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Effektivität und Identität Nicolas Klotz’ umstrittener Film La question humaine verstrickt die Gegenwart des Vernichtungstraumas in Kapitalismuskritik

Von Gertrud Koch

La question humaine (2007)

© Trinity

 

Männer in schwarzen Anzügen heben sich in der ersten Einstellung als Silhouetten von dem weiß gekachelten Pissoir ab, ohne plastisch zu werden und Körperlichkeit zu gewinnen. Leitende Angestellte der Firma S. C. Farb (eine französische Niederlassung, die offenbar auf die Muttergesellschaft IG Farben anspielt) werden so zu einer Reihe, die genauso gut kürzer oder länger sein könnte. Die Reduktion auf Stückzahlen, Nummern, Kapazitäten gibt das systemische Handeln dieses Firmenuniversums ab. Es ist der Psychologe Simon Kessler (Mathieu Amalric), dem die Aufgabe obliegt, zu evaluieren und zu selektieren, um den Personalbestand geschmeidig nach unten zu korrigieren. In braun­grauen ­Räumen, die wenig Tiefe haben, wird eine Intrige entfaltet, die undurchschaubar bleibt und sich nach und nach aufs Gemüt des jungen Mannes legt, der dazu abgestellt wird, innerhalb der oberen Manageretage kontrollierend tätig zu werden.

Der Auftrag entgleitet – und verstrickt Kessler immer tiefer in ein unsichtbares Netz aus Anspielungen, in dem sich, angeheizt durch anonyme Briefe, die Selektions­politik der S. C. Farb’schen Personalpolitik und die NS-Vergangenheit der führenden Manager verfransen. Phantasmen, Träume, kollektive Geschichtsbilder, biographische Erzählstücke verweben sich zu einem Netz aus Paranoia, detektivischer Suche und destabilisierenden Rückwirkungen auf die eigene Psyche des Psychologen.

Dem Film ist vorgeworfen worden, dass er in der fließenden Analogisierung sprachlicher Codes mit den phantasmatisch aufgeladenen Bildwelten eine vordergründige und in ihrer Banalität verderbliche Gleichsetzung von Kapitalismus mit KZ vornehme. Ein Vorwurf, der nicht ganz falsch ist, aber auch etwas in der mesmerisierenden Verdichtung des Films verdampft.

Dessen diegetische Verfahren arbeiten allesamt mit Allusionen an die Geschichtsbilder anderer Filme, an die Ikonographie von NS-Terror und KZ, ohne diese je vollständig zu inszenieren. Es herrscht der Terror des Verdachts, der anonymen Denunziationen, der brüchigen Mitteilungen und der gleitenden Verdickung von Identitäten, die nie ganz das sind, was sie scheinen. Das beginnt bei den Namen.

«Karl Rose» (Jean-Pierre Kalfon) beauftragt Simon Kessler mit der Supervision des in die Depression abgeglittenen «Jüst» (­Michael Lonsdale). Dieser erzählt Kessler, dass «Karl Rose» eigentlich «Karl Kraus» heiße und eine Waise aus einer Lebensbornanstalt sei, aufgewachsen bei NS-identifizierten Adoptiveltern und selbst Großspender einer rechtsradikalen Gruppierung. Auf der Namensebene wird mit einer mehrfachen Facettierung gespielt: Sollte sich Kraus in Rose umbenannt und einen Namen angenommen haben, der eindeutig auch jüdisch sein könnte, oder war das der Name der deutschen Adoptiveltern? – Jedenfalls ist «Karl Kraus» verbunden mit dem Wiener Essayisten, dem ein kompliziertes Verhältnis zum eigenen Juden­tum wiederholt unterstellt wurde. Wie man auch immer diesen Namen dekliniert, er wird nie ­eindeutig.

Am Ende begibt sich Kessler auf den Weg zu «Arie Neumann» (Lou Castel), den er als Absender der anonymen Schreiben ausfindig gemacht hat. Nun wird also die Erwartung aufgebaut, es komme die Schlussapotheose aus der Perspektive des jüdischen Opfers, denn als jüdisch identifiziert man ihn aufgrund des Namens, um dann abermals eine Revision zu erfahren: Hier ist der Vorname ein angenommener, der Vater Neumanns hingegen war Protagonist der Gaswagen, mit denen in Kulmhof Tausende ermordet wurden.

Und Jüst, der schließlich ins Sanatorium eingewiesen wird, verstummt, aber seine Geliebte erzählt für ihn, wie er vom Vater geschlagen und gedemütigt wurde, als er als Junge auf dessen Beteiligung an einem Massaker stößt. In einer montierten Einstellung erzählt die Geliebte Kessler von der Kindheit Jüsts, ohne dass man einen Flashback in die Kindheit sieht, lediglich im Bildhintergrund ist wiederum Jüst zu sehen, der mit der Geliebten spricht.

Es sind diese Verfahren gestaffelter Identitätsformierungen, die in gewisser Weise gegen die These von der Gleichsetzung des kapitalistischen Rationalismus mit den Vernichtungslogiken der Konzentrationslager sprechen. Ein Vergleich, der vor allem die Differenz verfehlt, die zwischen kapitalistischen Effektivierungsmaximen und Leistungssteigerungslogiken auf der einen Seite und der Vernichtung von «menschlichem Kapital» im NS besteht. Zwar gleichen sie sich in der Form der industriellen Massenproduktion von Waren, aber die Produktion von Mehrwert und Gütern liegt auf einer anderen Rationalitäts­ebene als die der Vernichtung von Menschen. Vernichtungslager waren keine Orte ­rationalisierter ökonomischer Güterproduktion, sondern rational kaum begründbarer Zerstörung. Eine solche Lesart des Films erscheint mir selbst oberflächlich und an der historischen Schichtung des Films vorbeizugehen. Denn dieser zeugt ja gerade von einem unmerklichen Abgleiten in die Disfunktionalität, die Jüst am Ende in die Psychiatrie verbannt und den Psychologen selbst zur Implosion bringt.

Question Humaine und Human Stain

So ist es also nicht die vermeintliche formelhafte Gleichsetzung von Codes betrieblicher Entscheidungslogik mit Opferselektionen, die dem Film eine prekäre Ebene einzieht, sondern die Dimension einer phantasmagorisch verschmolzenen Einheit des historischen Gedächtnisses. Am Ende ein surrealistisch inszenierter Traum: Das Streichquartett, das zum Rebus des Films mutierte, wird unmerklich zur Allusion an das Orchester von Auschwitz.

Es ist Simon Kesslers Traum, der am Ende steht und es ist dieser Traum, der sich filmisch so in die Bildwelt fügt, dass er Traum und inszenierte Welt verschmelzen lässt. Im Kern, das wäre meine Lesart des Films, geht es nicht um Agambens transzendentale Begründung der Verwobenheit von Lager, Rechtsordnung und Kodifizierung, sondern um eine surrealistische Konzeption von «Auschwitz» als unbewusstem Signifikanten unserer historischen ­Identität.

Die «menschliche Frage» stellt sich nicht im rechtsbedingten, rechtlosen Zustand des «Homo Sacer» Agambens, und auch nicht in der kalten Verrohung zum «Elementarteilchen» Houellebecqs, sondern in der nach den gespaltenen Identitäten, in denen die historisch gegebene soziale Existenz mit den subjektiven Entwürfen der individuierten Person kollidiert.

Philip Roth hat «la question humaine» in diesem Sinn als «human stain» diskutiert. In seinem Roman wechselt ein junger «schwarzer» Mann im College seine Identität, um als «Weißer» akademisch Karriere machen zu können. Dies tut er, indem er sich als Jude ausgibt und sich damit einer anderen Minderheit assimiliert. Die ethische Frage stellt sich dabei auf mehreren Ebenen, als die nach der Verpflichtung, die eigene Herkunft, also die Eltern und Familie, nicht zu verleugnen, und natürlich als die nach der Aufrichtigkeit gegenüber den eigenen Kindern und deren Recht, ihre Herkunft zu kennen. In La ­question ­humaine werden ja nicht die NS-Täter ins Zentrum gerückt, sondern deren Söhne, die über die Taten der Eltern in jene phantasmagorischen Bereiche eingelassen werden, in denen die Taten traumatisch präsent sind, aber weder als die eigenen noch als die Fremder distanziert werden können.

Die moralische Irritation liegt wohl weniger in der Frage, ob der ökonomistische Vergleich moralisch statthaft, historisch vertretbar und politisch geboten sei – er ist es auf keiner der Ebenen –, sondern in der Frage, ob man die Kontinuität des Vernichtungstraumas als kollektives Phantasma begreifen kann oder sollte, das sich von Täter- und Opferperspektiven, nach denen wir die historische Erinnerung in divergente Narrative strukturieren, gelöst hat. Denn das suggeriert der ebenso fragwürdige wie eindrucksvolle Film von ­Nicolas Klotz.