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Rückblick: Shutter Island Scorseses Dämonologie des 20. Jahrhunderts

Von Matthias Wittmann

Aufnahme bei der Befreiung von Falkenau

© Sam Fuller

 

«You gotta make a choice … If you wanna uncover the truth … you have to let her go!» – Mit diesem Satz, gesprochen von jenem Patienten/Gefangenen, der im Hochsicherheitstrakt des Ashcliffe Hospitals auf Shutter Island auf das Dunkel der Aufklärung – die Lobotomie im Leuchtturm – wartet, wird nicht nur US-Marshall Teddy Daniels (Leonardo DiCaprio) vor eine Entscheidung gestellt. Mit diesem Satz flackert in den tropfnassen Gewölberitzen und Schock-Korridoren der experimentellen Psychiatrie eine Schizophrenie des Films auf. Und somit auch: eine Öffnung für Lektüre-Möglichkeiten. Was will der Film denn wirklich sein? Scorsese ist ein Virtuose darin, sein Unbehagen in der Kulturindustrie als offene Wunde zu verhandeln und seine Publikumszugeständnisse als Geständnisse zu markieren oder plötzlich gar aufzukündigen. Man denke nur an den unterschätzten Großstadtwestern Gangs of NewYork (2002) und an die Dreistheit, mit der Scorsese das finale, rachelogisch aufgebaute Duell Amsterdam/Bill in den draft riots von 1863 ganz einfach untergehen, zur Nebensache werden lässt. Hier wird plötzlich klar, worum es (Scorsese) geht: nicht um Figurenpsychologie und Racheplot, sondern um D.W. Griffith, Parallelmontagen und das Gegen- wie Ineinander von privater und öffentlicher Sphäre.

«You gotta make a choice …» auch Shutter Island lässt seinen multipel traumatisierten Helden zwischen privatem Rachemotiv und Wahrheitssuche im Interesse der Öffentlichkeit den Verstand verlieren. Dass sich die Erinnerungen an die Erlebnisse und Massaker rund um die Befreiung des KZ Dachau teilweise als Deckerinnerungen entpuppen und die vermuteten Menschenexperimente auf Shutter Island in Luft auflösen, mag ein Zugeständnis an die retroaktiven Logiken der so genannten «Mind-Game Movies» sein. An der «unentrinnbaren Faktizität des Fiktiven» (Koselleck) als Signum einer traumatisierten Gesellschaft will der Film trotz (oder auch mit) seinen Volten nicht rütteln. Ist doch gerade der klärende Showdown im Leuchtturm – mit Schultafel, Mementos und Spellbound’scher point of view hinter vorgehaltener Pistole – bis zur Penetranz altmodisch inszeniert, so dass man diesem erinnerungstherapeutischen setting viel weniger trauen mag als dem, was Teddy den Film hindurch zusammen halluziniert. Die audiovisuellen Überschüsse des Films, die Dennis Lehanes schwächelnder Romanvorlage eher hinzugefügt als entlehnt sind, lassen sich vom finalen plot twist nicht wirklich abschütteln.

Ging es Scorsese tatsächlich in seinem ersten Film, der explizit Lagerbilder enthält, die sich noch dazu an George Stevens’ Kodachrome-Aufnahmen von Dachau anklammern – etwa an die aufgerissenen Augen der schneebedeckten Leichen – und mit Musik von Max Richter, Boris Berman oder Cage-Hommagen unterlegt sind, um just another mind game movie mit surprise ending und false memories in Edelschauer-Ästhetik? Ich glaube nicht. Das würde z.B. bedeuten, jene feuer-umzüngelte Szene in der Klippenhöhle zu vergessen, in der Teddy von Rachel 2 (Patricia Clarkson), der tatsächlich Verschwundenen, vor dem Mnemozid gewarnt wird, der auf der Insel statt findet: «They are creating ghosts!». Es geht also in erster Linie um die Angst vor der Invasion durch «Memory Snatchers». Auf Shutter Island  werden Menschen dafür, dass sie mit ihrer Vergangenheit nicht fertig werden, fertig gemacht, sei es mit psycho-surgery oder psycho-pharmacy. Dialogpassagen wie jene in der Höhle finden sich immer wieder in Scorseses Filmen. Sie zeichnen sich gegenüber den Paroxysmen der umliegenden Bilderstürme durch eine wohltuende Ruhe aus, funktionieren topologisch wie das Auge im Hurrikan. Dazu gehört auch jener Gewalt-Monolog, den der Chefaufseher (Ted Levine) während der Fahrt im Jeep hält: «God gave us violence!» Das erste Kapitel zu diesem Amerika-Monolog hat schon Bill the Butcher in Gangs ofNewYorkgeliefert. «You know how I stayed alive this long? All these years? Fear.» Scorsese ist kein guter Lügner und somit kein echter «Mind-Game»-Player. Für einen Vergleich mit Lynch ist er zu materialistisch, für einen Vergleich mit Fincher zu wenig manipulativ. Sein nervöses Agitations- und Mitteilungsbedürfnis speist sich aus ganz anderen Quellen. In Shutter Island sind dies vor allem Sam Fuller’scher Existenzialismus und (Dis-)Sensationalismus.

Schon die ersten Bild-Sätze sind Schlag-Zeilen. Nebel, ein Schiff taucht auf – gar jenes aus Cape Fear? –, ein Spiegel, ein Selbstgespräch: «Pull yourself together, Teddy!» Nach fünf Minuten: der erste Flashback. Es geht um Liebe und das Schlachtfeld der Psyche. Die Fetischkrawatte ist auch schon zu sehen. Und dann: Robert Richardsons sture, frontale Kamerafahrt auf die Anlegestelle der Insel zu. Das Nebelhorn, das plötzlich die Diegese verlässt und an deren Außenseite zu bedrohlicher sound poetry wird. Angekommen am Kap der Pulp-Monströsitäten … lasst, die ihr die Insel betretet, alle Berührungsängste mit Kitsch fahren! Es geht um Blitz und Donner, Technicolor-Himmel und Stirnrunzeln in Großaufnahmen, Friedhöfe und Zellenkreaturen, um H-Bombe, (Anti-)McCarthyismus und Verschwörungstheorien. Scorsese taucht tief ein in die Trash-Bilderwelten der 50er, verdichtet diese zu Zeit/Bild-Kompressen und lässt europäische und US-amerikanische Traumata und Fantasmen zu vielfältigen Konstellationen zusammenschießen, sich gegenseitig verstrahlen. Pulp nicht zu akzeptieren, bedeutet, Camp nicht zu akzeptieren, und das bedeutet auch: all die feinen Traumato-Logiken und Polito-Logiken nicht zu bemerken, die das Reißerische ausdifferenzieren, (ent-)bergen kann.

So wie Teddy in der leeren, verschlossenen Zelle der spurlos verschwundenen Rachel einen Zettel findet, der auf eine weitere Leerstelle verweist, einen Patienten Nr. 67, so sind auch die verhandelten Traumata nie dort, wo man sie dingfest zu machen sucht. Wie kommt es denn, dass Teddy seine ertränkten Kinder – und seine Frau, die Kindsmörderin, gleich noch dazu – verstörend akkurat, ja fast militärisch korrekt, Schulter an Schulter am Ufer des Sees anordnet? Wer jene Filmaufnahmen kennt, die Sam Fuller als Infanterist der Big Red One bei der Befreiung und Öffnung des KZ-Außenlages Falkenau mit seiner ersten Kamera, einer kleinen Bell & Howell, gedreht hat, und sich an jene Sequenzen erinnert, in denen die Leichen, Seite an Seite auf weißen Laken aufgereiht, angekleidet und mit militärischer Strenge gewürdigt («acknowledged») werden … der wird die Erinnerungsbilder aus Shutter Island kaum als geschmäcklerisch empfinden können und die nuancierte, eben nicht klischierte Welthaltigkeit entdecken, die in ihnen steckt.

Fuller war nach eigener Aussage erleichtert, das in Falkenau Gesehene mit der Kamera auf Distanz halten zu können, ja sogar zu müssen (er filmte auf Anordnung). So wurde die First-Hand-Erfahrung Fullers vermittels der Kamera zur Second-Hand-Erfahrung für den Asthma-kranken Scorsese, der uns in Shutter Island erleben lässt, wie DiCaprios/Teddys Körperszenen zur Detektion jener Spuren werden, die von den Traumata und medialen Trauma-Übertragungen des 20. Jahrhunderts hinterlassen wurden: «Those who know will know.» (M. Scorsese)