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Raymond Depardon und Claudine Nougaret «Eines Tages wird man das alles nicht mehr glauben»

Von Bert Rebhandl

Seit mehr als 50 Jahren bereist Raymond Depardon als Fotograf der Agentur Magnum und als Filmemacher die Welt. Zuletzt widmete er sich zunehmend einem Werkstrang, der sich mit Institutionen in Frankreich beschäftigt – in seinem aktuellen Film 12 jours geht es um die Verbindung zwischen Psychiatrie und Justiz. Bei dem Gespräch mit Raymond Depardon in München war auch seine Partnerin, Produzentin und Tonfrau Claudine Nougaret dabei.

 

© Yelkrokoyade | Creative Commons

 

12 jours ist ein Film über Psychiatriepatienten, die vor Gericht ihre Zurechnungsfähigkeit beweisen wollen. Wie kamen Sie zu diesem Thema?

RD  Ich habe schon zwei Filme über die Psychiatrie gemacht, und zwei Filme über das Gericht. Hier kommen die beiden Themen zusammen. Zwei Bekanntschaften waren dabei wichtig, eine Frau von der Stadtverwaltung und eine Psychiaterin in Lyon. Sie haben uns von diesem Gesetz erzählt, auf das kaum jemand achtet, und das schwer durchzusetzen war, denn die Psychiater haben versucht, es zu verhindern. Wir sind dann nach Lyon gegangen und haben uns im Krankenhaus Vinatier umgesehen. Dort wurde das Gesetz sehr schnell umgesetzt. Ein sehr großes Spital, mit 900 Patienten. Dazu kam, dass dieses Krankenhaus für mich Symbolkraft hatte, denn als ich klein war, haben meine Eltern immer gesagt – wie das überall auf der Welt ist: wenn du nicht brav bist, dann kommst du in eine Anstalt, und dann folgt immer ein Name – in diesem Fall war das Bron (Le Vinatier liegt in dem Stadtteil Bron in Lyon). Sehr schnell habe ich mit Claudine die Idee entwickelt, dass man ein lockeres, aber doch umfassendes Dispositiv entwickeln sollte, mit drei Kameras. Und wir waren gezwungen, digital zu drehen, denn mit Filmmaterial wären wir nicht autonom genug gewesen.

Sie hätten prinzipiell lieber auf Film gedreht?

RD  Ja, das ist mein erster digitaler Film. Ich hatte auch Kopfzerbrechen deswegen, das hat sich aber schnell gelegt. So waren dort eben die Bedingungen. Ich wollte jedenfalls kein schmutziges Bild, kein schwach definiertes Bild oder eines mit harten Kontrasten, wir wollten etwas, das bequem ist und schnell. Wir haben etwas sehr Seltsames bemerkt, nämlich den Blick der Patienten. Der war auffällig unverwandt, ohne Blinzeln. Und dann mussten die Aufnahmen ja auch noch autorisiert werden. Wir haben jetzt schon fünf, sechs Filme in vergleichbaren institutionellen Zusammenhängen gemacht, und die Behörden …

CN  … die wollen immer wissen, was unsere Aussage sein soll …

RD  Ja, das läuft auf ein Thema hinaus, das mich ja schon lange beschäftigt, nicht nur in der Psychiatrie, aber dort spielt es halt eine große Rolle. Ich meine den Freiheitsentzug. Davon gibt es unterschiedliche Formen, inzwischen auch schon modernere. Was hat sich also heute im Universum der Psychiatrie verändert im Vergleich zu Urgences (1987) oder San Clemente (1980), den ich in Italien gedreht habe? In 30 oder 40 Jahren haben sich da enorme Veränderungen ergeben, und diese Veränderungen wollte ich aufzeigen und mich persönlich damit auseinandersetzen. Als ich Claudine traf, haben wir diesen ersten Film gemacht: Urgences.

Das war 1987 in Paris, eine pychiatrische Notaufnahme.

CN  Im Kern geht es uns darum, die psychischen Krankheiten zu entstigmatisieren. Zu diesem Zweck macht es Sinn, ein möglichst großes Publikum anzusprechen, deswegen haben wir uns an den bekannten Komponisten Alexandre Desplat gewandt. Wir wollten die Idee des Wahnsinns (der Verrücktheit, la folie) entstigmatisieren. Es war das erste Mal, dass wir solche Leute gefilmt haben. Davor hat man sie praktisch nicht gesehen. Für uns war wichtig, den Leuten die Angst zu nehmen und keine Distanz zu dieser Krankheit entstehen zu lassen. Stattdessen wollten wir eine Empathie vermitteln.

Die Patienten bekommen in 12 jours Pseudonyme, sie sind aber in ihrer leiblichen Erscheinung sie selbst, sie sind Darsteller ihrer selbst.

RD  Das ist ein Aspekt, denn bei diesem nach zwölf Tagen stattfindenden Gespräch steht natürlich eine Menge auf dem Spiel. Die Patienten gehen da mit einer großen Anspannung hinein. Da geht es erst einmal darum, dass ihnen die Kamera nichts ausmacht. Wenn ich in einen Raum komme, in dem sich eine Kamera befindet, dann ist es gar nicht so sehr das Objektiv, das mich beschäftigt. Es ist das Stativ, die Assistenten, das Licht.

Wir haben also auf ein Stativ verzichtet und die Kamera nur ganz diskret auf einer Stange angebracht, kein zusätzliches Licht. Die ganze Situation musste entschärft werden, denn die Person, die diesen Raum betritt, ist in einem Aufruhr.

CN  Bild und Ton, das sollte technisch optimal sein, und so bekommt man den Eindruck, dass diese Person spielt. Aber sie ist kein Schauspieler, wir filmen sie nur wie einen Schauspieler.

RD  Und es sind ja drei Kameras im Raum. In meinen Anfängen als Filmemacher habe ich häufig nur mit einer Kamera gedreht. Später dann mit zweien, und dann haben die Schnittleute mir gesagt, wenn du drei Kameras hättest, das wäre perfekt. Und ich fragte: Wieso? Weil man dann etwas hervorheben kann, man kann die Wirklichkeit reduzieren, man kann sie ein bisschen fiktionalisieren. Nun gut, ich bin da nicht so penibel. Wir hatten also eine Kamera, mit der ich arbeitete, und eine, mit der wir die Richter filmten, einen Mastershot und einen weiteren. Der Ort ließ nicht viel zu.

CD  Dieses Mal hatten wir Tageslicht. Damals bei Urgences hatten wir nichts.

RD  Ja. Ich wusste immer schon, dass das, was ich bei der Fotografie und im Kino anders machen konnte als andere (ich komme ja aus einer Generation mit bedeutenden Vätern wie Jean Rouch oder Chris Marker), der Ton war. Das Wort. Es gibt ein, zwei Ausnahmen, vor allem Wiseman, aber üblicherweise kommt man über die Fotografie zum Kino. Ich habe mir gesagt, ich mache Filme aus dem Vertrauen in die Leute heraus, dass sie eine Menge zu erzählen haben. Sie vergessen die Kamera sehr schnell. Ungefähr die Hälfte aller Personen erklären sich schließlich einverstanden. Das gilt quer durch die Bereiche, auch bei 10e Chambre (2004) war das so. Und jetzt haben wir hier diese Leute, die man noch nie gesehen hat, und die mich wirklich überrascht haben, die sich gut ausgedrückt haben …

CN  Und es gibt nun wirklich nicht viele, die wie wir auf Kommentar und Voiceover verzichten. Der Dokumentarfilm in Europa und in den USA ist sehr darauf gepolt – wir vertrauen dem Publikum, wir verzichten darauf, die Bilder zu erläutern, anders als etwa Agnès Varda das tut, die etwas aufnimmt, und es dann erklärt, und dann noch einmal erklärt. Für uns sind die Zuschauer erwachsene Menschen, mit eigenem Standpunkt, mit eigenen Leben, und es ist viel interessanter, dieses mit dem Film in Verbindung zu bringen, als dem Film eine Botschaft mitzugeben, die ja sowieso veraltet. Was man heute über die Psychiatrie denkt, wird in zehn Jahren ohne Belang sein.

RD  Nicht in zehn Jahren. In drei Monaten. Die Gesetze ändern sich dauernd, und das könnte man als Ausdruck einer Ambiguität sehen, das ist es aber nicht. Für mich jedenfalls führt das alles zu einer Frage: Ich bin in diesem Raum, mit den Richtern, den Psychiatern, den Patienten, den Anwälten, und ich frage mich – wer bin ich? Ich kann mich ja nicht einfach in sie hineinversetzen und sie dann beurteilen, und dabei so tun, als wäre ich klüger. Die Behörden, mit denen wir bei Delits flagrants (1994) und 10e chambre zusammengearbeitet haben, die denken vielleicht, sie haben Claudine zu locker genommen.

CN  Respekt vor den Leuten zeigt sich darin, dass wir ohne ein Apriori vorgehen. Das Leben ist kompliziert und malt nicht in Schwarzweiß, die Logik von Schuldig / Nicht schuldig ist nicht immer angemessen.

RD  Was bei diesem Film seltsam ist, das ist die Figur des Psychiaters, die Schlüsselfigur in jedem psychiatrischen Krankenhaus. Hier ist sie abwesend. Das war für den Film sehr bedeutsam, denn der Psychiater ist zugleich abwesend und doch dabei. Er ist präsent in den Worten, in den Berichten, der Richter ist die ganze Zeit zu sehen.

CD  Aber es gibt hier keinen dominanten psychiatrischen Diskurs. Häufig sind Filme über die Psychiatrie ja so verfasst, dass die Psychiater über die Behandlung und über die Kranken sprechen. Hier aber erklären die Kranken die Psychiatrie.

 

12 jours (2017)

© Grandfilm

 

RD  Ja, derzeit ist es überhaupt so, dass sich da die Perspektive verschiebt. In Frankreich kommt gerade ein Film heraus, in dem die Kranken selbst die Kamera übernehmen …

CN  Ah ja. À l’aborde.

RD  Ja, diesen Film haben sie selbst gemacht. Das fand ich großartig. Ich habe auch das Krankenhaus von heute gefilmt. Es war sehr interessant, die Abteilungen anzuschauen, ich hatte ja überall Zutritt. Mit kleinem Team, fünf Leute, haben wir uns ein Bild davon gemacht, wie heute ein psychiatrisches Krankenhaus aussieht. Es ist auf eine gewisse Weise menschenleer, auf den Fluren ist niemand, die Einheiten sind klein, jeder hat sein Zimmer, die Pfleger sind versteckt, die Schlüssel sind elektronisch.

Die Lautlosigkeit fiel mir sehr auf.

RD  Als ich zum ersten Mal über die Psychiatrie gearbeitet habe, in den 80ern bei Basaglia, da gab es ein paar Symptome oder Krankheitsbilder, die sich wiederholten. Nervenzusammenbruch, das bedeutete: Bettruhe, aber es gab auch die Paranoiden in ambulanter Behandlung, und ich wurde häufig für einen solchen gehalten, denn ein Fotograf gibt ja nie Ruhe, ist ständig auf der Suche nach irgendwas, nach einem Blick, einer Perspektive. Ich wurde aber auch anders wahrgenommen, denn immer wieder sind Leute zu mir gekommen und haben mich gebeten, eine Botschaft aufzunehmen, die nach draußen gehen sollte, an ihre Mutter zum Beispiel, das war ergreifend, ich hatte da ein bisschen Angst, dass die Leute das als komisch empfinden könnten und sich darüber lustig machen. Die Geschichte des Kinos ist sehr stark mit der Geschichte der Psychiatrie verbunden. Es wäre interessant, wenn man eines Tages alle Psychiatriefilme, dokumentarische und fiktionale, zusammen sehen könnte, und man könnte die Veränderungen sehen, die Gesetze, die Moden. Wer weiß, vielleicht machen wir auch noch einmal einen anderen Film, einen vierten. Wenn man an Filme wie Shock Corridor oder One Flew Over the Cuckoo’s Nest denkt, die hatten noch einen bestimmten akustischen Raum, das fehlt heute.

Wie lief 12 jours in Frankreich?

RD  Der Film hatte 150 000 Besucher, das ist nicht schlecht, und es gab vor allem unglaubliche Debatten. Es sind ja alle irgendwie betroffen, viele kennen jemand mit psychischen Problemen.

Ich sehe zwei Typen Film in Ihrem Werk. In den einen sind Sie vor allem Fotograf und Reisender, in den anderen ein Intellektueller und französischer Zeitgenosse.

CN  Das ist wie bei den zwei Gehirnhälften: Die eine ist ein Fotograf, die andere macht Kino. Das geht den ganzen Tag hin und her bei ihm. (lacht)

RD  Die erste Kategorie ergibt sich aus der Fotografie. Hinter jedem Bild, hinter jeder Kamera, Bewegung oder nicht, gibt es ein Individuum. Ich mag die Niedertracht meiner Kollegen nicht sehr, ich meine jetzt «Niedertracht» in Anführungszeichen. Ich bin seit langer Zeit Pressefotograf. Man kann nicht die ganze Zeit die Kamera auf die Leute richten. Irgendwann muss man die Kamera auf sich selbst richten.

CN  Ich glaube nicht, dass es diese zwei Formen des Kinos gibt, mit Stimme und ohne Stimme. Ich glaube, er versucht jedes Mal einen anderen Film zu machen. Er will sich vor allem nicht wiederholen. So kommt man eben irgendwann auf die eigene Familie, auf die Herkunft, und dann sagt man wieder, das haben wir schon gemacht und das haben wir schon gemacht. Man versucht die ganze Zeit, sich selbst zu überraschen.

RD  Ich komme wieder auf diesen Satz von Rimbaud zurück: Der Ort ist die Formel. Jeder Ort hat seinen eigenen Imperativ: ob ich in Afrika drehe, in einem Krankenhaus oder auf einem Bauernhof. Es gibt Gemeinsamkeiten zwischen Afrique (1996) und den Profils paysans (2001). Wenn man die Leute so filmt, muss man mit ihnen sprechen können. Wenn ich auf dem Land filme, dann mache ich manchmal etwas, was mir beim Cinema Direct in Paris verboten ist, ich spreche hinter der Kamera. Jean Rouch und Chris Marker sprechen auch sehr oft hinter der Kamera. Das lässt sich alles nicht so leicht voneinander abgrenzen. Vor 30 Jahren habe ich da einmal etwas gelesen über den Unterschied zwischen einer beobachtenden und einer teilnehmenden Kamera, aber auch wenn sie beobachtet, ist die Kamera nie neutral. Die sechs Personen, die wir für 12 jours gefilmt haben, sollten vergessen, dass die Kamera da ist, wir haben uns darum bemüht, keinen Mucks zu machen, aber wir waren doch da, wir sind Personen, wir sind als Kamera da. Ich möchte nicht so tun, als wäre das anders. Wir arbeiten nicht mit einer versteckten Kamera. Ich verstecke mich nicht hinter der Kamera. Und das ist kein Film auf Befehl, die Leute sind frei, zu tun, was sie wollen. Es gibt übrigens auch noch die Facette von Schwarzweiß und Farbe, wenn wir von den zwei Aspekten sprechen, aber was zählt, ist der Film.

Geht Film bei Ihnen wie von selbst aus dem Fotografieren hervor?

RD  Serge Daney hat einmal gesagt, dass das mit der Fotografie und dem Kino nicht so einfach ist. Man würde normalerweise meinen, dass die Fotografie zum Kino führt, aber irgendwie ist die Fotografie auch ein Fluch. Das Filmbild ist nun einmal offen, man sollte es nicht an der Geschlossenheit des fotografischen Bildes messen. Natürlich gibt es viele Filmemacher, nicht zuletzt aus dem früheren Ostblock, die unglaublich gut kadrieren konnten, das hat mich vor allem sehr beeindruckt, als ich ein junger Filmemacher war: Forman, Eisenstein, auch Murnau …

Forman sehen Sie auf derselben Ebene wie Eisenstein?

RD  Nein, aber nach Forman, oder auch nach Antonioni, konnte man allmählich ein wenig freier operieren. Es ist wichtig, dass die Kamera keine Bürde ist. Zu mir hat mal ein Redakteur bei der Agentur Dalmas gesagt, als ich so 20 war: Raymond, du musst Filme machen. Du musst dir die Amerikaner ansehen, die machen großartige, experimentelle Sachen. Ich werde dir eine Filmkamera besorgen. Und er hat mich dann dazu gebracht, zu drehen, und zwar Plansequenzen. Zehn Minuten ohne Schneiden. Das war an sich langweilig, auch noch ohne Ton. Aber später, als ich mit Giscard (Valery Giscard D’Estaing) gedreht habe, da ging es dann wieder darum, diese Bewegung mitzugehen, ihn nicht einfach aus den Kulissen zu filmen, sondern ihm zu folgen, ihn bei kleinen Missgeschicken zu erwischen. Wenn er dann flucht, da wird er lebendig.

Was halten Sie von den heutigen Möglichkeiten, mit Protagonisten zu drehen, die verkabelt sind und ein Mikrofon am Körper tragen?

CN  Als ich mit Raymond zu arbeiten begonnen habe, sind wir uns sehr schnell darüber einig geworden, dass wir das nicht tun wollten – wir wollten den Leuten keine Mikros anbinden. Aber das bedeutet, dass man nur dort drehen kann, wo Mikrofonstangen erlaubt sind. Wir sind da alte Schule. Wenn man Menschen nahe ist, hört man sie gut, wenn man weiter weg ist, hört man sie von weiter weg. Wenn wir psychiatrischen Patienten ein Mikrofon anbinden würden, wäre das eine Krise, denn sie haben eine Beziehung zu ihrem Körper …

RD  … und dann sind die wirklich Schauspieler.

CN  Dann verwandeln wir sie in Schauspieler.

RD  Die Bauern …

CN  Ja, die Bauern in Profils Paysans haben wir ausgestattet. Aber mit denen haben wir über zehn Jahre gearbeitet. Außerdem braucht man einen sehr guten Mischer, wenn man mit diesen Mikrofonen arbeitet. Beim Ton hat die Qualität des Handwerks deutlich nachgelassen.

RD  Bevor ich Claudine kennengelernt habe, habe ich mit dem Mikro an der Kamera gearbeitet. Ich hatte Bedenken wegen der Stange, weil sie die Natürlichkeit der Szene stören könnte. Ich hatte Angst …

CN  Aber ich habe doch Le rayon vert (Regie: Eric Rohmer, BR) gemacht, du musstest keine Angst haben!

RD  Nein, ich hatte keine Angst. Was ich sagen will: Man kann beim Ton auch etwas machen, was der Fotografie entspricht. Ich vergleiche Claudine immer mit Cartier-Bresson, da gibt es Ähnlichkeiten, denn sie sucht nichts, sie bietet sich auch den Protagonisten nicht an. Wenn wir drehen, dann suchen die Leute ja immer einen Blick, der Filmemacher ist aber hinter der Kamera, also wenden sie sich an Claudine, die den Ton macht. Da ist es wichtig, dass sie sich dem nicht verweigert, denn sonst sprechen die Leute dann in die Kamera.

CN  Man muss einen Blick haben, der die Leute entspannt. Ich finde, es sollte kein Dogma sein, ob man Ton mit der Stange macht oder die Leute verkabelt. Aber es ist wichtig, dass der Ton ein Metier ist, etwas, was man sehr gut machen kann, wenn man es richtig gelernt hat. In Frankreich hat das Metier eine große Tradition. Aber heute muss alles schnell gehen.

RD  Manchmal sind nur noch zwei Tonleute am Set.

CN  Deswegen sind wir auch die Produzenten unserer Filme, denn wir wollen nicht mit jemandem über solche Dinge verhandeln müssen. Das Geld muss in die Bilder und in den Ton gehen. In vielen heutigen Dokumentarfilmen ist das Geld an der falschen Stelle.

 

© Double D | TF1 | Raymond Depardon

 

In Ihrem großen Afrika-Film sprachen Sie 1995 von «la douleur  als einem Schlüsselbegriff. Ist das eine Kategorie, die man auch auf die Psychiatriepatienten anwenden könnte?

RD  Ja. Ich habe keine Scheu, dieses Wort zu verwenden, auch wenn es ein bisschen pathetisch ist. In Afrique: Comment ça va avec la douleur? verwende ich es auf eine afrikanische Weise, könnte man sagen. Die Afrikaner machen sich ein bisschen über mich lustig, sie nehmen mich ein wenig wie einen Columbo und sagen: Na, wie steht es mit dem Schmerz? Afrika hat eine solche Kraft, dass es das Wort verändert, ihm einen anderen Sinn gibt. Aber in 12 jours ist der Schmerz auch da, nicht das Wort, aber man hört es, man spürt es. Man spürt es bei der angolanischen Frau, die diesem Leiden einen Ausdruck verleiht. Wenn Menschen drohen, sich das Leben zu nehmen, dann ist das vielleicht eine andere Sache …

CN  Ich sehe den Schmerz eigentlich in allen Filmen von Raymond. Der Bauer, der keine Abnehmer für seine Produkte hat, der Delinquent, der ins Gefängnis muss, der Patient, der in die geschlossene Abteilung kommt.

Mir kommt vor, Sie filmen und sehen Afrika und Frankreich auf eine markante Weise unterschiedlich.

RD  Mit meinem eigenen Land gehe ich härter um, und im Dorf bin ich noch einmal anders. Die Cevennen sehe ich anders. Die französischen Landschaften sind vielleicht lyrischer. Ich war 16, als ich nach Paris kam, so wie viele Menschen mit 16 nach Paris kamen, um hier eine Arbeit für sich zu finden. Ich hätte den Hof übernehmen können, mein Bruder wollte nicht, ich hätte ein glücklicher Bauer werden können. Aber die Eltern haben mich freigelassen, sie haben mir grünes Licht gegeben. Ich trage das Land aber immer noch in mir. Manchmal sage ich zu Freunden: Es gibt zwei Kategorien von Orten auf der Welt. Solche, von denen aus man den Horizont sieht, und solche, von denen aus man ihn nicht sieht. In der Stadt sieht man selten den Horizont. Ich bin durch das Land bestimmt.

CN  Ich denke, Raymond ist sehr offen für das Land, und das beeinflusst auch sein Kino.

RD  Ich muss auch an diese großen amerikanischen Fotografen denken, Walker Evans oder Robert Frank. Sie konnten ihr Land ohne die Last der Bedeutung fotografieren. Wenn wir an die Provinz denken, dann denken wir an Pétain, an Kollaboration, und an jeder Ecke Frankreichs stößt man auf das Mittelalter. In Amerika haben sie nur den Grand Canyon …

CN  … und die Sklaverei …

RD  Ja, das ist etwas anders. Ich weiß nicht, aber nach 30, 40 Jahren Fotojournalismus fühle ich mich ein bisschen paranoid. Ich mag keine Leute mehr fotografieren. Ich war einmal im Tschad in eine Geiselnahme verwickelt, die Geiselnehmer hatten keine Kamera und forderten mich auf, dass ich fotografieren sollte. Es ging um das Leben einer Geisel, mir blieb nichts anderes übrig, als mitzuspielen. Ich habe keine Sekunde gezögert. Die Frau wurde befreit und nicht getötet, es hätte aber sein können, dass ich sie auf meinem Gewissen habe. So etwas wird man eigentlich nicht mehr los. Die Begegnung mit Basaglia hat mich von der Schuld befreit. Er hat zu mir gesagt: Fotografieren Sie, so viel sie wollen, nehmen Sie alles auf, denn eines Tages wird man das alles nicht mehr glauben.

Wie kam es, dass Sie mit Empty Quarter (1984) einen Spielfilm gemacht haben?

RD  Bevor ich Filmemacher wurde, war ich Journalist, und dieser Arbeit habe ich alles geopfert. Ich war unterwegs, und habe fotografiert. Das war alles. Damals kannte ich auch Claudine noch nicht. Dieses Leben war eine education sentimentale, aber mit 35 geht das nicht so weiter. Damals tauchten unter den Fotografen die ersten Frauen auf, und so traf ich in Vietnam eine Frau, die mich leiden ließ, auch wenn das ein bisschen meine eigene Schuld war. Damals kamen die ersten Filme von mir heraus, Reporters (1981) und Faits divers (1983). Und ich dachte mir die ganze Zeit: Ich würde gern einen Film in Afrika machen, mit einer jungen Frau. Faits divers habe ich mit einer jungen Frau geschnitten, Françoise Prenant, und ich habe sie schließlich gefragt: Ich brauche ein Modell. Ich war damals sehr von Bresson beeinflusst. Die Idee war, dass man immer nur die Frau sieht, niemals den Mann.

In welchem Verhältnis standen Sie zu ihr?

RD  Sie war nicht meine Freundin. Ich habe eine Fiktion gemacht, sehr aus dem Geist von Barthes und seinen Gedanken über den Text. Ich kann ein Bild zeigen und dazu sage ich: Hier bin ich in München, es ist neun Uhr morgens. Oder aber ich sage: Ich bin auf einem Bauernhof in Garais, oder ich denke an diesen Bauernhof in Garais, ich denke an meine Kindheit oder an dies und jenes.

Wie groß war das Team?

RD  Wir waren zu viert, und wir waren acht Monate in Afrika. Die Dreharbeiten waren unglaublich. Vietnam war für mich damals schon vorbei. Also habe ich die Geschichte nach Afrika verlegt, in ein Afrika, das ich nicht gut kannte, denn der Film wurde in Ostafrika gedreht. Nicht das frankophone Afrika, sodass wir noch ein bisschen mehr verloren waren. Im frankophonen Afrika ist man niemals ganz weg, in Äthiopien aber, in Kenia und im Sudan bin ich wirklich auf einer Reise. Es gibt auch Momente in dem Film über die Widersprüchlichkeit des Begehrens. Jemand hat mich einmal gefragt, was ich vorziehen würde: die Frau oder die Wüste?

Der Erzählung aus dem Off ist auch eine kleine Autobiografie.

RD  Wenn ich schreibe, denke ich oft an meinen Vater. Er verließ die Schule, als er zwölf war, aber er hat sein Leben lang fehlerfrei geschrieben, und nicht nur das, er hatte ein Gespür für Worte, er fand immer das richtige, er hat sich sehr gut ausgedrückt und immer mit Präzision. Das hat mich inspiriert, und so habe ich auch begonnen, Aufzeichnungen zu machen, Bücher zu schreiben. Aber auch das Schreiben nur für mich selbst ist sehr wichtig.

Empty Quarter ist auch ein Film über die unüberwindliche Distanz zwischen dem Fotografen und dem Sujet. Sie können nicht ins Bild springen. Sie sind immer dahinter.

RD  Ja, es ist ein Film der Blicke, man könnte auch sagen: ein voyeuristischer Film. Der Filmemacher ist ein Voyeur.

CN  Es ist ein sehr literarischer Film, als würde man einen existenzialistischen Roman lesen. Nadja von Breton zum Beispiel. Ich habe Empty Quarter erst gesehen, nachdem ich Raymond kennengelernt habe, und der Film hat mir Angst gemacht. (lacht)

Hat es einen Unterschied gemacht, danach mit einem Star zu arbeiten, mit Sandrine Bonnaire in La captive du désert (1990)?

RD  Ich wollte eigentlich Juliette Binoche, aber sie drehte dann mit Leos Carax Les amants du Pont-Neuf.

CN  Sandrine Bonnaire kam ja von Pialat, und damit hatte sie eine Vorstellung von Spiel, die mit der von Raymond nichts zu tun hatte. Raymond ist sehr kontemplativ, während Sandrine Bonnaire daran gewohnt war, zu sprechen, sich deutlich vernehmbar zu machen, zu weinen oder zu schreien. Das sollte sie alles nicht.

RD  Vielleicht sieht man auch einfach nur, dass ich nicht in sie verliebt war.

Welche Bedeutung hatte das Jahr 1968 für Sie? Es gibt einen kurzen Dokumentarfilm über das Begräbnis von Jan Palach aus Prag aus dieser Zeit.

RD  1968 war verrückt, weil ich damals das ganze Jahr kaum in Paris war. Frankreich hält sich ja gern für den Mittelpunkt der Welt, ich war anderswo. Ich war in Abu Dhabi und Dubai, wo damals die Emirate entstanden. Da waren die Leute mit dem Rolls Royce in der Wüste unterwegs, um eine neue Zivilisation zu errichten. Danach war ich im Juni in Chicago, danach in Biafra und dann in Prag. Natürlich war der Pariser Mai wichtig, aber auf einer globalen Ebene ist damals so viel passiert.

Sie haben auch Berlin und die Mauer fotografiert.

RD  Ich war 1962 in Berlin und habe dort an der Bernauer Straße Fotos gemacht, die berühmt geworden sind. 1989 hat man mich wieder nach Berlin geschickt, und ich bin da nochmal hinauf gegangen an diese Stelle, an der kaum jemand war. Ich stand da mehr oder weniger allein als Fotograf und habe gesehen, wie die Menschen aus dem Ost-Teil der Stadt herüberkamen. Ich war in diesem Moment zu Tränen gerührt, ein Mann, geboren im Tal der Saone, aufgewachsen auf einem Bauernhof. Wir hatten, als ich ganz klein war, zwei deutsche Kriegsgefangene, einer sprach sehr gut Französisch. Sie bekamen manchmal Pakete, die Süßigkeiten gaben sie mir. Die beiden haben gestritten, der eine war aus Weimar, der andere war früher ein Hitlerjunge gewesen. Mein Vater hat sie getrennt. Einer der beiden hat sich in meine Taufpatin verliebt. Ich habe die beiden später nie wiedergesehen, das ist schade, denn ich habe mit ihnen etwas erlebt, was ich die Geburt der Nachkriegsepoche und der Globalisierung nennen würde. Für einen kleinen Jungen aus Villefranche im Saône-Tal hat sich damals alles aufgetan. 

 

Das Gespräch führte Bert Rebhandl