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Mutters Maske Comedy im Moment der gesellschaftlichen Tragödie: Mother von Bong Joon-ho ist der Arthouse-Monolith des Sommers

Von Max Linz

© CJ Entertainment

 

Nachdem Bong Joon-ho mit dem Monsterfilm The Host (Gwoemul) für die erfolgreichste koreanische Produktion aller Zeiten verantwortlich ist, kommt nun die nächste Episode seines auteuristischen Großprojekts – gesellschaftsgeschichtliche Ursachenforschung durch den Genrefilm – ins Kino. Mit Mother (Madeo) kehrt er zum offenen Ende der vorletzten Arbeit Memories of Murder (Salinuichueok) zurück. Memories of Murder, verortet im letzten Jahr der koreanischen Militärdiktatur, handelte von einer gewalttätigen Exekutive, die, in ihrer Unfähigkeit einen Serienmörder zur Strecke zu bringen, die Zivilgesellschaft terrorisiert. Die letzte Sequenz des Films spielt im neuen, hochindustriellen Korea der nuller Jahre und zeigt die eher zufällige Rückkehr des damaligen Hauptkommissars an den ersten Schauplatz des noch immer ungeklärten Verbrechens. Am Tatort kauernd, am Rande eines Reisfelds, erkennt er seine Schuld und wendet diese in der letzten Einstellung durch einen betroffenen Blick in die Kamera auch gegen den Film und sein Publikum.

Mother schließt bereits in der Titelsequenz offen an diesen Schuldzusammenhang an. Die Protagonistin, verkörpert von der in Korea aus TV-Dramen bekannten Kim Hye-ja, geht der Kamera durch ein von Wäldern gesäumtes Feld hindurch entgegen. Die Opening Credits erscheinen, Filmmusik setzt ein, und sie beginnt zu tanzen. Sie hebt den Blick in die Kamera, und ihr Anblick irritiert. Mit einer schuldbewussten Geste legt sie die Hand vor die Augen, doch im nächsten Moment lacht sie. Ihr Tanz wird gestisch, zu einem Zitat, einer gespenstischen Wiederholung, der das Vorbild fehlt. Der Film handelt vom ihrem Bemühen, ihren unmündigen Sohn Doon-jo (Bin Won) aus den Fängen der Justiz zu befreien, die ihn aufgrund von Indizien für den Mord an einer Schülerin schuldig befindet. Die Mutter ist fest davon überzeugt, dass jemand ihrem Sohn das Verbrechen angehängt hat. Doon-jo ist ein Muttersöhnchen, der mit seiner Mutter das Bett teilt, was er als «mit ihr schlafen» fehldeutet, und aufgrund einer geistigen Behinderung von seiner Umwelt gedemütigt wird. Nach einem einsamen Alkohol-Exzess, der an die spät-adoleszenten Helden von Hong Sang-soo erinnert, wird er tief in der Nacht aus einer Kneipe geworfen. Auf dem Nachhauseweg verfolgt er ein Mädchen, das vor ihm flieht und aus ihrem Versteck heraus einen Stein nach ihm wirft. Als ihn die Polizei am nächsten Morgen aufgrund von Hinweisen des Kneipenpersonals inhaftiert und ihm mit Folter droht, gesteht er den Mord, obwohl er sich nicht an das Geschehen der Nacht erinnern kann.

To frame someone

Wie schon in Memories zeigt sich an einem Kriminalfall die Unzulänglichkeit einer gesellschaftlichen Ordnung. Doch dieses Mal steht mit der Mutter nicht die staatliche Polizeigewalt, sondern das vereinzelte Individuum im Fokus der Handlung, was es Bong Joon-ho ermöglicht, das kollektive Gedächtnis aus der individuellen Erinnerung zu gewinnen und so das private Melodrama zur gesellschaftlichen Tragikkomödie umzuschreiben. War der unbekannte Mörder in Memories ein «Mann ohne Eigenschaften», ein Jedermann, und das Monster in The Hostdie schauderhafte Kreatur einer opaken und der Bevölkerung fremden Innenpolitik, so sind die Schuldigen in Mother instabile Subjekte, deren persönliche Schicksale und Erinnerungen aufs engste miteinander verwoben sind. Gleichzeitig macht sich der Film die fragmentarische und wandelbare Gestalt individueller Erinnerung für den Kriminalplot zunutze und legt beständig falsche Fährten. Wie sich zeigt, ist nicht nur Doon-jo’s Erinnerungsvermögen mangelhaft; alle Figuren halten Erinnerungen verborgen, die die Aufklärung des Mordes zunehmend zu verunmöglichen drohen. Die allein erziehende Mutter, der mit ihrem Sohn auch ihre Mutterschaft verloren zu gehen droht, muss sich nicht nur mit der Ignoranz der Gesellschaft, sondern auch mit ihrem eigenen Verdrängten auseinandersetzen. Wie sich im Verlauf der Handlung offenbart, ist sie an der Situation nicht schuldlos, denn sie hat ihren Sohn in seiner Kindheit vergiftet. Unterwegs zu einem Treffen mit einem prominenten Rechtsanwalt kauft die Mutter in strömendem Regen bei einem Lumpensammler einen Regenschirm. Sie hält ihm zwei Geldscheine zur Bezahlung entgegen, er nimmt nur einen. Der Anwalt sitzt, solche Szenen sind typisch für Bongs Darstellung maskuliner Arbeitswelten, im Restaurant, zwei Anzugträger liegen besoffen mit dem Kopf auf dem Tisch, drei Prostituierte sitzen gelangweilt daneben. Er bittet die Mutter, sich daran zu erinnern, wie schnell die Zeit zwischen den Fußball-Weltmeisterschaften 2002 in Südkorea und 2006 in Deutschland vergangen ist: wenn sie selber bereit sei, sich vier Jahre von ihrem Sohn zu trennen, würde er seine Beziehungen nutzen, um ihn in der Irrenanstalt des hier neben ihm schlafenden Vetters unterbringen zu lassen. Er reicht ihr einen starken alkoholischen Drink, die Mutter leert ihn in einem Zug. Die nächste Einstellung zeigt das Gesicht ihres Sohnes als Kleinkind, dem eine Flasche mit Medizin entgegen gehalten wird, darauf folgt das Bild der Mutter, die sich zu Hause übergibt.

Durch die Montage von Gegenwart und vergegenwärtigter Erinnerung überschreibt und deutet der Film seine Geschichte je von neuem. Charakteristisch für dieses Verfahren sind «unmögliche» Anschlüsse, wenn Einstellungen, die wie ein Point of view wirken, von der Figur, die man für die Ursache des Blicks gehalten hatte, betreten werden. Die durch eine solche Konstruktion des filmischen Raumes entstehende Leerstelle zeugt von einem Außen der Handlung, das von den Figuren nicht eingeholt werden kann. Vergeblich stößt die verzweifelte Mutter bei ihren Ermittlungen auf immer neue Erinnerungen. Wenn sie den halbseidenen Buddy ihres Sohnes Jin-tae (Ku Jin) befragt, ist sie es selbst, die in dessen Erinnerungsbildern auftaucht und diese durchläuft. Mother verwebt die Figur der Mutter wie den Zuschauer in ein interpersonales Erinnerungsgeflecht, das gleichsam außerhalb ihrer selbst liegt, im apersonalen Off des Films. Der Film selbst legt die Grenzen dessen fest, was sichtbar ist, was gewusst und für wahr gehalten werden kann. Doch der Frame, die Begrenzung des Bildausschnitts, ist eine zweifelhafte epistemologische Kategorie. Denn to frame someone kann sowohl bedeuten, jemanden ins Bild zu setzen, als auch jemandem ein Verbrechen anzuhängen, das er nicht begangen hat. Von diesem Doppelsinn ist Mother kontaminiert. Um ihren Sohn zurückzubekommen, muss die Mutter einen anderen framen.

Und dem Verbrechen ist, einmal geschehen, nicht mehr auf die Spur zu kommen. Das Kino, zumal das kommerzielle, kommt immer zu spät, als Fälschung. Es kennt, wenn überhaupt, nur seine eigene Wahrheit, deren Logik immer dieselben zum Opfer fallen. Bong Joon-ho hält seine Filme deshalb offen für Abberationen, für Comedy im Moment der gesellschaftlichen Tragödie, die jede Fest- und Zuschreibung von Geschichte durchkreuzt. Dadurch eröffnet sich seinen Filmen der in der Filmindustrie außergewöhnliche Spielraum einer reflexiven Bezugnahme auf Regimes der Darstellung, des Blicks und der Anteilnahme, deren Dynamisierung sie ihre ungeheuerliche erzählerische Dichte verdanken. Mother ist ein Kristall, der Arthouse-Monolith des Sommers, in dem sich die Erzählstränge individueller wie kollektiver Geschichte bündeln und wieder auseinanderfallen.