Buddy Garrity angeführt werden, der alle kennt und alles regelt, aber auch genug Zeit hat, beim Training zuzuschauen und die Trainerentscheidungen zu hinterfragen. Coach Taylor ist eine Mischung  aus einem Drill Instructor der US-Army, der keinen Widerspruch duldet und das Nichtbefolgen seiner Anweisungen nur mit weiteren Extra-Trainings beantwortet, und des Lehrers aus dem «Klub der toten Dichter», dem es gelingt, aus allen Spielern das Beste herauszuholen, indem er sie ernst nimmt und die ihnen innewohnenden Talente fördert. Coach Taylor wird rasch die Figur in Dillon, mit der alle ihre Sorgen und Probleme teilen wollen – von den Spielern bis zu Buddy Garrity –, so dass über ihn und seine Frau Tami, die als Guidance Counselor für die Schülerinnen und Schüler der Highschool zuständig ist, ein Einblick in das Innen- und Seelenleben von Dillon/Texas eröffnet wird.

In Dillon werden Ehe und Familie hochgehalten, aber fast alle Ehen und Familien sind kaputt – ein Befund, der mit den statistischen Zahlen von Psychology Today über Odessa korrespondiert. Männer betrügen ihre Frauen und schlagen ihre Kinder. Frauen trinken, sind drogenabhängig und arbeiten in Strip-Clubs, die von den Männern der anderen frequentiert werden. Kinder müssen sich um ihre dementen Großmütter kümmern, weil ihre Väter im Krieg sind, und sonntags treffen sich alle in den verschiedenen Kirchengemeinden und preisen den Herrn. Die Bürgermeisterin ist lesbisch, kann das aber natürlich nicht öffentlich sagen; nur Buddy Garrity weiß es, weil er eine Affäre mit ihr hatte, «before she started playing for the other team», und die Taylors werden ins Vertrauen gezogen. Als ein sechzehnjähriges Mädchen, das nach einem one-night-stand schwanger wird, sich für eine Abtreibung entscheidet, zettelt die Mutter des möglichen Vaters, anstatt diesen zur Rede zu stellen, eine Kampagne gegen Tami Taylor an, weil sie dem Mädchen angeblich zur Abtreibung geraten und damit ihre Enkeltochter «getötet» habe. Aus der Bigotterie und aufgesetzten Freundlichkeit von Dillon stechen einzig die Taylors heraus, die Daniel Mendelsohn in der NYRB zu Recht als «the finest representation of middle-class marriage in popular culture» bezeichnet hat. In der zweiten Staffel steigt Tami Taylor, die in der Stadt auch gerne Misses Coach genannt wird, vom Guidance Counselor zur Schulleiterin auf und setzt in dieser Funktion andere Prioritäten, wodurch sie in Konflikt mit ihrem Mann gerät, dem es um das Football-Team geht. Resignierend sagt Eric zu ihr: «You know who I miss? I miss the coach’s wife», woraufhin sie entgegnet: «You know who I can’t wait to meet? The principal’s husband.» Noch schöner und aussagekräftiger als dieser Dialog, den Lorrie Moore in der NYRB zum Schlüssel ihrer Beziehung macht, ist die Szene, in der Eric spät nach Hause kommt und Tami zu Hilfe eilen will, als er sieht, wie sie die Mülltonnen rausstellt. Sie stößt ihn zurück, weil sie ihm die Gewissensberuhigung nicht gönnt, sondern die eigentlich in seiner Zuständigkeit liegende Aufgabe dann auch vollständig ausführen will. In ihren unzähligen Konfrontationen sagen Erics Blicke, dass er gern eine Ehefrau hätte, die sich nur um die Kinder kümmert und ihm überallhin bedingungslos folgt, aber zugleich mit niemand anderem als mit Tami verheiratet sein will. Und Tami würde ihm gern den Wunsch erfüllen, nur noch «the coach‘s wife» und Mutter zu sein, weiß aber, dass es nicht nur finanziell nicht möglich ist, sondern ihre Ehe, wenn sie es versuchte, so enden würde wie all die anderen Ehen in Dillon. Beide sorgen sich um ihre Tochter im Teenageralter und bemühen sich, alles richtig zu machen, müssen aber doch Vieles falsch machen. In Dillon stechen ihre Aufrichtigkeit und Menschenliebe so heraus, dass sie schnell zentrale Positionen einnehmen, aber sie sind eben nur große Lichter in einer kleinen Stadt. Als Eric Taylor kurzfristig einen Job als Ko-Trainer an einer Universität übernimmt, führt nicht nur das Pendeln zu massiven Krisen, sondern auch die Tatsache, dass er Weisungen folgen muss und einer von Vielen ist. In Dillon stellt Tami alle zur Rede, die sich ihrer Ansicht nach falsch verhalten und löst Konflikte mit gesundem Menschenverstand, auch wenn sie dabei bisweilen über das Ziel hinausschießt, wenn sie zum Beispiel den jungen Lehrer zusammenstaucht, mit dem ihre Tochter flirtet. Als sie jedoch an Julies College den verheirateten Teaching Assistant trifft, mit dem ihre Tochter eine Affäre hatte,  derentwegen sie sich nicht mehr zurück an die Uni traut, sagt sie nichts. Sozial kompetent ist sie nur in der kleinen Welt von Dillon/Texas, auf die sich die Serie so sehr konzentriert, dass fast alle Figuren aus dem Blick verschwinden, sobald sie den Ort verlassen.

Auf den ersten Blick macht Friday Night Lights unzählige Fehler, die man in «Qualitätsserien» bereits überwunden glaubte. In Dillon/Texas wohnen erstaunlich viele sehr gut aussehende Highschool-Teenager, die eher wie Mitt-Zwanziger wirken und oft auch so reden, jedenfalls nicht so wie Teenager aus bildungsfernen Schichten in texanischen Kleinstädten. Die Geographie und Größe des Ortes erschließen sich auch nach fünf Staffeln nicht richtig, so dass man sich kaum zurecht findet; in der fünften Staffel taucht plötzlich ein ganz anderer Teil von Dillon auf, in dem eine mehrheitlich schwarze und ärmere Bevölkerung wohnt, die vorher verborgen war, auch wenn der alltägliche Rassismus der Stadt intensiv thematisiert wurde. Unzählige Handlungsstränge bleiben einfach liegen: Personen sind ein paar Folgen dabei und verschwinden dann wieder, ohne dass geklärt würde, was aus ihnen geworden ist. Zu Beginn der zweiten Staffel beginnt – den bis dahin wohl zu geringen Einschaltquoten geschuldet – eine Nebenhandlung mit einem Totschlag nach einer versuchten Vergewaltigung, die so unglaubwürdig und melodramatisch ist, dass man die Serie verloren glaubt. Dillon wird zwar als schrecklicher Ort gezeichnet, aber fast alle Figuren sind letztlich liebenswert und den rationalen Argumenten der Taylors zugänglich, dass man an sich arbeiten und etwas aus sich machen müsse. Damit nicht genug, wendet sich das Schicksal fast aller Figuren, die sich wirklich Mühe geben, dann auch tatsächlich ins Positive. Es beschleicht einen das Gefühl, dass vor allem die Geschichten der Figuren nicht auserzählt werden, für die es keine auch nur halbwegs plausible positive Wendung gab.

Gegen alle soziale Wahrscheinlichkeit werden in Friday Night Lights immer wieder Jugendliche durch den Sport und einen Trainer zu besseren Menschen. Der zuverlässig unrealistisch positive Ausgang der Geschichten ändert aber nichts daran, dass die Figuren in ihren Konflikten mit sich selbst und ihren Beziehungskonstellationen überaus komplex gezeichnet sind. Nicht nur Daniel Mendelsohn dürften sie schon nach einer Folge mehr beschäftigen als irgendeine Figur aus Mad Men nach fünf Staffeln. Neben dem Unterhaltungswert ist Friday Night Lights schließlich auch eine großartige Expedition in den Geisteszustand einer US-amerikanischen Mittel- oder Kleinstadt. Statt, wie The Wire, die Versuche des Individuums, ein gutes Leben in schlechten Systemen zu führen, immer wieder als vergebliche Übung vorzuführen, feiert die Serie die harte, dauerhafte Arbeit am Selbst, den Wunsch, ein besserer Mensch zu werden. Der Erfolg, so verspricht es zumindest Coach Taylor seinen Spielern, wird ein Nebeneffekt sein, wenn man ihn nicht zum alleinigen Ziel macht. Wer will das nicht zumindest 3344 Minuten seines Lebens lang glauben?