kurzfilmtage oberhausen 2010

Der Welt leichte Geburt Über eine Retrospektive zum Frühen Kino bei den 56. Kurzfilmtagen Oberhausen

Von Rainer Knepperges

La Chenille de la carotte (1911)

 

Von Zehntausenden, die einst kursierten, liegen Tausende heute in Archiven. Einhundert liefen jetzt in Oberhausen: kurze Filme aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg, unbekannte Filme. So unbekannt, dass die Gelegenheit sich bietet, ohne Verlust der Reputation, ausnahmsweise einmal zuzugeben: Von dem, worüber ich hier schreibe, habe ich keine blasse Ahnung. So greife ich zur letzten List des Überforderten und mache eine Liste.

Saarbrücken (1904). Passanten wurden damals informiert, dass sie im Kino sich selber sehen könnten. Die Wanderkinobetreiber hatten keinen dokumentarischen Auftrag, deshalb vielleicht ist nichts Tristes, nichts Gespenstisches an diesem Erlebnis einer Straßenbahnfahrt. Der Alltag ist ein Spektakel, das auf der großen Leinwand erst wirklich seine Kraft entfaltet.

In der Kulisse einer Poststation spielt Lèvres collés (1906). Die ausgestreckte Zunge einer Dienstmagd wird von der strengen Herrin zum Befeuchten von Briefmarken benutzt. Grimassen zeugen zwischen dem vielen Porto vom vergeblichen Kampf gegen den Geschmack der Gummierung. Mit dem schnauzbärtigen Mann, der sie anschließend küsst, verklebt die Frau untrennbar.

La Grève des nourrices (1907). Die Ammen von Paris treten spontan in den Streik, lassen heulende Kinder auf dem Bordstein zurück und liefern sich mit Polizisten rücksichtslose Straßenkämpfe. Dass es männliche Darsteller sind, die sich als Frauen verkleidet durch die halbe Stadt prügeln, bemerkt mancher Zuschauer früh, mancher spät. Über die Brutalität des Geschehens wundert sich jeder, man muss lachen und sich weiter wundern.

Le Bagne des gosses (1907). Ein Waisenknabe, der Brot stiehlt, gefangen und zur Zwangsarbeit verurteilt wird, entflieht. Was auch immer er Essbares in die Finger kriegt, verschlingt er gierig. In einer Hundehütte versteckt er sich auf seiner traurigen Flucht und plündert ohne Zögern den Napf des braven Tiers. «Was für ein Film», dachte ich, «über Kindheit, Hunger, Einsamkeit», ich dachte an The Night of the Hunter, dachte: «Meisterwerk!», dachte, nur um nicht zu sehr weinen zu müssen.

Mitchell and Kenyon 614 Train Ride into Halifax (1902). Aus einem langsam fahrenden Zug geht der Blick auf schwarze, teils schneebedeckte Äcker und Häuserdächer. Dahinter rauchen Schlote. Unvorhersehbar windet sich die Kamerafahrt über den kurvigen Schienenstrang durch eine Gegenwart aus Schnee und Ruß.

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Die frühen Filme sind noch gänzlich neunzehntes Jahrhundert und doch ganz gegenwärtig: wildes Treiben, Attraktion, Ablenkung und Trost. In den Jahren um 1910 waren die meisten Filme farbig, viele von Hand koloriert oder mit Schablonen gefärbt. Auch daher: Ihre Heiterkeit und Schönheit. Ausgewählt und präsentiert wurde die Retrospektive von zwei ganz außergewöhnlichen Experten: Mariann Lewinsky und Eric de Kuyper. Mit ihnen wehte ein Hauch von Weltausstellung durchs Land der Kuratoren, ins «Bayreuth des Kurzfilms» ergoss sich ein kräftiger Schuss Jacques Offenbach. Die Leute drängelten sich in die Oberhausener Kinosäle; wieder und wieder waren Vorstellungen ausverkauft.

Die Besucher spazierten in einer Traumlandschaft umher. Der Traum bestand aus Fetzen, die allen Erdteilen entstammten. Die Filme vor dem Krieg – nicht nur jene des Weltkonzerns Pathé – waren für die ganze Welt gemacht. Ihr Internationalismus bestand darin, dem Publikum zu geben, was es sich wünschte, also das, was es noch nie gesehen hatte: Die Raserei von Lea e il gomitolo (1913), die Verzauberung durch Die Hexe Zoraide (1907), die Tollwut von Un monsieur quia mangé du taureau (1909).

Das Publikum, sagt Mariann Lewinsky, ist der Komplize dieser Filme. Die Schweizerin lud die Besucher der letzten Vorstellung zu einem amüsanten Quiz ein; anhand von Präferenzen konnte sich jeder Zuschauer einem Typus zuordnen. Und tatsächlich, ob «weiser Kindskopf» oder «hedonistischer Kulturextremist», ob «dankbarer Diskursabstinenzler» oder «wirklichkeitshungriger Kunstheini», die erhellende Publikumsbeschimpfung wurde als großangelegter Flirt lachend genossen. Eric de Kuyper setzte dem Vergnügen zum Abschluss die Krone auf, indem er zur Musik des wohltuend beherzten Pianisten Donald Sosin einen Solotanz hinlegte.

Ohne Übertreibung ergeht es mir in den Tagen nach dem Festival, als hätte eine Zirkustruppe mein filmgeschichtliches Dorf besucht und viel zu schnell die Zelte wieder abgebaut, und ich – noch ganz verwirrt – bin drauf und dran der Sensation hinterher zu reisen. Ihr Sommerlager, das weiß ich immerhin, ist in Bologna.