notizen

15. Juli 2024

Notizen 2024

Von Ekkehard Knörer

JULI

25.7. Fluentum, Halberstadt, Wehrmühle (19./20./21.7., Berlin, Halberstadt, Biesenthal)

Fluentum: Die Videokunst sitzt im Nazibau und macht sich vergleichsweise klein. Der Nazibau: einst Verwaltungsgebäude und Kaserne der Luftwaffe (Luftgaukommando III), später Haupthaus des US-Hauptquartiers in Berlin. Ein Weg, ein Zaun, das US-Konsulat heute noch nebenan, Erinnerung an Visa-Angelegenheiten, man geht auf den Bau zu, ein kleiner Anmarsch (kein innerer Aufmarsch), die Tür steht offen, drinnen viel Marmor, viel Säule, viel Wand und viel Oben, Sauerbruch Hutton haben das Monster ein bisschen gezähmt. Am Rand und in Nischen und die Treppe hinauf die Videokunst, Nina Könnemann hat aus spitzem Winkel die Kamera auf einen Bratwurstverkäufer mit Bauchgrill am Alex gehalten. Oben blaut es, ein bisschen, als habe sich Mark Rothko aufs Digitale verlegt. Als Installation im Raum ein Sofa, recht angenehm dekonstruiert, seiner Funktion entkleidet, nun eine Skulptur, die noch weiß, was sie war. Alles in allem mehr Raum als Kunst, aber kühl in der Hitze.

Halberstadt: Das Tor zum Harz, im Restaurant Adria ein Epigramm (rätselhaftes Gericht unter Balkan-Generik) verspeist, Straßenzüge aus Fachwerk, ein Museum zur bedeutenden jüdischen Geschichte der Stadt, eine Mikwe, eine von vielen, im Keller eines Hauses da, wo einst die Synagoge stand, die, wie man auf Fotos sieht, beeindruckend war, prächtig, von den Nazis dem Erdboden gleichgemacht, hier wuchert nun Grün, der Rest einer Wand, auf den geht man zu. Das Museum: eine Nachwende-Privatinitiative einer Historikern aus dem Westen, inzwischen vom Land unterstützt, Wissenswertes zum bedeutenden Hofjuden Behrend Lehmann aus Essen, Hoffaktor Augusts des Starken, aber in Dresden bestand für Juden ein Niederlassungsverbot, weshalb er im judenfreundlicheren Halberstadt blieb; Recherchen zu den Familien, die hier lebten, bis man sie vertrieb, deportierte, nach Auschwitz schickte, der Vernichtung entgegen. Einige entkamen, wenige überlebten, aber die jüdische Gemeinde war und blieb von Halberstadts Boden getilgt. Zehn Minuten zu Fuß sind es zum Buchardikloster, wo es um ein wenig Ewigkeit geht. As slow as possible ist die Tempoangabe von John Cage zu seinem Orgelstück ORGAN²/ASLSP. Es ist eigentlich kurz, nur ein paar Seiten. In Halberstadt jedoch ist es lang, auf 639 Jahre gedehnt, so der Plan, der mit jedem Jahr verzweifelter optimistisch erscheint, seit 2001 werden hier alle paar Jahre die Orgelpfeifen gewechselt, als dekonstruierte Orgel steht, was der jeweilige Klang braucht, nicht groß im Raum, der Blasebalb bläst und hört so schnell nicht mehr auf. Auch in diesem Raum, eine ganz entkernte Kirche ohne Verputz, ist viel Höhe, ist schöne Kühle in der ziemlichen Hitze, der Klang verliert sich nicht, aber er ist auch nicht bedrängend. Entlang der Wände Votivtafeln, für jedes Jahr der Performance eine, Sinnspruch von Ernst bis Karl Valentin, zum 60. von Christoph Türcke, manche Namen kennt man, die meisten nicht, so arbeitet sich das, weit über den individuellen Horizont, in eine Zukunft hinein, von der kein Mensch weiß, wie lang sie tatsächlich geht.

Wehrmühle: S-Bahn nach Bernau, von wo der Bus nach Biesenthal fährt, Ausstieg am Markt, Spaziergang hinein in eine Natur, in der an diesem Sonntag kein Vogel zwitschert, keine Mücke mein Blut will. Die Wehrmühle mahlt hier nicht mehr, der Bach ist noch da, vorne ein Prachtbau von einem Gutshaus, das zur Stätte der Kunst umgebaut ist, man sieht es vor allem von hinten, Glas, Galerie. Im Keller, der kühl ist, kratzt eine Videokunst im sandigen Boden nicht dieses Ortes, oben sind im großen Raum - in Kleinen: Roman Signer, Anna Mendieta - auf einem schmalen Bord an der Wand aufgestellte Kerzen zu Boden geschmolzen und haben an der Wand ihre schwarze Spur hinterlassen. Als große Skulptur hat Berlinde de Bruyckere ein Gemälde mit Franz von Assisi zu Holz und Tuch dekonstruiert, aber es drängt uns nach draußen, da ist eine kleine Kolonne von Betten eines nach dem anderen auf der Wiese gereiht, es endet irgendwo hinten, wir sind zu faul, bis ans Ende zu gehen an diesem glühenden Tag. iIh trinke Eiskaffee der Berliner Privat-Rösterei Five Elephant, wir sitzen im Schatten, wir sitzen im Gras, die Ältesten hier, was kommt, ist Kunst-Crowd aus New York oder Mitte, hat an lässig teuer gekleideten Luxuskörpern Arm- und Waden-Tattoos, man kann nie sicher sein, ob nicht ein Glitch das alles als hologrammatisch-virtuelle Versammlung enttarnt. Kein Mensch aus Biesenthal, das versteht sich von selbst, wobei man auch auf dem Weg durch den Ort fast niemanden sieht. Titel der Ausstellung: Aura’s Present Decay, wirklich sehr schicker Verfall hier im Refugium der Art-Anywheres, zugleich seltsame Midsommar-Vibes, das grüne Idyll als Ambivalenzraum zwischen Safe Space und Maximal-Exklusion.

 

15.7. Clueso (Waldbühne Berlin)

So bin ich also ohne mein Zutun in ein Konzert von Clueso geraten. Waldbühne, Berlin, no less. Clueso, von dem ich im vorhinein nicht mehr wusste, als dass es ihn gibt. Meines Wissens noch keinen Song je gehört (bestätigte sich beim Konzert: keinerlei über das Generische hinausgehende Wiedererkennungseffekte), nicht einmal sicher, wie man den Namen eigentlich ausspricht. Das ist das schon interessant: Clüso, und zwar nach der «falschen» Eindeutschung des Inspektors Clouseau in der Synchronisation. Korrekt wäre zweitsilbenbetont, aber erste Silbe ist auch völlig okay, denn Stress ist das letzte, was Clueso seinem Publikum zumuten will. Nett der Support namens Domink Hartz, der sich dem Publikum mit zu Recht unterstellter Unbekanntheitsvermutung immer wieder selbst annonciert: Hier kommt jetzt mein bekanntester Song, «Klimper klimper» (das ist der Name des Songs). Und nett Clueso zum Start, als Klampfenbarde in Rot, bevor zum Ende des Songs der Vorhang herabfällt und eine Band offenbart. Oben thront der Schlagzeuger, unten die Frau am Bass, auf mittlerer Höhe die drei Bläser*innen, jede*r mal solo, auftreten nach und nach Gaststars, Elif und ein Dichter/Influencer namens Max Richard Leßmann, ein Rapper, der Kontra K heißt, bestimmt alle szenebekannt: mir böhmische Dörfer. Und nichts davon ist auch nur irgendwie meine Musik, sehr solider Pop mit hier und da einer Ahnung von Rap (bei Wikipedia steht was von Reggae, also hier heute: njet), auch die Texte geradezu herausragend medioker, und das ist in diesem Zusammenhang wirklich kein Diss. Clueso versteht sich, und ist, und zwar glaubhaft, ein Allumarmer, Energiekreislaufproduzent, allürenfrei einer, der Udo Lindenberg und Bruce Springsteen verehrt, seine Rolle als Star ganz und gar als Vertretung begreift: des Publikums, das zu Zwanzigtausenden in der Waldbühne steht, tanzt, textsicher mitsingt, die Arme hebt, senkt, ein großes Ornament der Masse, das aber nicht die Spur Bedrohliches hat. Ein Kessel Normalos, nicht zu jung, nicht zu alt, sehr wenig divers, schon auch, aber nicht zu wild tätowiert, manche gut in, andere ohne Scham außer Form: Deutschland als Mitte. Dazu passt, dass nichts, nicht die Songs, nicht die Bühnenkommunikation, das Politische streift, alles ist, nur zwei Handbreit vom Schlager entfernt, zur persönlichen Identifikation dargereicht: Krisen haben wir alle, auf die Kraft zum Neuanfang kommt es an; wir alle sehnen uns nach irgendeinem Chicago, «Und es ist alles okay / Alles gut, Augen zu, Flugmodus an (Ja)», aber ja nichts ist völlig okay, denn es lauert immer das kleine Drama im Alltag, «Du bist bei mir, ich bin bei dir, komm, lass dich fall'n / Wir fall'n rückwärts in den Treibsand». Treibsand: vermutlich nicht gut. Und in «Tanzen» (und wie sie zum Refrain «Du musst tanzen» als Masse tanzen) ist es der Falsche, mit dem sie tanzt: «Ich sitz' zuhause wie hinter Gittern / Du lässt dich heimfahr'n von diesem Wichser», kurzum: «Nein, es ist gar nichts okay (Okay)», aber es wird okay für die Momente, in denen Clueso der Okaymacher ist. Einer, der aus bescheidenen Anfängen kommt, als Kind Psychiatrie, Hauptschulabschluss, dann Jahre, in denen er von den Goethe-Instituten in die Welt geschickt wurde, der Vater (Vati) hatte neben dem verehrten Udo Lindenberg Karat und die Puhdys im Regal (bzw. nicht: «neben», diese falsche Ordnung der ost-westlichen Dinge produziert erst der Sohn), denn Clueso, das ist, woraus er kein Geheimnis macht: Thomas Hübner, ist im Osten geboren, in Erfurt, und nach den Jahren in der weiten Welt (Goethe-Institut, außerdem: Köln) kehrte er in die Heimat zurück. Wo er nun wieder und nach wie vor lebt und von einer singt, die es weg zog, und zwar nach Berlin. An diesem Abend aber liebt auch Clueso Berlin, und das Berlin, das hier ist, liebt Clueso (in meinem Fall zumindest: Respekt), er ruft am Ende sehr pauschal die Weltlage in Erinnerung, nur als Kontrast, gleich geht es zurück ins Private, mit der ganzen Waldbühne Auge in Auge: Wenn man sich stundenlang am Tresen verquatscht hat, dann verspricht man sich: Machen wir wieder.

 

7.6. Hit Man (Richard Linklater, USA 2024)

«To his clients, he is like something out of a movie.» Steht so im Artikel über das Original, das Linklater & Powell für ihren Film zur Fiktion gemacht haben. Gary Johnson: Community-College-Philosoph (in Wirklichkeit wohl mehr Gandhi als Kant-Fan), Undercover-Auftragskiller, so tödlich, wie die Polizei es erlaubt. Gleich der Beginn, New-Orleans-Jazz, verortet die Sache doppelt: da, wo sie spielt, New Orleans, Louisiana (the real Gary: Houston, Texas); aber auch: Woody-Allen-Land, eine Linklater-Südstaaten-Variation. Das Absurde, das in seinen Übertreibungen Philosophisches auswirft, verdaulich verhandelbar mit der Ex; Meditationen über das Ich, das ein Anderer wäre oder auch ist. Spiel mit dem Abgrund, Betonung auf Spiel, weil die Wirklichkeit, something in a movie, ihre eigene, vom Drehbuch geschaffene ist. Und so auch die Regeln, Genre, Witz, Meta, sehr charmantes wink wink, das alles von einer Gutartigkeit, die über Leichen geht, als wären sie nicht mehr als das, was sie sind: Figuren in einem Spiel, das seine Unwirklichkeit bis aufs Äußerste ausreizt. Der Literalsinn bleibt suspendiert, bis zum Happy End. Oder eher: Die der Wirklichkeit wohlgemut abgetrotzte Erfindung, das Erfundensein darf triumphieren. (Wo Tarantino immer, letztlich humorlos, Rache an der Wirklichkeit will, ist bei Linklater Übermut und sonst nichts.) (74cp)

 

5.6. Le pot-au-feu (Trần Anh Hùng, F 2023)

taz-dvdesk (78cp)

 

 

 

JUNI

20.6. Lola (Andrew Legge, GB 2022)

taz-dvdesk (70cp)

 

17.6. Bad Girls (Oozing Gloop & Anali Goldberg, Sophiensaele Berlin)

Die Ladys, vielmehr Bad Girls, lassen sich Zeit, eine halbe Stunde lang sitzen wir zu guter Musik, blicken auf die beiden Campingstühle auf der Empore (orange sind sie; auch orange: der Sonnenschirm) und warten. Die Bad Girls, Oozing Gloop und Anali Goldberg, lassen uns warten, in der Kantine der Sophiensaele, so lange, bis auf dem Handy das EM-Spiel beginnt. Dann treten sie auf, ladylike, dragstolz, sagen erst nichts, nur glückliches Seufzen, bald werden die Brüste befreit, mit reichlich Sonnencreme bestrichen, dann beginnt Lydia von Puffendorf, Whiteface mit Clownsmund, zu erzählen, was sich einst in einem Schweizer Ort namens Dreckloch zutrug. Sie war sechs, ihre Großmutter kehrte zurück zu einer früheren Liebe namens Gertrud, Seufzen, Genießen, Drinks, mit den Drinks durch die Zuschauerreihen, hoppla, mein Arm kriegt was ab. Dann erzählt Agnes mit Greenface und Kussmund was, diesdas Ananas, hin und her, der Spot mal links und mal rechts, zwischen dem Erzählen auch Schweigen, zwischen dem Erzählen und Schweigen auch Tanz. Das vorne auf dem recht schmalen Streifen, einigermaßen lippensynchron zur Musik, die vom Rechner kommt, die Kantine als Ballroom, das Publikum rastet gerne ein klein wenig aus mit Zwischenapplaus. So richtig viel Struktur gewinnt das nicht, hin und her, manches wirkt ein wenig an den Haaren herbeiimprovisiert, die Worte und die Geschichten sind oft eher Quatsch, quatschiger Quatsch, noch die Abgründe lässig, aber die Atmosphäre ist gut, die Performance ist prima, was will man mehr, nach einer Stunde ist die Sache vorbei. (70cp)

 

13.6. Parallax (Kornél Mundruczó/Proton Theater, Hau Berlin)

Die Bühne ist ein Kasten, etwas oben gelegen, davor eine Wand mit Fenstern, hinter denen man, bevor die Wand hochgehen wird, die hypernaturalistische Küche, die in Budapest liegt, eher ahnt. Man bekommt sie aber von innen zu sehen, zwei Kameramänner machen Live-Übertragung, die Handkamerabilder werden auf die Außenwand projiziert. (Da das in Budapest spielt und die Sprache Ungarisch ist, sind für Untertitel vonnöten, leider kann man sie weiß auf weiß oder gelb oft nicht wirklich lesen.) Der Text, soweit entzifferbar, ist das Gespräch einer alten Frau mit ihrer Tochter über deren Großmutter, die ihre Tochter, also diese Mutter in dieser Küche, in Auschwitz gebar. In kreisenden, auch ermüdenden, manchmal drastischen Dialogen geht es im Kern um das Trauma, das über die Generationen vererbt wird. Auch wird versehentlich in die Küche gekackt. Dann öffnet sich die Wand und nicht aus dem Hahn, der schon die ganze Zeit bockt, aber aus der Klimaanlage und der Deckenbeleuchtung, von oben und von der Seite beginnen Sturzbäche von Wasser sich zu ergießen. Minutenlang bricht das sprachlos heraus, die Inneneinrichtung ist gründlich durchnässt, aber die Bühne so konstruiert, dass das Wasser abfließen kann. Es folgt dann Teil zwei, er spielt, Einblendung, ein paar Jahre später, er ist nach dem Protagonisten János überschrieben. János ist der Enkel der alten Frau aus Teil eins, sie ist nun verstorben, der Enkel ist zur Beerdigung angereist, der Flug der Mutter hat sich verspätet. Es kommen in die Küche (sie ist noch nass, surreal sind durch das Wasser die Jahre verwischt), es kommen in die Küche eine Reihe von Männern, nicht unbedingt jung, einer ist dick, einer hat Glatze. Sie scherzen ein wenig, dann entkleiden sie sich, trinken Bier, tanzen und haben Sex. Kleine Küchenorgie mit Musik, dann Gespräche, bei denen sich herausstellt, dass einer der Männer Frau hat und Kind, er ist auch richtig Orban-nah rechts. Das also gibt es. Ja, natürlich gibt es das, hier wird es als sehr nackte Tatsache krude serviert. In einem dritten Teil, Dialog von Mutter und Sohn vor der Beerdigung, wird der Generationenfaden weitergesponnen, Abwehr der jüdischen Familiengeschichte und des damit verbundenen Traumas. Viel ist Autorin Kata Weber da nicht mehr eingefallen, aufgelöst und versöhnt wird alles im nicht unkomischen gemeinsamen Schlusstanz. Aber doch eher eine falsche Versöhnung, weil sich die halbgaren Brocken aus Diskurs und Körperdrastik, Sex und Holocaust so einfach nicht in einem Tanz und auch nicht in einem so krude zusammengebauten Stück aufheben lassen. (57cp)

 

12.6. Un silence (Joachim Lafosse, F/Belgien 2023)

taz-Kritik (70cp)

 

8.6. Jeanne d’Arc au bûcher (Arthur Honegger, Paul Claudel, F 1938; Philharmonie Berlin)

Nach und nach kommt da so allerlei auf die Bühne: der große Chor, konventionell dunkel gekleidet, der Kinderchor dagegen Benetton-bunt. Das Orchester sind lärmfähig aus und ist es dann auch. Arthur Honegger (meine einzige Referenz: Pacific 231 aus dem Schul-Musikunterricht, Dampflock-Dauercresendo) greift gern mit einigem Karacho in die Tasten, metaphorisch gesprochen. Gleich zwei Flügel ganz hinten geben dieser Entschlossenheit im Dispositiv Ausdruck. Ein kurioses Ding ist dieses Jeanne-d’Arc-Stück, keine Oper, kein Drama, kein Oratorium, beziehungsweise alles davon, dramatisches Oratorium ist die Genrebezeichnung, oder auch mystèry lyrique, Mysterienspiel also. Libretto, so viel steht fest: Paul Claudel. So wird gesungen, unten, aber auch gleich neben uns (auf den nicht ganz teuren Plätzen) oben, vor der beeindruckenden Orgel der Philharmonie (die kommt jedoch nicht zum Einsatz). Und es wird gespielt, teils volksstückhaft, das Landleben und die Tiere sind seltsam im Spiel, die Kinder im Chor machen gestenhaft Wind. Nicht gleich zu Beginn tritt dann, ganz in Rot, aber eher Yoga-Dress als Robe, Marion Cotillard auf die Bühne, als wäre sie nicht der Star, sondern einfach eine weitere Teilnehmerin. Sie ist ungefähr so sehr zu alt für die Jeanne, wie es der Schauspiel-Star Ida Rubinstein war, die das Stück einst für sich in dieser Rolle in Auftrag gab. All das kommt hier also zusammen, Honegger-Furiosa, christliche Claudel-Mysterien-Lyrik, Kinderspiel, awkward Gehampel und eine Marion Cotillard, die den Glauben und das Sterben der Jeanne mit einer Herzergriffenheit und Innerlichkeit spielt, die mit der Crescendo-Bereitschaft der Komposition und dem enormen Aufwand auf ihrerseits fast ergreifende Weise kontrastiert. Wäre man von der Musik und der Inszenierung, beide allen Subtilitäten abhold, nicht doch mehr geschüttelt als wirklich gerührt. (58cp)

 

6.6. Lambchop (Heimathafen Neukölln)

Zwei-Spot-Konzert: einer links auf den Mann am Klavier, der da halbschräg rücklings sitzt und nicht ins Publikum blickt; der andere auf das Mikro, an dem stehend Kurt Wagner auftauchen wird, er zieht sich aber regelmäßig ins Dunkel zurück und räumt seinen Spot zugunsten des linksbündigen Andrew Broder, der am Klavier engagiert die Lautstärken moduliert und zwischen Ton und Misston agiert. Wagner natürlich mit Basecap, sein Vortrag - die Hände tun immer mal wieder ruckartig mit wie bei einem halb sedierten Joe Cocker - steigt als gesungenes Parlando manchmal aus Murmeln in das moderate Belcanto empor, ohne sich wirklich in eine Melodie oder eine Songstruktur einzufinden. Vieles so weggenuschelt, mittendrin aus dem Klaren ins Dunkle gefallen, dass man Text nur brockenweise versteht und ich jedenfalls nie schlau daraus werde. Aber man findet sich ein ins letztlich wohltemperierte Stimmungshalbschwarze, außer man tut es nicht: Sind doch manche, weil sie zwar Kurt Wagner, aber nicht wirklich Lambchop bekamen, vor der Zeit, und sehr lang ging es ohnehin nicht, schon verschwunden. (59cp)

 

Mars Express (Jérémie Périn, F 2023)

taz-dvdesk (71cp)

 

3.6. Niagara (Henry Hathaway, USA 1953)

Zwei Paare. Das Rauschen (des Niagara-Falls), ein Streu-Sound. Das Läuten (der Glocken), klar im Klang, unklar in der Veortung, Glockentürme, deren Bildspur vielleicht bis zu Hitchocks Vertigo reicht. Enorm wie eine Erfüllung aller Andeutungen das Bild von oben durch die Glocken hindurch auf die hingewürgte Tote. Bild und Ton sind so von Anfang an ineinander verschränkt. Manchmal schwemmt es den Dialogton unter dem Rauschen des Fall/Bilds ganz weg. Die Paare: Keine Ersetzung, kein Chiasmus,  eine Gleichung, die so nicht aufgehen kann, weil es von Anfang an einen Dritten gibt. Es «gelingt» nur die Neu-Verbindung als Drift auf Leben und Tod. Störungen: Das Eindringen ins nicht verlassene Zimmer. Marilyn Monroe (röteste Lippen, blondestes Haar: mehr Ikone als Mensch), die sich, unter der Bettdecke nackt, schlafend stellt, wegdreht. Später dann am Fall eingerückt, weggedrückt mit dem anderen Mann. Der room with a view, die Jalousie silhouettiert Körper im Dunkeln, der Schrank für die Schuhe, alles läuft auf das Wasser, das Rauschen und den Fall (oder Sturz) zu. Frauen, die die Initiative ergreifen, die eine im Bösen, als femme fatale Chefin der Intrige, die andere im Guten, als Detektivin, Verfolgerin, deren Mann nicht begreift, was gespielt wird. Für sie eine Quest nach einem anderen Mann oder Ausgang. Sie aber wird zurück in eine Ehe gerettet, die lebenslange Langeweile verspricht. (77cp)

 

1.6. Sancta (Florentina Holzinger, Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin)

Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin, Neo-Renaissance-Fassade, innen Neo-Barock, historistischer Trutzbau, 1886 fertiggestellt, mit freiem Blick auf das mit seinen nach französischer Chateuhaftigkeit strebenden Zubauten nicht ganz unmonströse Wahrzeichen-Schloss. Staatstheater Schwerin, wir sind in der Oper. Jemand hat Paul Hindemiths Kurzoper Sancta Susanna, 1921 nach Libretto des Post-(im Sinne von: Mail)-Expressionisten August Stramm entstanden. Die Nonne Susanna steigt auf den Altar, gerät in Ekstase und reißt dem Heiland den Lendenschurz weg. Szenenbeschreibung: Klementia und die anderen Nonnen stimmen in ihren Ruf ein: «Beichte!!!» Der Wind heult auf. Susanna ruft: «Nein!!!» Die Nonnen schreien «Satana!!!» Das wird hier aufgeführt, tendenziell konventionell, Sängerinnen und Chor in Nonnengewändern, Marit Strindlund dirigiert das Orchester im Graben. Wobei schon vor Beginn auf den Gängen Nonnen schreiten, eine schwarze Box in Händen, wer mag, kann Beichten dort schriftlich einreichen. Die Oper also, dem ungeschulten Ohr klingt vieles ziemlich filmmusikalisch, Wikipedia: «Central to the opera is the expressionistic notion of shock as a means of articulating oneself, and musically, this was achieved to a large extent by pushing harmonic and tonal processes ‹to the very limits of tonality›.» Das geht so rund zwanzig Minuten, im Hintergrund lauern schon die für alles weitere bestimmenden Bühnenbild-Zentralelemente: die Halfpipe und eine riesige Boulder-Kletterwand, die auch als Leinwand bespielt wird – später wird hier das Deckenbild er Sixtinischen Kapelle unter mittlerem Getöse zerbröseln. Zuvor wird geklettert, und auch, mit Fisten, gefickt. Die Holzinger-Truppe übernimmt nämlich bald, auch fast übergangslos die Musik, rechts und links Kojen für die Band, nicht alle gleich, aber irgendwann nackt. Es wird ein wenig potpourriesk, mit geistlicher Musik, Heavy Metal, Raining Men und anderen Songs (Sängerin einmal zusehends ekstatisch in der Luft aufgehängt), überhaupt ist das Ganze wie stets bei Florentina Holzinger strukturell zirkusnahe Nummernrevue: mit, schon erwähnt, Klettern, die Halfpipe hinauf und hinunter auf Rollschuhen, später ein Kopfüberklöppeln an riesiger von der Decke hängender, schwingender Glocke sowie Zweiergeturne an ebenfalls riesigem hängendem Weihrauchgefäß, sowie Lärmgeschwinge zweier Frauen, die einzig an durch ihre Rückenhaut getriebenen Metallklammern aufgehängt sind. Holzinger und ihre Truppe erfinden sich, mit anderen Worten, nicht neu, allerdings ist das Ganze nicht nur nahe am Zirkus, sondern womöglich näher noch an der katholischen Liturgie. Und die erweist sich als grandioses Schatzhaus für Szenen und Bilder, in die man unter anderem eine kleinwüchsige lesbische Päpstin (nicht zuletzt am Schwenk- und Dreharm), ein Leuchtkreuz als Vögelstätte, eine wunderbar groteske Wasser- und Weinwandlung, allerlei profan-magische Zauberkunststücke einführen und diese so aneignen und pervertieren kann. Also strukturell: Liturgie-Penetration durch Holzinger-Mummenschanz. Zwischendurch ein weiblicher Jesus als Clown, entspannt vapend, einer Performerin wird ein Stück Haut weggeschnitten, dies dann gesotten, mit Pfeffer und Salz, dies ist mein Leib, zur Verpeisung gereicht. Der protestantische Wandlungswundervorwurf des Kannibalismus mal denkbar wörtlich und grand-guignol-haft drastisch komisch genommen. Auch wieder biografische Notate dazwischen, zu Missbrauch, Traumatisierung – der Grundanlage nach deutet sich die Holzinger-Show mit ihren empowerten, versehrten, sich durch Wieder-Versehrung empowernden Frauen als ein Reenactment, das, indem es Traumata wiederholt, durcharbeitet und (nicht zuletzt mit Ironieoptionen) auf Distanz bringt, Deutungs- und Handlungsmacht an die Traumatisierten selbst rücküberstellt. Weswegen es eben überhaupt nicht primär um Tabuverletzung, Grenzüberschreitung geht; nicht als Selbstzweck zumindest. Sondern um die selbstbewusste Aneignung und Befreiung von Traditionen, Räumen, Szenen, Bildern und Texten. Der Genitivus dabei immer im doppelten Sinn: Man befreit sich von jahrhundertealten Unterdrückungskontexten. Indem sie aufgerufen, angeeignet, (oft liebevoll) pervertiert werden, werden aber auch diese von ihren bannenden Kräften befreit. Ein Exorzismus, der Lust macht, auf Lüste. Muss entsprechend in einem großen, naiven Aufruf an alle enden, alle gemeinsam, eine trans Frau, die sich mit viel Emphase Liebe, Solidarität, Orgien wünscht. Das Publikum erhebt sich, wie verlangt, spendet, wie befreit, minutenlange Standing Ovations. (82cp)

 

 

MAI

27.5. RCE (Sibylle Berg, Inszenierung: Kay Voges, Berliner Ensemble)

Ein paar Schritte in die Bühne gerückt: eine Wand aus Bildwaben, in deren Zentrum eine (verschließbare) Raumwabe ist, nahe an der Ikonografie der Gänge von Raumschiffstationen. Nicht ganz schwerelos die Darsteller*innen/Sprecher*innen/Performer*innen darin, tanzend, Stufen zur Rechten und Linken erkletternd, choreografiert, kostümiert, Nerds und Hacker aus Sibylle Bergs Fantasie entsprungen, bzw. hier in diese Wabe gesetzt, die perspektivisch in einen weiteren Bildraum fluchtet, während in den Waben darum herum ein Bildsturm tobt, den Voxi Bärenklau und viele mehr entfesselt haben: KI oder nicht, Funde, Verzerrungen, Tiktokzeug, Tiere, der Zusammenhang zur Geschichte, die hier, ohne Dialog, als third person text heruntererzählt und beim Heruntererzählen auch wörtlich am Wabenrand parallel ins Schriftbeld gesetzt ist. Geschichte einer Hacker-Revolution, die die Codes und Datenströme den Händen (figurativ gesprochen) der Milliardäre und Plattform-Kapitalisten, der Staaten und Dienste entreißt und so ein rettendes Chaos herzustellen versucht. Eine quasi-utopische Sache, die in Druck und Tempo kein Außen herstellt, sondern beim Rhythmus der Gegenwart mitmuss, wenn nicht ihn - akzelerationistisch - noch steigert. Das ist vielleicht nur konsequent, als Widerspruch unvermeidlich, am Ende ist der Ausstieg in ein Nochmal-von-vorne. Zu viele Gedanken dieser Art macht sich die Inszenierung nicht, aber dass sie und der Bildstrom und die auf den Punkt agierenden Performer*innen/Sprecher*innen/Choreografierten das Energielevel halten, dass das erst mitreißt und dann, je länger es geht (wenn auch nicht länger als achtzig Minuten), auch zusehends erschöpft, das hat sein Richtiges, wenn auch im Falschen. (74cp)

 

20.5. Challengers (Luca Guadagnino, USA 2024)

Hier reimt sich Küsse nicht auf Bisse, sondern auf Schläge, und es geht nur um das Eine. Nicht etwa Sex, der kommt eher am Rande nur vor, sondern darum, dass eine letzte Entscheidung sistiert bleibt. Dafür baut sich das Buch eine Dreierfigur, einen Dreier sehr eigener Art, ein Spiel, das beginnt, als die Frau das Zimmer der beiden Männer betritt, zwischen denen schon länger was läuft. Nicht etwa Sex, oder als erste Masturbationslektion eher am Rande, sondern eine Liebe, die Rivalität ist, ohne dass sich das ohne weiteres zur Liebesrivalität rundet. Das Match, das den Rahmen abgibt, trostloses Turnier an trostlosem Ort, läuft zu auf den Tie Break, der aber just das ist, was niemals stattfinden darf. Und so werden Blicke und Worte, so wird Begehren und Ehrgeiz, werden Körper und Gedanken losgeschickt, auf dass sie nie endgültig ankommen mögen. Vor allem auf dem Tennisplatz peitscht Guadagnino die Sache mit seinem zu allem bereiten Kameramann Sayombhu Mukdeeprom immer weiter voran, nimmt als neutralen Dritten in einer wilden Bewegung zwischen den Männern den Schiedsrichter gerne noch mit, dann aber sitzt in einer wilden Montage die Frau wieder dazwischen, die Herrin der Triebschicksale, die, der Intrige halb mächtig, immer zugleich weiß und nicht weiß, was sie tut. Challengers ist endlose Bewegung in einem engen Möglichkeitsraum, Luxusprodukt des Privilegiertseins, augepulverte Existenz-Problemlosigkeit, in die der Soundtrack von Reznor/Ross bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit noch seine eigenen Energieschocks hineinjagt. In exaltierter Weise sind oder werden die Form und der Inhalt, Dialog und Auflösung, Schlagen und Geschlagenwerden, Subjektive und Objektive zuletzt eins: Wie bei Hitchcock selig geht der unmögliche Blick von unten nach oben wie durch Glas, verfolgen wir zuletzt nicht nur den geschlagenen Ball, sondern sind er. (75cp)

 

19.5. Blutbuch (Kim l’Horizon, Regie: Jan Friedrich, Theater Magdeburg)

Ein dichter Vorhang aus Fäden, mittig eine kleine Zimmer-Empore, rechts und links eher ein Verbergen als etwas, das sich verbirgt. (Später Treppen, rotes Gewölbe.) Vorne die Großmeer, starr, die Adressatin dieser Geschichte, die eine Umweggeburt über das Schriftliche ist.  Im Zimmer, an der Rampe, im Hinten werden Texte aus dem Blutbuch gesprochen, Kinderpuppe, Erfahrungsberichte, Live-Projektionen auf den Faden-Vorhang galore. Im Arsch des Kim sehr viel expliziter Penis-Verkehr, der Selbstdeutung aufgegeben, hochexpressiv literarisch gefasst. Die Performer*innen virtuos gender-trans-kreuz-und-queer, die Texte mit lässiger Inbrunst gesprochen, viel Text aus dem Buch, drüber hängt, die Beine ästern gekreuzt, die Blutbuche mit eigenem Text, was im Deutungs-Geäst auch drüber ist, ode wäre, wäre das too much, von Sprache, Motiven, Verweisen und Schwänzen, nicht das Prinzip eines Texts, der obsessiv das Unausgesprochene, die Lücken umkreist, die nicht nur die Meer im Genealogischen lässt. (73cp)

 

15.5. The Screaming Mimi (Fredric Brown, USA 1949, Hörbuch, Sprecher: Stefan Rudnicki)

The Screaming Mimi: eine Statue, eine Nackte in einer Pose des Entsetzens, ein Kunstwerk, das einen das Grausen lehrt. Sweeney: Journalist in Chicago, der zu Beginn der Geschichte von seinem Erzähler auf eine Parkbank gelegt wird, auf der er alkoholumnebelt unter Obdachlosen erwacht. God: eigentlich Godfrey, einer von ihnen. Zu ihm kehrt Sweeney am Ende, wenn auch nur auf einen Besuch, zurück. Der Roman erzählt die Geschichte von Sweeney und Mimi, ihrer Begegnung, die sich einer Serie von Morden an blonden Frauen verdankt. Sweeney wird Zeuge, wie eine weitere junge Frau eine Messer-Attacke überlebt. Ihr Hund, mit im Spiel, löst ihr Kleid: Da steht sie nackt, vor Sweeney, wie ihr Erzähler sie schuf, und sinkt zu Boden. Da ist der Mann infiziert, mit einem doppelten, wenn nicht dreifachen Begehren: nach der Frau, der Lösung des Falls (er verdächtigt einen Unsympathen hinreißend insistent), der Vorgeschichte, die sich in der Screaming-Mimi-Statue verkörpert und die ihn auf einen vermeintlichen Abweg zu einem Sonderlings-Künstler jwd führt. Außerdem setzt es: Schläge in die Magengrube, sehr schmerzhaft. Das Finale ist ein Filibuster auf Leben und Tod, wie die Kriminalliteratur keinen anderen kennt. Als eine Scheherazade ohne Plot muss Sweeney reden und reden, zitiert die Verfassung, Hamlet, Gott und die Welt, Schweigen nämlich gäbe ihm per Hund und Messer den Rest. (80cp)

 

12.5. Laios (Roland Schimmelpfennig, Regie: Karin Beier, Schauspielhaus Hamburg, Theatertreffen Berlin, 3-sat-Aufzeichnung)

Zur Rampe drängt hier alles: Der Text, der sich, von der Antike weg, an die Insta-Gegenwart und sein Publikum ranschmeißt und jeden möglichen Abstand wie Laios die Pythia scheut. Lina Beckmann, die in ihrem großen Solo nicht einmal den Fuß vom Pedal nimmt, sich virtuos in die Rolle und die Rollen hineinwirft, aber bei diesem in- und auswendigen Hineinwerfen ihrerseits abstandslos bleibt, bis der Schnodder aus ihr herausläuft. Viel Raum ist auf der Bühne ohnehin nicht, wandhoch ein sehr mittleres, wenn nicht vorderes Hinten, das allem Abseits die Luft nimmt. Die Masken, das Pult, Steine aus Kreide, der tote Ochse: Props, die Beckmann aufnimmt und weglegt, ihr zur Verfügung, wenn irgendwas Midcult ist, trotz und gerade wegen seiner Antikenbehauptung: dann das. (55cp)

 

8.5. Riesenhaft in Mittelerde (Nicolas Stemann, Stephan Stock, Florian Loycke & Der Cora Frost, Theatertreffen, Haus der Festspiele 2024)

Es geht per Hintertür nach Mittelerde, aber die Wand zwischen den Bühnen ist verschwunden, dafür sperrt der Eiserne Vorhang weiter hinten zur Rechten den Zuschauerraum weg. Rechts an der Wand viel Grünes, links wird ein Getränk (Wasser) gezapft, in der Bar Crazy Horst gibt es Bier (und andere Getränke) gegen Bares. An vielen Ecken Helmi-Getier, Knautschwesen, Rumpelgesichter, gleich am Eingang wurde man von einem sprechenden Pilz freundlich begrüßt. Nicht aufgehoben, aber ein bisschen verschoben die Differenz von Publikum und Darstellerinnen: Man ist ziemlich untereinander, räumlicher Abstand minimiert, nicht wirklich interaktiv, aber Berührung ist möglich, etwas faucht mich an mit Hut auf dem Kopf, die Schauspielerei näher ans Cosplay gerückt, oben auf einer Empore spielt (Stemann selbst am Klavier) die Musik, mal mehr, mal weniger laut, mal mehr und weniger zu Songstrukturen verdichtet, wie sich auch der Abend, das Stück (oder doch eher: «Stück») ist ähnlich zerwabert, und verlabert, und zerwitzelt, findet mit Ring und Orks und Gandalf und wie sie in Tolkiens Handmade-Mythos sonst alle heißen, etwas wie Fokus, etwas wie Plot, verliert gerne auch wieder den Faden, rennt mit persönlicher Sprühnebelbegleitung durch den Raum, einheitlicher, allzu einheitlich dagegen der Ton: Gleich die Vorstellungsrunde macht klar, dass man, seien es die Darsteller vom Schauspielhaus, die vom Theater Hora oder auch die Eingesprungenen, das Spielen zwar ernst nimmt, aber nicht wirklich den Stoff, der hier, nicht nur dank Helmi, einerseits aus Knautschmasse ist, andererseits immer nur Gelegenheit zu komischer Fallhöhe gibt, manchmal ziemlich kabarettnah («Orks-Awareness-Team»), immer, gently, meta, mit Freude an der Verkleidung, Freude an der Bodennähe, in die man den Mythos und das Spielen gebracht hat. Nur dass diese sehr menschenfreundliche (und schwellenarme) Form ironischer Naivität ein paar andere Dinge, die manchem zwei Stunden im Theater versüßen, nicht nur nicht bietet, sondern nicht bieten kann: Fallhöhen anderer Art als nur der von der Ironie zur Naivität herauf und hinunter, innere Spannung, die aus einer Form von Anteilnahme am Geschehen entspringt, irgend intellektuelle Auseinandersetzung mit der Vorlage, die über leises Unbehagen hinausginge. Es ist eine nette Kostüm-Party, aber ich hatte auch auf innere Kostümierung nicht die ganz große Lust. So fand sie ein bisschen ohne mich statt. Aber das kollektive Spaßniveau war recht hoch. Und die anderen schienen größtenteils drauf. (60cp)

 

3.5. Nathan der Weise (Ulrich Rasche, Produktion der Salzburger Festspiele, Theatertreffen Berlin)

Drei Ringe an der Decke mit Schienen, das spektakuläre Bühnenbild zieht darin seine Bahnen: Bewegliche Raumteiler, die sich fast völlig in den Hintergrund, in dem die Band erst recht ihren Platz hat, zurückziehen können. Dann aber spannen sie Wände aus Licht und Nebel von einem zum anderen auf, schaffen ein beinahe textiles, abstraktes Medium aus Luft, das die Performenden im stetigen Schritt immer wieder durchschreiten, mit dem sie aber auch Versteck spielen können. Im geometrischen Gegeneinander der Blöcke entstehen, vergehen so Räume, in denen die Körper und aus den Körpern die Sprache und aus der Sprache auch das Chorische und so, zur Musik, ein Gesamtkunstwerk choreografiert ist. Nun sprechen sie nicht alle gleich. Sie gehen auch nicht alle gleich. Julia Windischbauer ist (wie schon als Iphigenie in Wien) viel näher an Edith Clever als Valery Tscheplanowa es als Nathan hier ist. Was gleich, nämlich Grundprinzip ist und bleibt: Hier wird keine Silbe verschluckt, es steckt in jedem Wort und jedem Satz ein raschehaft sehnender Druck, ein Pathos, Nuscheln undenkbar, eine Rhythmisierung, die sich nicht mit allen Texten in gleicher Weise verträgt. Chorisches diesmal vergleichsweise selten, dafür mit umso stärkerer Überwältigungskraft in der Szene, in der der Patriarch sein «Der Jude wird verbrannt» schleudert, hier eine der Rasche-Szenen, in der er die ganze Gewalt des Licht- und Sprach- und Bewegungsspektakels entfaltet, das ist das eine, das immer beunruhigende Ende seiner Ästhetik, an dem sie Kräfte entwickelt, die auch aus dem Kampf um ihre Bändigung (im Chor, in der Choreografie) stammen. Aber auch sonst: Die Formierung der Gruppen, der Duette (oder Duelle; jedenfalls: Zweiform), das Mit- und Gegeneinander der Figuren, halb sichtbar und halb im Dunkel verschwunden, dann gelegentlich ins Helle gerückt, das ist alles sagenhaft virtuos, die Sprechkörper und Körpersprachen gegen den ersten Anschein bis ins letzte formidable Glied individuiert. Nur einen Haken hat die Sache, und es ist kein kleiner: Das Stück selbst, ein krude verplottetes Traktat in aus grobem Holz geschnitzter Sprache, ist auch in diese Form nicht zu retten. (70cp)

 

2.5. Evil Does Not Exist (Ryusuke Hamaguchi, Japan 2023)

In diesem Paradies in den Bergen wird die Suppe mit Quellwasser gekocht. Die Kamera sieht mit äußerster Geduld einem Mann beim Holzhacken zu. Und dabei, wie er mit einem anderen das Wasser aus dem Bach schöpft. Alles begann mit einem Blick nach oben, im Wald, eine Fahrt durch die Bäume hindurch. Es ist nicht unbedingt ein menschlicher Blick, einmal wird er sehr unmittelbar, mit einem Rucken, an ein Auto gekoppelt. Vom Eindringen eines Geschäftsplans in dieses Paradies erzählt, von Anfang an und am Ende dann vollends neben der Spur, Hamaguchis Film. Vielleicht gab es Omen. Das Böse führt er im Titel. Wobei aber auch das Paradies ein sehr irdisches ist. Naturverbundenheit ja, Naturzustand nein, weil mancher selbst Geschäftspläne hat, ist man für den Plan, ein Glamping-Gelände zu schaffen, prinzipiell offen. Die Reinheit ist lebensnotwendig, sie ist nicht Ideologie, der Haufen, der hier lebt, ist selbst zusammengewürfelt. Dann aber Auftritt der Vertreterin und des Vertreters des Plans, es scheint eine ganze Weile, als liefe der Film auf die allzu schlichte Geschichte eines Konflikts zwischen einer lokalen Gemeinschaft und dem Kapital, das einzudringen und Zerstörungen anzurichten droht, nicht nur zu, sondern hinaus. Hamaguchi lenkt jedoch, beginnend mit einer langen Autofahrt, mit einiger Gewalt dagegen. Der Mann und die Frau vom Glamping-Projekt kehren zurück, sind aber aus der Rolle der bloßen Vertretung geschlüpft. Holz wird gehackt. Sie drehen ab. Der Film tut es auch, die Natur bekommt mystische Züge, Auflösung ist hier buchstäblich zu nehmen: Wer weiß, wie wirklich das ist, was geschieht. Wer weiß, was das Böse ist, und ob es überhaupt existiert. Ein Tier blickt uns an. Das Unheimliche ist hier nicht Wiederkehr des Verdrängten. Eher das vielleicht etwas sehr gewaltsam heraufbeschworene Erscheinen einer ziemlich anderen Welt. (70cp)

 

 

APRIL

28.4. Hors-saison (Stéphane Brizé, F 2023)

taz-Kritik (75cp)

 

27.4. Last Night a DJ Took my Life (Joana Tischkau, Schauspielhaus Zürich)

Vor Vinylhintergrund (eine MuFu-Platte mit Sprüngen): Drei bis vier Interessen, die sich ungut vermischen. Eins, das Historische, Rekonstruktion der Geschichte der Sängerin Lori «Lori Glori» Ham, von Gospel und Soul mit den Geschwistern in Kalifornien zur Solokarriere in Deutschland, bis hin zu Fernsehshows aus der Zeit. Sie performt sich selbst, die eigene Geschichte, umkränzt von einer zunächst discoesk kostümierten Band, deren Instrumente transparent aus Plastik bestehen. Musical also ja, aber nicht eins zu eins, authentisch nur Lori Glori. Das bleibt aber ein schwieriges Verhältnis, denn immer wieder wird ihr Singen-Können, ihr Wirklich-Schwarz-Sein gegen ein Nichtauthentisches ins Feld geführt, ohne dass die Linie zwischen der Ausbeutung, die darin liegt, und einem Appropiationsismus, ohne den Pop schlicht nicht denkbar ist, analytisch klar gezogen würde. Dabei ist das, natürlich, Interesse Nummer zwei: die Analyse. Wie die Ausbeutung (nicht nur, versteht sich) von Lori Ham durch eine Pop-Industrie (verkörpert von dem, dessen Name nicht genannt werden darf: DJ Bobo) funktioniert hat: von Lori Ham als Frau, als schwarzer Frau, als in den Strukturen der Industrie machtloser schwarzer Frau, die man auf die Stimme (sogar namenlos) reduziert (und reduzieren kann). Und hier macht es sich die Inszenierung immer wieder zu leicht. Denn, drittens, ist sie Komödie, besser Hanswurstiade. So werden der DJ, der nichts richtig kann, und der Produzent, den gar nichts kümmert, als lächerliche Figuren vorgeführt. Auf den ersten Blick eine gute Idee: Lacht sie aus, denn genau das sind sie auch: lächerlich, jämmerlich, von hirnloser, rücksichtsloser Bösartigkeit. Nur macht es sich die Inszenierung als Show im letzten, viel, viel zu langen Teil allzu gemütlich als Pseudo-Reenactment einer Arabella-Kiesbauer-Sendung, in der nun alle drei Interessen wild durcheinandergehen, der Fan als Frau als seinerseits zwischen Lächerlichkeit und berechtigtem Ärger unkontrolliert oszillierende Figur ins Spiel kommt. So aber gerät die Gemengelage aus kapitalistischer Pop-Industrie, Rassismen, Dummheit, Bösartigkeit zu einem albernen Durcheinander, als Inszenierung immer schon auf der sicheren Seite, die Fäden werden verknäult, Ende der Bemühung, sie auseinanderzusortieren. Zum Finale Übersprung zur kollektiven Empowermentfeier eines Publikums, das sich durch die Inszenierung allzu billig erlöst fühlen darf. Lori Glori singt nun, unter ihrem eigenen Namen, ihre neueste Single, wo sie nun sie selbst und als sie selbst recht mittelmäßig sein darf. (50cp)

 

25.4. Signal to Noise (Forced Entertainment, Koproduktion, HAU 2)

Alles ist da: die Bühne (hinten Holz), die Kostüme (stangenweise Kleidung, sie wird frenetisch gewechselt), Props (Stühle, Hocker, Sessel, Tischschen, Zimmerpflanzen, sie werden frenetisch durch die Gegend getragen), Körper (die vertrauten, schon älteren Körper der Forced-Entertainment-Performer*innen, frischer, diverser: Neuzugang Seke Chimutengwende), Musik (sehr wechselnd, von Jahrmarktsgeklimper zu später mal recht amtlich einigem rhythmischen Druck), Applaus (vom Band, es ist auch eine Sitcom, bei Forced Entertainment könnte der Name der Truppe ohnehin stets auch der Titel jedes einzelnen Stück sein) und, nicht zu vergessen, nie zu vergessen, sondern stets auch zu performen: der Text. All das kommt hier zusammen, auch wenn die Art, wie es zusammenkommt, nicht unbedingt ein Zusammenhang ist. So scheren der Text und die Körper von Anfang bis Ende auch auseinander, weil der Text nicht aus den Mündern (und Körpern) kommt, die hier performen, die durchaus auch das Sprechen performen, nur sprechen sie - Forced Entertainment goes Susanne Kennedy - stimmlos etwas nach, das vom Band kommt. Die Stimmen, die man hört, sind nicht nur vom Band, es sind keineswegs die Stimmen dieser Performer, die nun etwa auf einem anderen Kanal sich wieder mit den Körpern, von denen sie getrennt worden wären, verbänden; es sind sogar keineswegs Stimmen, die menschliche sind, sondern: KI. Maschinenstimmen, sehr gaumig, sehr amerikanisch, sehr sonor, sehr unartifiziell, wenngleich fremd, die nun die Menschenkörper (die Münder, die Gesichter, die Bäuche, die Köpfe in Perücken, die Leiber in frenetisch wechselnden Kleidern) sich anzueignen, sich anzuwandeln versuchen, ausdrucksstark, nur dass eben nicht etwas Inneres ausgedrückt wird, sondern etwas Äußeres nachperformt. Die Performance eilt dem künstlichen Text körperlich hinterher, sucht aber nicht und findet nicht etwas, das authentischer Ausdruck wäre, Is this my face, Are these my hands, eher jagt der Text etwas in die Körper hinein, scheucht sie von rechts nach links und von vorne nach hinten, bannt sie auch, einmal sind sie zu einer Sitzreihe auf den Plastikstühlen und Campinghockern gereiht wie Touristen am Pool. Der Text, der aus dem Künstlichen kommt und in die Körper fährt, dreht immerzu schleifen. Nicht ist nur einmal gesagt, vieles ist wieder und wieder gesagt, vom Is the Micro on, is it on des Beginns bis zum It was quite a ride ganz am Ende. Der Text ist manchmal so meta - ein Stück über ein Stück, das bemüht ist, der Ordnung des Theaters zu folgen -, ist manchmal, und öfter, meistens sogar, typischer Tim-Etchells-Text, der das Abgründige ins Banale verlegt, Floskeln ins Bedrohliche dreht, I am afraid of Dying, das Bedrohliche durch Wiederholung und Verweigerung des weiteren Sinnzusammenhangs, wobei Verweigerung schon zu viel gesagt ist, es stellt sich gelegentlich etwas ein, das ein Sinn sein könnte, Russian money, Chinese money, American money, es wird aber diesem Sinn der Sinn gleich wieder ausgetrieben durch Wiederholung, Schleifen und Schlaufen, bis es zum Ermüdungsbruch kommt, ausgetrieben und eingetrieben durch das Flankieren der Wörter vom Band durch Gesten, die übertriebene sind, und oft genug passen sie nicht, ganz so, als wäre da ein Text mit Körpern, also ein Stück, das bei den Proben aus einem ursprünglichen Zusammenhang in einen ständigen Auseinanderfall weggeglitcht ist (an einer Stelle wird auch dieser Glitch, meta, selber zum Text; er, der kein er ist, spricht sich so aus). Ein Stück ist das, bei dem sich die einzelnen Elemente verselbständigen dürfen, wobei es keine Instanz gibt, die ihnen diese Erlaubnis erteilt, also eher so, dass die einzelnen Elemente sich verselbständigt haben. Die Körper, nun mal auf der Bühne, nun mal im Stück und im Text, und das, was an ihnen Subjekt ist, ist mit dieser Verselbständigung konfrontiert, tut das Seine und tut das Ihre dazu, das aber niemals das Handeln vor Sinnhorizont eines Individuums ist, sondern: Geste, Perücke, das Lachen, das Spielen, das eher ahnt, was Performen sein könnte, und manchmal wird dieses Performen dann, immer frenetisch, momentweise gar virtuos. So geht es hin, neunzig Minuten, bei denen das Tempo zwar wechselt, die Kleider wechseln auch, und die Perücken, die Musik, auch die Texte, die, wenn sei einmal durchgenudelt und abgespielt sind, wiederkehren können, wenn sie an anderer Stelle noch einmal passen. Wobei nun wirklich nicht klar ist, was passen hier heißt, in einem Zusammenhang, der ein durch und durch äußerer bleibt. (83cp)

 

22.4. A Far Cry (Fredric Brown, USA 1951, Hörbuch, Sprecher: Stefan Rudnicki)

Ein Mann namens Weaver kommt an einer Abbruchkante seines Lebens nach Taos. Er bezieht ein Haus, in dem acht Jahre zuvor ein Mord geschah, der nie aufgeklärt wurde. Der Mann sucht Erholung nach einem Burnout, der 1951 so noch nicht hieß, während der mutmaßliche Mörder, der schwul ist, durchaus «queer» genannt wird. Dann aber fasziniert ihn der vergangene Fall - zunächst im Auftrag eines Freundes, der als True-Crime-Autor professionell interessiert ist -, und es fasziniert ihn zusehends vor allem das Opfer, eine junge Frau, über deren Herkunft man nichts weiß. Es fasziniert ihn auch der Täter, besonders als Künstler, dessen Gemälde von Bergen der Wirklichkeit auf sehr eigene Weise nicht gleichen. Die Bilder sind sogar doppelt interessant: als Ausdruck eines Individuellen, das, so formuliert es Fredric Brown, das individueller noch als ein Fingerabdruck ist. Als solches dienen sie später zur Identifizierung des Mannes, der nach der Tat aus Taos verschwand. Auf die Reise schickt Weaver sich selbst, nachdem er einen ingeniösen Fund gemacht hat. Und das, obwohl er sich Nacht für Nacht schlimmer betrinkt. Erst recht, als Vi, seine Frau, mit der ihn außer den Töchtern nichts mehr verbindet, auch in Taos erscheint. Dabei ist das Haus der letzte Ort, an den es sie zieht. Was man, ich, nicht kommen sieht: die finstere Doppelpointe, mit der das doppelte Begehren - in dem sich die Lösung des Falls und die Faszination für das Opfer libidinös überkreuzen - der fatalen Lächerlichkeit überführt wird. (82cp)

 

1.4. Falling in Love (Friedrichstadtpalast Berlin)

Kunst kommt hier von toll, was die können; und das ist es ja auch, am Trapez und beim Trampolinsprung. Kunst kommt von wilden Gaultier-Fantasien, auf die nicht nur konventionellen Körper geschneidert: Es wogt und wippt, es glitzert und betont die Unterarme kontrastreich schwarz-weiß, es gibt das Enganliegende auch, und vor allem das Bunte, in Rot, Grün und Blau, aber auch in anderen Farben, der Conférencier nennt einmal, einziger wirklicher Meta-Moment in einer wogenden See des Einfach-Kodierten, vielleicht ja auch nur name placement unter all den Produkten. Kunst kommt hier von die Bühne zeigt, was sie kann, zu Wasser und in der Luft, Feuer wird auch kurz gespuckt, nur damit alle sehen, das können wir auch; das Orchester in seinem Aufbau fährt hinein und hinaus, nach vorne und hinten, aus einem nur als riesig vorzustellenden Backstage kommt am Ende die Trampolinanlage daher. Kunst kommt hier von laut-leise-laut, von Massenchoreografie, schon auch Beine werfendes Corps de ballet als Ornament-der-Masse-Moment, auf die Intimeres folgt, leider, wie die Musik durchweg, im, wenngleich durchaus gelegentlich, rockigen Musical-Ton, der nur jeweils sich selbst und nichts Retardierendes, Zögerndes, gegen den eigenen Takt und Sinn gehendes kennt. Kunst kommt hier von hoppla, stimmt, da war noch ein Plot. Und nur einmal, im hinteren Teil der ersten Hälfte, der eine sich zusehends spektakularisierende zweite folgt, kommt Kunst einmal von was wird denn das jetzt. Hier baut einer mit geradezu schockierender Langsamkeit ein wippendes Mobile aus nicht näher definiertem Gestänge. Das kostet Kraft, es zögert lange, ja irgendwann nur noch an der Grenze zu lange hinaus, worauf es hinaus will, braucht keine Musik, nur den angehaltenen Atem, ist eine Unterbrechung, die erst hinterher wieder in die Logik der Nummernrevue integriert wird. The show must go on, nur für einen sehr schönen, sehr langen Moment hatte sie so getan, als hätte sie diesen Zwangscharakter vergessen. Aber insgesamt kommt Kunst hier doch durch und durch von das Publikum will was geboten bekommen fürs Geld. (60cp)

 

 

MÄRZ

27.3. Ferrari (Michael Mann, USA etc. 2023)

Auf das Rennen bereiten sich die Fahrer vor, als zögen sie in den Krieg. Abschiedsbriefe werden geschrieben, bei Kerzenlicht in der Nacht in einem Film, der sonst vor allem in die warmen Farben des italienischen Tages getaucht ist. Eher getunkt als getaucht, seltsam italienisch gefärbt ist das Englisch der Schauspielerin, sogar der Kommentator des Rennens im Schwarz-Weiß-Fernsehen spricht dieses Inglese, als Setzung einer italianità all’americana ist das so hinreißend wie bescheuert. Zum Blutzeugen des Imperators Enzo Ferrari wird der Playboy-Racer Alfonso de Portago, Patensohn des spanischen Königs, einer der sterben muss für Ferrari, er reißt neun Menschen mit in den Tod. Michael Mann erzählt seinen Heros als Heros von großer Zweischneidigkeit. Die Faszination für die Geschwindigkeit, die Schönheit der Boliden, das Zusammenspiel von Technik und Mensch an der äußersten Risikokante: All das teilt er, die Kamera fliegt und rast gerne mit, nah am Asphalt oder auch aus der Luft. Einmal springt sie ganz weit zurück, kurzer Einsatz von Opernmusik, die Autos so gut wie verschwunden in den Hügeln, das Bild wird für diesen Moment ganz und gar Landschaft, dann geht es wieder zurück zu Raserei. Es ist diese Sorte Atem, die Mann dem Film verleiht, ein elegantes Hin und Her zwischen Tempo und Ruhe, Nähe und Ferne, dem Drama des Krieges und dem Drama des Privaten mit den zwei Frauen, zwischen denen Enzo Ferrari sich konfliktreich bewegt. Das Leiden der Frauen erhält Zeit und Gewicht, aber alles dreht sich am Ende doch um den Mann, der tut, was er tun muss, dreht sich um seine Geschäfte, seine Obsession, um seine Söhne, die realen und die in der Scuderia, die Lebenden und die Toten, den ehelichen, der an einer Dystrophie starb, und den natürlichen, der seinen Namen erst nach dem Tod der Ehefrau tragen darf. Zwischendrin ein fast bellocchioesker Aufschwung in Richtung Oper, dann Raserei anderer Art, Melo und Dram und Sex auf dem Küchentisch zwischendrin, Verrat, Besessenheit, Treue. Nichts fehlt, alles vom Buch klug kreuzweise gesponnen, von der Kamera souverän umflogen (Flugkunst putting das Autogefahre to shame), im Schnitt so elegant rhythmisiert, dass zugleich nichts zu viel ist. (80cp)

 

26.3. Uriui Haru / In Our Day (Hong Sang-soo, Südkorea 2023)

Basale Elemente: Menschen an Tischen. Drinnen. Auch draußen. Sitzen. Stehen. Liegen. (Das Liegen: ein Schmerz, die Katze ist weg.) Die Katze ist da, zu Beginn. Sie heißt «Wir» und ist ein Ich, das verschwindet, vielleicht ein wenig vom Hong-Zoom gepiesackt, andererseits: Als sie zurückgekehrt ist, ein schlafender Fellball im Regal, Gesamteindruck wollig, macht ihr der Zoom gar nichts aus. Zwei Geschichten, die nichts verbindet außer: Das Reden über Authentizität. Die Pfefferpaste in der Ramen-Suppe. Und auch das Rauchen. Da ist der Dichter und da ist die Schauspielerin. Da sind, ich kann mich nicht erinnern, dass es das so schon einmal gab, kurze romanhafte Erläuterungen zu dem, was dann folgt. Der Dichter und seine Gesundheitsmalaise. Die Freundin der Schauspielerin und ihr Unglück. Da hat jemand, ein Erzähler, der sich ganz in den Schrifttext zurückzieht, Einblick in ein Inneres, das in Monologen nach außen drängt, aber anders. Kim Min-hee im Profil, der Griff nach hinten, ein Blumenkasten vor dem Geländer. Warum sie nicht glücklich war als Schauspielerin: Texte, die andere für sie schrieben, die sie dann in Varianten als Spiel anbieten sollte. Ob sie hier darüber spricht, dass es bei Hong anders ist? Oder hat ihr Hong das geschrieben? Haben sie es gemeinsam geschrieben, als anderes «Wir». Und der Poet, er heißt, ja wirklich: Hong. Nicht mehr jung. Ein luftiges Ziegenbärtchen. Ein Bauch. Eine junge Frau, angehende Regisseurin, die ihn filmt, ein Porträt. Ein junger Mann, der devot und zugleich unverschämt fragt. Wer sich denn heute noch für Poesie interessiere. Und außerdem: Der Sinn des Lebens. Was denkt der Dichter dazu? Der Dichter, dem das alkoholfreie Bier durchaus schmeckt. Der es dennoch am Ende nicht dabei belässt. Der Dichter ist amüsiert und macht Schluss mit dem Sinn, plädiert für die einfachen Dinge. Aus basalen Elementen ist das Glück des Lebens gemacht. Ganz wie ein Hong-Film. Es wird Stein-Schere-Papier gespielt. Und getrunken, o ja, so viel getrunken. (Und zwar, wie es früher stets war: Soju.) Ganz zum Schluss sitzt der Dichter da. Diesmal draußen. Er will sich eine Zigarette anzünden. Ein paar Mal klappt es nicht. Und dann doch. Hong-Musik, sie ist schön. Der Dichter: Er raucht. Und scheint glücklich. (84cp)

 

19.3. As Bestas (Rodrigo Sorogoyen, Spanien 2022)

taz-dvdesk (67cp)

 

15.3. Four Performances (Marina Abramović, 1976, UbuWeb)

Art Must Be Beautiful. Artist Must Be Beautiful (1975)

Sie hat einen Kamm, eine Bürste, in der Rechten die Bürste, in der Linken den Kamm; später andersherum; und wieder zurück. Das Bild ist erst unscharf, dann scharf. Man sieht ihr Gesicht und im Anschnitt (nackt) die Schultern, als die Kamera später etwas aufzieht, ihre Brüste und die Achseln (rasiert). Sie sagt, ein Mantra, die zwei Sätze, auch unter Schmerzen: Art must be beautiful, artist must be beautiful. Sie blickt dabei in einen Spiegel, denkt man, den man nicht sieht. Und sie kämmt, kämmt, mal mehr, mal weniger furios, mal nur mit der Bürste, mal nur mit dem Kamm, kämmt sie und kämmt und spricht und spricht, mal mehr, mal weniger furios. 

Freeing the Voice (1976)

Kopfüber im Bild, in Schwarzes gekleidet, so liegend, dass der Kopf herabhängen kann; der aufgerissene Mund, das Geräusch, das kein Gesang ist, kein Schreien, kein Stöhnen, oder alles davon, oder immer dazwischen, wenn die Luft knapp wird, ein Quetschen und Holen und Pressen, ein Laut zwischen A und O, derim Luftstrom herauskommt. Absetzen, einatmen, beim Ausatmen das Beben des Körpers, besonders sichtbar der Brüste. Zoom ins Gesicht, schrecklich viel Mund, dunkler Munch-Mund mit gelegentlich Zunge und wenig sichtbaren Zähnen darin. Dann das Brechen der Stimme, der Überschlag, Überänge ins Stöhnen, ein Modulieren, das sich, der Kontrolle entzieht, tierischer, kehliger, gaumiger, dem Menschlichen ferner, erschöpft hin zum Ur-Schrei, die Freiheit der Stimme fast vollends erstickt.

Freeing the Memory (1976)

Großaufnahme von Abramovics Gesicht, es scheint irgendwie hintenüber, aber klar wird nicht, ob sie ganzkörperliegt oder nur den Kopf zurückgelehnt hat. Abramovic spricht, unten läuft die englische Übersetzung der Wörter durch, die sie spricht, einzelne Wörter sind es, nicht Sätze, manchmal kommt das Schriftwortlaufband unten nicht ganz hinterher und wird beschleunigt, manchmal eilt es voran, wird gebremst. Die Wörter, die Abramovic spricht, fügen sich nicht zu Sätzen, haben weder rhyme noch reason, von Krankheiten zu Komponisten, von Tübingen (tubingen), wo Ulay die Performance gefilmt hat, zu tausendundeinem Ding, manchmal geclustert, eine Art Assoziationsepisode, dann Stocken, dann wieder ein Fluss, in dem sich das Heterogene an Heterogeneres reiht. Es ist ein weder in- noch auswendiges Reden, eine Produktion, die keinen Sinn machen, nur immer weiter an sich selbst anschließen will, dabei durchaus in vorübergehende semantische wie lautliche Näheverhältnisse, wenn nicht gar Sinnzusammenhänge gerät. Und diese wieder hinter sich lässt. Keine Entwicklung, auch keine Erschöpfung, nur leichte midtempo-Variationen, zumindest soweit man in der Fassung, die wie alle anderen im Videodokument nur stark gekürzt vorliegt. 

Freeing the Body (1976)

Dispositiv: Galerie (Mike Steiner, Berlin). Hinten ein weiße Tuchwand, aus dem Off gelegentlich Publikumsstimmen, vor der Tuchwand steht und tanzt stehend, steht tanznend nackt Abramovic, wobei, nicht ganz korrekt: der Kopf ist mit etwas zwischen Sturmhaube und Kopftuch verhüllt, die dunkel ist oder schwarz und in der schlecht aufgelösten Videoaufnahme dem dunklen Schamhaar. Ihr frontal gegenüber, von der Kamera nur gelegentlich in den Anschnitt genommen, ein nicht-kaukasischer Mann, der trommelt. Es ist, als wäre das Trommeln, sein arhythmischer, allem Marsch ferner Rhythmus die Bewegung des Körpers mehr antreibt als selbst rhythmisiert, das Tanzen ist eher ein Schlenkern, der Arme vor allem, manchmal mehr, manchmal weniger Einsatz der Schultern. Nicht expressiv, ganz und gar nicht expressiv, eine Marionette, die ihre Glieder auszuschütteln begonnen hat und nun mit dem Ausschütteln nicht mehr aufhören kann. Bis sie dann, sechs Stunden später (das Video dauert kaum zehn Minuten), ohne Ankündigung nach vorne hin stürzt, liegen bleibt, unbewegt, nicht mehr tanzt. 

 

 

11.3. The Zone of Interest (Jonathan Glazer, GB 2023)

Kein Film über den Schrecken der Wiederkehr, sondern über den Horror der Hyperpräsenz des Verdrängten. Betonung auf Horror, der am Deutlichsten im Score von Mica Levi aus dem Hintergrund bricht. Entbunden ist das Grauen aus einem Graubild am Anfang, das sich in zwei, nein drei Bild- und Schnittypen ausprägt. Im Draußen Bewegung der Kamera, durch die Natur, am Fluss neben dem Kanu oder dahinter, im Garten (Allegorie absurder Domestizierung) ein Gleiten auf Schienen, das sich Freiräume nimmt, in diese aber nicht nur die Mauer und die Bauten des Lagers, die Türme der Krematorien, sondern auch am Himmel mit dem weichen digitalen Pinsel den Rauch einzutragen niemals vergisst. Im Drinnen, seien es die privaten oder die dienstlichen Räume, ganz anderer Bild- und Schnittyp: die allgegenwärtigen, aber montierten, versteckten Kameras mit Überwachungsbildern, die vor allem einen Umschnittypus hervorbringen, Verfolgungen der Figur durch die Räume, der Bildraum trotz der hohen Auflösung der Einstellungen dadurch nie ganz für die Kamerablicke komponiert. Es fällt aber niemand hinaus, es ist auch immer jemand im Bild: was dann vielleichte eine Form von präsentistischem horror vacui ist. Diesen Bildtypus hat Glazer ja schon - verblüffenderweise - in Under the Skin eingesetzt, die mit versteckter Kamera aufgenommenen Bilder aus dem Auto des Scarlett-Johansson-Alien heraus auf die Männer in Schottland. Hier aber haben wir es mitten in Auschwitz mit einem inneren Schottland völlig anderer Art, aber eben: ähnlicher Machart, zu tun. Und es gibt eben, als dritten Bildtypus, die irrealen Räume aus Under the Skin auch. Nicht dass hier jemand im Schwarzen versinkt oder im Weißen sich auflöst, aber als Untergrund existiert dieses Horror-Nirgendwo doch. Es geht einmal (wohl das einzige Mal «im Lager» gefilmt) von unten auf Höss der Blick hinaus auf dem Himmel, ein Weißes, ein Graues, das sich in etwas undifferenziertes Weißliches auflöst. Und der Blick in Großaufnahmen auf Blüten, von der roten geht es in undifferenziert Rotes und Mica Levis Score lässt keine Zweifel daran, dass hier, in diesem eindimensionalen Bild-Raum etwas Unaussprechliches herrscht. Sich diesen Abgrund unter jedes der Bilder zu denken, denken zu müssen, ohne dass etwas daran als Vernichtung in Wort oder Bild explizit gemacht werden muss (es ist auch nicht wirklich ein Horror-Klischee), das sieht man dann mit der Tatsache konfrontiert, dass vieles andere sehr literal ist. Viele Szenen lassen sich sehr schlicht übersetzen: Die Großmutter, die beim Blick auf orange Geahntes im Dunkel die Pein überkommt, the Gewissen in the attic, das sonst keiner hat. Oder der Sohn, den die Schreie aus dem Lager beim Würfelspiel nur kurz einmal stören; oder die aufdringliche Unaufdringlichkeit, mit der der Score Schüsse, Rufe, Schreie als Konzentrationslagersound sehr buchstäblich präsent hält. Auch wie Sandra Hüller ihr Spiel anlegt, der sehr stapfige Gang, das Trutschige aus allen Poren, man fragt sich, ob diese immerzu wiederholte, noch in die Geste, wie sie den Brief der Mutter unwillig in die Hand nimmt, eingelegte Blockade aller Identifikationsangebote nicht doch allzu dumpf ist, Christian Friedel hat seine Figur, ohne einen Hauch von Sympathieträgerschaft, weniger eindimensional angelegt. Andererseits: Es ist nicht sehr wichtig, denn so oder so ist der Verzicht auf Figurenpsychologie radikal. Was hier Struktur ist - eben: die Verdrängung der hyperpräsenten Vernichtung als Horror -, ist in die Verhältnisse der Bildtypen zueinander gelegt. Und in die Verschaltungen, Verknüpfungen, metonymischen Montagen, die Glazer dabei vornimmt. Metonymisch verschaltet werden zum Beispiel: das Märchenmotiv (ob es nun, hier wieder: Captain Obvious Glazer, gleich wieder die Hexe sein muss, die im Ofen verbrannt wird…) und der dritte Bildtypus, der zweimal unerklärt auftaucht, das Schwarzbild, in dem die Haut, aber auch der Rauch des Zugs und die Früchte, die das Mädchen einsammelt, unwirklich leuchtet. Bilder eines Zwischenzustands, vielleicht, zwischen dem Hyperrealen des Innenraum-CCTV und den Defigurationen des Horror. Verblüffend auch, dass Glazer diese Szenen durch die Tür hindurch ineinander verschaltet, es gibt also, wo sonst alles auf strenge Scheidung gebaut ist, einen Übergang. Und dann erst das Ende: Höss geht in Innenraum-Live-Übertragung die Treppe hinab und kotzt. Als wäre es eine Erklärung, schiebt Glazer quasi-dokumentarische Bilder einer Putzkolonne im Auschwitz-Museum der Gegenwart ein. Es endet aber nicht so, nicht dort, in diesem Hinstellen der Bilder des Gedenkorts, sie sind nicht das letzte Wort dieses Films. Der nämlich kehrt zu Höss zurück und schiebt die Gegenwarts-Sequenz als eine Art Vision (auf der Ebene nicht der Figur, aber der filmischen Syntax) Höss in den Kopf, oder in den Magen: Der kotzt. Was tut Glazer da? Das ist mir, wie schon bei Under the Skin, nicht so ganz klar. Außer dass er wieder ein Objekt sehr fremder Art hergestellt hat, dessen Aliens sind nun Menschheitsverbrecher. Eine Mystifizierung zweiter Stufe? Oder doch, so unerwartet es sein mag, eine kühne Form angemessener Repräsentation? (74cp)

 

City of Angels (Marina Abramović/Ulay 1983, UbuWeb 13)

Hingestreckt: Menschen, Thai, auf einer Wiese, nicht tot, eher wie schlafend, die Kamera so nah dran, dass sie die Körper immer nur in Teilen erfasst, und erst in der Bewegung, Arme, Kleider, Körper entlang, in ihrem Zusammenhang offenbart. Zwei die Hand, noch in diesem Schlaf, an den zwei Seiten einer Säge, deren Blatt ist so lang, dass die Kamera eine Weile nichts als dieses im Blick hat, von der einen Hand einen kurzen Bewegungs-Spannungs-Raum aufbaut, zur anderen Hand. Dazu, die ganze Zeit, eine Frauenstimme, die spricht, und zwar Thai, und zwar nicht untertitelt.  Auch eine Schildkröte findet die Kamera so, am Fußende einer Frau, auch sie, die Schildkröte, unbewewegt, eine Weile, die Kamera aber insistiert, der Text hat auch aufgehört, die Schildkröte streckt den Kopf aus dem Panzer, setzt sich in Bewegung, geht aus dem Bild. Dieses Anfangsbild wird alles, was folgt, aus sich entlassen, nun aber bei unbewegter Kamera in bewegt/unbewegte, eingefrorene Stills entlassen:  Zwei Männer nicht hingestreckt, sondern kniend im Gras, die Säge, die wir schon kennen (denkt man), im Hintergrund eine große Backsteinruine, sie halten die Säge, da ist ein Baum, aber die Männer bewegen sich nicht, sägen nicht, bewegen sich nicht. Hier nun eine Frauenstimme, Thai, aber Gesang. / Der sich fortsetzt über einem nun anderen Bild. Auf einer Freifläche mit dem Rücken zur Kamera (die still hält) eine Frau mit langem Zopf, frontal: ein Mädchen, das eine Blume so in der Hand hält, dass sie das Gedicht halb verdeckt, ein Junge weiter hinten und auch ein Mann. Dieses tableau ist vivant in eigentümlicher Art: Wind in den Kleidern, die Blume vor dem Gesicht erzeugt einen Effekt, der fast etwas wie ein glitch im Videobild ist, avant la lettre. / Ein alter Mann liegt auf der Seite, den Kopf in der Hand, eine alte Frau sitzt rechts neben ihm, unbewegt beide, die Kamera auch. Aber da, von links, kommt eine/die Schildkröte ins Bild, sie verharrt zweimal kurz, verschwindet nach rechts. Vögel fliegen hinten von rechts nach links durch das Bild, der Gesang läuft immer weiter, die beiden, der Mann und die Frau, liegen, sitzen und harren. Tiere sind die einzigen, die in der City of Angels Bewegungsfreiheit besitzen. / Nun von schräg hinten eine junge Frau, die im Anfangsbild - das, wie man nun zu begreifen glaubt, die Stills aus sich entlässt - im Gras lag, dort wie auch hier ein grünes, dickes Schlängelgras in der Hand (nein, es ist eine Schlange, oder eine Handvoll von Schlangen, mise-en-abyme des Übergangs ins Belebte). Hinten steht, mit dem Rücken zu uns, ein Mönch, als wäre er auf dem Weg in die Walker-Filme, die Tsai Ming-Liang viel später zu drehen begann. / Ein älterer Mann, in der erhobenen rechten Hand ein langes Kampfmesser, in der erhobenen linken einen Spiegel. Durch die Unruhe seiner Hand zittern Hintergründe (die hinter dem Rücken der Kamera liegen) immer wieder ins Bild. / Schlussbild: Totale von oben, man sieht die am Beginn nur im Bewegungsfragment der Kamera abgefahrenen Menschen und Dinge nun im Zusammenhang liegen. Da ist die Säge, da ist der Mann mit dem Messer, da sind sie alle. Und da ist auch die Schildkröte. Sie macht sich davon.

 

10.3. La cour (Hafsia Herzi, F 2022)

Anya ist die, die aus Australien kommt. Anya ist die, die die Fronten verhärtet, dann sprengt. Der Schulhof ist der allegorische Ort dieser Fronten, die zwischen den Kindern verlaufen. (Das alles spielt unter Kindern im Zahnspangenalter.) Da sind die, alles Jungs bis auf ein Mädchen, die mit ihrem Fußballspiel den Raum dominieren. Da sind die Mädchen, die mit ihrem Seilspiel einen geringeren Teil okkupieren. Und da sind die dritten, auf ihrer Bank, zu denen sich Anya gesellt. Und sie bringt Sand ins Getriebe, nämlich Murmeln ins Spiel. Was zu Streit führt, worauf sich die Fronten verschieben. Es sind auch Lehrer und Aufsichtspersonen gefragt. Einer, kein Lehrer, selbst fast noch ein Kind. Die Direktorin, deren Sohn bei den Jungs ist, der Anya den Hof macht. (Sie ist nicht uninteressiert.) Bei der Klassenfahrt muss die Konfrontation zu nächtlichem Überfall und Kissenschlacht eskalieren. Hafsia Herzi filmt das in lässiger Form, nahe dran an Gesichtern (und im Zweifel auch Händen), solidarisch mit allen außer dem Bully (sein Name ist Enzo), schöner Zwischenauftritt der Musiklehrerin, es ist die Singer-Songwriterin Laura Cahen, ihre Musik wird dann ohne jede Aufdringlichkeit nichtdiegetisch. Das alles: Zwischen Komik und Ernst balanciert, nuanciert in den Tönen, sanft werden hier und dort, immer zugleich allegorisch und ganz realistisch, kleine Gewichte gelegt. Eine Verschiebung der Dinge, eine Auseinandersetzung mit Eskalationspotenzial, die nie ganz und gar kriegerisch wird. (76cp)

 

Modus Vivendi (Marina Abramović/Ulay, 1979; UbuWeb 11/12)

Communist Body/Fascist Body

30. November 1979. Amsterdam. Marina Abramovic und Ulay laden elf Freunde und Bekannte zu einer Feier, beide haben am selben Tag Geburtstag. Der Ort: unvertraut. Die Zeit: viertel vor zwölf. Im Raum: Zwei Tische, einer mit Kaviar, einer mit Champagner, an der Wand die Geburtszertifikate, eines mit Hakenkreuz, eines mit Hammer und Sichel. Ulay und Abramovic sind anwesend, sort of, denn sie liegen hinten auf einer Matratze unter einer Decke und schlafen und werden nicht wach. Es gibt Videoaufnahmen, aber meist eingefroren, weil es nicht um das Dortsein, sondern das Dortgewesensein geht. Der Hauptteil des Films: retrospektive Gespräche mit den Freundinnen/Bekannten darüber, wie sie die Performance erlebten. Von Alptraum bis grandios alles dabei. Zögerlich: der Künstler Gerhard von Graevenitz (der vier Jahre später bei einem Flugzeugabsturz sterben wird). Einordnend, eloquent: Antje von Graevenitz, seine Frau, Kunsthistorikerin. Man erfährt: Wie manche versuchten, das Paar zu wecken; was nicht gelang. Wie sie sich irgendwann auch so an Champagner und Kaviar machten. Ulay und Abramovic machen sich (aktiv/passiv) zum Objekt einer Kon/Instellation, in der die Besucherinnen ihrerseits ausgeforscht werden. Die Kamera ist eine Zeugin, die dem Bild weniger traut als dem nachträglichen Wort, das aus dem Off (talking heads sieht man nicht), in einem Abstand zum Bild bleibt, dieses anreichert, nicht substituiert, eine Kluft, die etwas anderes als Widerspruch ist. 

That Self

Marina Abramovic und Ulay haben die Hypnose entdeckt. Und werden Farbe, abstrakt Testbild. Rot und blau und gelb, dazu elektronisches Wabern, die suboptimale Videoqualität macht aus den Farben fast ein rothkorot, rothkoblau, rothkogelb. Tune in and fade out.

 

9.3. Relation Work (Marina Abramović/Ulay, 1976-1980; UbuWeb 2-10)

Relation in Space (1976)

Videoaufnahme, die nicht Bild schafft, sondern Performance bezeugt. Geräusche machen irgendein Draußen, ein Publikum, das unsichtbar anwesend ist. Eine weiße Wand in der Mitte, vor der es zu Begegnungen kommt. Von links, immer wieder, Abramovic, von rechts, immer wieder, Ulay. Beide sind nackt, zwei nackte Körper, der eine steuert auf den anderen zu, und der andere auf den einen. Erst nur ein Streifen der Körper, sie gelangen aneinander vorbei. Dann ein Schnitt, kurze Schwärze, danach wird es konfrontativ. Nicht im Gestus, nicht in der Reaktion, aber: Ein Körper prallt auf den andern, wieder und wieder. Keine Schmerzlaute, keine Erklärung, nur das Prallen von Fleisch auf Fleisch. Abramovic taumelt, einmal stürzt sie zu Boden steht wieder auf. Ulay taumelt und stürzt nicht. Sie verschwinden jeweils aus dem Bild, sie, verrichteter oder unverrichteter Dinge (es ist ja nicht klar, was hier ein zu verrichtendes Ding sein könnte), nach links, er, verrichteter oder unverrichteter Dinge nach rechts. Sie kehren wieder, es geht einfach nicht mehr aneinander vorbei. Aufeinander geprallt, wieder und wieder. Es entwickelt sich nichts, es folgt nichts daraus, es findet nicht zu Laut oder Sprache. Es ist nicht aggressiv, denn das schriebe etwas wie Intention zu. Intentionen aber scheinen hier nicht im Spiel. Nur wie aufgezogene Körper, die nicht nur nicht wissen, was sie hier tun. Die nicht einmal wissen, was ein Wissen (von Körpern, von Menschen) sein könnte.

Talking About Similarity (1976)

Biennale Venedig, Juli 1976, seine Stimme berichtet, was er tut (was man gleich sieht), ihre Stimme berichtet, dass sie Fragen beantworten wird, so lange, bis sie aus Versehen nicht an seiner Stelle spricht, sondern, fälschlich, als sie selbst. Was er tut (was er angekündigt hat, was man sieht): offener Mund, man sieht viel Kinn, etwas Nase, ein Sauggeräusch wie beim Zahnarzt; er schließt den Mund, er greift zu Nadel und Faden, zieht den Faden durch die Unterlippe, die Oberlippe, wortlos, blutlos, verknotet den Faden, einmal, zweimal, er hängt herab, der Mund ist verschlossen. Was sie tut (was sie angekündigt hat, was man sieht, auch wenn sie sehr schlecht versteht, draußen, wieder gibt es ein irgendwie Draußen, fahren Autos vorbei, sogar Hupen): Sie erklärt, er kann es ja nicht, er ist nicht im Bild, es ist von ihm nur, aus ihrem Mund, die Rede, sie erklärt dass es keine Rolle spielt, wer die Rolle übernimmt, wer sich den Mund zunäht, er oder sie. 

Breathing In, Breathing Out (1977)

Kann man das Küssen nennen, was die beiden hier tunt Oder ist alles Küssen immer auch das? Breathing In, Breathing Out, I am Breathing in Carbon Dioxide, I am Breathing Out Carbon Dioxide, man hört ihre Stimmen, man sieht die beiden noch nicht, dann sieht man sie, dann hat ihnen, natürlich, das Küssen, Einatmen, Ausatmen, die Sprache verschlagen, auch wenn man Geräusche hört, erstickte, ein Küssen und Saugen und Kauen, fast ein Verdauen bei ineinander geöffneten geschlossenen Mündern. Nicht ruhig, ein Hin und Her, wie eine Verfolgung, ein Balzritual, erst recht, wenn ein Keuchen entsteht, eine Atemnot, auf die die Kamera zoomt, bis alles, Nase und Münder und Haar und Lider und Licht und Schatten, sich fast im Abstrakten verliert. Am Ende Erlösung, Lösen der Münder, Frischluftzufuhr.

Imponderabilia (1977)

Museum in Belgrad, schmale Eingangstür, in der sie (wieder) links steht, er (wieder) rechts, frontal gegenüber, sie machen den Raum eng, sie blicken sich an, beide sind nackt. Die Besucherinnen und die Besucher komme nur seitlich durch zwischen den beiden, müsssen sich, so erklärt er am Anfang, für die Zuwendung zu ihm oder zu ihr entscheiden. Die große Mehrzahl wählt (wenn etwas in der Schnelle so wenig Überlegtes eine Wahl beinhalten kann) sie, wendet beim Zwängen ihr die eigene Front zu, gelegentlich kurze Serien von Männern und Frauen, die es umgekehrt halten, ein gewisser Nachahmeffekt. Nie ein Stocken, Innehalten, auch nicht die Suche nach Augenkontakt, als wäre gerade die Nacktheit ein Schirm, ein selbstverständliches Tun, als wäre es das Natürlichste von der Welt, dass man, selbst durch Kleidung, und Taschen, geschützt, ungeschützte Körper berührt. Niemand kommt auf die Idee, sich selbst zu entkleiden. Einer greift einmal, wie um sich abzudrücken, an ihren Arm, es ist nicht der mit dem Stock, einer macht einmal ein Foto, eine Gruppe bildet sich, sie wird von einem Museumsmann, den ich erst jetzt bemerke, aufgelöst. Schnitt. Nun kommen Soldaten in Uniform. Es ändert sich nichts.

Expansion in Space (1977)

Bologna, Innenraum, Zuschauer sichtbar. Nackt, Rücken an Rücken, sie (wieder) links, er (wieder) rechts. Sie gehen, nicht als Anlauf, aber mit Schwung und mit Wucht, auf Säulen los, rammen sie mit dem Körper, dann wieder Ausgangsstellung, Rücken an Rücken. Die Säulen bewegen sich, etwas, rucken, etwas, nach links (ihre Seite), nach rechts (seine). Knallen, Schieben, dann wieder Rücken an Rücken, Prallen und Rucken, etwas, und etwas. Die Säulen erreichen den Bildrand. Schnitt. Kamera weiter weg, rechts und links sieht man je eine weitere Säule, Applaus brandet auf, Bravo-Rufe, Knall, Prall, zurück, kein Rucken mehr, die Säulen stecken fest, wieder und wieder der Schwung und das Prallen, aber die Säulen zeigen keine Wirkung mehr, während man sich die Wirkung auf die anders gearteten nackten Körper nicht ausmalen will. Kein Taumeln, aber er tritt dann ab, sie macht weiter, Prallen, zurück, am Rücken kein Rücken mehr, im Publikum einer, der, auf Deutsch, Aufhören ruft, andere auch, Pfiffe, sie macht weiter, steigert das Tempo, das ist kein Spaß mehr. Als wäre es jemals einer gewesen. (Und dann geht sie doch.)

Relation in Movement

Dokumenta 6, Kassel. Ein kleiner Transporter in einer Bodenversenkung (ein Rechteck mit Grid - ein Bassin ohne Wasser) zieht seine Kreise im Uhrzeigersinn. Es ist draußen, im Hintergrund Straßenverkehr. Sie zählt, wird am Anfang erklärt, mit dem Megaphon die einzelnen Runden, das Video selbst ist ohne Ton. Schnell fährt das Auto am Anfang, Schnitt, Zeit ist vergangen, dunkler ist’s, auf dem Boden nun ein sichtbarer Kreis, das Auto lässt eine Flüssigkeit ab, Schnitt, Zeit ist vergangen, der sichtbare Kreis nunmehr breiter, Schnitt, Zeit ist vergangen, ein Kind ist im Bassin, dann wieder weg, Schnitt, Zeit ist vergangen, Dunkelheit bricht herein, das Auto fährt nun mit Licht, Schnitt, Zeit ist vergangen, Finsternis, Schwärze, durch die das Licht seinen Kreis zieht, Schnitt, Zeit ist vergangen, es wird wieder heller. Das Auto bleibt stehen. (Schlusstafel: 16 Stunden sind es, die so vergingen. 2226 Kreise waren es, die sie fuhren.)

Relation in Time

Sie sitzen auf Stühlen, sie (wieder) links, er (wieder) rechts, Hinterkopf an Hinterkopf, beider Haare zu einem sich mal mehr, mal weniger knäuelnden Wulst zusammengeknotet. Buchstäblicher waren sie nie der two-headed body, als den sich sahen. Sie sitzen 16 Stunden alleine, die Müdigkeit überkommt sie. Sie tun nichts. (Außer: atmen, schlucken, leben eben, wenn das leben ist.) Sie sitzen eine Stunde dann noch vor Publikum da. Mit Publikum im Video: Ton. The artists are, aber nicht sonderlich, present.

Light/Dark

International Performance Festival, Köln. Sie knien, er diesmal links, sie diesmal rechts. Nackt sind sie nicht. Die Regel, die sie sich gaben, ist, dass es abwechselnd Ohrfeigen setzt. Er, sie, er, sie, rechte Hand linke Wange, nicht zu fest, nicht zu soft, nicht zu schnell, nicht zu langsam. Ungerührt, nach und nach entsteht ein Rhythmus, durch die Schlaghand, die für einen Zwischensound kurz auf dem eigenen Oberschenkel pausiert. Schnitt. Sie werden schneller, und schneller, sie geraten etwas außer Atem. Dann hören sie auf.

Balance Proof

Genf. Ein Museumsraum. Ein doppelseitiger Spiegel mitten darin auf der einen Seite sie, auf der anderen er, beide sind nackt. Sie sehen sich nicht, die Kamera zeigt erst sie von hinten, dann ihn, so ist je nur eine/r im Bild, und nicht einmal doppelt, denn das Spiegelabbild ist vom Körper verdeckt. Dann Schnitt. Nun sieht man sie von der Seite, sie (wieder) links, er (wieder) rechts, der Spiegel dazwischen. Wir sehen sie, sie sehen (oder ahnen, direkt Spiegel) zwar sich, aber nicht einander. Museumsbesucher, sie schauen hin oder unterhalten sich miteinander. Von heute aus großer Eindruck von Damaligkeit. Sie geht, er bleibt. Dann geht auch er, der Spiegel fällt um. Splittert nicht.

 

8.3. Bread of Life (Adel Abidin, Ägypten 2008; UbuWeb 1)

Vier Männer, ein Raum, eine Einstellung. Vier Männer in Anzügen, vier Männer auf Stühlen, vier Männer mit Krawatten, vier Männer mit Broten. Der Raum ist karg, von der Wand blättert der Putz, rechts oben ein altes Kastenradio, rechts eine Truhe mi orientalischem Muster, auf dem Boden ein Teppich, er liegt da schon länger. Auf dem Teppich vor den vier Männern auf ihren Stühlen liegen, zwei, drei oder vier weitere Brote. Die Männer, eher noch jung, machen mit den Broten Musik, sie klopfen und schaben, kratzen und trommeln, sie blicken nach vorne, gelegentlich blickt auch der eine verstohlen zum andern, sie haben einen gemeinsamen Rhythmus. Das Brot ist sehr hart, dem einen, der mit einem kleinen Gegenstand trommelt, zerfällt es zwischen den Schenkeln. Die vier Männer sind Nachtclub-Perkussionisten, lese ich, nun am anderen Ort, nun in die Mitte eines Kamerabildes gerückt, es fadet am Ende, während sie weiter trommeln, ins Schwarze. Sie schlagen Brot, als wäre nichts weiter dabei, es gibt keinen Schnitt, sie bieten Fladenbrotrhythmen am Stück. (67cp)

 

5.3. Plein de temps (Eric Gravel, F 2021)

taz-Kritik (62cp)

 

3.3. Geht es dir gut? (René Pollesch/Fabian Hinrichs, Volksbühne Berlin)

Mutterseelenallein, das Gewand beinahe hären, unten staksen Beine heraus, vom Klavier, das am Anfang rechts vorne noch steht, und vom Chor, der stützt und singt, sehr bald verlassen: O Mensch! Dieser Mensch, von Krisen gebeutelt, von der Pandemie und den Lockdowns und den Masken, hinter denen sich die Asymmetrien verstecken, ist Fabian Hinrichs, der die Tonlagen wechselt, nie ohne Pathos, der Texthänger hat, sich durch das Haar fährt und entschuldigt und sagt, er sei etwas unkonzentriert, der, wenn vom Zurückweichen die Rede ist bei der Bahn, fast bis ganz nach hinten auf der riesigen, der leeren, der mehr als leeren Bühne zurückweicht, seine Verlassenheitstexte mit dem vertrauten Verzweiflungsdruck spricht, aber verzweifelter war er selten, laut schallt es die Wände des irdischen Jammertals, in dem er, von allen und dann noch von einem signifikanten Andern (und jetzt auch noch von René Pollesch, von dem dieser Text kommt) verlassen, laut schallt es die Wände des irdischen Jammertals in die Höhe, in den bis auf den letzten Platz gefüllten Volksbühnen-Saal, mühelos bis in den Rang, wo ich sitze, Köpfemeer unten, das Geht es dir gut geht nicht völlig ins Leere, denn das Mindeste ist, dass die Frage sich ihren Adressaten selbst schafft, aber der Text ist doch auch sehr in sich zusammengesunken, die Rede davon, dass da draußen, vor der Tür, auf der Straße, im Weltall letztlich niemand mehr ist, die Hoffnung, dass da noch etwas sein wird, und nicht etwa nichts, in zweihundert Jahren, diese Hoffnung ist, kaum ausgeprochen, schon zerfleddert. Wie der lange, sich im Kreis drehende, nichts nach Oben bewegende, bei aller Lautstärke rasch zu Boden sinkende Monolog, der den ersten Teil ausmacht, zerfleddert ist und sich mit großer Mühe, mit sehr lang gestreckten Armen ganz gelegentlich nur zu einer Pollesch-Pointe hangelt. Selten kamen einem die Wiederholungen, die wiederkehrenden, wiedererkennbaren Sätze, die non sequiturs, die damals, als alles anfing, aus den Mündern nur so hagelten, so sehr vor wie Trümmer nach einer Schiffshavarie,  Trümmer, die vorbeitreiben auf hoher See, an denen man sich, Kraft zu schöpfen, kurz festhalten kann, und dann treiben sie, die Trümmer, und das Trumm, das man selbst ist, schon weiter. Nackter waren diese Sätze, war diese Figur, die sich hier vor einem abwesenden, im Angesprochensein nur umso abwesenderen Du (von dem vor allem Erinnerung bleibt), nie, es fehlt nicht mehr viel und es wäre das, was hier gesprochen wird, ein Gebet, aber wer weiß, was Gott antworten soll, wenn ihn das nackte Wesen da unten fragt: Geht es dir gut? Es bleibt nicht dabei, bei diesem zerfledderten Verlassenheitsmonolog und aller Antworten ungewissen Gebet. Da kommt die Rakete, es ist Rettung, es ist Hoffnung, nur nicht für uns: Abflug verpasst, das Taxi zu spät, der Fahrer schon weg. Und es kommt, aus dem Taxi wie aus dem Nichts, die Gang der Jugendlichen, die zur treibenden Musik Breakdance-Übungen macht, ein Energieschub, der richtig reinknallt, wo es öd und leer war, nun plötzlich Körper, Tanz, Kraft, virtuose Performance. Ein Ausbruch. Der enden muss, kleinlaut mit Gitarre dann wieder Hinrichs, in eine große Nusschale gekrochen, geschmiegt, von hier aus einmal ganz nackt der tote René adressiert: Geht es dir gut? Da oben? Der Abend geht mit Taxi ins Leere, nur heute nicht: Es kehren die Chöre, African and Bulgarian Voices, zurück, in den Applaus hinein, nach dem Applaus, vor dem Applaus, Amazing Grace wird gesungen, für den verlorenen Freund, wobei der Aufforderung zum Mitsingen wenige folgen. Dass beim vertrackten bulgarischen Chorgesang keiner aus dem Publikum mitkann, ist ohnehin klar. Muss auch nicht sein.

 

 

FEBRUAR

29.2. Ulrike Maria Stuart (Elfriede Jelinek, Pınar Karabulut, Deutsches Theater Berlin, Premiere)

Pınar Karabulut macht kurzen Prozess: mit Meinhof und Ensslin, vor allem aber mit Jelinek, die den beiden und dem Linksterrorismus einst, 2006, die übliche Suadenbehandlung zukommen ließ, die Spiegelung in Elisabeth und Maria Stuart war für die Königindramatiefe gedacht. Davon ist sehr wenig übrig, Meinhof schwebt erst in einem Glaskäfig, durch einen semitransparenten Vorhang verschwommen zu sehen. Darunter: eine Höhle mit schrundigen Wänden, die im Verlauf der siebzig Minuten wie atmend auf und ab fahren. Wenn der Vorhang sich hebt, wird klar: auf dem Boden ein Friedhof, es sind Zombies zugange, Grab auf Grab zu, ein bisschen queer geht es zu, dann wieder nicht mehr so sehr, zurück zum Meinhof/Ensslin-Duett-oder-Duell. Schnell ist der Spuk vorbei, der von einiger Unerheblichkeit war. (45cp)

 

27.2. Heldenplatz (Thomas Bernhard, Inszenierung: Frank Castorf, Burgtheater Wien am 24.2.)

Vor den Vätern sterben die Söhne, Pollesch ist tot, Castorf macht weiter, Wien, Burgtheater, wo er mit Thomas Bernhard und dessen einstigem Skandalstück nicht sehr viel anfangen kann; der Stoff ist diesmal mit Thomas Wolfe, der erst aus New York, dann aus Deutschland berichtet (1938, alles ist okay, ja nichts ist okay) berichtet, mit dem Tagebuch von John F. Kennedy in Richtung Amerika und historischem bzw. gegenwärtigem Faschismus gestreckt. Die Bühne sieht aus wie aus tausendundeiner Denić-Arbeit bekannt, gespreizte Beine, riesig, rot, nach oben, eine Art Bunker, der nur dazu da ist, den realen Live-Blick zugunsten des Reality-Live-Kamerablicks auszusperren, Neonröhren und ein U-Bahn-Eingang, der in den Untergrund von Brooklyn führt, aber auch, könnte man sagen, zurück zu Castorfs letzter Volksbühnengroßtat Faust, da fuhr die U-Bahn ja auch schon, da ging es ja auch schon hinab zur Abfahrt mit der Live-Kamera, und vielleicht darf man auch an Schlingensiefs U3000 denken, die U7 war das, realiter, längst hat sie den Endbahnhof Volksbühnen-Mythos erreicht. Es dauert lange, bis Birgit Minichmayr und die anderen dann wirklich die Treppe hinabsteigen, eine Herauszögerung, wie diese ganze erste Hälfte (und nach der bin ich gegangen) eine lange Herauszögerung ist, seltsam vitalismusfrei triebunterdrückt, Monologe, als hätte man Castorf-Darsteller*innen durch viel zu freundliche und professionelle Zombie-Versionen ersetzt, bis dann endlich, endlich, Auftritt als Sitz- und Liegemumie, Birgit Minichmayr amtlich agiert, Bernhard-Text rausrotzt, als hätte der ihn für die Volksbühne geschrieben, wo wir nicht sind, wo wir, wie die Dinge jetzt stehen, wohl nie wieder sein werden. (52cp)

 

25.2. Renate Bertlmann. Fragile Obsessionen (Belvedere 21, Wien)

Skalpellfein die Linie zwischen Scherzen und Schmerzen. Schnullerkondome an Fingern, Messer am Schnuller, Mörderprothese, aufgeschlitztes Papier, latexweich hängt, hautnah, Genopptes auf der Leine, quillt und züngelt Rapunzelhaarnahes aus der Vulva, die es auch als sowas von dentata gibt, und den Christus, Bertlmann selbst, vom Schmerzensmann zur Scherzensfrau. Genderfluid, als Mann-Parodie, zwischen René und Renée, eine ostentative Masturbation als Fotoserie, die Hände greifen, wo der Penis wäre, mächtig ins Leere; an anderer Stelle absurde Phalli, die in Uniform stecken, das ist schlicht und schlicht lustig, geradezu hübsch eine Schmetterlingspenisparade, Votivtafelspott: Sanct Erectus, kleine Fotoserie, die Aufblaspuppen mit schwarz-weißen voyeuristisch-dokumentarischem Blick beim Sex ertappt. An anderer Stelle liegen Sexpuppen, unaufgepumpt, gemeinsam im Sarg, die Tretpumpe zu ihren Füßen. In einer Performance hat Bertlmann sie (aufgepumpt) an die Wand gestellt und mit Dildo-Slingshot beschossen. Aber da sind auch: Brüste und Nippel, nicht nur scharf und spitz, sondern luftballonweich zu zärtlichen Berührungen fähig, ineinandergestülpte Rot-Lila-Penetration. Eher verspielt als aggressiv, Wiederkehr der Motive, dazwischen grelle Kitsch-Nippes-Sammlungen oder, noch einmal anders, ein geradezu slickes Rosemarys-Baby-Ensemble als rosarote und schwarze Hartplastik-Installation. Das erschöpft sich eigentlich nie in der Botschaft, es steckt viel Liebe in Material, Arrangement, ein Auskosten der Idee, die über den Moment deutlich hinausdrängt. Haltbar gemacht, mindestens, bis zum Ende des Patriarchats. (74cp)

 

23.2. Iphigenie auf Tauris (Goethe, Inszenierung: Ulrich Rasche, Akademietheater Wien, Premiere)

Gelassen spricht hier niemand große Worte aus. Stets ist Druck dahinter, Rasche-Druck, und wenn nicht Druck, so doch Manier, und zwar, bei Julia Windischbauer vor allem, Clever-Manier. Edith Clever, seit jeher Rasches Fetisch-Schauspielerin, und ihre sehr spezifische Art, die Sätze zu formen, weit vom Kolloquialen entfernt, unterwegs zum Weihefestspiel, das Goethes verteufelt humane Iphigenie ohnehin ist und auf das im langsam mahlenden Bühnenscheibenweltrund (einmal nur steht die Drehbühne still) dieser Abend hinausläuft. Dunkel ist es, Nebel wallen von links, Lampen schneiden Licht ins Dunkel, stellen diese Iphigenie, die als einzige ein weißes Kleid trägt, immer wieder heraus. Jedoch kann sie, wie alle anderen, wie die Männer verschwinden. Die Männer, die schwarze Röcke und Netzhemden tragen, die meiste Zeit, es kann aber auch der Oberkörper ganz nackt sein, die Arme gestreckt, die Hände gekrümmt, nach vorne gerichtet, als wollten sie Wundmale zeigen, Wundmale, die sich an den Körpern nicht finden, nur die Sprache, hat sich je der fünfhebig einherschreitende Blankvers so sehr unter Schmerzen gekrümmt. Vergleichsweise wenig chorhaft die Männer, dafür umso subtiler mit mehr schleppenden als schreitenden oder gar marschierenden Schritten zu manchmal fast laokoonhaften Gruppen choreografiert, und umchoreografiert, Iphigenie, die Weiß, voran oder in ihrer Mitte, als einziges Bühnenelement zieht ein Neonröhrenleuchtgestänge seine Bahnen, kommt von oben links, steht einmal recht lange aufrecht in der Mitte, dann liegt sie in der Luft quer über dem Boden, wie die Lemuren kriechen und quälen sich die taurischen Figuren, und Thoas und Orest und Pylades, unter dem Licht hervor, das seine Farbstimmung ändert, bis weit ins Rote hinein. Dazu die Musik, die, wie immer, nicht aufhört, orgelhaftes Keyboard, das von recht minimal bis hin zu beinahe Wagner die Modulationen des Abends gibt und nimmt, Modulationen, die zwar vom Stillen zum Lauten reichen, aber es bleibt doch von Anfang bis Ende ein Qualton gesetzt, den auch das unter Krämpfen herbeigeredete, abgenötigte Thoas-«Leb wohl» nicht aufheben kann. (73cp)

 

22.2. Der Osten (Dirk Oschmann, D 2022)

Er sagt, sagt er selbst, gar nichts Neues, Beitritt, Buschzulage, Nicht-Anerkennung von Lebensleistung und so weiter und weiter. Er sagt, was er sagt, nur speziell undifferenziert. Genau das, die Entdifferenzierung, wird aber, und nicht nur an einer Stelle, sehr wohl reflektiert, als notwendige Strategie zur Gewinnung einer Aufmerksamkeit, die das Differenzieren nicht bringt. Differenziert hat man genug, die Zahlen, die eindeutig sind, die Zahlen zur Anwesenheit vielmehr Abwesenheit des Ostens bei Geld, Macht, Einfluss, in den obersten Schichten der vereinigten Republik, verlangen, sagt er, wenn auch nicht so, nach klarem Lamento. Und klares Lamento is what we get. Selbstpositionierung: Professor, grünliberal, FAS-Leser, Spezialisierung 18./19. Jahrhundert, einer, der es, nicht zuletzt auf dem Weg über die USA, den Westen des Westens, geschafft hat und weiß, dass er die große Ausnahme ist. Selbstgerecht ist er, aber im Namen des Ostens. Aufrechnung, die keine Gefangenen macht, Bilanz, die nichts auf der Gegenseite verbucht, das identitätspolitische Paradox, dass hier einer, der die Konstruktion namens “der Osten” beklagt, an dieser Konstruktion festhalten muss, um ein strukturelles Ungleichgewicht auf einen pauschalen Namen bringen zu können, ist Oschmann bewusst. Er identifiziert Ost-Othering, als Abwertung und Ausschluss (in Academia, Literatur und Kunst, die DEFA kommt nicht vor), essentialisiert aber eher selten eine Ost-Identität, die über Gemeinsamkeiten von Biografie und Geografie hinausgeht. Sympathien für die AfD hat er nicht. Ja, er sagt, wie er sagt, nichts Neues, er spricht, wie er auch sagt, nicht als Fachmann, sondern als Bürger. Man kann nichts lernen aus diesem Buch, wenn man sich mit der Materie befasst hat. Falsch wäre zu sagen, dass, wer pauschalisiert und undifferenziert anklagt, schon deshalb in entscheidenden Punkten nicht Recht haben kann. Aufgegangen ist die Strategie zur Gewinnung von Aufmerksamkeit. (60cp)

 

21.2. Black Tea (Abderrahmane Sissako, F/Mauretanien/Luxemburg/Taiwan/Cote d’Ivoire 2024)

Aya ist die Frau, die bei der Hochzeitszeremonie nein sagt, die Feiergesellschaft hinter dem Gitter, das einen abgeschlossenen Raum für das Paar schafft, zeigt sich entsetzt. Sie, Aya, geht davon, und dann geht sie und geht es mit ihr  in einem schwerelosen, traumgleichen Schnitt an einen ganz anderen Ort, nach China, sie spricht wie von Zauberhand Chinesisch, sie arbeitet in einem Teeladen in Guangzhou, im Expat-Bezirk namens Chocolate City, wo sie, als lebte sie lange schon hier, in das Leben der Menschen verstrickt ist. Sissako fängt das ein in betörenden Bildern, zu sanfter Musik, es ist alles fast zu schön, um wahr zu sein: die verschwimmenden Gänge unter den roten Ballons, das Restaurant mit den rituell beschrittenen Wegen ins Separée, der Tee, der gepflückt, zerteilt, eingeschenkt wird, die Reise zu den Plantagen, der gelbe Schmetterling als Punctum des Imaginären, dann immer weiter hinein in Vorgeschichte und Liebe, eine Reise auf die Kapverden, das Portugiesische hat sich zwischen das Chinesische und das Französische und die afrikanischen Lieder gemischt. So gleitet man, und weiß nicht wie, so kommt in klaren, mehr als klaren, traumklaren Bildern eines zum andern, die Komplikationen, die im Besuch der rassistischen Ex-Schwiegereltern ihren Höhepunkt finden, hier spürt man, wie Sissako mit leichter Hand und in aller Schönheit diese Utopie einer Fremde mit einer Membran zur gar nicht schönen Wirklichkeit angelegt hat. Ein Film wie eine der filigranen Tassen, von denen man fürchtet, sie könnten zerspringen. Und so zerspringt Black Tea am Ende, und zerspringt doch wieder nichte. (85cp)

 

20.2. Tu me abrasas (Matías Piñeiro, Argentinien 2024)

Pineiro kommt ins Gespräch mit der Literatur, und dem Mythos, es ist nicht Shakespeare diesmal, sondern Pavese: die Dialoge mit Leucos, daraus das Kapitel über den Seeschaum. Das Buch, das, wie eine Erzählerinnenstimme erklärt, auf seinem Tisch lag, als er sich umgebracht hat. Im Gespräch, in das nun Pineiro sich flicht, das Gespräch, das Pavese in seinem Text führen lässt, unterhalten sich die Nymphe Bramartis und die Dichterin Sappho am Ufer des Meeres über Liebe und Tod. Es ist von Frauen die Rede, Nymphen, Figuren des Mythos, die sich von Menschen wie uns hier nicht unterscheiden, Frauen, die vor Männern flohen, die sie in ihrem Begehren verfolgten, Frauen, die sich von Klippen stürzten, wie es auch Sappho in ihrem Unglück getan haben soll. Aber wahrscheinlich hat das in ihrem Fall ein hellenistischer Dichter erfunden, wie überhaupt sehr die Frage ist, was sich an diesen Geschichten die Männer später ausgedacht haben. Pineiro jedenfalls denkt sich als Mann einer anderen Zeit etwas anderes aus, erzählt von Pavese und überlässt zuletzt noch Natalia Ginzburg das Wort; er lässt Sappho selbst sprechen, in den Fragmenten, wir haben sie auf Seiten (und in Spanisch) vor Augen, die die Überlieferung ans Ufer der Zukunft gespült hat (und 2014 tauchten weitere auf). Finger und Stifte folgen Zeilen in Büchern, einmal wird auch per App direkt vom Buch ins Bild übersetzt, Bildfolgen werden zu Wiederholungsschleifen und Gedichten geformt, in denen kurze Szenen assoziativ Wörter bedeuten: Tu me abracas, es ist das Begehren, das hier adressiert ist. Das Material der Bilder ist in Fragmente zerstückt, ist zugleich experimentalfilmnostalgisch superachtkörnig, dabei, als wäre es abgenutzt, schon beider Weltpremiere beschädigt, aus dem Wasser gezogen, aus Schaum geboren, wobei auch die Schaumgeburt Aphrodites auf den Ursprung ihres Mythos zurückgeführt wird: der Meerschaum als Samen, der einem abgeschnittenen männlichen Geschlechtsteil entrinnt. (82cp)

 

19.2. The Traveller’s Needs (Hong Sang-soo, Südkorea 2023, Berlinale Wettbewerb)

Hong behandelt Huppert, im dritten gemeinsamen Film, als objet trouvé (sur le banc d’un parc), dessen Herkunft, Motiv, Kontur sich, so konkret alles bis in die kleinste Geste und das Zucken des Mundwinkels ist, nicht ausmachen lässt. Variierte Standardsituationen, Menschen an Tischen, diesmal wird nicht Soju, sondern Makgeolli getrunken, ein milchiger Reiswein, den es, so wird erkärt, frisch nur in Korea gibt. Was man weiß, erfährt, sieht: Huppert ist eine Frau namens Iris, sie spielt die Blockflöte auf einer Parkbank schrecklich schief, sie ist aufgetaucht und kann auch wie durch einen Zauber verschwinden. Gedichte kann sie ins Französische übersetzen, sie hat eine eigentümliche Französisch-Lehrmethode entwickelt, mit der der Film in eine der Hongschen Wiederholungsschleifen gerät, wie man sie aus früheren Werkphasen kennt. Die Ironie bei der Sache: Es geht um den Ausdruck der wahren Gefühle, den man dann auf Französisch sehr mechanisch (mit Hilfe von Karteikarten und eines Abspielgeräts) auswendig lernt; bei zwei verschiedenen Frauen sind diese tiefen Empfindungen mit Musik verbunden und wortgleich identisch. Die Musik ist simpel wie stets, aber diegetisch wie sonst eher nicht, in einem dritten Teil kommt ein junger Mann ins Spiel, dessen Verhältnis zur nicht eindeutigen Iris seinerseits nicht eindeutig ist (sie wohnt bei ihm, ist Freundin und/oder Geliebte und/oder auch nicht), weshalb er von der Mutter, die Ersetzung oder Schlimmeres wittert, eine Predigt bekommt. Man könnte sagen, dass sich die Szenen etwas unnötig ziehen, auch fragen, ob Hong mit seinem objet trouvé wirklich so viel mehr anfangen kann als die Koreaner*innen, die sich mit dieser Iris an Tischen drinnen und draußen konfrontiert sehen. Scharfkantige Opazität, dein Name bleibt Hong, schön ist am Ende das Verschwinden des Paars in die Natur. (70cp)

 

18.2. L’empire (Bruno Dumont, F 2024, Berlinale Wettbewerb)

Hart stoßen sich die Dinge im Raum, und zwar hart: Menschen im kargen, wenngleich ungewohnt heißen französischen Norden, Kirchenschiffe, die Raumschiffe sind, Nullen und Einsen, die menschlichen Abgesandten des Teufels und der guten Kraft, die sich als Bürgermeisterin Deroo verkörpert, Schauspielstars wie Fabrice Luchini, der dem Beelzebub-Affen sehr viel Zucker gibt, und die hinreißend bodenständig-unbürgerlichen Menschen, von Dumont grandios gecastet, die zum Überkandidelten eine starke Kontrastfarbe sind. Nicht ganz so hart der Kontakt von sandigem Boden und den puschligen Hufen der weißen Pferde mit ihren Reitern der Apokalyps. Es kämpfen, als Weltraumflotte im Anmarsch, Schwarz und Weiß, Gut und Böse, um die Seelen der Menschen, die das ganz große Endzeitdrama zum größten Teil sehr wenig kümmert. Es geht, mit aller Macht, kurz gesagt, und nicht zum ersten Mal bei Dumont, siehe zuletzt seine Jeanne-Variationen: um das krasse Gegeneinander von Profanem und von Sakralem. Wobei nie ganz klar ist, ob das Profane sakralsisiert wird oder das Sakrale profanisiert. Ob es im Kern um das Profane geht oder das Sakrale oder immer um beides zugleich, und zwar ganz im Ernst, denn nur dieser Ernst gibt den Effekten Gewicht, die der Clash des einen mit dem anderen macht (und sei es als Sex auf der Wiese). Die sind in diesem Fall vorwiegend, und teils auf ungeahnt alberne Weise sehr komisch, wegen alle Maßstäbe sprengender Inkongruenz: Training mit Lichtschwert hinterm Vorgartenzaun; das Böse als Baby, lachend und blond; die in die Bürgermeisterin eingekörperte Göttin, mit den banalsten Alltagssorgen konfrontiert. Es steckt sehr viel Liebe und Arbeit (am Rechner) in den den Kathredralen- und Palastfantasieausgeburten von Himmel und Hölle, mit höfischem Tanz und Schlagzeugbesen-Musik, mit Digitalblob-Gehüpfe, mit Live-Übertragung durchs Kirchenschiff-Fenster, mit allem Drum und dem Dran, das sich Dumont hier ausgedacht hat. Parodie ist das nicht, denn die Pointe von Dumont ist nicht, hier nicht und auch sonst nicht, dass ihm gar nichts heilig wäre. Ganz im Gegenteil: Alles ist heilig, wenn auch vollendet verstrahlt, die ersten und die letzten Dinge, die Tics der Körper ebenso wie das Sakralarsenal der abendländischen Kunsttradition, das Ringen um die Seeln, das Fallen der Menschen, der himmelschreiende Spezialeffekt und der nordfranzösische Boden der Tatsachen mit den beiden Polizeihelden, die aus dem Krimidrama P’tit Quinquin nun in was ganz anderes, Unausdenkliches, stolpern, das sich Dumont diesmal ausgedacht hat. (82cp)

 

616.2. ja nichts ist ok (Fabian Hinrichs/René Pollesch, Volksbühne Berlin)

Fabian Hinrichs kommt durch die vorderste Saaltür und betritt vom Publikum aus durch den Vorhang die Bühne. Es war Deutschrap zu hören. Zu sehen ist ein aufgeschnittener Bungalow, ein Turm aus Riesenkieseln daneben, vorne rechts ist ein kleiner Pool, ein Pülchen, Hinrichs gleich drin. Das Wasser ist ihm Bedürfnis, ich erinner mich an die Tauchtonne in Sardanapal. Es beginnt dann der Text, weit ausgeholt wird, später geht es noch einmal Hunderte Millionen Jahre zurück zu friedlichen Wesen am Grund des friedlichen Meeres, in dem von Mensch, Landtier und Plastik noch niemandem träumt. Dann aber wird es auch gleich rabiat gegenwärtig. Vorgestellt wird eine 4er-WG, wobei Hinrichs nur drei der Bewohner*innen performt, ganz lässig andeutungsweise schmeißt er sich die Claudia als Bademantel über die Schulter, Brille auf, Brille ab, Stefan, Paul, Stefan, Paul. Es werden aus einem Kinderbuch Witze erzählt, kurz blitzt auf dem Fernseher der Krieg in Gaza auf, er bleibt Thema, aber nicht als geopolitische Sache, sondern als etwas, das im Privaten nichts als Unfrieden bringt. Das große Ganze, das kleine Private, die Liebe zum Menschen, der Hass auf sich selbst, Zwist-Performance, dann auch einmal, der Mond geht auf, Nesteln im Bett, das aus dem Schrank geklappt wird, Aufbau einer Mauer aus Paketen in der WG, kurz ist Hinrichs der DHL-Bote, der sie bringt, Kommandos an Alexa und Siri und Bigsby, der Kühlschrank weiß wenig hilfreichen Trost, ich habe die telefonische Sepsis vergessen, die Bühne erinnert sich, dass sie eine Drehbühne ist, Hinrichs nimmt den Koffer und rennt und rennt, rennt davon, aber das kann natürlich nicht klappen. Das Glück: die Shorts, mächtig noch einmal weibliche Deutsch(t)rap-Power dazwischengeworfen, Abgehangeneres, ein Marsch fast ans Ende des Saals, dazu immer Text, der eher Hinrichs- als Pollesch-Text ist, Pollesch strukturverwandt schon, des nicht-narrativ, eher großschwingungsrhythmischen Wiederkehrens wieder, der Witze, der großen Fragen, immer an einer Form von Nonsens entlang, die Sinnerwartungen nicht direkt abweist, aber doch eher an sich langschrammen lässt. Mit Mikro, ohne Mikro, Hinrichs ist einer, der beinahe predigerhaft Stimmungen schaft, im Anklageton, der sich aber nie ganz zum Selbstmitleid auswächst, zur großen Verzweiflung ebensowenig. Es sind Mischverhältnisse, die so entstehen, Atmosphärenauf- und -abschwünge, das Elend ist vollständig und auch gar nicht so groß, den Titelsatz spricht er nie, auch wenn er, in Glück und Unglück, etwas wie der Generalbass der schlichten Dinge ist, von denen Hindrichs hier spricht. Schlicht, aber wahr. Am Schluss eine Mitmenschenhäufung, das Bühnenlicht macht’s wie die Kerze im Witz, aber dann geht es auch wieder an und der Jubel ist groß. (80cp)

 

13.2. Rebel (Adil El-Arbi, Bilall Fallah, Belgien 2022)

taz-dvdesk (70cp)

 

12.2. Fassbinder. Tausende von Spiegeln (Ian Penman, GB 2023/D 2024)

taz-Kritik (65cp)

 

11.2. Hund Wolf Schakal (Romanvorlage Behzad Karim Khani, Inszenierung: Nurkan Erpulat, Maxim Gorki Theater, Premiere)

Romanvertheaterung, viel Text, aus Mündern auf die Bühne geworfen. Sinkt zu Boden, gibt einen Eindruck, ist hier nicht am richtigen Ort, erzählt sich selbst nach. Erpulat sucht nach Möglichkeiten, den Rahmen des Realismus zu verlassen, zumindest zu weiten. Die Körper werden in eigene, tänzerisch-verkrampfte Bewegung gebracht. In Rahmen, die das Bühnenbild setzt, Rahmen, die Rahmen bedeuten, und also Enge, Ausschnitt, Fenster zur Welt. Zwischendurch, im Rahmen, der das Gefängnis darstellen soll, blitzt es, konvulsivisch das Licht und der Körper, rücklings hingestreckt dann fast wie ein abgenommener Christus. Vielleicht etwas dick aufgetragen. Ähnlich wie die verlangsamte Knastschlägerei, von der der reale Sound abgesaugt ist, stattdessen Mahler, Adagio, Tod in Venedig. Nun ja. So kommt sich das alles immerzu ins Gehege. Ein Wille zum Stil, zur Abstraktion durch Rahmung, der Text, der einerseits generisch sein (und überhöht sprachrealistsich) und andererseits neunmalklug alles sentimentalisch durchschaut. Die Darsteller spielen es eher saftig als dürr, tun zu viel des Guten eher als zu wenig, unterlaufen dann doch nicht so recht das Klischee vom Gangster, der in Neukölln sein Mafia-Unwesen treibt. Die Geschichte des Protagonisten, der als treudoof migrantischer Parzival an die Codes glaubt, um die sich die anderen wenig scheren, und dafür büßt, mit Gefängnis und Tod. Komik wird injiziert, eine Komik, die den Machismo keineswegs bricht, die Worte Schwuchtel und Votze sitzen schief im Bühnenbild-Rahmen, die rosa Pullover stehen dazu noch schräg. Nichts passt hier ganz, erst recht nicht zueinander. (52cp)

 

6.2. Die dritte Generation (Rainer Werner Fassbinder, BRD 1979)

Das Europa-Center und die Gedächtniskirche sind draußen, die Kamera zoomt zurück und der Film ist dann, wie die meiste Zeit, drinnen. Etwas läuft meistens, der Fernseher läuft, das Radio läuft, Musik ist zu hören, von Peer Raben, Musik, die von Elektrogeblubber bis Klavierklimpern so ziemlich alles kann, Karl-Heinz Köpcke ist zu hören, er berichtet von IG Metall, Vietnam und der Revolution im Iran. Gleich zu Beginn ist Der Teufel, möglicherweise zu sehen, der Fernseher läuft, mit der Überwachungstechnologie, mit der die Firma von P.J. Lurz ihr Geld verdient. Lurz ist Eddie «Lemmie Caution» Constantine, per Alphaville nickt Godard auch kurz rüber, in Gestalt von Bulle Ogier ist weiteres Nouvelle-Vague-Volk anwesend. Aus dem Büro mit Aussicht geht es in eine Berliner Wohnung mit Türen, Türen und nochmals Türen, zwischen denen die Fassbinder himself geführte Kamera nicht ganz mit Ballhaus-Eleganz, aber doch auch nicht ohne stilistische Ambitionen herumfährt. Die dritte Generation ist ein Türfilm, das nicht zuletzt, aus dessen Nebenzimmer oder Off oder von woher auch immer ständig etwas anderes dringt. Eindringt eher als durchdringt, mit dem Eindringen aber Aufmerksamkeit abzieht von dem nicht anders als theatralisch zu nennenden Terrorismus, der sich in diesen endlosen Zimmern mit ungezählten Türen vollzieht. Gestorben wird auch, Ilse hat Sex mit Günter Kaufmann (als Franz Walsch, also Fassbinders eigenes Pseudonym, später beim Überfall: das absurdeste Blackfacing, das man sich vorstellen kann), sie spritzt sich Heroin, ist out of it, ist nackt, ist dann tot. Die Leichen beginnen sich zu häufen, drinnen und draußen. Kaufmann, der mit dem adeligen Freund durch ein Klingeln an der Wohnungstür in den Film, den Terrorismus, den hier schon versammelten fatalen Fassbinder-Zusammenhang gerät (Harry Baer und Volker Spengler und Udo Kier, dieser erst mit Minipli, am Ende als Miss Monaco mit Schärpe; Hanna Schygulla, Margit Carstensen sind auch dabei). Die Terrorist*innen machen keinen Terror, sondern zitieren, das sagen sie selbst, die Zeichen des Terrors, das ist schon mehr Stille Post in dieser dritten Generation, einzig das politische Unbewusste der Fernsehnachrichten perforiert den Theaterquatsch, Boulevard-Türen-Drama mit Faschingskostümen, als das Fassbinder den deutschen Herbst hier persifliert. Was dabei entsteht, sind eher Verpuffungseffekte, diese Selbst-Aufführung der Fassbinderei als Terrorkomödie dreht sich doch sehr um sich selbst, Film als Anti-Theater, Godard auf Deutsch, auch hier: Stille Post, und sowas dann doch nicht Kommensurables kommt dabei raus. (69cp)

 

4.2. «Einige Herren sagten etwas dazu». Die Autorinnen der Gruppe 47 (Nicole Seifert, D 2024)

Wie war das mit den Frauen und der Gruppe 47? Wie viele waren da, eingeladen, wie sich das gehörte, von Hans Werner Richter, und haben gelesen? Ein paar waren es schon, immer sehr deutlich in der Minderheit zwar, aber es waren da keineswegs nur Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger, an die man sich bis heute erinnert. Gut, auch Gisela Elsner kennt man, es gab sogar eine neue Werkausgabe beim Verbrecher-Verlag, die nur leider aus rechtlichen Gründen eingestellt wurde. Gabriele Wohmann, einst eine Bestsellerautorin, war bei ihrem Tod vor ein paar Jahren schon ziemlich vergessen. Helga M. Novak, Elisabeth Borchers, Barbara König, Ingeborg Drewitz, Barbara Frischmuth und Elisabeth Plessen: schon mal gehört, aber kaum was gelesen, vieles, auch die Gedichte, die in diesem Band (in Auszügen) abgedruckt sind, macht sehr neugierig. Aber Christine Koschel und Griseldis L. Fleming? Das Buch macht Lust auf Lektüren, hat zur Literatur selbst allerdings nicht viel zu sagen, mehr zum Leben, soweit sich das bei den unbekannteren Autorinnen überhaupt noch recherchieren ließ. Und noch mehr zu dem, was die Männer zu sagen hatten (und manche Frauen auch), verlässlich sexistisch, abwertend, auf das Aussehen reduzierend (oder dieses jedenfalls immer thematisierend), mythisierend und so auf andere Weise vom Text weggerückt. Bei Hans Werner Richter langt man sich ja schon lang an den Kopf, hier viel weiterer Anlass. (Das Etablissement der Schmetterlinge, das seinen Erinnerungen an die Gruppe 47 den Titel gab, berichtet von einem Hinterher-Besuch im Bordell, Aichinger und Bachmann entgeistert auf dem Sofa.) Reich-Ranicki ist schlimm, aber gar nicht der Schlimmste im Vergleich mit vom Frauenhass zerrissenen Herren wie Herrmann Hakel oder Jürgen Serke: What-the-fuck?! Zweischneidige Strategie, die Seifert hier fährt, denn zwar stehen die Frauen im Zentrum, kommen auch sehr viel zu Wort, die Männer aber geraten, wenn auch selten zu ihrem Vorteil, eben doch immer wieder ins Bild. Wie ja auch die Fokussierung auf die Gruppe 47 den Kanon noch durch Kritik bestätigen hilft. Aber egal, das Buch ist eher ein Primer, weiterlesen kann man ja selber. (68cp)

 

 

JANUAR

31.1. Acasa (Radu Ciorniciuc, Rumänien 2020)

taz-dvdesk (70cp)

 

30.1. Maison Margiela Artisanal Collection (John Galliano, Film: Baz Luhrmann, 27.1.)

Ein Freddy-Mercury-look-almost-too-much-alike croont, von schwarzen Sängerinnen umchort, von der Liebe. Der Umhang gleitet vom Oberkörper, der rechte Arm stark tätowiert, der linke - ein Stummel, der Gesang wird von Hand wie von Stummel, von Mund und balkigem Schnurrbart ausdrucksstark untermalt. Dann geht es hinaus, in ein sehr schwarz-weißes, sehr nebliges Baz-Luhrmann-Paris, das viel von Brassai hat, aber ein wenig auch von Hitchocks nebligem Londoner The-Lodger-Grusel. Leon Dame rennt, dreht sich, den Mantel mit den Armen vor den Körper gepresst, ein Collier wird entwendet, fällt zu Boden, ein Stiletto-Fuß wird langsam durch Scherben hindurch vor den andern gesetzt, ein Mieder wird geschnürt, und zwar mit Gewalt, Striemen und Wunden am Rücken, gesetzt sind nun Mieder, und auch Korsett, als Motiv; ein weiteres Motiv, kurzer Blick auf einen Rücksitz, sind Puppen. Das kehrt wieder, die Mieder und auch die Models als Puppen, wenn die Show nach dem Vorfilm im kaum merklichen Übergang ins Vor-Ort, an die Unterführung unter der Brücke Alexandre III gelangt, und in die Räume dahinter, eine sorgsam drapierte Kaschemme mit Billardtisch als Höhle mit Catwalk, von Menschen gesäumt, in deren Händen die Smartphones, als wollten sie die Präsenz der Vorübergehenden beschwören, stets leuchten. Dann die Gestalten, draußen in Licht und Nebel oft erst einmal nur Konturen, geschnürt und tailliert, manche straight, manche in sich gekrümmt, in Schmetterlingsform explodiert und erstarrt, full-frontal-Stofftransparenz, die erst knieabwärts Dichte gewinnt, sehr dunkle und sehr helle Gesichter von Pat McGrath zu Porzellan und Alabaster geschminkt, es glänzt und schimmert, als wäre es hart und feucht und zerbrechlich, das Haar als orangenes Nest, und dieses Nest nicht als Haar, sondern als Bedeckung, weil es an Bedeckungen des Kopfs keineswegs fehlt, da sind Kappen und Hüte, diese wie vieles von Toulouse-Lautrec-Gemälden inspiriert, ohnehin alles sehr Halbwelt, wenn auch mit unendlichem Glamour, der surrealen John-Galliano-Fantasie abgewonnen. Leder-Halskrausen zu Porzellan-Schein poliert, neue Fashion-Technologien, Mr. Fancy Pants nennt das «emotional cutting», schwarze Stiefel, die nichts sind als Stulpe, ein Regenschirm, voll dekonstruiert, kurvige Hourglass-Körper von drallen Kleidern umhüllt, blonde Puppenlocken fallen auf einen Plaste-Umhang, wie eine Schlachterschürze, die in raffinierte Formen und Falten gebracht ist und nach einem flämischen Meister ruft, der das malt. Es war, etwas hektisch geschnitten, nur der Livestream dabei, aus der Ankündigung, sich für die Dauer der Show offline zu begeben, wird so, wie sollte es, nichts. Aber Youtube hält es für ein bisschen Ewigkeit fest. (85cp)

 

28.1. Altantis - Die Welt als Wille und Vorstellung (Sebastian Hartmann, Staatsschauspiel Dresden, Premiere)

Auftritt von der Bühne links PC Nackt, der jemand, der oder die unsichtbar ist, zum zweiten Klavier führt, ja geleitet, das später zwar spielt, aber unbesetzt bleibt (oder von der Unsichtbaren besetzt). Dream within a dream, Hartmanns Signaturspruch, wiederholt bis zur Ausleierung, kein gutes Omen: Es wird ein Abend, an dem alles allzu unverkennbar Hartmann sein wird. Auftritt Torsten Ranft, auf der Bühne liegend, der sich, für jedes weitere Wort noch einmal von vorne beginnend, einen Schopenhauer-Satz wie unter Qualen abringt. Es ist dann das wie aus hingekritzeltem Gekringel ins Große geratene Gestänge schon einmal mit Bühnennebel hinuntergefahren, dann wieder hinauf. Hinten furchterregend hoch etwas Weißes, eine etwas gemusterte Wand. Sechs Personen, drei Männer, drei Frauen, die Männer in Schwarz (etwas zwischen Kimono und Bademantel), die Frauen in Weiß (rüschige Tänzerinnenkostüme), eine mit Gold. Es wird zu seltsamem Ausdruckstanz kommen, Figurengekringel klein hinten vor Grund. Und Schreittanz, in Schritten von einer Seite der Bühne zur anderen. Immerzu spielt die Musik, von PC Nackt und dem zweiten Klavier, satt bis spätromantisch, gelegentlich auch mehr Richtung Philipp Glass. Das Sprechen der Figuren, die keine Individuen sind, ist meist Psalmodieren, sich immer wieder fügend zu Gesang, nicht ohne Pathos. Vielleicht wäre alles sehr schön, wären da nicht die viel zu langen Passagen, in denen der Text nicht Schopenhauertext ist, sondern bis ins unfreiwillig Komische aus Reimen Geleimtes, bei dem von der Weltstruktur nichts bleibt als Verzweiflung nur. Auch  gibt es Schwarze Löcher und Leichen, von Kinderpupilln zu schweigen, das alles zu traumschönem Licht, wunderbar auch eine (so allerdings schon aus der digitalen Zauberberg-Inszenierung bekannte) Passage, die eine reale Figur mit einer per Live-Film-Aufzeichnung auf einen transparenten Vor-Hang projizierten Figur interagieren lässt: zärtliche Begegnung mit einem Geist. Auch sind die Baumgärtel-Animationen, Schlieren wie Quallen, Hunderenne drehscheibenförmig, hinreißend, aber dann reißt es mich bald sehr weg: mit recht schlichtem und sehr handgedachtem existenzialistischen Pathos plus Ausdruckstanz plus großen Worten, zu Reimen zusammengehaut. Hartmanns Traumtheater stürzt zusehends ab ins Verschmockte, fügt sich zum philosophisch sehr Schlichten, statt sich, an Schopenhauer-Texten wie zuletzt an Stirner musikalisch zerschellend, selbst ein Rätsel zu bleiben. (55cp)

 

27.1. Der Mann, der den Zügen nachsah (Georges Simenon, F 1938, Hörbuch, Sprecher: Christian Berkel)

Kees Popinga, Prokurist in Groningen, verliert einen Boss (die Firma ist pleite, der Boss legt zur Suizidvortäuschung seine Kleider ans Ufer des Flusses und macht sich, nachdem er das Kees noch erzählt hat, davon); er verlierten damit seinen Job, Frachtschiffverwaltung; er verlässt seine Frau, sucht die Geliebte des Ex-Bosses auf, Pamela, eine Prostituierte, und bringt sie mehr oder weniger versehentlich um, weil er von ihr schallend ausgelacht wird. Er ist dann in Paris unterwegs, eine Berühmtheit als Mörder, denn er hat bei Pamela seine Tasche stehengelassan, die Zeitungen spekulieren über ihn, und seine Psyche, ein Kommissar namens Lucas macht sich nach ihm auf die Jagd. Simenon kriecht am Anfang in diese Kees Popinga hinein und kriecht bis zum Ende nicht mehr hinaus. Man ist so im wachsenden Größenwahn mittendrin, erlebt, wie er die Nacht nur mit Mühe alleine verbringt, wie er eine weitere Prostituierte verletzt, wie er sich über die Bemerkung eines Psychiaters in der Zeitung erregt, dass er wohl ein Paranoiker sei. Mehrere Sprachen spricht er, Kees Popinga, fließend, aber sein Geld lässt er sich wie der letzte Amateur stehlen, von einem Profi. Die Lust des Erzählers ist das Drinsein in der Figur, das Dransein an seinen Wahrnehmungen, die irre sind, aber im Drinsein kaum so erscheinen. Also eine Verfremdung der Welt, mindestens so sehr an dieser anderen, von der Normalmoralität entfernten Wirklichkeit interessiert wie an möglichen Motiven dieser Figur; oder diesen Motiven eben mit der Lust an der Überschreitung der Rahmen auf der Spur. (74cp)

 

23.1. Ludwig II. (Luchino Visconti, I/F/D 1973)

Hier fällt einer nicht, oder nicht nur, sondern zerfällt, man sieht es sehr an den Zähnen. Er steht und er fällt und dazwischen eine Orgie, endlos, an deren Ende einer noch steht, während die anderen liegen. Drauße die Kutsche im Schnee: Ludwig, der König, er fährt davon. Sein Königreich ist perdu, falls es je existierte. Elisabeth, die Frau, die er mehr liebt als sich selbst, in die er das Lieben selbst hineinprojiziert, blockt ihn ab und substituiert sich, um die Unmöglichkeit dieser Ersetzung wissend-nichtwissend (wie so vieles hier im Register des Wissend-nichtwissens bleibt) durch ihre kleine Schwester Sophie: ein einziges Unglück. Später wandelt Romy Schneider, ein Haar-Wunder auch einmal von unten herauf, vom Sisi-Trauma durch diese sehr gründliche revulutio oder restitutio in integrum einer Figur und geheilt, in Schwarz durch Neuschwanstein, fast wie geträumt. Ihrem Anblick hält der König nun nicht mehr stand. Get a grip, will man ihm sagen, aber es die Dinge entgleiten Ludwig umso mehr, je verzweifelter er nach ihnen greift: Wagner, der sich in München umöglich zu machen versteht; Elisabeth, die souveräne Entgleiterin schlechthin; Kainz, der Theaterstar, an dem Ludwig seinen immer parasitären Kunstgenuss sadistisch durchexerziert. Immer tiefer und muster-, ornament- und tapetenfreudiger schalt und entschalt Visconti seinen am Ende so tot wie bleich daliegenden König (und Lover), dem noch die opulentesten Interieurs und Grotten mit Schwänen und Fahrten in Gondelnd und Kutschen den Halt nicht geben konnten, den er ersehnte. (78cp)

 

21.1. Die Hundekot-Attacke (Regie, Konzept: Walter Bart, Theaterhaus Jena)

Am Anfang ein autobiografischer (in Wahrheit: komplett fiktiver) Vortrag, die Tänzerin (recte: Schauspielerin) Linde Dercon berichtet, wie sie zur Tänzerin wurde und dabei auch dem - den ganzen Abend lang so wenig wie Wiebke Hüster beim Namen genannten - Choreografen Marco Goecke begegnete. Denn um ihn soll es gehen, genauer gesagt um seine degoutante Aktion, bei der er die Kritikerin in Hannover mit Kot seines Dackels beschmierte. Nach dem Vortrag aber werden die längste Zeit Emails performt, im Sitzen, in Wahrheit sind die Emails natürlich der Text und das Performen ist selbst das Stück, auch wenn, und das ist Teil des großen Reizes des Abends, das Realpersönliche (etwa der Namen) und die mockumentarische Erfindung autofiktiv ineinandergeschrieben und nicht verlässlich auseinanderklamüserbar sind. Das ist, und bleibt, der doppelte Boden, der immer schon über die Clickbait-Attraktivität des Themas mitreflektiert, bis zu dem Punkt, an dem man sich fragt, ob es nicht sogar vor allem darum geht und sich weniger um die Frage des Verhältnisses der Kunst zur ihrer Kritik dreht. Darum aber geht es schon auch, in der Sympathie für den vom Verriss getroffenen Künstler, und in der Sympathie für die lokalen Kritiker*innen, an die im Rap von Nikita Buldyrski hinreißend hingeliebt wird. Das ist nie ohne Witz, aber selten werden Gedanken an Pointen verschenkt; es reichert sich an mit Fragen zu #metoo und Power und Macht und Männerkünstlergebaren, überführt wird die Email-Sitzlesung am Ende in eine gekonnt und auch wieder unauflösbar zwischen Komik und Ernst schwebende dunkle Tanzchoreografie und ein Action-Painting-Finale mit einer sanft gesetzten Pointe, die den Kreis zu allem Vorangegangenen virtuos schließt. (77cp)

 

19.1. Ich sammle mein Leben zusammen (Manfred Krug, D 2022)

Die Einschaltquoten, die Auflage seines Buches: wichtig, sehr wichtig und eifrig notiert. Die zwei Frauen nach der Zufallsbegegnung: Duldung mit Baby, keine Probleme für Manfred. Der Blick auf die Mitwelt, vom seifigen Hermann Kant bis zum greisen Peter Hacks: scharf und niemals zu freundlich. Außer vielleicht, vor allem postum: Jurek. (Aber die Bücher für Liebling Kreuzberg taugen nicht viel.) Der Tod: nähert sich, das steht fest. Der Mensch als solcher: eine Katastrophe. Die Nachwelt: dennoch im Blick. Dito: die Hintern und Brüste der Frauen. DEFA-Filme: zum größten Teil schrecklich. Kein Sympath, der Mann, der hier schreibt, festhält und urteilt, der die Werbefuzzis verachtet, aber doch mittut, der noch, wo er spendet, nicht auf Hintergedanken verzichtet. Großzügigkeit: nirgends. Der Blick auf sich selbst, der Schlaganfall, der ihn um ein entscheidendes Etwas hinfälliger macht, ist präzise. Kein Mitleid, auch nicht mit sich selbst. Wirkt ehrlich, im Tagebuch allemal eine Tugend. (65cp)

 

17.1. I Love You More (Erblin Nushi, Kosovo/Albanien 2023)

taz-dvdesk (72cp)

 

14.1. Übergewicht, unwichtig: Unform (Stück: Werner Schwab, Regie: Rieke Süßkow, Schauspielhaus Nürnberg)

Es schmatzt. Etwas schmatzt. Das Es, das schmatzt, schmatzt schon beim Betreten des Zuschauerraums. Eine schwarze Wand auf der Bühne, etwas oberhalb ihrer Mitte etwas wie ein grau-silbernes Kissen, wulstig, etwas wie Lippen, etwas wie Mund. Das wird sich auftun und zutun und gibt beim Auftun ein Zwischengeschoss mit den Figuren frei, sie sind, die Figuren, eine Jahrmarktsmaschine, eine Soundsauerei: Es rattert, es bimmelt, mechanisches Rucken, Menschen-Apparate sind das, sie stellen sich vor, mit Namen, sie heißen zum Beispiel Schweindi und Hasi und Fotzi, aber auch Jürgen, sie sind Sprache und Körper, unfreie Sprache aus unfreien Körpern, sie trinken aus Krügen von oben, eine Choreografie, ein Gluckern, ein Schmatzen, sie schlagen einander, sie sinken zu Boden und schnellen wieder nach oben, und wie sehen sie eigentlich aus: Latexgesichter, alle haben eine Art vorgeschnallten Sexpuppenleib, aufgeschnallte Brüste, drangehängte Schwänze, stummelige Beine, Männliches weiblich zu lesen, Weibliches männlich, oder ganz durcheinander, eher alles nur Wülste aus Trieb und aus Lust, einer kriegt keinen Hoch, ekelerregende Orgie eines Runterholens mit Lauch da ist dann auch das schöne Paar involviert, in seinem Wirtsstuben-Oben, andere Leiber, andere Sprache, ein Draufblicken und ein Von-unten-angeblickt-Werden, später wird das Paar, als alles noch einmal ganz genau gleich von vorne beginnt, eingereiht werden. Dann aber gerät alles aus dem Takt, zwischendurch hockte man, alles immer im Mund, der sich auftut und zutut, und gelegentlich auch wieder mit Schmatzen dazu, zwischendurch hockte und lag man, ein einziger Sexpuppenkörperbrei, schmiegend und leckend herum. Und das alles ist einerseits schon eine passende Form für die österreichische Sprachsauerei, für die  Schwabsche Sprachkörperverfremdung, die etwas ziellose Abstraktionsanreicherung, die manchmal ein wenig in Richtung Jelinek geht, manchmal eine Note Pollesch im Abgang (kann man von heute aus sagen), es ist aber die Inszenierung so dermaßen konsequent, so ganz und gar Form und nicht Unform, dass die Second-Hand-hafte Halbherzigkeit und Halbherzlosigkeit des Schwabschen Figuren- und Spracharrangments fast schon stark auffällt. Schwächung durch Stärke, seltsame Ironie ästhetischer Konsequenz. (74cp)

 

13.1. The Top Five Letters of «Liaisons Dangereuses» (Showcase Beat le Mot, Hau 2 Berlin)

«Showcase Beat Le Mot», das war schon immer die Sprachmischmaschübersetzung von «Postdramatik». Le mot wird in der Hierarchie dessen, was auf der Bühne herumturnt, zur Seite gedrängt. Der Showcase erstrahlt, und zwar, wie diese wacklige Übersetzung, ein bisschen strange und ganz sicher nicht: virtuos. So geht das seit Jahren, ein Knipsen der Taschenlampen in Zelten, ein Heranrollen einer Welle, das vor allem ein Heranrollen bleibt, tausend Dinge fallen von oben, es werden Speisen und Getränke gereicht, und noch der Hotzenplotz für die Kinder stellt nicht den Plot, sondern den Quatsch und den Schabernack in die Mitte. Nun hier: Die Bühne ist leer. Von oben plumpst ohne Eleganz etwas herab, das sich dann aber zu einem sehr eleganten, fast magischen, farbigen Tuch entfaltet, das fast den ganzen Bühnenboden bedeckt. Vier Enden, vier Männer, koordiniertes Bewegen, eine Art Verbeugung (vielleicht wie beim Kampfsport) zu Beginn, dann baucht sich durch das Ziehen im Raum dieses Tuch, baucht sich und bauscht sich, als stünde es, wiewohl Materie, doch mehr in Konkurrzenz mit der Luft, als Teil unserer Welt der Schwerkraft zu sein. Mehr als das, das Ziehen und Bauschen, ein Gewinnen der Form aus dem Kaum-mehr-als-nichts, ist da eine ganze Weile erst einmal nicht. Dann aber wird drinnen und drunten, im Tuch drin, gemunkelt. Andere Männer und auch eine Frau sind erschienen und mit dem Erscheinen gleich drunter verschwunden und bewegen sich und machen aus dem immer noch und weiter dem Wogen zuneigenden Tuch eigentümliche Konturen. Eckige Dinge kommen von der Seitentür unter das Tuch. Dann öffnet sich rechts vorne ein Schlund, das Tuch verschlingt ein beachtliches Mischpult und tatsächlich macht das Tuch, oder macht es aus dem Tuch, später Musik, per Keyboard und auch Gesang, noch später, wenn sich die Bühne unter dem Tuch nach dessen Weggang und Wegzug als nicht mehr leer, wenngleich noch recht kahl offenbart, nackt, , ja nackig gemacht, weil nicht mehr vom Stoff zugedeckt, stehen da neben Kantstücken Musikinstrumente: das Mischpult, das Schlagzeug, Drums, Xylophonisches und hinten singt eine singende Säge und schwingt eine Art Theremin. Der Abend wird, showcase beat schon wieder le mot, fast ein Konzert, die Performer, selbst wie zwar nicht nackt, aber doch nicht ganz fertig geboren, nicht ganz zu Ende bekleidet, sitzen und turnen herum und machen Geräusche. Dazwischen, nach dem bauschenden Tuch und vor dem Ausgang in Musikatmosphäre, wurde doch noch etwas aus Worten gebaut, ein Schloss, ja, nicht weniger als ein Schloss, mit Gemächern und Gängen, zu diesem Schloss wurde das magische Tuch, das dabei ziemlich ruhte. An die Wände wurden Formen und Muster geworfen, Muster irgendwas zwischen organisch und auch mechanisch, einer der Performer lud zum Besuch dieses Schlosses, in englischer Sprache wurde aus dem Off per Mikrofon Text gereicht und das beides, das Schloss und der Text mussten als kurzes Hereindringen des im Titel angekündigten Literaturhintergrunds der Liaisons Dangereuses reichen, und unter dem Tuch, also im Schloss, es durften ein paar, aber nicht alle durch zwei Eingänge kriechen, unter dem Tuch, also in der Bar mit der Musik, gab es für die, die, first come, first served, hineinkamen, ein Getränk, nichtalkoholisch, und eine Feder dazu. Warum die Feder, ich weiß es nicht. Mehr war da nicht, außer natürlich: das Druntersein und Drunterdürfen als schönes und handgemachtes Geheimnis. Überhaupt war da nicht mehr als das, was da war, ein Tuch aus Stoff als ziemlich großes petit rien, Theater als Kindergeburtstag für Große, der showcase hat das mot gebeaten, aber sanft und gebaucht und gebauscht, ein Theaterabend als wogendes Etwas, das sich der Bestimmung entzog. (73cp)

 

8.1. Der Junge und der Reiher (Hayao Miyazaki, J 2023)

Ein Reiher und ein Film: Gestaltwandler beide. Wir sind mitten im Krieg, Bomben, Feuer und Tod, das Bild bebt und wankt, dann gelangt der junge Mahito mit dem Vater aufs Land, zur jungen Frau, die schwanger ist, sie steht an der Stelle der getöteten Mutter und alles stabilisiert sich, für den Moment. Dann wird es flüssig, geht in Träume hinab, in ein verwunschenes Turmgebäude hinein und hinunter, in eine Welt der seltsamen Wesen, die sich blähen und schweben, der Pelikane, die fressen und fressen, der Sittiche, die ziemlich faschistoid und blutrünstig sind. Es gibt Wasser und Feuer, ein Zergehen zu Massen, ein Bild, das aus dem anderen quillt wie die Eingeweide aus dem riesigen Fisch. Es gibt ein Tor, oder eine Tür, von der einen Welt in die andere, es gibt den großen, alt und müde gewordenen Weltenerhalter, in dem sich Miyazki nicht zuletzt selbst porträtiert. Die Traumzusammenhänge sind lose, die narrative Fortbewegung ein Purzeln, Fallen, Schweben, Geraten, der aufgenommene Faden geht bald wieder verloren, es schneiden die neuen Einfälle, es schneiden der Krieg und der Tod als bilderwütige Atropos alles Stringente entzwei. Eine ganze Welt kracht ein, das Überleben ein Traum, der Krieg wird nicht aufgehört haben, die Tür in die Zukunft stößt abrupt an ein Schwarzbild. Ein Film, der immerzu Atem holt und wie Paniktriebe Fantasien gebiert, ein Film, der dem Tod und dem Ende Letztes abringen will und groß ist vor allem darin, dass er sich bei aller Zerfahrenheit, in der Form dieser Zerfahrenheit, nicht davon abbringen lässt. (80cp)

 

7.1. Capital B. Wem gehört Berlin? (Florian Opitz, D 2023, 5 Folgen, Arte)

Biografie einer Stadt, als Konstruktion (der Biografie) eines Oben und eines Unten. Oben sitzen, wenn sie nicht thronen, Diepgen und Wowereit, in die Mitte gesetzt. Aber in die Mitte gesetzt sind sie alle, als repräsentierten sie Repräsentation, auch Sookee und Peter Fox und Andrej Holm mit den redenden Händen und die Bar-25-, dann Holzmarkt-Gründer und -Treiber, der Wohn-Aktivist vom Kottbusser Tor wie der Investor und Güner Balci und Thilo Sarrazin auch, er ein ganz besonderes Oben, die Selbstgerechtigkeit in Person, er glaubt bis heute, er habe die Parrhesia gepachtet; unbeträchtlich ist er ja nicht, dieses kleinen Teufels Beitrag zum Ruin der Stadt und zur Zwietracht im Land. Eine Biografie in vertrauten Big Points, Wiedervereinigung mit schrägem Gesang, Abschaltung von DT 64, Mainzer Straße, Love Parade, Tresor, Hauptstadtbeschluss, olympisches Scheitern, Bankenkrach, Investorenrun, Tempelhofer Feld, BER, Deutsche-Wohnen-Enteignen. Der Kommentar in die Montage gesteckt, in Schnitten verborgen, talking head gegen talking head, Berlin figuriert in sonnigen Bildern, das Archiv spuckt Generisches aus, die Bilder kommen zur Bebilderung recht, als Bilder befragt, als Zeugnisse also, werden sie nicht. Die Musik von Von Spar tut das Ihre an Stimmung dazu, die talking-heads-Bilder tun hektisch dynamisch, das Gesamtbild, das dabei sehr gezielt produziert, glaubt an den eigenen Schein von Komplexität. An Wissen wird hier nichts generiert, aufwendiges Recycling von Gewusstem stattdessen, mehr war, scheint es, nicht drin. (55cp)

 

4.1. Ursonate (Kurt Schwitters, Regie: Claudia Bauer, Deutsches Theater Berlin)

Die Ursonate ist angereichert, anfangs gerade, mit Fremdtext, der beinahe Sinn macht, Meta-Sinn sogar, Text über das Verstehen und Nicht-Verstehen von Sprache, Anna Blume kommt vor; das aber ist, muss man schon sagen, Verrat am musikalischen Sprachlautprinzip von Schwitters musikalisch gesetztem Original. Dieses aber, hermeneutisch unverdaulich an sich, ist durch Performance verdaulich gemacht: als gekonntes Gehampel, in Kostüme gepresst, und mit Frisuren bedeckt, zu erratischer Einzel-Bewegung, Gruppen-Gerenne, chorischem Singen der Silben, aus dem Orchestergraben, wo die Musik ihre Teppiche legt, dirigiert. Das hat Schwung. Und es dreht leer. Aber nicht leer, wie die Ursonate an wirklichen semantischen Inhalten leer ist, sondern leer als virtuose Direktübertragung, die das Wortmaterial mit viel Aufwand und wenig innerer Form und Entwicklung in Richtung Rhythmus und Melos rückt, aber gerade die Lücken nicht lässt (vom Abgrund zu schweigen), in denen das Denken, ein Nachdenken über die Zusammenhänge von semantischer Leere, Wortmaterialfülle, Musik zu etwas käme, und sei es zu sich. (41cp)

 

3.1. Kannawoniwasein! (Stefan Westerwelle, D 2023)

taz-dvdesk (74cp)

 

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