routine pleasures

Paris

Von Birthe Mühlhoff

Von dem Psychoanalytiker und Rechtshistoriker Pierre Legendre stammt der Satz, Frankreich sei eine UdSSR, die funktioniert. Von Sozialismus kann im gegenwärtigen neoliberalen Albtraum keine Rede sein, würden jene Franzosen antworten, die in den letzten Monaten streikten oder gegen Macrons Politik auf die Straße gingen. Sie würden vor allem in Abrede stellen, dass in Frankreich irgendetwas «funktioniert». Was jedoch ganz gut klappt: Franzosen, und insbesondere die Pariser, stehen gerne Schlange, das beobachte ich immer wieder. Als ich in der Mittagshitze mit D. den Boulevard Poissonnière entlanggehe, ist die Menschenmenge vor dem Kino Max Linder schon von weitem zu sehen. Es ist ein besonders schönes Exemplar, sehr samstäglich, ausflugsfreudig und bunt gemischt. Zwischen älteren Herrschaften, wie stets und überall magisch angezogen von verheißungsvoll exklusiven Kulturveranstaltungen, und ebenfalls magisch angezogenen und mit üppigen Kopfhörern ausgestatteten Hipstern finden sich auch ein paar hochbetagte japanische Omis. Weil wir in einer Online-Verlosung Tickets gewonnen haben, können wir entspannt an den Zweierreihen vorbeistolzieren. Es ist das erste Mal, dass Senses (Happy Hour) von Ryusuke Hamaguchi in einem europäischen Kino gezeigt wird, seitdem der Film 2015 in Locarno für die beste Darstellung ausgezeichnet wurde. Er ist einfach zu lang. Der besseren Verdaulichkeit halber hat man ihn in fünf Episoden unterteilt und jede mit einem der fünf Sinne übertitelt. Eigentlich ein Vergehen gegen die Menschlichkeit, diese Marketing-Strategie, doch bei diesem im besten Sinne sinnlichen Film stört es mich tatsächlich nicht.

Es wird viel gegessen und ebenso viel übers Essen geredet, und dann erfolgt der Ausflug ins Grüne. Die vier Freundinnen Jun, Akari, Sakurako und Fumi, alle Ende 30 und mit ihrem Leben nur mäßig bis gar nicht zufrieden, erholen sich für ein paar Tage im Umland von Kobe. Jun, die mitten in einer Scheidung steckt, ist später wie vom Erdboden verschwunden. Ein fünfter Unzufriedener ist der Konzeptkünstler Ukai. Zum Zeitvertreib hat er nach einem Erdbeben angefangen, Gegenstände hochkant aufzustellen, was als Kunst missverstanden wurde. Ihm ist das alles ein wenig unangenehm. Gleichwohl gibt er eine gute Künstlerfigur ab. Mit seiner vollkommen schamlosen Art eckt er überall an, schafft es aber immer wieder, sich an seinem eigenen Charisma aus dem Sumpf zu ziehen.

Es ist, auf viele verschiedene Weisen, ein Film über die Versuchung, einen Menschen auf das Potenzial festzuschreiben, das man in ihm erkannt zu haben meint. Den vier Frauen steht eigentlich nichts im Wege. Sie könnten sich damit zufrieden geben, mit großem Erfolg das zu sein, was die japanische Gesellschaft von ihnen erwartet: liebevolle Ehefrauen, Mütter, Krankenschwestern und Kulturschaffende. Aber was ist Potenzial wert, wenn die Wirklichkeit die Verwirklichung vorgibt? Soviel zum Sozialismus.