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Marco Bellocchio

Von Bert Rebhandl und Simon Rothöhler

Marco Bellocchio (Rom, Mai 2010)

© cargo

 

Im deutschsprachigen Raum ist Marco Bellocchio der große Unbekannte des italienischen Kinos. Seine intellektuell wie ästhetisch kühne Auseinandersetzung mit dem linken Terrorismus Buongiorno, notte (2003) kam mit vier Jahren Verspätung in wenige deutsche Kinos. Für uns war der Film nicht nur ein Ereignis, sondern auch das Startsignal, sich eingehender mit Bellocchios Werk zu beschäftigen, an dessen Beginn ein Klassiker der europäischen Kinomoderne steht: I pugni in tasca (1965). Unser Interesse an Bellocchio ist durch das Fachismus-Melodram Vincere (2009) noch einmal erneuert worden und hat schließlich dazu geführt, dass wir Anfang Mai in der Via Nomentana in Rom ein langes Gespräch mit dem bald 71-jährigen Regisseur führen konnten. Das Ergebnis ist auf den folgenden 14 Seiten nachzulesen. Das Gespräch stellt den Versuch dar, zumindest in Ansätzen ein riesiges Gesamtwerk und dessen zeithistorische Koordinaten durchzugehen: das Erbe des Faschismus und der Partisanen, die italienische Bourgeoisie, das radikale Engagement von 1968, die Suche nach anderen Zuständen ohne den Dogmatismus von Religion und Psychiatrie.

Herr Bellocchio, wir sind durch Buongiorno, notte auf Sie aufmerksam geworden, der 2007 in Deutschland ins Kino kam. Von Ihren früheren Filmen kannten wir damals nur ein paar. Inzwischen konnten wir auch Vincere sehen, und damit war unser Interesse endgültig geweckt. Können Sie erzählen, wie Sie dazu kamen, einen Film über den italienischen Faschismus aus der Perspektive einer «verrückten» Frau zu machen?

Vincere hängt eng mit Buongiorno, notte zusammen. Beide sind eher schnell und ohne große Vorplanung, fast spontan entstanden. Die Idee zu Vincere habe ich tatsächlich in der Zeitung gelesen, und als ich einen Dokumentarfilm im Fernsehen sah, habe ich diese Figur Ida Dalser entdeckt, welche ich bis dahin noch nicht kannte. Die erste Frau des Duce, die er später für seine offizielle Frau Rachele verließ, und die seinen Aufstieg aus der Perspektive einer Enttäuschten verfolgt. Ich sah darin sofort das Melodram, denn es ist tatsächlich ein Melodram. Normalerweise sagt man, dass die Melodramen nicht wahr seien … aber dieses Melodram ist, wie alle anderen auch, wahr. Ida Dalser war eine Frau, die niemand kannte, weil eben alle Rachele, die Ehefrau kennen, und die Petacci, die wichtigste seiner Mätressen. Ida Dalser dagegen kam ins Irrenhaus, obwohl sie einen unehelichen Sohn von Mussolini hatte, der sogar anerkannt wurde. Das Dasein einer so ungestümen Figur mit einer so ausgeprägten Rebellion, einer Frau, die so auf ihrer Liebe und ihrem Recht beharrt, das ist kompromisslos, und nicht von ungefähr sagen viele Leute: das ist verrückt! Die nähere Beschäftigung hat mir diese zuerst einmal anstößige Person irgendwie sehr sympathisch gemacht, und so ist es zu diesem Projekt Vincere gekommen, in dem auf der einen Seite ihre Lebensgeschichte ist, auf der anderen die des Duce und des italienischen Faschismus. Ihre Geschichte, die von 1907 bis 1942 reicht, bis zum Tod des Sohnes, hat eine Zeitdauer, die etwas vollkommen Neues für mich war: 35 Jahre. Die Tatsachen, die im Film erzählt werden, sind praktisch alle wahr, aber alle auch erfunden, das heißt es ist alles wahrheitsgetreu und zugleich alles erfunden, so wie in Buongiorno, notte, wo alles wahrheitsgetreu und zugleich alles erfunden ist. In Vincere geht es um eine Form, die mich fasziniert, weil sie mir erlaubt, Geschichte in einem Kinofilm zu erzählen, und zwar in der Sprache des Kinos, nicht in einer Bebilderung von intellektueller Arbeit. Nicht auf abstrakte Weise. Denn das Kino war damals auf jeden Fall Volkskunst par excellence – alle gingen ins Kino. Es war die große Entdeckung. Und es war dann die Siegerwaffe von Diktator Mussolini, der verstand, dass es wichtig war, den Italienern sein Abbild aufzudrängen. Diese Elemente haben mich überzeugt, sie haben mich mitgezogen, aber ich wiederhole, wie bei Buongiorno, notte handelt es sich bei Vincere um einen Film, der, ich möchte es fast paradox ausdrücken, improvisiert wurde – auch wenn es hier natürlich viel Preproduction gab. Ich meine «improvisiert» im Vergleich zu I pugniin tasca, meinem ersten Film aus dem Jahr 1965, dessen Vorbereitung viel länger gedauert hat, oder auch als Salto nel vuoto oder auch L’ora di religione. Das waren alles Filme, die viel Vorbereitung benötigten. Dieser aber war improvisierter.

 

Vincere (2009)

© Offside

 

Buongiorno, notte und Vincere zeichnen sich dadurch aus, dass sie indirekt von italienischer Geschichte erzählen: fast könnte man sagen, aus dem Off des visuell Zugänglichen, der medialen Überlieferung. Aus einer Perspektive, die man nur fingieren kann.

Ich nehme eine Perspektive ein, als stünde ich neben den Protagonisten, nicht ihnen gegenüber. So betrachte ich Geschichte aus dem Inneren heraus, aus der Irrenanstalt, oder aus dem Haus, in dem Aldo Moro gefangen gehalten wird. Selten gibt es eine objektive Einstellung, alles ist Blick. Auch die Beleuchtung entspricht irgendwie diesem Bedürfnis, es gibt kein frontales Licht. Die Beleuchtung ist immer von hinten oder von der Seite. In diesem Sinn hat mich bestimmt meine Bildung, auch meine Schulbildung beeinflusst, in der ich die großen Kunstwerke des deutschen Expressionismus kennenlernte, aber auch die des Futurismus. Das heißt, ich war früh vertraut mit jenen Perioden, in denen die Kunst eine Revolution erlebte, und dieses Verhältnis von revolutionärer Politik und revolutionärer Kunst hat mich geprägt. Meine ganze Erziehung, die vor langer Zeit stattfand, ist irgendwie in diesen Filmen zurückgekehrt.

In Vincere gibt es eine, wie immer entstellte, politische Theorie: Der Staat ist weiblich, die Frau vertritt ihn als empfangendes Wesen, der Duce erscheint als Mann, der das Volk begattet, es mit seiner Virilität in Besitz nimmt – er kann aber nicht alle haben, nicht alle befriedigen. Ida Dalser wird für ihn unerträglich, weil sie ihn daran erinnert, dass er eine anonyme Vorgeschichte hatte, selbst einmal zum Volk gehörte.

Die Faschisten behaupteten eben, dass die Frau nur von der Gürtellinie nach unten zählte. Sie brauchte einen Kopf, aber auch einen Herrn. Dahinter steht tatsächlich diese rhetorische Verherrlichung des Vaterlandes, und sicherlich gab es von seiten des Duce auch faktisch einen außerordentlichen Einfluss auf die italienischen Frauen. Er hatte diese Fähigkeit, dass sie sich in ihn verliebten. Damit meint man sowohl, dass er in seinem Leben sehr viele Geliebte, sehr viele Frauen gehabt hat, aber auch im weiteren Sinne einer Verehrung, die er beinahe bei dem gesamten weiblichen Publikum fand. Ich erinnere mich, dass meine Mutter, auch wenn sie eine äußerst keusche Frau war, trotzdem in den Duce verliebt war. Der Duce war wirklich das Ebenbild der Sicherheit, die Recht und Ordnung garantierte, die vor den Gefahren der damaligen Jahrzehnte schützte, vor dem Bolschewismus. In diesem Sinn hat er tatsächlich politische Schachzüge gemacht, die außerordentlich gewandt waren. Vor allem die Aussöhnung mit der Kirche. Er, ein Ungläubiger, hatte verstanden, dass mit der Unterstützung der katholischen Kirche seine Macht beträchtlich größer wurde. Und tatsächlich hat die Kirche nach den Lateran-Abkommen die faschistische Politik vertreten. Es gab natürlich Reibungen, besonders was die Jugendorganisationen anbelangte, weil der Duce gerne die Katholische Jugend abgeschafft hätte, aber in allen militärischen Angelegenheiten, vor allem dem Krieg in Afrika, hat sich die Kirche nicht im geringsten widersetzt. Bei den Rassengesetzen hat die Kirche sich nicht im Geringsten widersetzt. Auch als Italien in den Zweiten Weltkrieg eintrat und man verstand, dass die Mehrheit der Italiener den Krieg nicht wollte, da sie sich noch an den Ersten erinnerte, blieb diese Unterstützung nicht aus. Vielleicht gab es da vereinzelte Stimmen, die aber isoliert blieben, denn die Kirche hat das Regime bis zum Sturz des Faschismus unterstützt, und zwar die gesamte Kirche, wir reden nicht nur vom Papst, wir reden von den Bischöfen, den Gemeinden, den Priestern, ich meine die gesamte Organisation der katholischen Kirche. Er hatte damit einen hervorragenden Verbündeten.

Der Aufstieg von Mussolini wird in Vincere begleitet von einer Reihe von Ausschnitten aus Stummfilmen. Können Sie erläutern, nach welchen Kriterien Sie diese ausgewählt haben?

Mir war bald klar, dass die Notwendigkeit bestand, die historische Fiktion mit zeitgenössischen Filmaufnahmen zu kombinieren. Früher war es wesentlich leichter, mit historischem Filmmaterial zu operieren. Heutzutage ist alles rechtlich geschützt, und man muss die Urheberrechtsinhaber ausfindig machen; für viele italienische Filme aus der frühen Periode kann man gar nicht mehr zurückverfolgen, wer die Rechte überhaupt hat. Es gibt einen sehr wichtigen Stummfilm, den ich in der Szene einsetze, in der Mussolini im Ersten Weltkrieg nach einer Verwundung im Lazarett liegt und Besuch vom Kaiser bekommt. In dieser Szene wird Christus (1916) von Giulio Antamoro, Ignazio Lupi und Enrico Guazzoni auf ein Leintuch projiziert, das von der Decke hängt wie eine Himmelserscheinung. Mussolini liegt, Jesus wird vom Kreuz genommen und in den Schoß von Maria gelegt – das ergibt einen interessanten Moment der Identifikation, den Ida Dalser stört. Es war historisch tatsächlich so, dass es in den Lazaretten und Sanatorien Filmvorführungen für die Kranken gab, um sie zu unterhalten. Ein anderer Punkt betraf Chaplin, den ich verwenden wollte, weil ich Parallelen sehe zwischen The Kid und Ida. Die Urheberrechte von Chaplins Filmen sind nicht frei. Sie müssen bezahlt werden, und vor allem wollen die Inhaber der Urheberrechte, dass die Filmausschnitte mit der gleichen Musik projiziert werden. Da bedurfte es vieler Verhandlungen. Ein anderes Problem: Das Istituto Luce war nicht im Besitz der Aufnahmen der Rede, die Mussolini auf Deutsch in München gehalten hatte. Der Duce sprach Deutsch, mit Hitler unterhielt er sich auf Deutsch. Wir haben sie im Filmmuseum München gefunden. Vincere enthält viele, zum Teil bisher unveröffentlichte dokumentarische Aufnahmen, aber wir haben versucht, sie persönlich zu gestalten. Wir haben diese Bilder bearbeitet, um ihnen eine künstlerische Note zu verleihen.

 

Skizzen aus der Konzeptionsphase von Vincere

© Marco Bellocchio

 

Das melodramatisch gebrochene Pathos von Vincere äußert sich auch in einer sehr komplexen Musikgestaltung. Was kommt da alles zusammen 

Vincere bedeutete für mich die Rückkehr zur Zusammenarbeit mit Carlo Crivelli, mit dem ich schon bei anderen Filmen zusammengearbeitet habe. Mir schien, dass der Film eine große Musik erforderte. Mich hat sehr die Musik von Schostakowitsch für Eisensteins Oktober beeindruckt, es ist diese Art von Musik, die Crivelli übrigens auch sehr liebt. Andere Sachen haben wir dann anders bearbeitet. Natürlich ist hier die Rede von dem Einfluss des Melodrams, welches kein musikalisches Genre ist, das Crivelli besonders bevorzugt, um das wir hier aber nicht herumkamen, weil Vincere eben auch, aber nicht nur, ein Melodram ist. So gesehen brauchte es an gewissen Stellen eine große Orchestermusik. Andererseits haben wir wegen einer Vorliebe von mir und auch von Francesca Calvelli, der Cutterin, in einer sehr wichtigen Szenenabfolge auch eine lange Komposition von Philip Glass eingefügt. Wir mussten einerseits die Einheit des Filmes gewährleisten, dafür haben wir verschiedene Musikkompositionen verwendet, denen aber allen ein gewisses episches Register gemeinsam ist.

Buongiorno, notte ist sechs Jahre älter als Vincere, inhaltlich aber so etwas wie eine Konsequenz: Die Terroristen der Roten Brigaden sehen sich als Erben der Partisanen, der Resistenza gegen den Faschismus, und gegen diesen Mythos wendet sich Ihr Film.

Als ich es akzeptierte, einen Film über die Tragödie des Mordes an Aldo Moro zu drehen, gab es ja schon den Film von Giuseppe Ferrara mit Gian Maria Volontè in der Hauptrolle (Il caso Moro, 1986). Aber diese Art von Erzählung interessierte mich nicht. Eine Weile dachte ich daran, diese Tragödie durch die Personen zu erzählen, die von den Terroristen kontaktiert wurden. Besonders dieser Professor Tritto interessierte mich, er hatte eine wirklich dramatische Aufgabe, weil er derjenige war, der die Telefonanrufe der Terroristen erhielt. Ich stellte mir vor, einen Film zu drehen, der sich in der Wohnung von diesem Professor Tritto abspielt, der ein Universitätsassistent von Aldo Moro war, der Professor an der römischen Universität La Sapienza war – ich glaube für Strafrecht. Aber dann ist mir das Buch Il prighioniero (Der Gefangene) von Paola Tavella und Anna L. Blaghetti in die Hände gekommen, und an dem Punkt wurde mir klar, dass die Lösung war, den Film im Versteck selbst zu drehen, die Handlung des ganzen Filmes in der Wohnung spielen zu lassen, in der Moro gefangen gehalten wurde. Natürlich habe ich dafür einige der wahren Ereignisse, die die Braghetti, die Mitglied der Roten Brigaden war, in ihrem Buch erzählt, verwendet, und ausgehend von diesen habe ich noch eine Reihe von anderen Sachen erfunden, die aber auch zu diesen Ereignissen gehören. Sicherlich ist es wahr, dass sie ein paar Mal die Wohnung verlassen und es auch Außenszenen gibt, aber im Grunde spielt der Film im Inneren des Gefängnisses, er besteht aus Innenaufnahmen. Die Beleuchtung, das Licht kommt von außen. Aber alles befindet sich im Inneren des Gefängnisses. Und als ich mich endgültig dazu entschloss, hatte ich eine Grundeinstellung gefunden. Mit dem Komponisten der Filmmusik, Riccardo Giagni, habe ich eher daran gearbeitet, Repertoiremusik ausfindig zu machen wie von Schubert, aber auch russische Komponisten wie Alexander Knaifel, weil wir auf der Suche nach etwas waren, das dieses Gefühl des Deliriums, der Wahnvorstellungen gab, dessen sich die Brigadisten ja nicht bewusst waren. Denn sie dachten, im Recht zu sein. Ihr Wahnsinn war von einer beinahe nazistischen Rationalität. Buongiorno, notte erzählt von dieser extremen Ideologie und dem familiäre Alltag von ihnen daneben, der eigentlich ziemlich banal ist. Diese Koexistenz von politischer Raserei, die sie dazu brachte, Menschen zu ermorden und dann eine alltägliche Normalität, sind die Register des Films.

 

Buongiorno, notte (2003)

© Filmalbatros

 

In einer wichtigen Szene fährt Chiara (Maya Sansa) zu einer Familienfeier auf dem Land, bei der ein Partisanenlied gesungen wird. Es ist die markanteste Außenszene des Films, zugleich auch das Außen der hermetischen Weltsicht der Terroristen.

In jenen Jahren hatten die Kommunistische Partei und auch die Ex-Partisanen jegliche Idee aufgegeben, den Staat umzustürzen. Aber die Terroristen haben oft erklärt, dass sie sich als die Fortsetzer dieses Kampfes fühlten, der tatsächlich noch von der Resistenza herrührte. Absolut. Aber natürlich war das Jahr 45 eine Sache, und das Jahr 78 eine andere. Aber sie haben den Anspruch erhoben, die neuen Partisanen zu sein, das heißt sie behaupteten, dass sie die Waffen übernommen hätten, die von den Partisanen versteckt worden seien, um den Staat zu stürzen. Die Terroristen dachten, sie seien die neuen Revolutionäre, aber in Wirklichkeit war es der Abgesang, es war eigentlich tatsächlich der letzte Akt einer Niederlage. Damit eröffnet sich nun die ganze Diskussion, die aber sehr komplex werden würde, der Verantwortung. Diese jungen Menschen, diese 20jährigen, waren enttäuscht, weil die Kommunistische Partei keine Revolutionspartei mehr war, weil sie nicht mehr über ein politisches Vorstellungsvermögen verfügte. Sie schaffte es nicht mehr, auf Fragen zu antworten. Wir dürfen darüber hinaus nicht vergessen, dass der Terrorismus innerhalb der großen Auflehnungen der 68er Revolution entstand. Danach bildeten sich Gruppen heraus, die immer gewalttätiger wurden und dann zu Terroristengruppen wurden.

Das Fernsehen ist in der hermetischen Welt von Buongiorno, notte die Instanz der Außenwelt und damit auch die der Macht. Es sendet von der anderen Seite.

Außerhalb des Geschehens, das durch ideologische Vorstellungen bestimmt ist, gibt es eine Tatsachengeschichte. Wir sehen diese durch das Fernsehen. Wir verfolgen die Handlung durch die Hauptfiguren, von denen die Welt zu diesem Zeitpunkt noch nichts weiß, und durch den Gefangenen, in einer bürgerlichen Wohnung, und das Fernsehen gibt wieder was außerhalb geschieht, weil die Terroristen ja auch gar nicht hinauskönnen. In Vincere spielt das Kino die entsprechende Rolle, es vermittelt zwischen der eingeschränkten Perspektive der Individuen und dem größeren Ganzen. Die Terroristen verfolgten tatsächlich die Fernsehsendungen, täglich von der ersten Minute bis zur letzten – das heißt, dass das Fernsehen immer an war. Es war an zu ihrer Information, aber nicht nur. Das Kino war die große Erfindung – auch für das einfache Volk –, um die Welt auf einer Leinwand zu sehen und dadurch kennenzulernen, denn in Italien gab es eine urbane Wirklichkeit, aber vor allen Dingen war es eine ländliche. So hatte die Kinoleinwand eine außergewöhnliche Informations- und erzieherische Bedeutung.

In beiden Filmen ist es eine weibliche Figur, an der sich der ideologische Rigorismus der männlichen Hauptfiguren bricht. Ist das Zufall?

Bewusst weiß ich das nicht. Sicherlich sind in den beiden Filmen die weiblichen Hauptfiguren verschieden. In Vincere ist Ida voll kommen alleine, sie trägt nur ihr paranoider Größenwahn, alleine gegen den gesamten Staat anzutreten, mit einem absoluten Mut, nie Angst zu haben und immer die Wahrheit zu sagen, sich mit einer überwältigenden Macht auseinanderzusetzen. In Buongiorno, notte gibt es eine Terroristin, die in der Geschichte eine kleinere Rolle spielt, aber auch sie, eine Revolutionärin, rebelliert dann schließlich gegen die anderen Revolutionäre, das heißt gegen die revolutionäre Mentalität, weil sie deren völlige Unmenschlichkeit erkennt. So als wolle sie das an einem gewissen Punkt nicht mehr akzeptieren. Hier wird sie dann zu einer Fantasiegestalt, denn die Braghetti machte noch zwei bis drei Jahre weiter, sie nahm noch an anderen Morden teil, bis sie festgenommen wurde, und bereute erst später. Was wir zeigen, entspricht nicht der historischen Wahrheit: sie befreit Moro, aber sofort danach gibt es das zweite Ende, in dem man sieht, dass alle schlafen. Und dann nehmen die Terroristen Moro und bringen ihn um. Beide Frauen haben die Fähigkeit zu menschlicher Wärme, zu einer Leidenschaft, zu einer Großzügigkeit, die enorm über den Fähigkeiten der Männer steht.

Chiara ist auch diejenige, die träumt, die das Kontrafaktische träumt.

Der Traum wird in Buongiorno, notte im Sinne von visionärer Einbildungskraft verwendet, nicht so sehr, was die eigentliche Handlung des Traumgeschehens anbetrifft. Während der ersten Nacht, in der Moro als Gefangener in seiner Zelle ist, träumt sie von der Beerdigung Lenins. Es ist so, als würde sie träumend erkennen, dass dieser sogenannte große Erfolg der Roten Brigade in Wirklichkeit beinahe das Ende der linken Revolutionen ist. Es gibt dann auch noch andere, intimere Träume, Szenen, in welchen sie den Gefangenen seine Zelle verlassen sieht, er sich an ihr Bett setzt, er sie anschaut, ihre Bücher anschaut (Die heilige Familie von Marx und Engels und die Briefe zum Tode verurteilter Mitglieder der italienischen Resistenza) und den Kopf väterlich schüttelt. Viele Träume haben eher die Form von Handlungen und nicht die Funktion von gewissen Schlafträumen – denken wir doch an Hitchcocks Spellbound, in dem es viele Träume gibt, die die Handlung weiterführen.

Wenn man die Frage nach der Geschlechterdifferenz und den Träumen auf ihre letzten vier Filme (genau genommen wäre da noch Sorelle, aber den kennen wir nicht) ausweitet, dann fällt auf, dass Sergio Castellito in L’ora di religione und Il regista di matrimoni gar nichts von der starken, rigiden Männlichkeit hat, die in Vincere und Buongiorno, notte politisch so fatal wird.

In L’ora di religione (2002) spielt Castellito einen Mann, Ernesto Picciafuocco, der – ich möchte nicht sagen: halluziniert, aber dessen Weltverhältnis ein wenig irreal ist. Und so ist es auch in Il regista di matrimoni (2008), in dem er auf Sizilien sich ein wenig verirrt. Sein Risiko ist die Passivität, eine passive Neurose zu haben, eine passive Unzufriedenheit, doch die Erscheinung einer Frau – ich kann dann nicht sagen, wie realistisch das ist, aber das interessiert mich auch wenig – bringt ihn dazu, sich gegen die eigene, frömmlerisch gewordene Familie zu stellen, auch gegen die eigene Arbeit, die er nicht liebt wie in Il regista di matrimoni, und lässt ihn Abenteuer erleben. Diese weibliche Gestalt ist etwa wie die aus den Märchen, in Il regista ist das stärker. Wenn ich ein Katholik wäre, würde ich sagen, sie führt ihn zum Guten. Ich bin kein Katholik. Sie treibt ihn, sie treibt ihn an zur Bewegung, zur Widersetzung, zur Auseinandersetzung mit Individuen, die für Immobilität, reaktionäre Verhaltensweisen, eine gewisse Gewalt stehen.

Die Gesellschaftskritik in diesen beiden Filmen trägt viele Züge des Komischen.

Ich habe niemals das gebilligt, was man als «Commedia all’italiana», als die italienische Form der Komödie, bezeichnet. Denn die Commedia all’italiana basiert auf einer vollkommen pessimistischen, sehr pessimistischen Einstellung, die Menschen sind alle einer schlimmer als der andere. Dann ist das Genre zu süßlich, viel zu wenig angriffslustig, was Gesellschaftskritik anbelangt. Ich persönlich war immer von einem paradoxen Humor, einer paradoxen Komik angezogen, ein bisschen surrealistisch so wie der große Meister Buñuel, von daher diese paradoxalen Situationen, die aber niemals in einer Farce enden, die in eine Richtung führen. Wenn Sie auch an meinen ersten Film I pugni in tasca denken: an einem gewissen Punkt fängt der junge Alessandro an, auf dem Sarg herumzuspringen, eigentlich nicht herumzuspringen, sondern darüber zu klettern, und benutzt den Sarg als Barren, da sind wir im Absurden. Ich weiß nicht, ob wir das als Komik bezeichnen können, für die mich ausgerechnet Buñuel kritisiert hat, der ein großer Moralist war. Dass ein Sohn auf dem Sarg herumspringt, das fand er übertrieben, gerade er, der Sachen wie Un chien andalou gedreht hatte. Ich fühle mich sehr vom Grotesken angezogen, aber dabei handelt es sich um ein Groteskes, das niemals in der Farce endet. Zum Beispiel in L’ora di religione, als der Graf Bulla ihn zum Duell auffordert, da sagt man sich, das scheint doch absurd.

Castellito hat auch etwas von dieser Traurigkeit, die viele Große des Deadpan ausgezeichnet hat.

Nun, er ist kein Komiker als Schauspieler, die meisten Leute werden eher sagen, dass er sie an Mastroianni erinnert. Ich mag gerne Schauspieler, die zum Lachen bringen, indem sie versuchen, so wenig wie möglich dafür zu tun. Er ist ein Schauspieler, sagen wir: ein dramatischer, der aber, wenn er einen Text hat, der es ihm erlaubt, auch hervorragende komische Ergebnisse erreicht (nicht im Sinne der Commedia all’italiana, auch wenn er verschiedene Komödien gedreht hat, auch mit Carlo Verdone). Es ist eher dieser Blick, diese Augen von ihm, die etwas halluziniert wirken, weswegen das eher an eine Art von Groteske erinnert. Zum Beispiel erinnere ich mich an L’ora di religione, am Anfang gibt es da diesen Priester, der ihm mitteilt, dass ein Verfahren für die Heiligsprechung seiner Mutter in Gang ist, das sein Bruder, der Kardinal in Togo ist, in die Wege geleitet hat. Dieser Blick von ihm, der bei Überbringung dieser Neuigkeit vollkommene Verwirrung ausdrückt, ist sehr wirkungsvoll.

 

Il regista di matrimoni (2006)

© Filmalbatros

 

Kann man in Il regista di matrimoni Ihre Version von Fellinis Otto e mezzo sehen?

Vielleicht kann man das so sehen, aber im Unterschied zu dem grandiosen 8 ½, in dem alles eine große Kirmes ist, handelt es sich hier um kleine Handlungen, die sehr intim gestaltet sind. Es sind die Nahaufnahmen, die auf einer sehr vertrauten Ebene stattfinden. Aber es gibt natürlich Parallelen in der Idee von einem Regisseur, der seinen natürlichen Lebensraum verlässt, den der wichtigen Spielfilme, die Welt von Cinecittà, und sich in Sizilien mitten in einer für ihn vollkommen neuen Situation befindet. Es wäre unnötig, jetzt nach Meisterwerken unter den Hochzeitsfilmen zu suchen, die wirklich alle hässlich, sehr hässlich sind – aber den Reiz darzustellen, den das Drehen eines Hochzeitfilmes auf einen wahren Regisseur ausübt und wie dieser in eine Situation verwickelt wird, wo er einen Hochzeitsfilm zu drehen hat, das gefiel mir sehr. Und insofern ist Il regista di matrimoni sicher auch eine Weise, von sich selbst zu sprechen.

Es gibt in diesem Film einen sehr interessanten Umgang mit Bildern aus Überwachungskameras, die wie quasi-subjektive Einstellungen funktionieren. Wie kamen Sie darauf?

Das fasziniert mich einfach, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der wir immer mehr beaufsichtigt werden, wo uns nachspioniert wird, wo wir kontrolliert werden. Es gibt Städte, wo diese Kontrolle noch erdrückender, noch gegenwärtiger ist. Was mich immer mehr beeindruckt, was sogar gewöhnlich geworden ist: dass in jeden Nachrichten viele sehr schlimme Ereignisse dargestellt werden: Unfälle, Raubüberfälle, Verbrechen, die von den Sicherheitskameras aufgenommen wurden. Dieses Auge, dieser unbewegliche Blick, objektiv, kalt, auch hässlich, der mittlerweile Teil unseres Lebens ist und von daher auch ein bemerkenswerter Gegenstand von Interesse, auch inspirierend ist. Wenn ich gläubig wäre, könnte ich sagen, es ist wie das Auge Gottes, das heißt das Auge Gottes, das dich sieht, das dich überall hin verfolgt. In der Schule wurde uns beigebracht, dass Gott allgegenwärtig ist, oder wie am Anfang des Filmes L’ora di religione, wo der kleine Junge mit Gott spricht und ihn wegscheucht, weil er endlich einmal unbeaufsichtigt sein möchte. Das Auge Gottes wurde uns in der Schule beigebracht, und auch wenn es uns nur vererbt wurde, ist dies ein stilistisches Element geworden. In ähnlicher Weise ist es dann auch in Buongiorno, notte das Auge des Fernsehens. Es handelt sich um Bilder, die nun mittlerweile schon so normal sind, dass sie Gegenstand von Interesse in der Filmerzählung sind. Hier finden 50 Prozent der TV-Interviews mit diesen versteckten Kameras statt, und dann müssen sie ihre Gesichter zum Schutz der Privatsphäre verbergen, solche Sachen halt. Es ist so, als hätte man eine neue Farbe, wie ein Maler, man hat eine neue Farbe und benutzt sie. Natürlich habe ich sie im Regista dimatrimoniverwendet, auch in der Montage des Filmes in einer Weise, die mir gefiel, auch wenn an sich diese Aufnahmen eigentlich banal sind, nicht so wirksam wie Kodak-Aufnahmen.

Sind diese Aufnahmen im Falle des Regisseurs in Sizilien nun aber konkret Ausdruck eines Verfolgungswahns?

Nun ja, es entsteht objektiv der Eindruck, ihm würde ständig nachspioniert, darum geht er dann auch soweit, dass er einem Immigranten am Ende seine Jacke schenkt, danach kann er dann von niemandem mehr kontrolliert werden.

 

Sergio Castellitto in L'Ora di religione (2002)

© Filmalbatros

 

In der italienischen Politik ist das Motiv der Verschwörung sehr populär geblieben, das mit dem Fall Moro eng zusammenhängt (die Christdemokraten wollten ihn damals ja loswerden). In L’ora di religione gibt es eine tolle Szene, in der Picciafuocco einen Abend unter Klerikern verbringt, und dort umstürzlerische Dinge hört.

Es ist aber doch klar, dass dieser Graf Bulla eine absurde Figur ist, auch weil er eine monarchistische Überzeugung vertritt, was noch absurder ist. In gewisser Weise ist L’ora direligione aber auch eine moralische Erzählung, was bedeutet, dass eigentlich der Graf Bulla, auch wenn er absurde Meinungen von sich gibt, unserer Hauptfigur etwas verständlich macht. Man hat mich gefragt, ob ich hier auf die Freimaurer anspiele, aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist dieses Lächeln von Ernesto Picciafuocco (der Film heißt ja auch mit dem eigentlich richtigen Titel Il sorriso di mia madre, Das Lächeln meiner Mutter). Bei seiner Mutter wird es als das Lächeln einer Heiligen gesehen, bei ihm aber als eine Provokation, die so absurde Folgen mit sich bringt, dass er zu einem Duell gefordert wird.

Können wir in diesem skeptischen, indifferenten Lächeln auch eine Position des Regisseurs Marco Bellocchio sehen?

Der Streit um das Lächeln von Picciafuoccos Mutter, die heiliggesprochen werden soll, ist sicher charakteristisch dafür, wie ich die Dinge heute sehe. Es gibt eine starke Verbindung zwischen L’ora die religione und I pugni in tasca. Hier haben wir nicht mehr das mörderische und destruktive Verhalten von Alessandro, der Hauptfigur von I pugni in tasca, die, um sich im eigenen Wahn zu verwirklichen, alle ermordet, die ihr in den Weg kommen. In L’ora di religione zieht Ernesto sich zurück. Das Wichtige hier ist diese Trennung, der klare, deutliche Unterschied zwischen der destruktiven Dimension und der Dimension einer Trennung. Ich würde sagen, dass … der eigentliche Titel, der richtige Titel des Filmes der L’ora di religione eigentlich «Das Lächeln meiner Mutter» ist. L’ora di religione war ein guter Filmtitel für Italien, weil damals tatsächlich über dieses Problem des Religionsunterrichtes diskutiert wurde, der als solcher noch eine Nachwirkung der Lateran-Abkommen zwischen Mussolini und dem Vatikan ist, weswegen damals der Religionsunterricht in den Schulen zwangseingeführt wurde. Picciafuoccos Religionskritik steckt in dem Satz über seine Mutter, deren Lächeln als religiös verzückt gedeutet wird: «Aber sie war eine dumme Frau.»

 

Bellocchio unterbricht das Interview: «Das geht ja ganz schön lange. Wollt ihr ein Buch schreiben? Gehen wir einen Kaffee trinken!». Während wir noch dabei sind, die Aufnahmegeräte zu verstauen, steht Bellocchio, ohnehin beeindruckend agil für seinen Jahrgang (1939), bereits drei Häuser weiter an einer Bar, vor sich einen Kaffee, den er schon getrunken hat, als wir kommen. Wir bestellen Capuccino, wohl wissend, dass der Italiener das als Häresie empfinden wird – kein Kaffee mit Milch mehr am Nachmittag. Als wir ins Büro zurückkehren, ist seine Familie angekommen: Seine Frau, sein Sohn und Freunde sitzen im Schneideraum, der Hund hat es sich davor bequem gemacht. Wir müssen Marco Bellocchio klarmachen, dass wir noch eine Menge zu fragen haben.

 

Sie haben eine Verfilmung von Kleists Schauspiel Der Prinz von Homburg gedreht – was interessiert Sie an preußischer Staatsräson?

Nun, ich habe eine Aufführung gesehen, leider nicht in deutscher Sprache, und diese Geschichte hat mich eben sofort sehr fasziniert, eher diese onirische Dimension, dieses Schlafwandlerische. Der Prinz von Homburg ist ja dieses ungestüme Gemüt, das sich nicht kontrollieren kann, das sich nicht eindämmen lässt. Hier überwiegt das Irrationale die Vernunft, das hat mich sehr fasziniert. Nachdem ich das Stück gesehen hatte, ist diese Idee, diese Versuchung, für längere Zeit geschlummert. 1994 habe ich diesen seltsamen Film Il sogno della farfalla gemacht, der keinen Erfolg hatte. Danach habe ich gedacht, dass ich den Prinz von Homburg drehen könnte, mit einem schmalen Budget. Es war eine dieser Sachen, an die ich schon lange vorher gedacht hatte, wie mit Pirandello (Enrico IV, 1984) und mit Tschechows Die Möwe (Il gabbiano, 1977). Es gab die Möglichkeit, einen kleinen Film zu drehen, und ich griff dabei auf eine Lektüre zurück, die ich schon aus meiner Jugendzeit kannte. Den Prinz von Homburg habe ich, da ich natürlich die Freiheit hatte, mich nicht an die Originalfassung halten zu müssen, um ein Vielfaches gekürzt. Manche Zuschauer haben die Schlacht vermisst, in der der Prinz ja seine Übereiltheit begeht und den Befehl des Herrschers missachtet. Die Schlacht haben wir nicht gedreht, weil dafür kein Geld vorhanden war. Von daher haben wir sozusagen die Schlachtenszenen verkürzt, ein paar Explosionen gibt es, das muss reichen. Il principe di Homburg mag wie eine Überraschung wirken in meinem Werk, aber er geht wie so vieles auf eine Idee zurück, die lange da war.

 

Il principe di Homburg (1997)

© Cinecittà Studios

 

Hätten Sie den Il principe di Homburg lieber mit mehr Geld realisiert?

Nein, denn auch wenn ich genügend Geld zur Verfügung habe, versuche ich, nicht viel auszugeben. Das ermöglicht größere Freiheit. Natürlich, wenn man einen Film wie Baaria von Giuseppe Tornatore dreht … der hatte einem enormen Kostenaufwand. Aber ich denke, dass das dem Film geschadet hat, weil er gezwungen war, dass Drehmaterial zu reduzieren, damit es auch in den Kinos vorgeführt werden konnte, sonst würde oder müsste der Film ja drei oder vier Stunden dauern. So aber wird auch die Verständlichkeit des Filmes beeinträchtigt. Im Il principe di Homburg hingegen ist alles verständlich, nur der Zustand der Hauptfigur ist unklar. Mich erinnert das immer auch ein wenig an L’ora di religione, wo Picciafuocco auch nicht ganz bei der Sache zu sein scheint. Das sieht aus wie Schlafwandlerei, vielleicht handelt es sich aber um eine visionäre Dimension. Fellini stellt Traum und Wirklichkeit viel wesentlicher gegenüber, es ist immer entweder Traum oder Wirklichkeit. Meine Fantasie ist anders beschaffen, ich glaube sie mittlerweile zu kennen.

Da Sie Tornatore erwähnen – was halten Sie vom italienischen Kino der Gegenwart? Schätzen Sie Filme wie Il Divo? Können Sie uns jemand empfehlen?

Ich denke, man kann auch Autoren anerkennen, die einem nicht ähneln – ich meine im Sinne von wertschätzen, bewundern. Es liegt auf der Hand, dass die beiden Filmemacher der jüngsten Zeit, die von der internationalen Kritik anerkannt worden sind, auch tatsächlich die interessantesten sind: Paolo Sorrentino mit Il Divo und Matteo Garrone mit Gomorra. Saverio Costanzo ist jemand, der versucht, interessante Filme zu drehen, einen neuen Stil zu entwickeln – aber sehen Sie, ich bin da nicht die richtige Auskunftsperson, da müssten sie jemand fragen, der alle Filme sieht.

In den 80er Jahren galten Sie eine Weile als Skandalregisseur und beinahe als Programmkinopornograf. Der Grund war Diavolo in corpo, mit Maruschka Detmers. War dies der Film von Ihnen, der am meisten missverstanden wurde?

Damals hat ja eine Szene alles überschattet. Aber alles, was im Film zu sehen ist, hat seinen Grund – auch die bekannte Fellatio-Szene ist in einem Zusammenhang dargestellt, den ich als folgerichtig bezeichnen würde. Natürlich würde ich das heute nicht wieder so machen, da diese Art Erotik, dieses Risiko den Sitten der damaligen Zeit entsprach. In Italien und auf der ganzen Welt gibt es heutzutage einen ausgeprägten Handel mit Menschenfleisch. Ich surfe ja nicht im Internet, aber ich schaue Fernsehen, und mittlerweile findet man ja überall Pornografie. Deswegen ist es ja auch immer schwieriger, das auf originelle Weise darzustellen, auch wenn es sicherlich möglich ist, das zu machen. Damals gab es eine andere Empfindsamkeit, auf jeden Fall aber bereue ich überhaupt nichts.

 

Diavolo in corpo (1986)

© L.P. Film

 

Auffällig ist, dass Maruschka Detmers nach dieser Rolle für das Kino gewissermaßen «verbrannt» zu sein schien. Sie hat jedenfalls nie so richtig Fuß gefasst.

Woran das liegt, kann ich nicht wissen, weil das natürlich von den äußeren Umständen abhängt, aber auch von ihrer persönlichen Einstellung. Aber ich muss schon sagen, dass sie dann nicht mehr Rollen von einer solchen Intensität gefunden hat. Sie hat viele Filme gedreht, auch für das Fernsehen, aber sie hatte nie den großen Durchbruch. Die Schicksale der Schauspieler sind so stark von den Entscheidungen anderer abhängig. Ich habe ihr übrigens nach diavoloin corponoch zweimal eine Rolle angeboten, zuerst für La visione del sabba (1988), diese Rolle hat dann Beatrice Dalle bekommen, dann auch noch für La condanna (1991). Sie hat beide Male abgelehnt, sie wollte nicht mehr mit mir arbeiten, als ob dieser Film Diavolo in corpo sie besonders geprägt hätte. Persönlich sind wir uns immer auf sehr freundlicher Basis begegnet – aber mit den Welten, die mich interessierten, mit den Thematiken, die mich damals interessierten, wollte sie nichts zu tun haben. So gesehen ist sie vielleicht mit Maria Schneider vergleichbar, die aber ein ziemlich selbstzerstörerisches Schicksal gehabt hat, das war im Falle von Maruschka Detmers nicht so.

Sie waren in den 70er Jahren stark mit Fragen der Psychiatriereform befasst, das Thema zieht sich ja durch von Matti da slegare (1975) bis zu Vincere. Hat das auch ihre radikale Politisierung aus der Zeit von 1968 verändert?

Ich glaube, dass die Auseinandersetzung mit psychiatrischen Themen eigentlich recht getrennt von der Auseinandersetzung mit der Politik ist. Die Auseinandersetzung mit psychiatrischen Themen ist verbunden mit einer Einstellung, die ich als beinah romantisch bezeichnen würde. Das pathologische Schicksal des Künstlers, das auch eine sehr deutsche Auffassungsweise ist, aber auch eine sehr romantische: E.T.A. Hoffmann, Kleist, das sind Pole in Hinsicht auf die Aufopferung des Lebens im Namen der Sublimierung. Sagen wir, dass ich auf andere Weise mein persönliches Leben wie auch meine Arbeit immer als eine Dialektik empfunden habe, als eine Bewegung, ein Suchen nach der Entdeckung, der Wiedererkenntnis, der Darstellung einer Dimension, die ich als vernünftige Einstellung bezeichnen würde, die aber nicht einer gesellschaftlichen oder einer künstlerischen Mittelmäßigkeit entspricht. Ich habe mich diesem Gegensatz immer gestellt, eben weil ich durch meine Erziehung der Auffassung war, dass Schwermut, Verzweiflung, Wahn, Selbstmord notwendig seien, ein notwendiger Aspekt des künstlerischen Daseins. Das war meine Erziehung, und deswegen habe ich mich immer gegen ein solches Schicksal gewehrt. Im Verlauf der Jahre habe ich mich bemüht, auch die absolute Freiheit des künstlerischen Daseins zu verteidigen. Eben damit diese künstlerische Freiheit nicht durch eine Ideologie, das Ergreifen einer Partei ersetzt würde, die dann zu einer positivistischen, sehr abstrakten, sehr zielstrebigen Einstellung führen würde! So gesehen ist Vincere ein vorbildliches Beispiel für mein Leben und meine Arbeit, denn Vincere erzählt eigentlich ein großes Melodram, die Tragödie einer Frau, die am Ende auch das Leben des eigenen Sohnes zerstört, die eindeutig selbstmörderisch handelt. Aber ich habe diese historische Wahrheit nicht im Namen einer positiven Ideologie beeinflussen wollen, obwohl ich selbst ein Optimist bin. Ich verlange von mir selber eine absolute Freiheit, was alle Quellen meiner Inspiration anbelangt, weil man sonst den Zwang, das Willkürliche, die Ideologie, die Sendung wahrnehmen würde.

Gehen wir noch ein Jahrzehnt zurück. 1965 kommt I pugni in tasca heraus, ihr erster Film, ein sehr eigenständiges Werk zwischen den Traditionen des Neorealismus und der Nouvelle Vague.

Jemand hat damals geschrieben, dass I pugniin tasca das Grab des Neorealismus sei. Das ist aber nur zum Teil wahr, vergessen wir nicht, dass es davor schon La dolce vita von Fellini und L’avventura von Antonioni gegeben hat, lauter Filme, die irgendwie schon den Neorealismus begraben hatten. Aber es war, besonders durch die Linke, die Kommunistische Partei, eben diese Vorstellung des großartigen Neorealismus geblieben. In diesen Jahren explodierte dann auch die Nouvelle Vague, und viele Filmleute verliebten sich in Godard. Godard war wirklich der Maßstab vieler junger italienischer Filmemacher. Als ich die Filmschule beendet hatte, war ich eine Zeit lang in London, und da fragte ich mich wirklich, auch wenn ich keine sehr praktisch oder pragmatisch veranlagte Person bin, ich fragte mich, was ich mit meinem Leben machen wollte. Und ich musste halt verstehen, ob die Regie tatsächlich mein Handwerk war, das heißt ob das Filmmachen mein Handwerk war. Und so habe ich mich in die Lage versetzt, diesen Film zu drehen. Als allererstes wollte ich: eine Geschichte erzählen, eine Reihe von Umständen dafür nutzen, die mir erlaubten, das zu verwirklichen. Eben den Ort, woher meine Mutter kommt, das Haus, gewisse Schauspieler, genügend Zeit zur Verfügung zu haben, um das Projekt zu verwirklichen. Und natürlich, da ich spürte, dass es eine Geschichte war, die sozusagen irgendwie mein Leben bis zum damaligen Zeitpunkt erfasste, zusammenfasste, empfand ich es als eine persönliche Geschichte. Ich habe sie unabhängig verwirklicht, und tatsächlich ist meine Erinnerung – auch wenn es sich bei diesem Film um eine echt tragische Geschichte handelt, die Hauptfigur ist als eine Art Proto-Nazi definiert worden –, trotzdem ist meine Erinnerung an die Zeit der Drehaufnahmen die an eine, ich würde beinahe sagen, sehr glückliche Zeit, weil es die Entdeckung, der Anfang von etwas war. Ich entdeckte – obwohl ich schon kleine Filme auf der römische Filmschule (Centro sperimentale di cinema) gedreht hatte, dass das eben das richtige Metier für mich war. Es war mir bewusst, dass ich noch viel zu lernen hatte, aber ich konnte es, ich war imstande dazu. Und diese Tatsache, die mich vor viele Schwierigkeiten stellte, mich aber auch beflügelte und mich spontan werden ließ, nahm ich von damals mit. Als die Dreharbeiten abgeschlossen waren, hatte ich Schwierigkeiten, mir den Schnitt vorzustellen und vertraute mich Silvano Agosti an, der ein Kollege von mir auf der Filmschule war und meiner Meinung nach einen sehr originellen Schnitt gemacht hat. Und so entstand dieser Film, der irgendwie auch überraschte, weil er eben nicht die Nouvelle Vague imitierte, weil er eben nicht den Neorealismus imitierte. Es handelte sich eigentlich um eine traditionelle Erzählung, weil I pugni in tasca eine Geschichte erzählte, in welcher die Figuren handelten, wenn auch auf eine extreme Weise. Und dann kam das Erstaunen, als I pugni in tasca in Locarno vorgestellt wurde und ich die Wirkung von Film auf die Öffentlichkeit entdeckte.

 

Lou Castel in I pugni in tasca (1965)

© Doria

 

Wie kam es, dass Lou Castel die Hauptrolle spielte?

Es handelt sich um eine zufällige Begegnung. Wir waren ziemlich naiv damals, ich muss sagen, dass wir da schon ziemlich Glück hatten, besonders was die Hauptrollen anbetrifft. In dem Moment, da wir beschlossen, den Film zu drehen, dass heißt, dass ich ein Darlehen bei einer Bank dafür aufgenommen habe, und dann gab es noch Geld von der Familie, da haben wir uns gefragt: «Aber wer werden die Hauptdarsteller sein?». Und da haben wir angefangen, zu suchen, wir haben zum Beispiel ein Casting mit Franco Nero gemacht. Es gab auch ein Vorsprechen von einem sehr berühmten Sänger, Gianni Morandi, aber das ist nur eine Anekdote. Und dann bin ich eines Tages zur Filmschule gegangen, ich weiß jetzt nicht aus welchem Grund, und habe diesen blonden, jungen Mann gesehen. Vielleicht erinnerte mich der Schnitt seiner Augen auch ein wenig an Marlon Brando, so ein bisschen geheimnisvoll. Da habe ich mich erkundigt: «Aber wer ist denn das?» Und man antwortete mir, er sei einer, der den Regieunterricht an der Schule besuche. Er war immer still, immer für sich alleine, und dann bot ich ihm dieses Vorsprechen an, und da hat man sofort verstanden, dass diese Rolle seine war. Daraus folgte allerdings ein Problem mit der Synchronisation. Wir fanden dann einen guten Theaterschauspieler, mit einer Stimme, die recht gut zu ihm passte, denn Castels Italienisch reichte nicht für diese Geschichte. In den Filmen, die am besten gelingen, gehört auch ein bisschen Glück dazu. Dazu muss man aber sagen, dass man auch des Glückes eigener Schmied ist, dass man das Glück auch etwas antreiben muss. Man kann nicht leugnen, dass das Gesicht von Lou Castel ein entscheidendes Element von I pugni in tasca ist.

Auch er ging danach ein wenig verloren, wenngleich er bis heute immer wieder an wesentlichen Stellen auftaucht wie zuletzt in La question humaine von Nicolas Klotz.

Castel hat danach ja dann auch den Francesco d’Assisi (1966) in der Regie von Liliana Cavani gedreht, und dann drehte er noch einen anderen erfolgreichen Film Grazie, zia (1968) von Salvatore Samperi, und er hat dann noch viele andere gedreht. Aber er hat sich 1968 ganz und gar der Politik ausgehändigt, konkret hieß das, dass er einer maoistischen Partei beitrat, und für viele Jahre seine Gehälter der Partei spendete. Das war eine heldenhafte Sache, die aber seine Schauspielkarriere schädigte. An dem Punkt glaubte er nicht mehr daran. Ich bin der Meinung, dass er nicht mehr daran glaubte. Ich beging dann noch einen weiteren Fehler, als ich mich entschloss, wieder mit ihm in Gli occhi, la bocca (1982) zusammenzuarbeiten, das ging nicht so gut. Wenn man einmal eine so makellose Erfahrung gehabt hat, wie mit I pugni in tasca, ist es schwer, sie zu wiederholen. Aber das lag vor allem daran, dass er nicht mehr daran glaubte. Soviel ich weiß, ist er heute als Regisseur in Paris tätig. Er war ein erhabener Amateurschauspieler, er hatte ja keine schauspielerische Ausbildung. Ausgebildete Schauspieler halten viel aus, aber wenn man nicht diese Ausbildung gehabt hat, dann ist es oft so, um es mit einem Zitat von Tschechov auszudrücken, als Nina sagt: «Ich spielte immer schlechter.» Und so kann man sagen, dass Lou Castel immer schlechter spielte, aber aus anderen Gründen. Seine heldenhafte politische Entscheidung hat ihn zur Selbstzerstörung als Schauspieler geführt. Er hat später ja noch mit Wim Wenders diesen Film gedreht, Der scharlachrote Buchstabe (1973), einen ziemlich schrecklichen Film.

Das bringt uns zu einer letzten und ganz wesentlichen Frage: Wie gelang es Ihnen selbst, dieser Versuchung von 1968 auszuweichen, heldenhaft zu scheitern (der Marsch durch die Institutionen scheint ja von vornherein nicht ihre Sache gewesen zu sein).

Auch wenn ich damals sehr jung war, gehörte ich zur Zeit der Protestbewegung zu den etwas Reiferen, denn die Protestler von 68 waren um die 20, und ich war schon 28, 29 Jahre alt. Am Ende des Jahres 1968 hatte ich das Gefühl, dass diese spontanen Bewegungen nirgends hingeführt hätten. Natürlich, auch ich nahm Anstoß an meiner bürgerlichen Erziehung, so als ob meine bürgerliche Erziehung nichts mehr wert sei, nichts mehr zählte, und als ob auch meine zwei Filme, die ich zu diesem Zeitpunkt gedreht hatte und die sehr gut angekommen waren, auch La Cina e vicina (1967) – es schien nun, als ob das nicht ausreichte. Ich hatte den Eindruck, dass ich keine neuen Anregungen mehr finden konnte, und so trat ich im Herbst – aber ohne jeglichen Fanatismus und auf sanfte Weise – dieser maoistischen Partei bei: der Kommunistischen Union. Aber ich trat auch wieder aus, für mich war das eine recht kurze Phase. Lou Castel hingegen blieb Mitglied für weitere zehn Jahre. Ich muss hinzufügen, dass es in dieser Zeit auch zu einer familiären Tragödie kam, da mein Zwillingsbruder 1969 Selbstmord verübte. Ich habe versucht, diese Geschichte viele Jahre später mit Gli occhi, la bocca (1982) darzustellen, das ist ein Film, der mich sehr unzufrieden stimmt, weil ich mir bewusst bin, dass ich nicht genügend Freiheit besaß, um diese Geschehnisse darzustellen. Aber dieser tragische Tod überzeugte mich noch mehr davon, dass meine bürgerlich-katholische Erziehung reinweg abzulehnen sei und von daher trat ich einige Monate später dieser extrem-linken maoistischen Partei bei, die eine kulturelle Revolution vollführen wollte. Die kulturelle Revolution ist sehr wichtig, denn Mao wollte nicht nur die Produktionsverhältnisse ändern, sondern auch die Köpfe, das heißt, alles durch eine neue Kultur ersetzen. Das faszinierte mich sehr, aber diese Sache endete schnell, es dauerte weniger als ein Jahr, acht, neun Monate vielleicht. Damals war das absolut verächtlich, ein bürgerlicher Künstler zu sein, das zählte nicht, und einige Monate lang glaubte ich das auch. Aber langsam löste ich mich davon los, als ich anfing zu verstehen, dass diese Partei eigentlich nichts Neues bot – deswegen sagte ich mich los. Sie wiederholten Schlagworte, die aus der Ferne kamen. Die Partei war faszinierend, weil sie gute Schlagworte hatte: Dem Volk dienen, ja: «dem Volk dienen», da sagte man sich tatsächlich, ich diene dem Volk, ich lerne vom Volk, ich verändere mich, ich proletarisiere mich und werde ein neuer Mensch. Diese Art von Botschaft hat viele Menschen dazu gebracht, Waffen zu ergreifen, auf Menschen zu schießen, aber das war nicht die Erkenntnis des Maoismus. Der Maoismus wollte die Revolution immer mit legalen Mitteln durchführen. Während dieser kurzen Erfahrung gab es auch keine Waffen, nein, das Ziel war der Sturz der bürgerlichen Gesellschaft und die Gründung einer proletarischen Gesellschaft, aber man sprach nie von gewalttätigen Kämpfen oder Waffenaufstand. Im Gegenteil, ich erinnere mich an ein Motto von Lenin: Der Terrorismus ist die Kinderkrankheit des Kommunismus.

 

Mit Marco Bellocchio sprachen Bert Rebhandl und Simon Rothöhler, Mitarbeit: Anna Paulinyi

Dank an Adriano Aprà