experimentalfilm

Nichts als ein Bild Vorgeschichte eines radikalen Filmemachers: Philippe Grandrieux und das Institut National de l’Audiovisuel

Von Volker Pantenburg

Un Lac (2008)

© Filmfreak Distributie

 

In den ersten Minuten von Un Lac schlägt einer eine Axt in einen Baum. Es ist nicht das erste Mal, dass in einem Film ein Baum gefällt wird, aber so wie hier hat man es noch nicht erlebt: Das atemlose Schnaufen des Jungen, die Wucht, mit der die Klinge – gerade eben außerhalb des vibrierenden Bildkaders –, wieder und wieder in den Stamm fährt, das Knirschen und die Erschütterung, als der hoch­ge­wachsene Baum zwischen den anderen einknickt und die Geräusche des ver­schnei­ten Walds wie ein Erdbeben durch­bricht. Danach Stille und eine leicht zitternde Auf­sicht auf das Gesicht des Jungen, der jetzt im Schnee liegt. Man spürt körperlich, dass hier ein gewaltiger, gewalttätiger Über­schuss am Werk ist. Eine nicht unbedingt angenehme Energie strömt zwischen Bild, Erzählung und Zuschauer.

Alle drei Kinofilme von Philippe Grandrieux arbeiten daran, solche Strömungen herzustellen. Sie treiben Bild und Erzählung an eine Grenze, an der über die Sinne hinaus – ob er es will oder nicht – der Körper des Zuschauers involviert ist. (So wie Töne ab einer bestimmten Frequenz nicht mehr hörbar sind, aber ein Unwohlsein im Magen auslösen: Statt des Ohrs ist plötzlich das vegetative Nervensystem angesprochen.) Grandrieux’ Projekt ist ein übergriffiges, extremistisches Kino, und von Film zu Film ist sein Physioterrorismus ortloser ­geworden. Der Serienmörder in Sombre (1999) folgte noch den Etappen der Tour de France, der Frauenhandel in La vie nouvelle (2002) spielte sich in einer osteuropäischen, von Kriegszerstörungen zerfurchten Region ab. In Un lac dagegen sind wir in einer zugleich materialistischen und metaphysischen, nicht näher bestimmten Natur: in den Bergen, im Schnee, im Wald, zwischen einem wuchtigen Gaul und Figuren, die kaum sprechen, und wenn, dann mit einem schwer zu lokalisierenden Akzent.

Man kann Grandrieux’ Filme unerträglich finden oder von ihnen fasziniert sein. Anerkennen wird man, dass hier jemand mit beharrlicher Entschlossenheit sein Projekt verfolgt und das Kino auf eine Weise einsetzt, die den Vergleich mit den Filmen und Texten Jean Epsteins provoziert hat. Für Epstein wie für Grandrieux sind Kamera und Tonaufnahmegerät Forschungsinstrumente, in denen Hochtechnisches mit Archaischem zusammenschießt. Mit der Plötzlichkeit eines Vulkanausbruchs ist durch die Erfindung der Kamera etwas Neues in die Welt gekommen. In Deutschland – zumindest mir ging das so – konnte man das Gefühl haben, Philippe Grandrieux sei 1999 mit Sombre ebenso plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht und seine Kinobiografie habe erst begonnen, als er 45 Jahre alt war. Ein zweiter Blick lenkt die Aufmerksamkeit auf eine Vorgeschichte, die zwischen dem Kino und der Videokunst spielt und deren Protagonist das Fernsehen ist.

Das INA

Das Institut National de l’Audiovisuel (INA) ist heute vor allem als eines der weltweit größten Rundfunk-, Film- und Fernseharchive bekannt; 300 Jahre bräuchte man, um das hier gesammelte Material vollständig anzusehen und durchzuhören. Seit einigen Jahren sind Teile dieser immensen Bestände auch im Internet abrufbar. Weniger bekannt und im Netz unsichtbar ist bislang die Entstehungs- und Frühgeschichte der Institution, die eine Reaktion auf die Zerschlagung der Rundfunk- und Fernsehbehörde O.R.T.F. Anfang der 70er Jahre darstellte. Auf Initiative von Pierre Schaeffer, bekannt als Gründungsfigur der Musique concrète, wurde die Einrichtung des INA 1974 beschlossen und im Januar 1975 umgesetzt. Politisches Ziel war, neben den sechs neuen Fernseh- und Radiosendern ausdrücklich eine Institution zu schaffen, die einerseits für die Archivierung und Ausbildung im audiovisuellen Sektor, andererseits aber für die Entwicklung und Produktion experimenteller Fernsehformate zuständig sein sollte. Gesetzlich wurde festgelegt, dass pro Jahr 60 Sendestunden produziert werden mussten, davon die Hälfte autonom und die andere Hälfte im Auftrag der Sender. In der Folge produzierte das INA Godards Fernsehserien Six fois deux (1976 für den Sender FR3) und France tour détour deux enfants (1979 für Antenne 2) ebenso wie TV-Produktionen von Robert Wilson oder Nicolas Philibert. Nicht alle dieser Sendungen wurden ausgestrahlt, einige blieben – nicht zuletzt aufgrund der Weigerung der Sender, deren Verhältnis zum INA von Beginn an schwierig war – ungesendet in den Schubladen oder fanden ihren Weg ins Kino. Ohnehin beteiligte sich das INA auch als Co-Produzent an Kinofilmen und finanzierte Arbeiten von Jacques Rivette, Raoul Ruiz, Chantal Akerman, Chris Marker, Werner Schroeter, Danièle Huillet / Jean-Marie Straub und Benoît Jacquot.

In den 70er und 80er Jahren zeigt die Geschichte des INA den Versuch, zwischen Kino und Kunst einen dritten künstlerisch-experimentellen Ort zu etablieren. Das Fern­sehen sollte einen Austausch zwischen beiden Bildpraktiken ermöglichen und zudem die inhärenten Möglichkeiten des Mediums erforschen. Bereits der programmatische Fokus auf «das Audiovisuelle» lenkte den Blick über das Kino hinaus und antizipierte damit in der Programm- und Produktionspraxis einen medienübergreifenden Bildbegriff, der sowohl in der Bildenden Kunst als auch in den theoretischen Debatten der akademischen Disziplinen erst in den 90er Jahren ins Zentrum rückte.

Juste une image

Philippe Grandrieux kam mit Mitte Zwanzig zum INA. Er hatte am Brüsseler Institut National Supérieur des Arts du Spectacle Film studiert und in Belgien bereits einige Videoarbeiten in Galerien ausgestellt. Gemeinsam mit Thierry Garrel, der später zu La Sept und ARTE wechselte, entwickelte er am INA Formate, in denen sich der institutionell geförderte Versuch eines «Experimentalfernsehens von oben» widerspiegelt.

Juste une image, in neun Folgen in etwa monatlich ausgestrahlt zwischen April 1982 und April 1983, hat die Struktur eines Magazins. Jede Sendung dauert 55 Minuten und versammelt zwischen fünf und zehn Beiträge. «Juste une image hieß nicht umsonst so, die Sendung handelte vom Fernsehen, vom Kino, von der frühen Fotografie und von Ethnographie, aber all diese Bereiche wurden aus einem ungewohnten Winkel angegangen; die Idee war, alle Aspekte des Bildes zu berücksichtigen und miteinander zu konfrontieren», beschrieb Garrel die Sendung 1984. «Alle Aspekte des Bildes»: In der Praxis bedeutete das, unterschiedliche Bildtypen aus unterschiedlichen medialen Quellen einander abwechseln zu lassen: ­Videokunst, Ausschnitte aus aktuellen Filmproduktionen, Montagen auf der Basis von Fotografien aus dem INA-Archiv, Fernsehbeiträge aus anderen Ländern, Animations- und Computerbilder, ausgesuchte Schnipsel aus den Beständen des TV-Archivs, schließlich klassische – insbesondere selbstreflexive – Sequenzen und Montagen aus der Filmgeschichte. Diese heterogenen Elemente stoßen in Juste une image hart aneinander, die Brüche sind nicht geglättet. Es geht weniger um einen synthetisierenden Fluss als um kuratorisch inszenierte Kontraste.

Ein Beispiel: Die siebte Folge, ausge­strahlt am 7. Februar 1983, ist verbunden durch den impliziten thematischen Schwerpunkt «Städte weltweit». Philippe Grandrieux dreht dafür einen Video-Beitrag mit dem Titel Petits écrans du Caire. An den unterschiedlichsten Orten Kairos fotografiert er, auf welche Weisen in einem Land mit 20 Millionen TV-Zuschauern Fernsehen geschaut wird, die nur über 3 Millionen Fernsehgeräte verfügen: «Mitten in den Straßen Kairos, auf einem Brett bei einem Schlachter, hinter einer Bruchbude, im dunklen Gang eines Cafés senden kleine Bildschirme Programmfragmente …», erläutert ein Programmtext und charakterisiert den Beitrag als «ein impressionistisches und unkommentiertes Bild, wie das Fernsehen anderswo ist – aus der Sicht derer, die es schauen …». In die Fernsehgeräte auf den entstandenen Fotos montiert Grandrieux Ausschnitte aus dem ägyptischen Fernsehprogramm, die auch auf der Tonspur zu hören sind. Im Verlauf der Sendung steht diese dokumentarische Miniatur zwischen einer Montage aus Vertovs Mann mit der Kamera (die lediglich durch die Jahreszahl 1929 eingeführt wird), Brian Enos Video-Painting Mistaken Memories of Medieval Manhattan (1981), bei dem das Fernsehbild vertikal bespielt wird, und Helen Levitts Film In the Street (1948), an dem James Agee mitgewirkt hat. In einem weiteren Beitrag sitzt Robert Kramer in seinem Zimmer in Paris und liest aus Agees Let us now praise famous men vor. Erkennbar wird, dass Juste un image auf der demokratischen Ebene des Massenmediums mit einem Bild-Konzept operiert, das in Paris vor allem das Centre Pompidou knapp zehn Jahre später mit Ausstellungen wie Passages de l’image für sich zu reklamieren begannen und bis heute als kuratorische Linie verfolgt. Zwischen Kunst-Initiativen wie Gerry Schums Fernsehgalerie Ende der 60er Jahre und Museumsinitiativen seit den 90er Jahren fassten Garrel und Grandrieux eine Neuvermessung der Welt im Zeichen des Bildes ins Auge und stellten in Frankreich – beinahe nebenbei – einen Großteil amerikanischer Videokunst im Fernsehen vor: Dara Birnbaum, Gary Hill, Joan Logue, Nam June Paik, Steina Vasulka, Bill Viola, Robert Wilson.

 

Berlin 10 / 90 (1990)

© Robert Kramer

 

LIVE: Robert Kramer

Acht Jahre nach Juste une image und im unmittelbaren Gefolge der Umbrüche in Osteuropa und Deutschland konzipiert Philippe Grandrieux für La Sept, den Vorgängersender von ARTE, die Sendereihe LIVE. LIVE beruht auf einer einfachen Regel: Experimentelle Filmemacher und Künstler bekommen den Auftrag, eine einstündige Sequenzeinstellung auf Video zu drehen; der so entstandene Film wird ohne jeden Eingriff ausgestrahlt. 14 Folgen werden nach diesem Prinzip gedreht, unter anderem von Robert Frank in New York, Stephen Dwoskin in London, Nick Wapplington in der Nähe von Newcastle, Gary Hill in den USA, Thierry Kuntzel in Tampico, Daniele Incalcaterra in Moskau und Ken Kobland in Dallas. Rund um den Globus entsteht eine Sammlung von lokalen Zeitkapseln. ­Robert Kramer ist zu diesem Zeitpunkt, 1990, kurz nach der Fertigstellung von Route One USA, auf Einladung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) und der Ford Foundation in Berlin. Die Mauer ist gefallen, Deutschland taumelt zügig in Richtung Wiedervereinigung. Kramers Beitrag für LIVE heißt Berlin 10 / 90 und wurde drei Wochen nach dem Beitritt der DDR zur BRD am 25. Oktober 1990 zwischen 15:15 Uhr und 16:15 Uhr gedreht: «They called this series LIVE, and it was offered up with a lot of old-sounding words that came out of the period of ‹Cinéma Verité› or ‹Direct Cinema.› Throughout there was the assumption that a camera running continuously can somehow access ‹the real.› I don’t think that I realized how much I was moving in another direction or for how long. I was, for better or worse, involved in a very complicated dialogue between myself then-and-there in Berlin, and the many different connections that I have, inevitably, with Germany», schrieb Kramer rückblickend über die Sendereihe. Vom Konzept her wirkt LIVE wie ein Gegenstück zu Juste une image. Hier ein kontinuierlicher Zeitblock, dort die bewusst heterogene Montage. Hier eine Idee vom ungeschminkt «Realen» (möglicherweise ausgelöst durch den Druck der politischen Ereignisse), dort das Primat von Konstruktion und Reflexion. Aber Robert Kramers Anordnung von unterschiedlichen Filmebenen arbeitet hartnäckig gegen eine solche Idee von Unmittelbarkeit an: «I hate this false fluidity», sagt er im Film einmal, «this appearance of ‹it is happening›, or ‹this is flowing› or ‹I just happen to be there›». Entsprechend setzt er der vorgegebenen Einheit von Zeit und Raum eine Schichtung von Medien einerseits und autobiographische Erinnerungen an die eigene Geschichte andererseits entgegen.

Berlin 10 / 90 ist der erste Teil von Kramers europäischer Trilogie, die sich mit Walk the Walk und Le manteau (beide 1996) fortsetzte; der Film folgt auf Notre Nazi (1984), mit dem er über die Themen jüdischer Identität, Nationalsozialismus und Deutschland eng verbunden ist. Die 60-Minuten-Einstellung ist im weiß gekachelten Badezimmer von Kramers Arbeitswohnung in Berlin gedreht. Ein schlichter Stuhl und ein Fernseher auf dem Boden sind die einzigen Requisiten. Alternierend zeigt Kramer auf dem Fernsehschirm Aufnahmen, die er unmittelbar nach der Wiedervereinigung gemacht hat und sich selbst, kahlgeschoren, in Unterhemd und kurzer Hose, auf dem Stuhl vor der Kamera. Teils kommentiert er die Aufnahmen auf dem Bildschirm, die er zuvor gedreht hat – eine Fahrt nach Buchenwald, die Einschusslöcher in Berliner Hauswänden, russische Verkäufer vor dem Brandenburger Tor, ein Besuch auf dem jüdischen Friedhof in Ost-Berlin, der Gropius-Bau und gleich daneben die Gedenkstätte «Topographie des Terrors»; dann wieder spricht er über seinen Vater, der zwischen 1930 und 1933 wenige Meter weit entfernt an der Charité arbeitete, über die eigenen momentanen Gefühle und Erinnerungen, die ihn bei seinem ersten Besuch in Berlin sichtlich überwältigen. «Berlin» wird zur Chiffre für die Überkreuzung von Weltgeschichte und persönlicher Vergangenheit – «Crossroads of World History and my phantoms». Dieser forciert subjektive Blick, der in der Gegenwart eine ähnliche Gewalttätigkeit diagnostiziert wie vor 60 Jahren, komprimiert die historischen Ebenen. Er lässt die 30er Jahre, die Shoah und die Berliner Wiedervereinigungs-Gegenwart in Kramers Badezimmer kollidieren, sich vermischen und wieder abstoßen. Identifikation, Analyse, Schuld und das Trauma des Nachgeborenen werden von einem verwickelten und verwirrenden Strudel erfasst, der Kramer selbst davor nicht zurückschrecken lässt, die eigene Position 1990 der eines ermordeten Juden anzunähern: Ein Video-Bild aus den weiß gestrichenen Kellern des Gestapo Hauptquartiers kommentiert er aus dem Off: «Downstairs, where the interrogations took place. Perhaps that’s why I’m here, in the white bathroom.» Dann eine Pause und ein nachgeschobener Zweifel: «Or not». Dann ein Schwenk auf den Duschkopf, der einem fast den Atem nimmt. Was für ein Gespräch zwischen dem Kahlgeschorenen und der Kamera ist das? Talking Cure? Verhör? Selbstanklage?

Juste une image und LIVE sind nur zwei Beispiele für Philippe Grandrieux’ frühe Arbeiten als Programmgestalter und Autor im Fernsehen. Auch eine mir unbekannte vierteilige Serie mit Paul Virilio und anderen (Azimut, 1987) und drei Porträts von Tour de France-Fahrern (La roue, 1993, möglicherweise eine Keimzelle für Sombre) sind darunter. Diese Vorgeschichte bleibt zu entdecken; nicht so sehr um darin Früh­werke einer Künstlerbiografie auszumachen, sondern als eine institutionelle und diskursive Vorgeschichte des Bildverkehrs zwischen Kunst, Kino und TV.