filmwissenschaft

Der Herr der Bilder Über Jean Louis Schefer

Von Christa Blümlinger

La chambre d’Erasme

© Gilles Aillaud

 

Jean Louis Schefer hat irgendwann in den 1970er Jahren den Bindestrich innerhalb seines zweiteiligen Vornamens fallen lassen, was für Exegeten seines verzweigten Werks ein ebensolches Zitierproblem darstellt wie für Cinephile der verschwundene Punkt nach Chris Markers abgekürztem Vornamen. Wer versucht, seine Tätigkeiten zu klassifizieren, mag ebenfalls in die Nöte kommen. Noch die Trennung der Schriften in gelehrte und autobiographische Essays scheint bei genauerer Betrachtung problematisch. Der freie Schriftsteller, Kunsthistoriker, Bildtheoretiker und Philosoph (je nachdem) ist trotz seines noblen pommerschen Familiennamens in Deutschland nicht vorstellbar. Nicht, dass es dort keine Dandys gäbe, die mit Vorliebe britisches, am besten maßgefertigtes Schuhwerk tragen. Doch findet man in deutschen Landen kaum einen derart illustren und vielseitigen Privatgelehrten, der sich als «gewöhnlicher Mensch» vergleichbar inspiriert dem Film zuwendete und dessen eigenwillige Schriften in ebensolchem Maße literarisch wären, dem Genre des Essays frönend, in der Tradition von Diderot und Baudelaire. Frieda Grafe, die schon vor langen Jahren Schefers Kinobuch ins Deutsche übertragen wollte, aber dafür damals keinen geneigten Verleger fand, mochte seinerzeit wohl an seinem präzisen und verdichtenden Stil besonderen Gefallen gefunden haben. Sie war vermutlich eine der ersten, die jenseits des Rheins Schefers bahnbrechendes Vermögen erkannten, die Welt der Projektionen als Theater der Grausamkeit zu beschreiben.

Der vielseitige Autor, dessen Nachfahren trotz der überwältigenden väterlichen Schreibkraft den Griff zur Feder nicht scheuen – ein Sohn ist Kunsthistoriker, ein anderer Schriftsteller und Drehbuchautor – meldet sich selbst bisweilen mit «Schefer der Ältere». So ambivalent diese Bezeichnung im Privaten gemeint sein mag, gebührte ihm doch eigentlich die Apostrophierung als «Schefer, der Einzigartige», so sehr fügt sie sich in seine großbürgerliche Existenz ein, zu deren Familiengeschichte der Verkehr mit den Meistern des Impressionismus und die Verwandtschaft mit Valéry gehört. Schefer publizierte in so berühmten Theorie-Organen wie Tel Quel und Communication, als diese in der Blüte standen. Anfänglich begeisterter Strukturalist (Barthes und Greimas gehörten zu den Gutachtern seiner philologischen Diplomarbeit an der Ecole des Hautes Etudes) und Autor einer der ersten semiologischen Studien zur Malerei (Scénographie d’un tableau erschien 1969), erwies er sich jedoch bald als Konvertit, um vor allem in der französischen Filmtheorie so etwas wie eine affekt- und wahrnehmungstheoretische Wende einzuleiten. Das hatte Deleuze sofort erkannt und inbesondere im Zeit-Bild berücksichtigt. Später sollte Schefers Artaud-Rezeption ein Leitfaden für so manche jüngere Theoretiker(innen) werden, die den Körper ins Zentrum stellten, um mit der Semiologie oder auch mit psychoanalytisch orientierten Zuschauertheorien Schluss zu machen. Heute gehört Schefer neben Jacques Rancière zum redaktionellen Beirat der von Serge Daney gegründeten Filmzeitschrift Trafic, die wie der Großteil seiner Bücher beim Verlag P.O.L. erscheint. Daney hatte Schefer mehrfach bewundernd rezensiert und mit ihm die Vorstellung geteilt, dass nicht wir die Filme, sondern zuallererst die Filme «unsere Kindheit angeschaut» haben.

Es ist keine falsche Bescheidenheit, wenn JLS als bewusst «gewöhnlicher» Kinomensch, gewissermaßen als Mann ohne Eigenschaften, vermerkt, dass «Film nicht sein Metier» und sein Text «nicht theoretisch» sei. Denn so kultiviert die Grundlagen seines Denkens sind, so sehr geht es ihm um die Unmittelbarkeit einer Erfahrung, in deren Mittelpunkt der Körper steht, um rätselhafte, unzusammenhängende Zonen der Wahrnehmung und des Gedächtnisses, die beim Betrachten eines Films im Spiel sind. «Nicht theoretisch» – will hier heißen: kritisch, literarisch, beschreibend, einer Art negativen Poetik zugehörig, in der es eher darum geht, die Natur von Gefühlswelten und von kaum zugänglichen Geheimnissen zu benennen, als darum, Botschaften zu entschlüsseln. Im Klappentext von La Lumière et la proie, seinem Buch über ein Gemälde von Correggio, vermerkt der Autor sibyllinisch: «Die Grenze des Tafelbildes bilden wir immer selbst, wir, die es betrachten und darüber verzweifeln, ihm ähneln zu wollen.» Denn die Bilder, so heißt es weiter, spiegeln nicht unsere Gestalten, sondern das, was uns fehlt – das Erhabene. Ein Kapitel aus diesem ähnlich wie der Gewöhnliche Kinomensch organisierten und im selben Jahr erschienenen Buch über Corregios Darstellung der mystischen Hochzeit der Heiligen Katharina mit Christus trägt die Überschrift «Fehlproportionen». Auch am Film interessiert Schefer das durch die Einstellungswechsel entstehende «Fehlen von Proportionen», wie er in dem gemeinsam mit Raúl Ruiz verfassten, ebenfalls 1980 erschienenen Pendant zum Homme ordinaire, in L’image, la mort, la mémoire schreibt.

Montage von Tableaus

«Wir» sagte er kürzlich in einem Radiointerview, angesprochen auf seine adeligen Wurzeln (die Grafen Scheffer von Carlwaldt), «sind Franzosen und haben Preußen vor zwei Jahrhunderten verlassen». Eine gewisse moralische Verpflichtung erwüchse ihm aus dieser der Diplomatie verbundenen Herkunft. Im selben Ton gab er mir einmal bei einem Besuch in seiner hochgelegenen Pariser Studierstube mit Blick auf den Eiffelturm zu bedeuten, dass zu dessen Konstruktion einer seiner illustren Ahnen beigetragen hatte (und ihm somit ein gewisses Anrecht auf die besondere Aussicht zustand). Die feinen Unterschiede wurden dem jungen Schefer schon früh klar, wie die in einem seiner persönlichen Bildungsromane eindrücklich geschilderte Zugfahrt vor Augen führt, mit der sich der Heranwachsende nach dem Krieg aus seinem behüteten Familienkreis katapultierte (La Cause des portraits, 2009). Die Vorliebe für Mysterien und Geheimnisse wurzelt in seiner katholisch-großbürgerlichen Erziehung, so ist den Bekenntnissen zu entnehmen, deren Genre er selbst als «Montage von Tableaus» bezeichnet: Es gibt Dinge, die man nicht sagt. So bringt Schefer sein feingestimmtes Sensorium für das Ungesagte sowohl in der literarischen Sondierung von Kindheitserinnerungen als auch in seinen kulturphilosophischen und bildtheoretischen Essays zur Geltung, in deren Zentrum seit seinem Buch über Augustinus immer wieder der christliche Körper steht. Mit gleichgesinnten Gelehrten wie Max Milner gründete der Ästhet einst frei nach dem Erfinder der Camera Obscura eine Akademie der Geheimnisse, deren (nie realisiertes) Projekt es unter anderem war, in Blois ein Museum der Magie einzurichten.

Der Untertitel seiner Studie zu Correggio lautet «Anatomien einer religiösen Figur». Handelt es sich dabei um eine Untersuchung der Mystischen Vermählung der Heiligen Katharina, so könnte man diese methodische und inhaltliche Präzisierung beinahe auf das Gesamtwerk beziehen. Beinahe, denn der Bildtheoretiker scheut in der Wahl seiner Forschungsgegenstände keine Disziplin: Mit einer Studie zur Höhlenmalerei etwa hat sich Schefer in den 90er Jahren unter Paläontologen einen Namen gemacht (Questions d’art paléolithique). In Schefers religionswissenschaftlichem, kulturhistorischen und kunsttheoretischen Opus Magnum geht es jedoch um nicht weniger als um die Geschichte des Dogmas der Transsubstantiation, sowie um das Ritual und diverse Legendenbildungen zur Hostie (L’Hostie profanée: Histoire d’une fiction théologique, 2007). Ausgehend von Paolo Ucellos Predellatafel Das Wunder der entweihten Hostie untersucht der humanistisch Gebildete hier v.a. an italienischen, lateinischen und deutschen Originaltexten und Bilddarstellungen Bedeutungen, Ursprung und Nachleben eines christlichen Mythos – bis hin zur filmischen Darstellung von Vampiren. Dabei stellt Schefer die Theologie in Frage und lässt so manche Grundlage unserer abendländischen Bildkultur in ihrer moralischen Zweifelhaftigkeit zutage treten. Ein Freundschaftsdienst in Form einer bescheidenen Zuarbeit zu dieser über 600 Seiten umfassenden kritischen Studie erlaubte mir, schon im Vorfeld das Ausmaß der zugrundeliegenden Quellenrecherche zu ermessen. Es ging um die Übersetzung eines illustrierten Texts aus dem Mittelhochdeutschen, eine bayerische Blutlegende, die ein weiteres Beispiel für die figurative Ausprägung des antisemitischen Mythos der «Hostienschändung» darstellt. Wer Schefers autobiographische Schriften gelesen hat, weiß, wie sehr ihn seine katholische Erziehung geformt hat und in welchem Maße er deren affektiven und somatischen Auswirkungen auf der Spur ist. Das Geheimnis der Verwandlung des Leibes und des Blutes Christi stellt insgesamt eine mehr oder weniger versteckte Obsession seiner Untersuchungen dar.

Schefers literarisches und essayistisches Werk ist durchzogen vom Film, jenseits des Gewöhnlichen Kinomenschen, dem 1997 ein weiteres Buch über Kino folgte (Du monde et du mouvement des images, Cahiers du Cinéma). Das Buch über Correggio etwa enthält einige Anspielungen auf eine filmische Untersuchung zum Gemälde; wer genau liest, stellt fest, dass es einem – augenscheinlich nie zustande gekommenen – Filmprojekt in Zusammenarbeit mit Philippe Grandrieux und im Rahmen des Ateliers von Thierry Kuntzel am Pariser Ina (Institut national de l’audiovisuel) entwuchs. Grandrieux trug nicht nur die Idee bei, sondern auch einige Photographien für den Bildteil des Bandes. Die bei Albatros erschienene Studie, so ist schon den Illustrationen zu entnehmen, widmet sich nicht nur enigmatischen Details des Tafelbildes (dem punctum der Malerei, mit Barthes gesprochen) und dessen Nachempfindungen etwa bei Delacroix, sondern auch dem musealen Ambiente seiner Ausstellung, dem Louvre. Die Fotografien zeigen Gegenschüsse zum Gemälde, staunende japanische Touristen, vorbeiflanierende Besucher, Markers Fotofilmen nicht unverwandt.

Für Schefer ist das Kino nicht einfach ein Ort der Gespenster und Wiedergänger, es ist der Ort des Widerscheins und der Nachempfindung des Vergangenen schlechthin. La Lumière et la proie enthält einen Abschnitt mit dem Titel «Film», in dem zu lesen steht: «Dieser Film gibt eine Szene wieder, die in der äußersten Lähmung einer Erinnerung gesehen wurde…». Es geht in dem betreffenden Bildausschnitt um den Moment kurz vor dem Martyrium der Heiligen Katharina. Correggios Gemälde wird an diesem Hintergrunddetail untersucht, einer hellen, gleichsam verdunstenden Konstellation zweier Figuren, die Schefer mit der Stillstellung eines Lebensrads vergleicht. Der zentrale Blick auf die wie aus dem Inneren erleuchtete Hauptszene, so seine These, entspräche dem vorweggenommenen Auge des Kinematographen und falle mit dem der Jungfrau Maria zusammen. Ihr Blick regiert über die Zeit, in ihrem Augenwinkel ist die Hintergrundszene aufgehoben. Noch im bislang vorletzten Fragment seiner eigenwilligen Autobiographie, dem 19. Buch, das er bei P.O.L. publiziert (Titel: Von welchem Erdbeben …), bezieht Schefer sich ebenfalls auf das Kino als Ort des Wiedererlebens: «Wohl rollt das Gedächtnis eine sich verändernde Landschaft wie das Band einer Drehorgel ab, von einer Zauberlaterne geworfene Lichtschimmer und Umrisse, die keineswegs noch einen Film darstellen. Alles ist vergangen, alles entstammt der Gegenwart und was ich vergessen habe, ist der geheime Motor, der diese Maschine zum Laufen bringt.» Durch seine Fähigkeit, die Zeit zu verkörpern, wird das Kino also zum privilegierten Hüter einer Poetik, an deren Geschichte Literatur und Malerei wesentlich teilhaben. Cinématographies lautet denn auch der Titel einer Reihe von Essays, die Schefer 1998 bei P. O. L. veröffentlichte und in denen es unter anderem um Parzivals Blutstropfen im weißen Schnee geht. Das Motiv stellt einen Ausläufer der bildtheoretischen Fragen zur Darstellung des christlichen Leibes dar. In den Kreisen der Cahiers du Cinéma soll man denn auch einem Ondit zufolge den «Seigneur», den noblen Herrn, einen «Saigneur» – einen «Aderlassmann» – heißen …

 

Jean-Louis Schefer: Der gewöhnliche Mensch des Kinos (Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Matthias Wittmann) Fink 2012 | Weitere Schriften Schefers zum Film: im Jahr 1980, Schefers «Kino-Jahr», veröffentlichte dieser nicht nur L’homme ordinaire du cinéma, sondern auch «imaginäre Dialoge» mit Raúl Ruiz, erschienen unter dem Titel L’image, la mort, la memoire in der Zeitschrift Ça cinéma. Außerdem übersetzte Schefer für Ruiz’ Film Mémoire des apparances (1987) Calderóns Stück La vida es sueño. Die Neuauflage von L’homme ordinaire du cinéma sowie Schefers zweites Kinobuch Du monde et du mouvement des images (Cahiers du cinéma) sind 1997 erschienen. Darüber hinaus: Cinématographies. Objets périphériques et mouvements annexes (Paris, P. O. L. 1998); Images Mobiles. Récits, visages, flacons (Paris, P. O. L. 1999).

In cargo 13 ist erschienen: Jean Louis Schefer: «Die Kurve des Schicksals. Zu Mistérios de Lisboa von Raoul Ruiz»