sound/atmo

Sound / Atmo

Von Dirk Schaefer

Schon bei der ersten Filmvorführung der Lumières war er dabei: Im Stellenangebot des Kinos besetzt der «Mann am Klavier» eine der ältesten Positionen. Zwar haben mehrere Jahrzehnte Aufführungsforschung im frühen Kino ein erstaunliches Gewimmel von Alternativen aufgedeckt: Kinoerzähler, live lip-syncing von hinter der Leinwand, Phonograph, Geräuschmaschinen – und sogar, soundhistorisch der letzte Schrei, Stille. Doch haben diese Details nichts an der Überzeugung geändert, Stummfilme seien im Regelfall – abgesehen von besonderen Events – mit improvisierter Klavierbegleitung vorzuführen.

So vertraut uns die Gestalt des Mannes am Klavier erscheinen mag, birgt sie allerdings ihre Rätsel. Schmunzelnd erzählt man sich gern Siegfried Kracauers Augenzeugenbericht vom betrunkenen Kinopianisten, der in seinem Tran gar nicht mitbekam, was auf der Leinwand zu sehen war. Der wirkliche Skandal liegt jedoch nicht im alltäglichen Ärger über schlechte Musik, sondern in Kracauers paradoxem Resümee, er habe «nie eine passendere Musikbegleitung gehört».

Eine umfangreiche Retrospektive zum frühen europäischen Kino bot neulich auf den Oberhausener Kurzfilmtagen Anlass, hier weiter nachzudenken: «Vom Meeresgrund. Das Experiment Film 1898-1918». Diese Reihe war ein Ereignis, und jeder ihrer zehn Blöcke war, schon aufgrund der Seltenheit der vorgeführten (Archiv-)Kopien, als Live-Ereignis konzipiert. Um einem Publikum ohne Vorkenntnisse das frühe Kino nahezubringen, hatte man Programme zusammengestellt, die demselben Prinzip der Abwechslung gehorchten, das schon vor hundert Jahren galt: Von der Stadtansicht zum Schwank zur farblich berückenden Blütenstudie. Das Konzept ging so glatt auf, das allgemeine Entzücken war so groß, dass man höchstens bemängeln könnte, die Langeweile habe gefehlt.

Auf der letzten Viennale konnte man, um ein Gegenbeispiel anzuführen, ein abendfüllendes Programm mit sogenannten phantom rides sehen. Eine Sammlung nichtnarrativer, strukturell gleichartiger Filmdokumente wurde in eine zeitliche Abfolge gebracht; so ergab sich ein (von elektronischer Begleitmusik noch betonter) meditativer Effekt, der dem Material ursprünglich fremd gewesen war, jedoch den historischen Abstand markierte, der uns von ihm trennt. Im Gegensatz zu solcher Entrückung und Auratisierung setzten Lewinsky und de Kuyper auf «zeitgenössische» Programmierung. Damit war nicht etwa ein Reenactment historisch datier- und lokalisierbarer Vorführungen gemeint; vielmehr wollte man eine Idee «sichtbar und erlebbar machen»: das frühe Kino als experimentelles cinema of attractions, in dem die Narration nur den Vorwand für visuelle Sensationen liefert. Jedes der zehn Programme war in eine «Matrix» (Lewinsky) von live improvisierter Begleitmusik gehüllt, für die Donald Sosin als Mann am Klavier sorgte. Als Devise gab er an: Meine Musik ist gut, wenn sie nicht bemerkt wird. Leider war die Vielfalt, die gerade den Klangraum des frühen Kinos prägt, durch diese Festlegung von vornherein ausgeklammert, selbst wenn Sosin sich gelegentlich als Alleinunterhalter versuchte, um das Publikum zu animieren und so den Live-Charakter der Vorführung zu betonen. Der Begleitmusik ging es darum, Distanz zu überbrücken, selbst um den Preis, den Einschnitt zu überspielen, der das frühe Kurzfilmkino der Attraktionen vom narrativen Langfilm der 20er Jahre trennt. Dies wurde besonders deutlich im Programm «Attraktion Distruktion» [sic], dem vielleicht interessantesten der Retrospektive, zumindest aber dem einzigen, das Querverbindungen zum Rest des Festivals nahelegte. Dem Wunsch nach einem vollen Wieder-Erleben des frühen Kinos steht nicht zuletzt die fragmentarische Überlieferung des Filmmaterials im Wege. Lewinsky und de Kuyper trugen dem Rechnung, indem sie die Spuren des Verfalls (nicht-intendiert, daher ahistorisch; zugleich aber Spur und Bild des Historischen selbst) wiederum zur Attraktion erklärten. Gewisse Muster der chemischen Zerstörung des Filmbildes, die Jürgen Rebles Zagreb Tram Station (2009) im Deutschen Wettbewerb zelebriert hatte, konnte man tags darauf in einer Posse von 1914 wiederentdecken. Im narrativen Sinne war sie einfach nur schlecht gealtert; jedoch hatten die Jahrzehnte der Filmkopie faszinierende Narben und grandiose Farben hinzugefügt, die ein filmisches Eigenleben jenseits der Handlung führten. Leider interessierte der Mann am Klavier sich nur für letztere – ein Beispiel dafür, dass auch ein Pianist, der nach eigenen Angaben «hundert Prozent der Zeit auf die Leinwand blickt», für das Wesentliche blind bleiben kann.

Womit wir wieder bei Kracauers Modell des Klavierspielers wären. Wie weit die Vielfalt der möglichen Aufführungspraxen des Stummfilms von unseren Gewohnheiten entfernt ist, zeigt eine wenig bekannte Variante der erwähnten Anekdote. Dort («Der Klavierspieler», in: Straßen in Berlin und anderswo) ist es nicht der Rausch, der den Pianisten für die Bilder blind macht. Aus Platzgründen, so Kracauer – und die pragmatische Selbstverständlichkeit, mit der er dies mitteilt, macht den Abgrund deutlich, der uns von jener Zeit trennt –, aus «Raumnot» also stand das Kinoklavier an einer Stelle, von der aus die Leinwand nicht sichtbar war.

Heute geriete ein solches Arrangement zur Produktion von Indeterminismus sofort unter Kunstverdacht. Hm … Vielleicht eine Idee für die nächsten Kurzfilmtage und die nächste Ausgabe von Vom Meeresgrund?