berlinale 2011

Was von der Berlinale bleibt

The Host and the Cloud Die Kunstwelt kennt Pierre Huyghe als bedeutenden video artist. Nun wurde er vom Forum Expanded in Kooperation mit der Documenta in den Theater-Spielort HAU 2 deplatziert. The Host and the Cloud ist ein Video-Film, der auf einer Performance beruht. In den Räumen und Gängen eines dicht gemachten Museums geraten Menschen und andere Wesen in vielfältiger Weise außer sich. Lichtprozessionen zwischen streunenden Hunden, Hasen und Marionetten. Am Anfang das Reenactment eines Prozesses gegen die Action directe, gegen Ende eine Orgie der grafischen Art, dazwischen schwer Beschreibliches: ein schön hybrides Ding. ek

Mur i Wiez˙a (Mauer undTurm) Die für mich stärkste Veranstaltung bei der Berlinale trug den Titel «WE WILL BE STRONG IN OUR WEAKNESS. A Presentation of the Jewish Renaissance Movement in Poland» (Forum Expanded). Dahinter steckt ein Kunstprojekt von Yael Bartana, die den Zionismus an den Wurzeln packt und verkehrt herum wieder einsetzt. Sie ruft (auch mit Filmen wie Mur i Wieza, in dem in Warschau eine zionistische Befestigung errichtet wird) Juden dazu auf, nach Polen zurückzukehren. Das brillante und provokante Projekt zielt bewusst darauf, Geschichte (über die Kunst hinaus) zu machen. reb

Schlafkrankheit Von Nordhessen nach Kamerun: Ulrich Köhler in souveräner Bewegung auf dem Feld postkolonialer Erfahrung. Ein Mann, der sich als Entwicklungshelfer in seiner Nähe zur Ferne verliert und nicht mehr aus seinem «inneren unbekannten Afrika» (Jean Paul) findet. Ein anderer kehrt aus Paris in die Heimat der Vorfahren als eine Fremde zurück. Zweimal eine Geschichte, um den Knick einer Mittelellipse clever gefaltet und mit großer Akkuratesse nie ganz eindeutig zur Deckung gebracht. Am Ende bricht etwas groß aus dem Wald und verkörpert den smarten Umgang des Films mit allen afrikanischen Geistern. ek

Barzakh In Tschetschenien verschwinden ständig Menschen. Ihr Schicksal bleibt vielfach ungewiss, um diese Ungewissheit geht es in Barzakh. Der litauische Anthropologe Mantas Kvedaravicius hatte ursprünglich ein akademisches Forschungsprojekt zum Thema Folter im Sinn, zunehmend wurde daraus eine diskrete Beobachtung mit Kamera, er fand Zugang zu einer Zivilgesellschaft mit mythologischen Reserven. Barzakhzeigt Tschetschenien, wie es sich unter den Bedingungen des (rumpf)staatlichen und imperialen (russischen) Terrors nur erschließen lässt: von ganz innen, in einer Perspektive familiärer Intimität. reb

Dreileben – Komm mir nicht nach Aus Details, Momenten, hinreißenden Ideen in Serie baut Dominik Graf (Buch mit Markus Busch) seine Geschichte. Ein Bestsellerautor bezieht mit Frau eine Villa im Osten. Aus München kommt als Tochter von Lisa Kreuzer und Rüdiger Vogler die Kriminalpsychologin Jeannette Hain und mietet sich, eines zu lösenden Falls wegen, ein. Um den Fall geht es nicht, eher ums Erinnern, ums Nicht-Verwurzeltsein, um die Freiheiten, die man als Kind der Vergangenheit sich in der Gegenwart nimmt oder hat. Graf selbst ist so frei, weitab vom «Dreileben»-Zusammenhang zu erzählen. Heraus kommt der einzig großartige Film dieser Kooperation, die dann weniger hielt, als sie versprach. ek

Into Thin Air Eine Materialabtastung von Mohammadreza Farzad. Der Ausgangspunkt: Eine Minute Film, die am 8. September 1978 in der Teheraner Innenstadt gedreht wurde. Der Schah hatte das Kriegsrecht ausgerufen, auf dem Jaleh-Platz schießen seine Soldaten erst in die Luft, dann in die Menge. Am Ende stehen 64 Tote, der Tag geht als Schwarzer Freitag in die Geschichte der Islamischen Revolution ein. Ein Massaker entsteht aus einer Vielzahl individueller Entscheidungen. Trotz kollektiver Dynamiken hätte es immer auch anders kommen können. Wenn Einzelne anders gehandelt hätten. Man meint, es sehen zu können in diesen durch Verlangsamungen und Vergrößerungen klug befragten und von Recherchen umgebenen Bildern. rot

Turin Horse Béla Tarrs angeblich letzter Film ist ein Abgesang – auf das Leben. In schwarz-weißen Bildern und langsamen Kamerafahrten (Fred Kelemen) erschafft Tarr eine Welt ohne Off – sieht man ab vom Erzähler, der zu Beginn die Geschichte von Nietzsche berichtet, der in Turin einem geprügelten Pferd um den Hals fiel. Was bleibt: Ein Vater, eine Tochter, ein Pferd und die eine oder andre Kartoffel. Zur minimal music von Cello und Orgelton dreht sich die Kleinstfamilien-Existenz sechs Tage lang spiralförmig Richtung Abgrund. Über das Land abseits aller Zivilisation weht ein Sturm ohne Unterlass. Am Ende gehen Ton, Licht und Bild einfach aus. ek

Utopians Manchmal trifft man zum Glück auf Filme, die in ihren erzählerischen Bewegungen kaum auszurechnen sind. Eigenlogisches Kalkül statt sattsam bekannter Indie-Ellipsen-Dramaturgie. Ein Yoga-Lehrer in der Krise soll ein Haus renovieren, soll sich besser mit seiner Tochter verstehen, soll Ordnung in sein Leben bringen. Spielt lieber mit Staubsauger und Pitbull, sperrt energisch den Hausbesitzer aus. Auch den Prozess der Zementverdickung schaut sich der lose mit den Wooster-Group-Performern assoziierte Zbigniew Bzymek sehr genau an. Bipolare Verklumpung. Macht flüssig, was euch kaputt macht und lest Geschwister Tanner, sagt uns der Regisseur. rot

Cave of Forgotten Dreams Ein 3D-Film erkundet die dreidimensionale Raumleinwand der Chauvet-Höhle. Eine Bildtechnologie blickt auf eine andere; beide trennen mehr als 30 000 Jahre. Werner Herzogs Voice-over baut bildanthropologische Brücken, erkennt in altsteinzeitlichen Praktiken des Überzeichnens proto-kinematografische Phasenbilder und die alte Sehnsucht nach Zeitenthobenheit im Bild. En passant: viel Zeit für Spökes mit idiosynkratischen Wissenschaftlern, die keine geborenen Speerwerfer sind. Am Schluss schauen Dich mutierte Albino-Reptilien an; Dezentrierung menschlicher Perspektiven. Ulkig auch, wie einem in 3Ddie Untertitel entgegenkommen. rot

Khodorkovsky Unprätentiöser Dokumentarfilm, der vielleicht nicht in jeder einzelnen formalen Entscheidung überzeugt und trotzdem besticht: durch hochinteressantes Material, das Ergebnis einer eigenständigen Recherche ist. Wen Cyril Tuschi hier alles vor die Kamera bekommen hat: unglaublich. Postsowjetische Oligarchen und ihr «Umfeld», verstreut auf der ganzen Welt. Dazwischen Joschka Fischer im heimischen Garten, in Gedanken auch bei seinem ehemaligen Vorgesetzten, heute Aufsichtsratsvorsitzender der Nord-Stream-Gesellschaft. Sagt zum Regisseur: «So funktioniert die Welt nicht. Aber Du bist da ja noch voller Idealismus, was die Welt betrifft.» rot

Führung Eine höfische Szene: Der höchste Mann im Staat besucht eine Akademie und lässt sich von zwei Intellektuellen die Kunst erklären. Es tut nichts zur Sache, dass Horst Köhler als Bundespräsident von Deutschland im Jahr 2008, als René Frölke im Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe den Dokumentarfilm Führung drehte, vorwiegend zeremonielle Funktionen hatte; die beflissene Wahllosigkeit, mit der Peter Sloterdijk und Peter Weibel bei ihren Erläuterungsversuchen ein Vokabular aus allen Himmelsrichtungen der Ästhetik aufrufen, macht deutlich, dass es hier um eine alte Szene geht – die Kunst versucht, sich vor der Macht zu legitimieren. Die Finanzkrise von 2008 bildet den motivischen Hintergrund, denn beide Parteien in dieser Führung fühlen sich dazu aufgerufen, ihren Diskurs immer wieder auf das aktuelle Geschehen zu beziehen. Das führt zu einem großartigen Höhepunkt dort, wo ein Student aus Kassel buchstäblich in persona hinter seiner Installation hervorgeholt wird, um für das einzustehen, was ihm seine Professoren gerade unterstellt haben: dass er mit seiner Semesterarbeit auch einen Kommentar über reale Grundlagen der virtuellen Geldwirtschaft abgegeben habe. Der junge Mann dementiert vorsichtig, da muss der Tross aber schon weiter. Am Ende dieser Führung haben Sloterdijk und Weibel den Kunstbegriff zwischen Handwerk und Verhaltenssteuerung, Medienoberflächlichkeit und Standortpolitik so weit zerredet, dass die Hochschule als gesellschaftliches Universalinstitut dasteht. René Frölke aber, der dieser Schule ja selbst angehört (in der Klasse von Thomas Heise), hat mit der Dokumentarfilmkomödie, die Führung auch ist, das «Direct Cinema» als Medium einer kritischen Distanz rehabilitiert. Kunst ist nicht, allen alles zu sein, sondern jeweils eine spezifische, präzise Intervention zu setzen. reb