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Atavistische Ekstasen Ultraviolettes nach der Entschlüsselung von Rausch und Transzendenz: Zu Jeremy Shaws Quantification Trilogy

Von Hannah Pilarczyk

Mit einem Trick erschlich sich Jeremy Shaw 2017 endgültig die Gunst der internationalen Kunstszene. Zur 57. Venedig Biennale eingeladen, gab er die Laufzeit seines 31-minütigen Films Liminals mit 19 Minuten an. Eine Dauer, die auch gehetzte Biennale-Besucher nicht vor einer Sichtung abschrecken würde, so Shaws sich als vollkommen richtig erweisendes Kalkül: Liminals wurde zu einer der am häufigsten und am besten besprochenen Arbeiten von Christine Macels Biennale.

Dass Shaw auch zu einem anderen Zeitpunkt seiner Karriere Tricks angewendet hat, ist nicht auszuschließen. Eigentlich prägt aber das Gegenteil von Täuschung seine Arbeiten: Die Filme und Installationen des gebürtigen Kanadiers, der schon lang in Berlin lebt, sind von einer fast schon überrumpelnden Offensichtlichkeit und Unverstelltheit. Shaw nimmt den Werken dabei nichts an Reiz und Facettenreichtum, wie auch seine aktuelle Einzelausstellung Quantification Trilogy im Hamburger Kunstverein zeigt. Diese trägt ihre schönste Überraschung direkt im Titel.

Dabei bildet die Idee der «Quantification» zunächst nur den Ausgangspunkt für die drei jüngsten Filmarbeiten, die in Hamburg zum ersten Mal gebündelt zu sehen sind, der abschließende Teil I Can See Forever sogar in Uraufführung. Mit Quantifizierung ist in Shaws extensivem Glossar der Zustand nach der wissenschaftlichen Entschlüsselung von Rausch- und Transzendenzerfahrungen im Verlauf des 20. Jahrhunderts gemeint. Seitdem blicken wir auf Menschen in Ekstase, Erleuchtung, Wahnsinn und schließen sogleich auf die Gehirnströme, Hormonpegel, Drogendosierungen, die diese Zustände herbeigeführt haben und begleiten. Eine Entwicklung, die Shaw vom Verlust her denkt und die zu seinem nostalgischen Blick aus der Zukunft auf unsere profane Gegenwart geführt hat.

In Quickeners von 2014, dem ersten Teil der Trilogie, hat er Ausschnitte aus dem 1967 erschienenen Dokumentarfilm Holy Ghost People von Peter Adair genommen. Der Film, oftmals als ethnografische Arbeit kategorisiert, zeigt den Gottesdienst einer Pfingstgemeinde in einer Kleinstadt in West Virginia, USA, in dessen Verlauf gesungen, geklatscht und getanzt wird, bis einige Gemeindemitglieder in Trance geraten und beginnen, mit Schlangen zu hantieren.

Die Arbeit mit dem Material ist, wie bei Shaw üblich, sofort erkennbar. Das bereits im Original brüchig montierte Schwarzweiß-Material ist noch einmal schneller und abrupter geschnitten. Die Trance-Sequenzen sind zudem mit Drones und nicht, wie im Original, mit diegetischer, rhythmischer Musk unterlegt. Dazu liefert eine markante männliche Sprecherstimme Wissenswertes im Stil einer Dokumentation aus der Entstehungszeit des Originalfilms: Gezeigt würde eine kleine Gruppe an «Quantum-Humanoiden» aus dem 26. Jahrhundert, die zwar zur Entität des «Hive» gehörten und damit unsterblich sein müssten, tatsächlich aber das «Human Atavism Syndrom» (H. A. S.) aufweisen, also als ausgestorben geltende menschliche Verhaltensmuster und Eigenschaften an den Tag legen wie eben Tanz, Gesang und Ekstase. Innerhalb des Hive würden sie auch als Quickeners bezeichnet. Der eindrücklichste von Shaws Eingriffen ist dennoch der denkbar einfachste: Die Gemeindemitglieder, die vom Trance erfasst werden und in seiner Rahmung so besonders deutlich das H. A. S. aufweisen, hat er blass nachkoloriert. So verstärkt er die Aussage des gesprochenen Textes, dass es das Menschliche ist, was die Quickeners aus dem Hive herausstechen, sie isolieren lässt, aber auch das Ekstatische ihrer Existenz ausmacht.

Hundert Jahre in der Zukunft angesiedelt ist Liminals, der Mittelteil der Trilogie. Wieder wird eine Subkultur, die durch Rituale Transzendenz anstrebt, gezeigt. Die Liminals sind eine Gruppe von Menschen, die bestimmte Bewegungspraktiken, die an Ausdruckstanz erinnern, mit künstlicher DNA zu verbinden versuchen, um sich «the Liminal», einen Schwebezustand zwischen dem Physischen und dem Virtuellen, zu erschließen.

Liminals ist im Gegensatz zu Quickeners komplett inszeniert, trotzdem überwiegen die Ähnlichkeiten. Wieder ist der Film in Schwarzweiß und auf 16mm gedreht und im Stile einer Dokumentation aus unserer nahen Vergangenheit, diesmal den 70er Jahren, gehalten. Und wieder findet Shaw einen sehr einfachen Weg, um das Gezeigte und das Erzählte zur Deckung zu bringen und erfahrbar zu machen: Während sich die Liminals in Trance tanzen, beginnt er, einzelne ultraviolette Filmbilder unterzumischen. Der Effekt ist beglückend, die buchstäbliche Erkenntnis der Farbe lässt sich sensorisch kaum von einer metaphysischen Erfahrung trennen. Am Ende von Liminals will man sie sofort noch einmal durchleben.

Vom Scheitern des «Singularity Project» erzählt der dritte, neue Film I Can See Forever. Statt einer Gruppe ist es diesmal eine einzelne Person, die im Mittelpunkt steht: Der 27-jährige Roderick ist der einzige Überlebende eines Experiments namens «Singularity Project», das in einer vierzig Jahre entfernten Zukunft gestartet wurde, dessen Scheitern in der Folge vertuscht wurde und nun in einer sechsteiligen Dokumentarreihe, von der I Can See Forever den letzten Teil bildet, aufgedeckt wird: Im «Singularity Project» sollte die Verschmelzung von Mensch und Maschine erreicht werden. Doch Roderick, der sich durch seine teilweise künstliche DNA für das Experiment anbot, hat sich den Vorschriften der Wissenschaftler entzogen und mit Tanz seinen eigenen Weg entwickelt, um physische Praxis und virtuelle Transzendenz zu verbinden – eingefangen in den letzten zehn Minuten des Films, die allein Roderick beim Tanzen zeigen.

In zartblasser Farbe und auf VHS gedreht, kontrastiert I Can See Forever unmittelbar mit den anderen Teilen der Trilogie und ahmt seine zeitgeschichtliche Vorlage, diesmal TV-Dokumentationen aus den 90er Jahren, noch naturalistischer nach. Umso mehr tritt ein akustischer Effekt in den Vordergrund, den Shaw schon bei den vorherigen Filmen eingesetzt hat, der dort aber von den visuellen Effekten überdeckt wurde: Roderick spricht eine Sprache, die wie Englisch klingt, deren Silben aber wie von einem Häcksler verhackstückt und verstreut sind. Um das von ihm Gesagte zu verstehen, braucht es Untertitel. So unterläuft die Tonspur den Naturalismus der Bilder und sorgt für ein sinnliches Unbehagen, das offenkundig und doch unabwehrbar ist.

Die Schnittstellen zwischen Material und Bewusstseinszustand, die Shaw in seinen Filmen bereits mehr präsentiert als erforscht, verdeutlicht in der Hamburger Ausstellung zuletzt die fortlaufend ergänzte Bilderreihe Towards Universal Pattern Recognition. Auf dokumentarische Fotos aus mehreren Jahrzehnten, die wiederum Menschen in «altered states» zeigen – bei religiösen Ritualen ebenso wie beim Tragen von VR-Brillen –, hat Shaw dicke, mehrkantige Prismen aus Acryl montiert. Die Spitze, an der die Prismen zulaufen, hat er allerdings gekappt, sodass sich Gucklöcher auf die Fotos ergeben. Der Blick durch die Gucklöcher erlaubt jedoch keinen unmittelbaren Blick auf die Bilder, denn die Kanten spalten das Bild auch in dieser Perspektive in psychedelisch anmutende Fragmente auf. Der Blick auf den «altered state» der Gezeigten fällt damit immer auch mit dem «altered state» des Blicks der Zuschauerin zusammen, Material und Bewusstseinszustand lassen sich so nicht mehr trennen. So haben Shaws Arbeiten Quantifizierung nicht nur zum Ausgangspunkt, sondern münden auch in ihr. Aber das hatte der Titel der Ausstellung ja schon angekündigt. 

 

Jeremy Shaw Quantification Trilogy, bis 22. Juli 2018, Kunstverein Hamburg