essay

Die Kurve des Schicksals Zu Mysterios de Lisboa von Raoul Ruiz

Von Jean-Louis Schefer

© Music Box Films (courtesy of Clap Filmes)

 

Ich war gerade dabei, meine Notizen zu Mistérios de Lisboa (2010) zu ordnen, als ich vom Tod von Raoul Ruiz erfuhr.

Ich bin ganz eingenommen von der Vollkommenheit dieses Werks, von der Schönheit der Darstellung, dem subtilen Spiel der sich verzweigenden Erzählungen, der Umsetzung ihrer Sujets, die diese mal bedingen, mal ihnen folgen. Wenn in der Erzählung als ganzer das Sujet aus dem Dispositiv hervorgeht, das die Tableaus ordnet und organisiert – wird es also Narrator und Gedächtnis eines Zusammenhangs von Handlungen – oder eben Spielzeug von sich kreuzenden Erzähllinien: das ist in etwa die Rolle, die bei der Umsetzung der Geschichten stets den Frauen zufällt; eine jede erinnert an die drei Rollen der Mutter, der Liebhaberin, der Gattin; jede mit ihrem eigenen Schicksal, angelegt als romantische Frauenfiguren (deren Schönheit und nervöse Eleganz den Romanfiguren einer Anne Radcliffe, eines Walter Scott oder der Laurence de Cinq-Cygnes aus Une ténébreuse affaire (Eine finstere Affäre, Balzac) entsprungen scheint), gleichen ihre Geschichten den Rollen, welche die Literatur des 19. Jahrhunderts ihnen zugeschrieben hat: sie sind, als Objekte oder Offenbarerinnen der Leidenschaft, Figuren des Schicksals und, fatalerweise, dessen vorbestimmte Opfer. Jeder Erwachsene oder jedes Kind sieht sein Schicksal (den Cursor seines Lebens) ausgerichtet an der Eigenschaft einer Frau – Mutter, Verlobte, Maitresse, Ehefrau –, und an dem, was die Position dieser Frau zu jedem Zeitpunkt in ihrem Leben bestimmt (nach einer eigentlich balzacschen Arithmetik): ihrer Mitgift, ihrem Vermögen oder dem Preis ihrer amourösen Leistungen; das ist mithin die Art und Weise, wie das Schicksal sich mit den Erzählfiguren verbindet, und wiederum auf solche Weise, in Form eines Vertrags über erotische Leistungen, zieht sich eine Schuld durch den ganzen Handlungsverlauf: der Loskauf des Jungen, Joâo, dem zukünftigen Pedro da Silva, als die von Pater Dinis dem Freibeuter Mange-Couteaux bezahlte Summe, der Preis, mit dem Alberto de Magalhâes die amourösen Gefälligkeiten Elisa de Montforts begleicht; dieses unsichtbare Geld zirkuliert unterirdisch in der Geschichte, treibt die sich kreuzenden Erzählungen an: es ist beinahe so etwas wie der Preis der Geschichte und die Schuld, die keiner ausgleichen oder tilgen will, der Verzug in der Fälligkeit der Schuld, die, wie ein Frettchen, wie eine vergiftete Nadel, sich in die Folge der Geschichten der Mistérios einfädelt. Und siehe da, schon ist etwas von der Komplexität der Erzählung erfasst, ohne dass die handelnden Personen noch vorgestellt wären. Offenkundig etwa so wie in einem der Romane der Scènes de la vie politique (Szenen aus dem politischen Leben) von Balzac: die Einstellungen, welche die Ansichten richtigstellen und den Rückhalt der Intrigen zum Vorschein bringen, deren Komplexität in näheren Einstellungen lustvoll ausgemalt worden ist, finden sich hier regelmäßig als Epiloge, im Vergnügen, vom Zusammenspiel der erzählerischen Fäden nichts mehr zu wissen, als Augenblick, in dem die Zergliederung der sich kreuzenden Linien der handelnden Personen die Geschichte nicht mehr zusammensetzen kann.

Auf diese Weise ist das subtile Spiel der Identitäten, das heißt der Erzählungen (die für sich stehende Erzählung ist nicht Abenteuergeschichte, sondern Syllogismus, der die Identität einer Person wie eine Geschichte dekliniert), mit vollendeter Kunst in Szene gesetzt. Jede Geschichte, die von Pater Dinis, dem im Mittelpunkt stehenden Erzähler, Beschützer des jungen Joâo (Pedro da Silva), Erzähler von dessen Geschichte, nimmt sich anderer Geschichten an – der der Gräfin Angela da Lima, der des Grafen von Santa Barbara, der des Freibeuters Mange-Couteaux / Alberto de Magalhâes, bis zu dem Augenblick, als ihm selbst ein alter Mönch, Baltasar da Encarnaçâo, seine wahre Identität offenbart. Pater Dinis, der durch die Reihe der miteinander verknüpften Geschichten in wechselnden Kostümen hindurchgegangen ist, einander folgende Identitäten bekleidend, ist der Sohn, aus dem früher einmal mondänen Leben, dieses Buße tuenden Mönchs und von Blanche de Montfort. An diesem Punkt gehört das so genial gefügte und artikulierte, mit der souveränen Ruhe des großen Künstlers geglättete Meer der Geschichten (Raoul erklärte mir gegenüber seine Vorliebe für die «Malerei in glatten Farben» der Holländer) ganz den Zuschauern, es ist zu ihrer Sache geworden; dem so maliziös gehandhabten Vergnügen am Labyrinthischen und dem Verlauf der Handlung folgt man erst einmal bis zu dem Moment, an dem der Zuschauer, als Leser der Geschichten, dieses Labyrinth bewohnt.

Das Hin und Her vor dem Hintergrund des Historischen, das ein wenig das Aquarium ist, in dem die Personen schwimmen, hat nichtsdestoweniger fest gefügte Wände: das Spiel der Geschichten geht durch eine Spanne der Geschichte hindurch, deren Rahmen genau abgesteckt ist – von der Periode des Imperiums, das über eine Reihe von europäischen Abenteuern entscheidet, bis zu den Jahren 1834–1835, in denen den allmächtigen Kloster-Orden in Portugal ein Ende gesetzt wurde (insbesondere den Rittern von Christ de Tomer, den letzten Überlebenden des Templer-Ordens); kein Anachronismus: die napoleonischen Armeen agierten zeitgleich mit dem Templer-Orden und, Gipfel der Schelmerei, in das Geständnis oder die Enthüllungen von Bruder Baltasar da Encarnaçâo ist an einer Stelle die Einstellung eines überraschenden Tableau vivant eingefügt: von einer kleinen Öffnung gerahmte Mönchsköpfe sehen bzw. hören dessen Erzählung: und diese rasierten Köpfe wiederum sind ein Detail des Polyptichons von Nuño Gonçalvez, auf dem der junge König Alfons V., Gründer des portugiesischen Imperiums, sein Szepter aus den Händen des Heiligen Vincenz erhält.

Vielleicht sind die Triebkräfte und das sichtbar werdende Getriebe der Geschichte das, was mich am meisten entzückt hat: der Humor und die Intelligenz von Raoul Ruiz sind darin ganz enthalten, und ebenso jene Intelligenz, die souverän zu verstehen gibt, dass eine Fabel (Traum und wirkliche Geschichte) ihr Depositum an Fiktions-Apparatur hat: die Objekte, die Möbel, die Symbole, die exponierten Rätsel werden vor unsere Augen wie Teilchen eines Räderwerks gestellt, erlauben uns, den geschichtlichen Wandel zu lesen, das heißt nachzuvollziehen. Das alles sind Apparaturen zur Registrierung der Zeit, die zweifellos das bildhafteste Milieu dieses Werks ausmachen; eine Maschinerie, um Geschichte herzustellen, um die Erzählungen ineinander zu wenden, ein Getriebe, das eigentlich Zeitlichkeiten variiert, nicht Rhythmen: die Zeit ist von gleichbleibender Dauer, wird qualifikativ nur anders bestimmt durch die Variation der Tableaus. Darin ist die große Lektion (und die ganze Gärtnerkunst, von der Raoul spricht): die Erzählung oder, das macht real wenig aus, die Erzählungen können sich verknüpfen, sich überschneiden, sich überlappen nicht nach dem Prinzip sich verzweigender narrativer Linien, sondern nach der nicht-linearen Logik, die in einem Tableau ausgestellt ist: diese Geschichten sind immobil, sie sind gemacht nach den Flächen der Tableaus, deren Lichtverteilung und Klarheit immer schattenhafte Zonen birgt, aus denen andere Figuren hervorgehen können. Das Sujet, nach guter scholastischer Verfahrensweise, ist die Fläche, und was auf die Fläche gestellt wird, sind Variationen seiner Eigenschaften. Raoul hat hier regelmäßig Gebrauch gemacht vom doppelten Schärfebereich [double focal]: nichts Flaues, keine nebelhafte Ferne (eine tiefe, perspektivische Einstellung ist eine vertikale, gekippte Einstellung); die optische und dramatische Konsequenz ist dabei erstaunlich: jede Person ist von jeder andern Person durch Leere getrennt, und die dramaturgischen Folgen sind nicht weniger deutlich. Ruiz hat bei diesem Roman, der dem Leser durch Grade der Empathie, durch Identifikation und zur Identifikation einladende Reprisen von Leidenschaften entgegenkommt (so wie es uns geschieht, eine Melodie tonlos in uns zu imitieren), wissentlich eine Verschiebung vorgenommen: dieser Roman der illusionsgenährten, fatalen Leidenschaften und des ständigen Dahinschwindens ihrer realen Objekte – weder Leidenschaften noch verhängnisvolle Verbindung kommen ohne Idealisierung der Objekte aus, und das Drama besteht immer in deren zu frühem Verfall, der ihnen von der Wirklichkeit zugefügt wird; dieser Roman folgt als geschriebener einer anderen Logik. Der großen Kunst Balzacs entsprechend, glaube ich, zeichnet Ruiz weder hier noch in einem seiner andern Filme die Psychologie seiner Personen; er hat, mit großer Könnerschaft, das Spiel der Leidenschaften in Tableaus eingefügt, mit Farben, mit Dominanten gespielt (alle Interieurs des ersten Teils werden von Varianten von Celadon beherrscht, Abstufungen von grün bis hin zu braun), welche die Découpage der Räume harmonisieren und aufteilen nach einer «holländischen» Optik, derjenigen der kleinen Meister, wie in den nischenhaften Interieurs eines Emmanuel de Witte oder Pieter Janssens Ellinga: das Haus ist ein Aquarium, das von verschiedenen Seiten von Fenstern durchbrochen wird, vor dessen Hintergrund Figuren nach Belieben erscheinen können – wobei das Licht den Raum bestreicht, jeden Körper in der aquatischen Fluidität isoliert und je nach Tagesstunde anders modelliert. Die Landschaften, innere, äußere, sind Gestimmtheiten, die den Personen eine Art von sekundärer Freiheit der Entscheidung überlassen. Welches ist der freie Wille der Fische? Die sind weder willensabhängig noch leiten sie Handlungen ein – nach balzacscher Lesart (für Ruiz zweifellos die fruchtbarste Begegnung, wir haben darüber geredet nach seinem Proust-Film) sind die Personen (die Namen und die einander folgenden Identitäten einer jeden) keine psychologischen Wesenheiten, das sind Physiologien: das Schicksal oder das Fatum programmiert jede nach dem, was man «die Kurve des Schicksals» nennt – was hier eigentlich als Illustration einer Krümmung der Zeit verstanden werden muss (falls es gestattet ist, einige Jahre der Gespräche zu evozieren, in denen wir fröhlich hantiert haben mit den Ansichten von Berkeley, Bolzano, Riemann, mit einigen Paradoxien der Theologie und unter der manchmal verwirrenden Komplizenschaft von Emilio Del Solar); die Idee schon einer linearen Erzählung hatte bereits ab den ersten Arbeiten von Raoul jeden Kredit eingebüßt; sehr schnell trat an deren Stelle die Hypothese oder das Axiom der zwei Genres oder Arten der mit der Erzählung oder dem Tableau inkompatiblen Exposition, wobei das Alternierende, unter der Dominanz der Folge der Einstellungen, für viel steht bei diesem Meisterwerk der glattfarbigen Malerei, das Mistérios de Lisboa vorstellt.

Alle Personen oder Charaktere haben, wie der junge Joâo auf seinem Krankenbett sagt («ich war vierzehn Jahre alt und wusste nicht, wer ich war»), mehrere Namen, fünf oder sechs. Keine Person hat mehrere Schicksale – jede durchläuft im Ablauf und im Verwinkelten der Narration nicht eine Folge von Abenteuern, sondern die Vielheit des zeitlich Möglichen, zu dessen Figur oder Prisma sie nach und nach wird.

Nichts darin geschieht anderswie: die Ausbreitung der Schicksale bemisst sich an der Zeitdauer der Malerei, nach dem Grundsätzlichen, das eine Trennung – das heißt, ein mögliches Spiel mit der Realität der Zeit und deren Modellierbarkeit – der einander gegenüberstehenden Bereiche, Erzählung und Tableau, voraussetzt und einführt. Darin drückt sich zweifellos die Ruhe aus, mit der hier Leidenschaften ausgestellt werden, und die eindrucksvolle Gelassenheit in der Darlegung dessen, was sonst das Fiebrige oder Atemlose eines pikaresken Romans hätte sein können.

Ich kann, in Abwesenheit von Raoul, weder eine Nachdichtung dieser Arbeit wagen noch ihrer Perfektion einen anderen Stil verleihen. Dies wird fortan das Poem sein, das von der Sensibilität eines jeden geschrieben werden wird. Ich kann dies, für mein Teil, nicht vorwegnehmen.

Das Änigma ist, nach dem, was wir durch die neu entstehende [renaissante] Wissenschaft wissen, nicht eine verborgene Sache, sondern eine vorgezeigte Sache oder ein Körper, der zunächst nicht ganz kongruent zu sein scheint mit den Teilen des Raums, in denen die Position oder Disposition der andern Körper der Fabel malerisch angeordnet ist. Das ist deshalb so, weil dieser Körper von anderer Art ist, nicht von gleicher Substanz wie die andern, er kann nicht völlig eingehen in die Fabel, weil er deren Motor, deren mechanisches Prinzip repräsentiert, die Ironie der maschinenhaften und geometrischen Reduktion.

Und diese Intelligenz, durch die Schönheit aller klar erfassten, umrissenen und subtil ans Licht gebrachten möglichen Sujets hindurch, ist zweifellos das, was mich am meisten einnimmt. Das ist es, was ich – knapp – evozieren kann, ohne Indiskretion des Affekts (wovor dem einen oder andern von uns graut).

Die Handlung, das In-Bewegung-Setzen der den Zirkel ihrer Identitäten durchlaufenden Figuren, nach einer perfekten Geometrie Zirkel querend, in denen sich andere Figuren bewegen, Cursoren der Zeit, die Identitäts-Variationen durchdeklinieren nach Werten, die präzise an Farben ausgerichtet sind (oder an vorherrschenden Stimmungen); dieser erste Anstoß ist ein Unfall: der Schüler, da noch Joâo genannt (der Wahn wird daraus Pedro da Silva machen) wird nach einer Auseinandersetzung bei einem Kegelspiel umgestoßen: seinem Sturz folgen Konvulsionen und ein Fieberdelirium, von dem alle Geschichten ausgehen; auf seinem Krankenbett erhält Joâo den Besuch einer mysteriösen Dame, der Gräfin von Santa Barbara, seiner Mutter, die ihm ein kleines Theater aus Karton zum Geschenk macht, auf dessen Bühne, als Prolog aller Akte des Schauspiels, sich kleine Silhouetten aus Papier bewegen: dies sind die beiden, die Geschichte anstoßenden Anlässe; die Holzkugel, die ihre Bewegung an die Figuren weitergibt und deren Aufprall die Bühne des Lebens, das im Fiebertraum des Jungen geträumt wird, nach und nach mit Handlung ausstattet (wie oft bei Ruiz geht der Film von einem Kind aus, es wird Meister des Spiels, weil bei ihm, im Artificium seiner Fieberkräfte, das Leben ein Traum ist). Der letzten Szene des Films gelingt diese bewundernswerte Inclusio: das Ende ist der Anfang; das Kind stirbt einige Monate nach seinem Sturz an den Folgen dieses historienträchtigen Fiebers und der Konvulsionen, die, durch umschließende Wellen, Ebbe und Flut des Meers der Geschichten haben folgen lassen. Das Krankenzimmer ist immer noch in dasselbe Licht getaucht, die Holzkugel, welche die Holzfiguren angestossen und zum Kippen gebracht hat, liegt neben dem Pappmaché-Theater. Schweigend tragen Pater Dinis und eine Ordensschwester den Körper des Kindes – den Träumer – hinaus.

Was war, so lange, die Bahn des Traums zu den Realitäten, was seine Zusammenstöße, sein Anakoluth, seine magischen Gemälde? All das, all dieses Prestige der wahren Unwirklichkeit, welche ich heute nicht den Mut habe zu kommentieren, gehört nun einem jeden – zu seinem Vergnügen, zu seinem Studium. Aber man sehe sich vor: diese Kunst war eine Wissenschaft.

Ende des Traums? Es war, glaube ich, Casanova, der den schönsten Kommentar zu jeder, teils in der Realität, teils im Darüberhinaus, erlebten Geschichte und deren Ende hinterließ: «Bei Träumen dieser Art wacht der Träumer für gewöhnlich einen Moment vor der Krise auf. Die Natur, eifersüchtig auf die Wahrheit, mag nicht leiden, dass die Illusion so sehr voraus sei. Ein Mensch, der schläft, ist nicht ganz lebendig, er muss es aber in dem Augenblick sein, in dem er einem Wesen das Leben geben kann, das ihm ähnlich ist.»

Zwischen dem Leben und der Scheibe des schicksalhaften Adieu die fatale Rhapsodie der beiden Orakel: es ist das Fallbeil der Zeit, das eines Tages «zu früh», eines andern Tages «zu spät» sagt, und fällt wie der Vorhang des Traums.

 

Notizen

Der zeigende Finger. Im Wust meiner Notizen findet sich die amüsante Szene vom Ball, in deren Verlauf der stumme Domestike einen neuen Modus erfindet: die Sprache der Gesten; das Nennen ist ersetzt durch eine Deiktik (die mimetische deixis, zeigen statt nennen), eine Geste, die mit einer «rigiden Denotation» endet: der Vorstellung des Grafen von Santa Barbara.

Die Armillarsphäre [kugelförmiges historisch-astrologisches Instrument]. In der Mitte des Films, genau in dem Moment, als die miteinander verflochtenen Erzählungen aufeinander treffen, hält Alberto de Magalhâes – Mange-Couteaux im Begriff, das Dekor seiner neuen Identität herzurichten – den Fall einer Armillarsphäre auf, ein sprechendes Bild für den eng geschmiedeten Zirkel von Leben und Narration: das Skelett der Krümmungen des Schicksals ist das Navigationsinstrument des reich gewordenen Piraten; der Verlauf dieser Krümmungen, wie beim Knäuel, auf der Kugel der Fixsterne.

Das unsichtbare Geld. Das Geld, der Preis für den Loskauf des Lebens des jungen Joâo und das Entgelt aus dem früheren Nutznießungs- Vertrag zwischen Elisa de Montfort und Alberto, wird nicht benutzt; das ist eine Gebrauchsvereinbarung, ein Pfand auf die Körper, ohne Verfallsdatum: keiner kann daran «rühren». Sein Äquivalent ist nicht länger ein Körper (ein Kind, eine Frau), es hat seinen Tauschwert verloren, ist nur noch das Blut der Geschichte. Die Körper, deren Preis es war, sind, wie beim Sklavenhandel, nicht mehr fungibel; es ist gerade noch Äquivalent ohne Verfall, das heißt, muss die Probe der Realität nicht bestehen. Es fließt, ohne zu verschwinden. In einer ganz anderen Geschichte: wäre es vorstellbar, dass Judas seine 30 Silberlinge zurückgeben könnte, weil der Körper, der zu diesem Preis veranschlagt wurde, sich schon verwandelt hat? Das menschliche Ende dieses Körpers leitet das Paradox seiner göttlichen Präsenz ein, und diese ist nicht antastbar. Das ist der Sinn des noli me tangere, der Worte, die der Wiederauferstandene an Maria Magdalena richtet. Der Leib Christi war nicht von fungibler Art (nicht konvertierbar in Geld); der Tod hat sein Wesen verändert. Wenn die Schuld erlischt oder abgelöst wird, nimmt die Zeit, in der das lebende Geld zirkuliert, ein Ende, und der Film sieht die Verknüpfung seiner Erzählungen zu Ende gehen, das heißt, der ganze Kredit der symbolischen Zirkulation, durch den die Dinge Sinnkörper sind, ist aufgebraucht.

Das Kind schaut, das ist seine ganze Handlung. Es glaubt nicht an die Fabeln, sondern gibt den Kredit des Wirklichen dem, was es sieht: es macht Bilder, das heisst, es stellt Flächen der Fiktion her, auf deren Realitätsboden es seine verschiedenen Rollen spielt. Das ist sein ganzes Papier-Theater.

 

Mistérios de Lisboa liegt in einer vorzüglichen Ausgabe bei Clap Filmes als DVD vor (www.clapfilmes.pt) | Übersetzung aus dem Französischen von Johannes Beringer