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Jenseits der Banlieue Das jüngere Cinéma beur und die Filme von Rabah Ameur-Zaimeche

Von Lukas Foerster und Fabian Tietke

Vénus Noir (Abdellatif Kechiche, 2010)

© MK2

 

Eine kleine Geschichte des Cinéma beur

Erstaunlicherweise waren es ausgerechnet zwei Filme eines weißen, nach eigenem Bekunden liberalen Franzosen, die das Cinéma beur tiefgreifend verändert haben. Wenn nicht schon mit Métisse (1993, der den beachtenswert zotigen deutschen Titel Lola liebt’s schwarzweiss ertragen muss), dann spätestens mit La haine (1995) hat Mathieu Kassovitz die Darstellung des Alltagsrassismus in Frankreich und des Lebens in der cité geprägt. War das Cinéma beur der 80er Jahre die Selbstermächtigung von Filmemacher/ innen mit arabischer Herkunft (das Wort beur leitet sich von einer Verballhornung von a-ra-beu ab), so überführte Kassovitz deren teils ungelenke, aber von einer machtvollen Direktheit geprägte Filme in die trendbewusstere Darstellung einer identité banlieue.

Stellt man La haine den bekanntesten Spielfilm des frühen Cinéma beur, Le thé au haremd’Archimède (Mehdi Charef, 1985), gegenüber, sind die Unterschiede offensichtlich: Le thé … zeigt in hartnäckiger Nüchternheit den Alltag des Algeriers Madjid und seines französischen Freundes Pat. Die beiden Jugendlichen halten sich mit kleinen Gaunereien über Wasser und versuchen, ihre Jugend im Wohnblock, in dem jeder Streit der Nachbarn in der ganzen Etage zu hören ist, so ungestört wie möglich zu leben. In klaren, unprätentiösen Bildern schildert Charef den alltäglichen Rassismus in den Vorstädten. Zugleich jedoch gelingt es dem Film, das Nebeneinander von Hoffnungslosigkeit und Träumen zu zeigen. Der Blick aus dem Fenster, das Ausmalen der eigenen Wünsche auf der nächtlichen Fahrt ans Meer im gestohlenen Mercedes, Madjids Mutter, die eine junge Frau vom Selbstmord abhält: In solchen Szenen zeigt Le thé …, dass das Leben in der cité nicht nur darin besteht, das eigene bloße Überleben zu sichern.

Indem er rassistische und soziale Diskriminierung in der schon in Métisse vorhandenen Protagonisten-Trias eines Arabers (Saïd), eines weißen Juden (Vinz) und eines Schwarzen (Hubert) zusammenbrachte, erfand Kassovitz die stilprägende Darstellung beur-blanc-black für die identité banlieue. Diese Konstellation durchzog das französische Kino auf Jahre – die Differenzerfahrung «des Weißen» wurde allerdings in der Folge meist auf die soziale Diskriminierung reduziert, Vinz’ Judentum spielte in Zukunft keine Rolle mehr.

Mit der Re-christianisierung des blanc war die Entpolitisierung der Trias vollzogen. Sie konnte zum Symbol für den vermeintlichen Multikulturalismus Frankreichs werden. Hatte Abdelkrim Bahloul 1992 in seinem wenig gelungenen und dennoch bemerkenswerten zweiten Film Un vampire au paradis mit der Angst der weißen französischen Gesellschaft vor der «Ansteckung» durch die Banlieue gespielt, indem er die Tochter einer wohlhabenden Familie von einem «Vampir beur» beißen ließ, wurde das Spiel mit der akzeptierten Differenz nach La haine in bisweilen absurder Weise vereinnahmt. Etwa, als die Modezeitschrift Marie Claire den «Look beur» propagierte.

La haine wurde vom weißen Frankreich als Film darüber rezipiert, weshalb «die in der cité» Autos anzünden (gemäß einer gern zitierten Anekdote ließ sich selbst der französische Innenminister den Film vorführen). Genährt durch die nun für dieses Thematik geöffneten Filmförderungstöpfe, entstanden in den Jahren darauf unzählige Filme, deren Handlung sich irgendwie auf die Banlieue bezog, vermeintliche Toleranz zeigten, eventuell ergänzt um nicht-weiße Protagonist/ inn/en. Ergaben sich dabei zunächst noch einige Komödien mit politischen Untertönen, mündete dieser Trend 1998 in der von Luc Besson geschriebenen Taxi-Serie: mit Samy Naceri als coolem Pariser Taxifahrer.

Rückblickend lässt sich das Ende der von La haine angestoßenen Welle etwa um das Jahr 2001 datieren. Es ist verlockend, diesen Moment mit zwei zeitgeschichtlichen Prozessen in Verbindung zu bringen. Einerseits erlebte Frankreich im Vorfeld des Präsidentschaftswahlkampfs 2001/02 eine erneute Debatte um die sogenannte double peine (die Inhaftierung in Frankreich und die anschließende Abschiebung in das vermeintliche «Herkunftsland») unter konservativen Vorzeichen; andererseits blieben die Auswirkungen der Anschläge vom 11. September, der Boom eines islamophoben Rassismus, auch in Frankreich nicht aus.

In genau dieser Zeit entstanden zwei wichtige Filme, die dem Cinéma beur eine neue Richtung vorgaben. Zum einen Rabah Ameur-Zaïmeches Regiedebüt Weshwesh, qu’est-ce qui se passe? (2001): Kamel (vom Regisseur selbst gespielt) kehrt nach der doppelten Bestrafung durch Gefängnis und Abschiebung in seine «Heimat» Algerien zurück, in die cité des Bosquets in Seine-Saint-Denis. Die frustrierende Suche nach einer Arbeit (ohne Papiere), die ewig gleichen Diskussionen mit den Eltern fügen sich zu einer Erzählung erzwungener Passivität. Ameur-Zaïmeche versucht sich in seinem Langfilmdebut an einer doppelten Positionierung. Einerseits stellt er Filmen, die eine Ästhetisierung des Alltags und der Gewalt in der cité betreiben, ein nüchterneres Bild von der Enge des Lebens in den französischen Vorstädten entgegen. Andererseits zeugen wiederkehrende Bilder alltäglicher Schikanen von den rassistischen Diskriminierungen, denen sich weiße Franzosen nicht ausgesetzt sehen.

Immer wieder durchdringen sich die fiktionale Handlung und eine Ästhetik des Dokumentarischen, am prominentesten in den verdeckt gefilmten Aufnahmen von Polizeikontrollen im Wohnblock mit den verpixelten Gesichtern der Polizisten. Die Leistung des Films besteht darin, sich den Blick auf die Verhältnisse nicht von der Wut trüben zu lassen.

Fast zeitgleich entstand ein weiterer Film, der in ganz anderer Weise mit der Linie der Banlieuefilme der 90er Jahre bricht. L’esquive (in etwa: «das Ausweichmanöver») ist die zweite Regiearbeit von Abdellatif Kechiche, der als Schauspieler an einigen Filmen des Cinéma beur mitwirkte, unter anderem an Abdelkrim Bahlouls Le thé à la menthe von 1984. L’esquive setzt auf eine andere Methode als Weshwesh. Wo Bahloul dokumentarische Nüchternheit zur Markierung des Bruchs mit der Ästhetisierung nutzt, greift Kechiche auf eine Mischung aus Realismus und Poetisierung des Politisch-Individuellen zurück: Es geht um Mitglieder einer Schultheatergruppe, die sich ein Stück von Marivaux erarbeiten und dabei Strukturen ihres Alltags zu verändern beginnen.

Die französische Filmproduktion scheint Kechiches klugen Film vor allem so verstanden zu haben, dass er das Thema Jugend in der Banlieue als pädagogisches Problem aufwirft. In der Folge entstanden eine ganze Reihe von Filmen, in denen weiße Lehrerinnen in die «Wildnis» der cité geworfen werden und mit den Jugendlichen zu Rande kommen müssen. Trauriger Tiefpunkt dieser Filme bislang: La journée de la jupe (Heute trage ich Rock) von Jean-Paul Lilienfeld (2008). Es dauerte einige Jahre, bis sich eine neue Form fand für die spezifische Repräsentationskritik des Cinéma beur. Seit Mitte der Nullerjahre setzen einige Regisseure der Verdrängung nicht-weißer Realitäten aus dem französischen Mainstream Geschichten entgegen, die sich mit neuralgischen Punkten der europäischen, insbesondere der französischen Kolonialvergangenheit auseinandersetzen.

2005 griffen Serge Le Péron und Saïd Smihi die Ungereimtheiten um den Tod des marokkanischen Widerstandskämpfers und Organisatoren der Trikontkonferenz Ben Barka auf, nachdem im Jahr davor eine Reihe von Akten aus französischen Archiven freigegeben worden waren (J’ai vu tuer, Ben Barka). Mit Rachid Boucharebs Indigènes fand die Beteiligung von Soldaten aus Nordafrika in der französischen Armee im Zweiten Weltkrieg nach Jahren, in denen wenig beachtete Dokumentarfilme das Thema immer mal wieder berührt hatten, Ausdruck in einer großen Spielfilmproduktion. In seinem übernächsten Film Hors la loi erzählte Bouchareb 2010 vom Vorabend der Dekolonialisierung. So wenig der Film überzeugt, wenn er die Geschichte des algerischen Widerstands als Familiengeschichte erzählt, gelingt es hier doch, die Zäsur 1945 in ihrer vermeintlichen Allgemeingültigkeit zu erschüttern. Jenes Jahr, das für Frankreich und Europa das Ende der Katastrophe von Holocaust und Zweitem Weltkrieg bedeutete, markiert außerhalb Europas lediglich den Beginn vom Ende des (alten) Kolonialismus.

Der wahrscheinlich stärkste Film über die globale Verwobenheit Europas in die Verbrechen des Kolonialismus stammt erneut von Kechiche. Sein im gleichen Jahr wie Hors la loi fertiggestellter Vénus noire ist ein Biopic über Saartjes / Sarah Baartman, die sogenannte «Hottentottenvenus». Baartman wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf Jahrmärkten als Attraktion zur Befriedigung exotistischer Weißer ausgestellt. Kechiches Film ist bemerkenswert, weil er nicht nur zeigt, wie Baartman von den Jahrmärkten Großbritanniens in die französischen Anatomielehrsäle verschleppt wurde. Vielmehr nimmt Kechiche Baartman als Subjekt ernst. In einer der beklemmendsten Szenen zeigt der Film die Verhöhnung und den Paternalismus noch jener weißen Europäer/innen, die Baartmans Sklavenhalter-Impresario wegen Verstoßes gegen das Verbot der Sklavenhaltung verklagten. Fabian Tietke

 

 

Rabah Ameur-Zaïmeche in Les Chants de Mandrin (2011)

© Sarrazink Productions et Les Films du Losange

 

Entgrenzungen: Rabah Ameur-Zaïmeche

Bled Number One, der zweite Film Ameur-Zaïmeches, fünf Jahre nach Wesh Wesh gedreht, begleitet Kamel nach Algerien, in ein abgelegenes Provinzdorf, das von einer Bande jugendlicher Islamisten terrorisiert wird und sich langsam zur Wehr zu setzen beginnt; er trifft dort auf seinen Cousin Bouzid und auf Louisa, eine junge Mutter, die von ihrem Mann verstoßen wurde, weil sie eine Gesangskarriere anstrebt. Ob dieser zweite Film zeitlich vor dem ersten angesiedelt ist, oder eher eine Fantasie darüber darstellt, was passiert wäre, hätte Kamel die Schüsse der Polizei am Ende von Wesh Wesh überlebt, bleibt offen. «Kamel la France» nennen ihn seine Verwandten und Freunde zumindest in der alten Heimat.

Man kann über Ameur-Zaïmeches Filme entlang seines eigenen Körpers schreiben. Ameur-Zaïmeche, der so konsequent wie wenige andere Regisseur (erst recht, seitdem sich Clint Eastwood und Woody Allen schon seit einiger Zeit kaum mehr vor ihren Kameras blicken lassen) die eigene Physiognomie zu einem Teil seines Kinos macht, ist nie zu übersehen in seinen Filmen, schon aufgrund seines außergewöhnlichen Äußeren, des riesigen, kahlgeschorenen Kopfes und der auffälligen Mimik, die nie direkter Ausdruck eines psychologischen Zustands zu sein scheint, sondern immer etwas Grimassiges, Maskenhaftes, Rätselhaftes an sich hat. In Bled Number One, wo er zudem noch fast durchgängig eine signalfarben orangene Kappe trägt, lässt sich dieser Körper sehr grundsätzlich nicht mehr in die Welt, die ihn umgibt, integrieren; Kamel kommt nie richtig an in dem Land, aus dem er stammt, man könnte meinen, er komme nicht einmal richtig an in seinem eigenen Film, oft bewegt er sich eher erratisch durch die Einstellungen und entschwindet dann unbemerkt aus der Szene, aus dem Bild. Am deutlichsten vielleicht beim gemeinsamen Tanz in der Männerrunde: er hopst nur ein paar Mal wild und ungelenk zwischen seinen beschwingten Freunden herum, driftet dann aus der Gruppe heraus und verlässt das Bild wie ein Unbeteiligter im Hintergrund. Der Integrationsversuch scheitert schon an mangelnder körperlicher Passung. Fast zwangsläufig verschwindet er dann später über weite Strecken ganz aus dem Film, der aus mehreren untereinander kaum verbundenen, unbehauen wirkenden Blöcken besteht: in der Islamistenepisode zum Beispiel ist kein Platz für Kamel und auch, wenn Louisa schließlich in die Großstadt, in die Psychiatrie flüchtet, wo sie endlich singen kann, muss sie das alleine tun.

Vielleicht haben die Kugeln in Wesh Wesh doch getroffen und Kamel ist zum Gespenst geworden – zumindest scheint sich im Missverhältnis zwischen Kamel und der Welt um ihn herum mehr auszudrücken als nur eine soziale Distanz, mehr als nur der Kulturschock des zurückgekehrten Migranten. Kamel wird zum Kristallisationspunkt einer filmischen Ästhetik des Disparaten, zu einem defekten Bindeglied, das nichts mehr verbindet, sondern nur noch die unversöhnten Bruchstellen markiert. Nur einmal, während eines Bads im Meer mit Louisa (neben zwei riesigen, verrosteten gestrandeten Schiffen), in einem durchnässten Kleid, unter dem sich die Umrisse ihres Körpers einmal abzeichnen dürfen, scheint eine neue Gemeinschaftserfahrung möglich – in Form einer Gemeinschaft gegen die Gemeinschaft freilich.

Bled Number One ist ein Familienunternehmen. Ganze 21 Ameur-Zaïmeches tauchen in der Titelsequenz auf. An einem harmonischen, oder wenigstens zur Harmonie strebenden Großfamilienfilm ist dem Regisseur allerdings gerade nicht gelegen. Darin drückt sich auch eine unüberbrückbare Differenz zu den Filmen Abdellatif Kechiches aus, des zweiten zentralen Protagonisten des neueren Cinéma beur, dessen bisherige Karriere (vier Spielfilme zwischen 2000 und 2010) fast parallel zu der Ameur-Zaïmeches verlief. Kechiches Filme – zumindest die ersten drei – setzen, obwohl sie dabei alles andere als naiv sind, auf die integrative Kraft von Gemeinschaften und ihrem Bindemittel, der Kommunikation. Ameur-Zaïmeches Filme sind dagegen geprägt von einer Skepsis gegenüber jeder Form von Vergemeinschaftung. Er interessiert sich zwar ebenfalls, wie Kechiche, für interindividuelle Prozesse anstatt für isolierte Biografien, aber die Gruppen, die er porträtiert, befinden sich im Prozess des ständigen Zerfalls (der neueste Film ist auch hier eine Ausnahme, allerdings vielleicht nur auf den ersten Blick, dazu gleich mehr) und der Rekonfiguration je nach Interessenlage und Umständen. In WeshWeshhängen vor den Mietshäusern nicht immer dieselben Jungs ab, es gibt eine Fluktuation, die der Film gar nicht zu erklären braucht, genau wie in Dernier maquis die Fronten im Arbeitskampf nie entlang einer feststehenden Gruppenzugehörigkeit verlaufen. Einer stabilen, überschaubaren (in einem Frame erfassbaren) Gemeinschaft, wie der der Islamisten in Bled Number One, ist in Ameur-Zaïmeches Kino fast schon grundsätzlich nicht zu trauen.

Man konnte sich nur schwer vorstellen, was für ein Film auf den in alle möglichen Richtungen ausufernden Bled Number One, der noch dazu am Ende fast alle Anschlussmöglichkeiten durchgestrichen zu haben scheint (der Film ist aus und das Leben geht nicht mehr weiter), überhaupt noch folgen könnte. Die beiden Filme, die danach entstanden sind, wirken fast wie absichtliche Selbstbeschränkungen: zwei sehr konzentrierte, fast minimalistische Arbeiten, die sich aus dem weiten Feld des Sozialen, das insbesondere Bled Number One gar nicht mehr dramaturgisch zu bändigen, einzugrenzen versuchte, zurückziehen in die politische Parabel (Dernier Maquis, 2008), beziehungsweise in die Vergangenheit (Les chants de Mandrin, 2011).

Ameur-Zaïmeche selbst bezeichnet Dernier Maquis als dritten Teil seiner Trilogie über Migrationserfahrungen. Dennoch ist der Film eher Neuanfang als Fortsetzung, schon weil Ameur-Zaïmeche seine Rolle als Kamel nicht wieder aufgreift. Stattdessen spielt der Regisseur jetzt Mao, den Leiter eines kleinen Betriebes, in dem Holzpaletten hergestellt und mit roter Farbe besprüht werden. Der Migrant Mao hat sich an der Peripherie der französischen Industrie eine Nische errichtet, ist zum Arbeitgeber und Ausbeuter anderer Migranten geworden. Er überträgt den Druck, den der Markt auf ihn ausübt, sozusagen durch seinen Körper vermittelt auf die Angestellten, denen er eine betriebseigene Moschee zu errichten plant, die von der erbärmlichen Entlohnung ablenken soll.

Eine wichtige Rolle innerhalb des sich fast mechanisch abspulenden, sehr direkt auf einen (marxistischen) allegorischen Mehrwert abzielenden Konflikts spielt Titi, ein Arbeiter, der sich zunächst, um Muslim werden zu können, im Badezimmer selbst beschneidet und der später mit den Aufständischen gegen seinen Boss und seine neue Religion Position bezieht. Christian Milia-Darmezin, der schlanke, dunkelhäutige Mann, der Titi spielt (und auch schon in WeshWesheine kleine Rolle hatte), ist seit Dernier Maquis ein zweites Zentrum des Kinos Ameur- Zaïmeches, eine Art Gegenpol zum Regisseur selbst. Wo letzterer selbst noch in den bedrängtesten Situationen wie die Ruhe selbst wirkt, eingeschlossen in einen Kokon ironischer Souveränität, scheint das schmale Gesicht Milia-Darmezins mit dessen expressiven, etwas ausgezehrt wirkenden Zügen wie eine allzu dünne Membran, maximal durchlässig in die eine Richtung für noch die geringste psychische Regung, in die andere für die verschiedensten Eindrücke, die auf es einschlagen. Seine Figuren sind stets ganz gegenwärtig, dem Hier und Jetzt ausgeliefert, ungeschützt, ohne Rückzugsraum.

Der vierte Film hatte letztes Jahr in Locarno Premiere. Les chants des Mandrin, ein Historienfilm über eine Gruppe von Schmugglern, die Mitte des 18. Jahrhunderts, nach dem Tod ihres Anführers Louis Mandrin die revolutionäre Ballade «La Complainte de Mandrin» in Druck setzen, wirkt zunächst wie ein radikaler Schnitt im Werk, auch wie ein endgültiger Abschied vom Themenspektrum des Cinéma beur. Man kann jedoch einerseits durchaus eine Verbindung vermuten zu jenem Ausläufer des Cinéma beur, der filmische Gegenpositionen gegen die französische Mainstreamgeschichtsschreibung vertritt. Und andererseits kann der Film verstanden werden als die konsequente Fortsetzung des spätestens mit Bled Number One eingeschlagenen Wegs. Ameur-Zaïmeche spielt Bélissard, der die freilich nur informelle Führung der Schmuggler nach Mandrins Tod übernommen hat. Milia-Darmezin ist Jean Sératin, ein fahrender Händler, der neben den Schriften Jean-Jacques Rousseaus auch ein Werk namens «Woman of Pleasure» unters Volk bringt und sich den Schmugglern anschließt. Mit dabei sind in diesem vielstimmigen Film unter anderem noch Jacques Nolot als adeliger Mandrin-Herausgeber und Jean-Luc Nancy als Setzer; zitiert werden neben der Mandrin-Ballade (deren historische Autorenschaft umstritten ist, aber das interessiert den Film nicht, Mandrin ist tot, jetzt muss das Beste aus der Situation gemacht werden) unter anderem Lautréamont, Rimbaud und The Clash.

Dass daraus weder ein in seine Einzelteile zerfallender Hybrid wird noch eine rührselige Freibeutersaga, sondern die schlüssige Evokation einer antibürgerlichen revolutionären Tradition, verdankt sich der ungeheuren Souveränität der Regie, der Art vor allem, wie sie jeden einzelnen Schauspieler in seiner Einzigartigkeit ernst nimmt. Wie bei Straub-Huillet geht es immer darum, wie die (historischen) Texte durch den (gegenwärtigen) Körper hindurch sprechen. Ameur- Zaïmeche konzentriert sich dabei allerdings nicht auf einen daraus eventuell entstehenden Verfremdungseffekt (auch bei Straub ist das komplizierter, sicher), sondern eher auf einen Sprechakt, der vom Zwang befreit ist, als Ausdruck einer Innerlichkeit gelesen werden zu müssen. Deshalb erscheint die individuelle physische Präsenz jedes einzelnen Sprechers umso deutlicher konturiert.

Ameur-Zaïmeche hat nicht einfach nur neue Sujets gefunden. Seine letzten beiden Filme sehen auch vollkommen anders aus als die ersten beiden, als Bled Number One vor allem, der oft mit langer Brennweite gefilmt war und die Protagonisten immer wieder wie zufällig aus einem dichten, informationsgesättigten Raum isolierte. Dernier maquis und Les chants de Mandrin sind ökonomisch und nüchtern fotografiert (von Irina Lubtschansky, Williams Tochter); in letzterem bleibt dabei etwas mehr Raum für spielerische Elemente: Aufsichten der reitenden Rebellen, die dann vor dem blauen Horizont wie im Western silhouettengleich in die Schlacht reiten, die sinnliche Detailaufnahme eines fein gearbeiteten Kragens anstelle einer Sexszene (es wäre die erste im gesamten Werk gewesen). Was das Werk zusammenhält, ist – neben dem Körper des Regisseurs und einem politischen Programm, das auf die eine oder andere Weise stets ein marxistisches bleibt – vor allem ihr architektonisches Prinzip, das nicht auf Charakteren und ihren Perspektiven beruht, sondern auf Situationen, die zwar mit Subjektivität gesättigt sind, sich jedoch nie auf einen einzelnen Erfahrungsraum herunterrechnen lassen. Lukas Foerster

 

Die ersten drei Filme von Ameur-Zaïmeche sind in Frankreich bei Arte auf DVD erschienen (aber alle ohne UT) | Vénus Noire gibt es bei MK2 (ebenfalls ohne UT), Le thé au harem d’Archimède und La haine sind bei Arthaus erschienen. Ferner: Indigènes / Tage des Ruhms (Ascot Elite Home Entertainment), Hors la loi (Studiocanal, mit engl. UT), J’ai vu tuer Ben Barka (Artificial Eye mit engl. UT)