2. Oktober 2024
TIFF 2024 19 Filme
An Unfinished Film (Lou Ye)
Ein zehn Jahre alter Computer wird hervorgeholt und eingeschaltet. Allgemeine Anspannung: werden die Videos darauf noch abspielbar sein? Sie sind Teil eines Films, der damals nicht fertiggestellt wurde. Der Regisseur ruft den Hauptdarsteller an, man verabredet, den Film (eine Liebesgeschichte eines Jungen mit einem cross-dressing boy, die Szenen sind aus einem früheren Film von Lou Ye) gemeinsam zu beenden. Einige Zeit später, kurz vor dem Chinesischen Neujahr im Januar 2020, ist die Crew in einem Hotel zu diesem Nachdreh versammelt. Nachrichten von den Vorgängen in Wuhan machen die Runde, innerhalb weniger Tage wird die Pandemie unabweisbar. Das wichtigste chinesische Fest im Jahr wird schon in einem Group Call gefeiert, und danach macht Lou Ye keine großen Anstalten mehr, zu dem fiktionalen Geschehen zurückzukehren. Er bettet die Tatsache, dass dieser Film im Film unvollendet bleiben wird, in die Geschichte des Pandemie-Regimes in der Volksrepublik ein, wie sie aus verschiedenen Handyvideos deutlich wird – besonders eindringlich eine Frau, die nach zwei Monaten, in denen sie die Wohnung nicht verlassen durfte, zum ersten Mal wieder auf die Straße geht. Die Reminiszenen an die eigene Karriere, das Lebenswerk-Pastiche, wird von dem unerwarteten Ereignis übernommen.
Temporary Shelter (Anastasiia Bortuali)
Als 2022 die Menschen aus der Ukraine vor dem Krieg zu flüchten begannen, nahm auch Island einige von ihnen auf. Sie wurden auf einem ehemaligen NATO-Stützpunkt untergebracht. Frauen, Männer, Kinder. Dass so viele Männer dort sind, hat unterschiedliche Gründe (einer ist dreifacher Vater, ist also vom Militärdienst befreit, ab und zu zieht es ihn aber zurück in den Kampf). Fast alle haben Angehörige, die noch in der Ukraine sind. Videotelefonate sind das tägliche Gebet. Mit der isländischen Sprache geht es zäh, mit der Integration in den Arbeitsmarkt fix: viele arbeiten in einer Großbäckerei, oder am Bau, Männer waschen Autos, einer schneidet auch noch Haare (und hat damit vier Jobs). Die Verbindungen nach Hause sind intensiv, tränenreich, voller Schmerz. Die Kinder sind zerrissen zwischen diesen Erfahrungen und einer Natur, die sie ins Kosmische denken lässt. Mit einer Wanderung zu einem Vulkan (der mit dem obligaten Slava Ukraini begrüßt wird) endet dieser intensive, eher lyrische Dokumentarfilm, der sehr schön zeigt, was es heißt, eine Heimat zu haben, auch wenn diese weit weg ist: unsere (ja, auch unsere) Ukraine.
Superboys of Malegaon (Reema Kagti)
Nach dem Vorbild realer Figuren, und aufbauend auf einer Doku aus dem Jaher 2012, ein Crowdpleaser über die Hierarchien der Filmindustrie: In einer muslimisch geprägten Gegend arbeitet Shaik Nasir 1997 in einem video parlour, in dem er mit mashups aus Buster Keaton und Bruce Lee (you need two videorecorders, see) erste Erfolge hat. Den Durchbruch schafft er mit einer Parodie auf Sholay, einen berühmten Film aus der Mumbai-Industrie, die hier immer die relevante Bezugsgröße ist, gesehen aus der Provinz. Nachdem Nasir also so etwas wie eine lokale Filmindustrie geschaffen hat, gehen ihm allerdings die Ideen aus, und auch die Freundesgruppe zerfällt, wegen geschäftlicher Zwistigkeiten und autorenpolitischer (der Schreiber der Gruppe, quasi der Zavattini, versucht sich im Mumbai, kommt aber über Klinkenputzen nicht hinaus). Es braucht eine dramatische Wendung (eine Krebserkrankung des naivsten der Gruppe, Shafique), um alles wieder ins Lot zu bringen, mit einer Superman-Version. Bei diesem letzten Screening sitzt das zuvor lange streng muslimische Malegaon nun schon ohne Geschlechtertrennung im Saal beisammen, und Nasirs Frau (sie hat Jura studiert) bekommt einen Produzentencredit. Von einer melodramatischen ersten Liebe Nairs bleibt nichts übrig – nicht alles muss ein- und aufgelöst werden. Hinreißend.
U are the Universe (Pavlo Ostrikov)
Andriy (Andrucha) Melnyk fährt mit Atommüll durch das Sonnensystem. Zwei Jahre hin (zum Jupitermond Callisto), zwei Jahre leer zurück. Auf einer seiner Fahrten «explodiert» die Erde (ein Bild wie ganz ähnlich zuletzt in dem Film ISS: der blaue Planet bekommt atomare Pusteln). Nun ist Andriy der letzte Mensch, gemeinsam mit seinem Bordcomputer Max. Als er sich schon mit diesem Schicksal abzufinden beginnt, meldet sich eine Stimme: Catherine, französische Meteorologin, hängt über dem Saturn fest und sinkt langsam und unausweichlich in dessen Atmosphäre. Zwei Todgeweihte, deren Nachrichten jeweils drei Stunden zueinander brauchen (was der Film in «normale» Dialoge umrechnet). Ein SF-Film aus der Ukraine, der mit einfachen Tricks und einem einzigen Schauspieler ein Optimum herausholt: eine «kleine» Antwort auf Kubricks große Themen (einmal auch eine schöne Pointe mit dem Zarathustra), Max ist nicht HAL-9000, aber eine Bastler-Version davon. Ty kosmos enthält eine schöne Allegorie, die Ukraine als eine Nation, die mit cleveren Lösungen zu den hegemonialen Kulturmächten aufschließt. Andriy als Robinson Crusoe des Space Age.
El jockey (Luis Ortega)
Remo Manfredini ist ein Jockey in der Krise. Seine Konkurrentin und Geliebte Abril ist von ihm schwanger. Beide gehören, wie auch viele Pferde, zum «Stall» eine Magnaten namens Sirena. Die Emanzipation von Remo hat Aspekte einer Wiedergeburt, einer Parthenogenese aus sich selbst, und eines detournements von Prokreation: Nachdem er sein Pferd unter Einfluss einer Flasche mit hochgeistigem Inhalt in die Gitter gelenkt hat, liegt er als hoffnungsloser Fall und mit Pharaoh-Kopfverband in einem Krankenhaus, aus dem er mit einem Fellmantel entweicht – der entscheidene Schritt auf seinem Weg in eine andere geschlechtliche Identität. Luis Ortega hat etwas von einem argentischen Wes Anderson, nur härter, auch queerer, aber diese absurde Frontalität, eine Inszenierung in Mini-Tableaus und zahlreichen visuellen Pointen hat vergleichbare Aspekte. Großartig auch der Musikeinsatz (die Aufwärmroutine der allesamt lesbisch konnotierten Jockeyinnen in der Kabine). Remo endet als Dolores und als Baby aus seinem eigenen Samen, wenn man in diese großartig verquere Geschichte eine «Entwicklung» hineinlesen möchte.
Mother Mother (K’naan Warsame)
Eine Mutter namens Qalifo lebt mit ihrem fast erwachsenen Sohn und ihren Kamelen in einem einsamen Haus im ländlichen Somalia. Zu Beginn geht es vor allem darum, dass Asad aus Versehen ein Kalb von seinem Muttertier getrennt hat, das nun keine Milch gibt (drastische Behandlung ist das Zunähen des Anus). Asad spart für ein Lokal, das er eröffnen möchte, es gibt also anscheinend eine größere Siedlung in der Nähe, die aber nur einmal kurz bei einem Markttag zu sehen ist. Er möchte auch Ifrah eine Perspektive bieten, einem Mädchen, von dem sich dann aber herausstellt, dass sie auch mit einem jungen Mann in Kontakt ist, der aus Amerika zu Besuch ist. Bei einer Aussprache mit Ifrah kommt es zu einem Streit, Lifan tötet Asad (in einer Szene, die nicht gezeigt wird, und deren nähere Umstände erst allmählich deutlicher werden). Ein Clan-Gericht bietet Qalifo verschieden Möglichkeiten der Sühne, sie entscheidet sich für eine vierte, ungewöhnliche: der Mörder soll als ihr Ersatz-Sohn bei ihr wohnen. Die Geschichte bekommt eine weitere Ebene, als dessen Mutter auf Social Media ihre Sicht auf die Sache verbreitet – auch das wird wieder indirekt klar, der Film bleibt immer bei der Mutter. Nobel-Arthaus mit prächtigen Bildern, im Hintergrund sind die Konflikte in Somalia präsent, der Film favorisiert aber die Lösungskompetenz der lokalen Institutionen (Versammlung unter einem Baum) und die Weisheit einer starken Frau.
Nightbitch (Marielle Heller)
Eine Mutter (sie bleibt namenlos und wird auch im Abspann nur mit diesem Allgemeinbegriff geführt) ist während der Woche immer mit dem Sohn allein – eine home alone mother, die anfangs nur einige komische Details dieser herausfordernden Situation hervorhebt, bald aber häufen sich Andeutungen einer somatischen Reaktion, die in Richtung Body Horror gehen (ihr Tierwerden zielt vor allem auf Hunde, die auch so etwas wie Schutzgeister für sie werden). Amy Adams wirft sich voll hinein in den postnatalen Frauenkörper (I will never be thin again), Scott McNairy ist perfekt gewählt als Vater, der nicht so recht weiß, was geschieht, der aber die gelegentlichen sexuellen Intensivierungen gern mitnimmt. Regisseurin belässt es mit der Animalisierung (die auch eine Vergöttlichung ist: die Mutter als ancient god) bei gelegentlichen Exkursen, setzt daneben aber auch auf eine klassische Verarbeitung (die Künstlerin, die für ihre Mutterrolle ihre Kreativität vergessen hat, hebt schließlich alles in eine große Installation auf) und auf Aspekte eines Tutorials oder Pep Talks (Amy Adams mit ihrem Selbstgespräch aus dem Off).
Front Row (Merzak Allouche)
Zwei Familien aus demselben Block konkurrieren an einem dicht bevölkerten Strand in Algier um konkreten wie um symbolischen Platz. In meiner frühen Zeit als Filmkritiker war Bab el Oued City von Merzak Allouache eine erste Begegnung mit postkolonialem nordafrikanischem Kino, nun ist Front Row auch eine Art Fortsetzung dazu, eine leichte Typen-Komödie zu Beginn, die von Candy Crush-Musik angetrieben wird, und die Gelegenheit gibt, ein Spektrum der algerischen Mittelklasse vorzustellen mit ihren Eifersüchteleien und Geheimnissen. Vergleichbar wäre der großartige italienische Domenica d‘Agosto. Nicht alle Frauen baden, die bald zu verheiratende Tochter der ersten Familie ist vor allem mit Kochen beschäftigt (so ein Tag am Strand ist eine echte Expedition, man hat alles dabei), einer der Strandwärter hat Hoffnungen auf sie. Dramaturgisch läuft alles darauf hinaus, die Elterngeneration lächerlich zu machen (sie müssen auch schließlich alle auf die Polizeiwache), während die Kinder und Jugendlichen unbeschwert sein dürfen oder schon ihre kleinen Dramen erleben. Unbewacht schwimmen Rayan und Souhila schließlich hinaus, sie nimmt ihr Kopftuch ab, er sieht sie zum ersten Mal so, den Kuss kriegen wir nur mit, weil die noch kleineren Kinder vom Ufer aus beobachten und reagieren. Souhila wird das Land verlassen (zum Studium nach Frankfurt), das ist die entscheidende Pointe: Algerien bietet keine Perspektive, aber wenigstens alltägliche Reibereien.
Men of War (Jen Gathien, Billy Corben)
Der Kronzeuge in diesem Stück grotesk schiefgelaufenen amerikanischen Weltpolizistentums redet sich um Kopf und Kragen, und versucht doch in erster Linie, sich herauszureden: Jordan Goodreau, zuvor mit den US-Streitkräften in Afghanistan und im Irak, danach auf Thrill-Entzug, versuchte 2020 eine Kommandoaktion zum Sturz des Maduro-Regimes in Venezuela. Die Sache endete peinlich, und die Administration Trump, von der Goodreau sich irgendwie beauftragt gefühlt hatte, wies jeden Zusammenhang von sich. Die Doku rollt in der wie üblich extrem schnell geschnittenen Mischung aus Interviews, Bildmaterial und anderen Realien die Sache noch einmal auf, hat dafür ein gutes assortment von Auskunftspersonen gefunden (den meisten ist die Eitelkeit als Motiv deutlich anzusehen), und gibt einen plausiblen Überblick. Interessant, dass der damalige Schattenpräsident Juan Gaiduo, über den es im New Yorker einmal ein großes Porträt gab, in dem er durchaus als Hoffnungsträger gezeichnet wurde, hier sehr direkt mit Korruption und Unterschlagung in sehr großem Stil in Verbindung gebracht wird. In der US-Außenpolitik sitzen die 100 Millionen Tranchen immer noch sehr locker, wie es scheint.
Relay (David Mackenzie)
Riz Ahmed mochte ich sehr in der Serie The Night of. Hier ist er fast noch besser besetzt in der Rolle eines höchst diskreten Dienstleisters, der zwischen einsamen Individuen und mächtigen Strukturen vermittelt. Einsam werden diese Individuen, wenn sie etwas wissen, das sie für Whistleblowing verwenden könnten, sich aber nicht zutrauen, das durchzuziehen. Sie wollen nur eines: Sicherheit. James (so der bland name des Anbieters) kommuniziert immer über einen Service, mit dem taubstumme Menschen telefonieren können: sie geben ihre Nachrichten schriftlich ein, und lassen sie vorlesen. Dieser Relay Service gibt dem Film den Titel. Eine junge Frau namens Sarah hat bei einem Pharmakonzern etwas mitbekommen, was einen großen Merger verhindern könnte. James übernimmt ihren Auftrag, agiert als intermediary, es geht stark um anonyme Kommunikation, die letzten Lücken, die es dafür noch gibt: Postfächer, Nachsendeaufträge, burner phones. Eine schöne Sequenz auf einem Flughafen lässt das Team, das hinter James und Sarah her ist, blöd aussehen. Man rechnet aber auch von Beginn an damit, dass sie ein Lockvogel sein könnte. Die Schwäche, die James für sie entwickelt, hat vielleicht auch mit seinem Status als junger Muslim in New York post 9/11 zu tun, wie auch seine Untergrundexistenz insgesamt. Eine Weile wird das alles elegant entwickelt, zum Ende hin dann aber auch recht grobschlächtig aus- und abgewickelt. Zum Genre gehören vor allem die Überwachungs- und Verfolgungsnummern im öffentlichen Raum (Times Square), das Entschlüpfen in letzter Sekunde und ohne eine Spur im CCTV zu hinterlassen. Das macht Relay alles ganz gut, muss dann aber schließlich doch viele ungedeckte Trümpfe ziehen.
Heretic (Scott Beck, Bryan Woods)
Zwei junge Mormoninnen klingeln bei einem Mr. Reed (Read!), um ihn mit ihrem Glauben bekannt zu machen. Sie treffen auf Hugh Grant in seiner vielleicht größten Rolle: ein sinistrer Besserwisser, der die Religionen als iterations herunterbetet, mit verschiedenen Monopoly-Editionen parallel schaltet (großartige Szene), und die beiden Frauen zunehmend nervös macht. Denn sie merken, dass sie nicht ohne weiteres wieder ins Freie kommen können. Im Gegenteil müssen sie immer weiter in ein scholastisches und architektonisches Spukschloss, in dem es schließlich auf eine Wahl zwischen zwei Türen ankommt: auf der einen steht belief, auf der anderen disbelief (versteht sich, dass es eine Scheinalternative ist). Im Inneren dieses extrem smart konzipierten und geschriebenen Schockers ist nicht mit Erkenntnis zu rechnen, sondern mit purer Gewalt – zugleich weiß man aus dem ersten Dialog der beiden Frauen, noch bevor sie zu ihrem Bekehrungsversuch aufbrechen, dass sie sehr wohl in der Lage sind, Zeichen zu lesen und Schlüsse zu ziehen. Lange Zeit balanciert Heretic perfekt auf einer Komik der uneasy laughs, dann geht es in einem konzentrierten Finale zur Sache. Ganz lässt sich der religionskritische Vabanque-Akt dann doch nicht ohne geläufige Horror-Tropen durchhalten (Auferstehung, wie sie Mr. Reed auch inszeniert, ist vielleicht die geläufigste bei Figuren, die man schon ausgeschieden wähnte). Aber Heretic macht A24s Image als Hort innovativer Formelkinobearbeitungen alle Ehre.
Mistress Dispeller (Elizabeth Lo)
Ein älteres Ehepaar in der Volksrepublik China sitzt beim Essen. Der Mann muss noch einmal weg. Die Frau ist argwöhnisch. Sie hat Grund dazu. Ihr Mann trifft sich nämlich mit einer anderen, jüngeren Frau, die er in beruflichen Zusammenhängen kennengelernt hat, eine Lieferfahrerin in einer benachbarten Stadt. Statt einer Aussprache oder gar einer Szene wird eine Expertin beauftragt: eine Frau, die gegen Honorar Affären beendet. Unter gerade noch so halbwegs plausiblen Vorwänden sorgt sie zuerst dafür, dass sie den Mann kennenlernt, dann sogar die Geliebte. Und tatsächlich gelingt es ihr, das Verhältnis zu unterbinden, wiederum ohne großes Drama, einfach durch unbemerktes Einwirken und subtile Manipulation. Die Geliebte bleibt in ihrer Einsamkeit zurück, der deutlich ältere Mann, keineswegs ein Adonis, fügt sich wieder in das gewohnte Leben. Elizabeth Lo verbindet Strategien des Reality TV mit solchen des nüchtern beobachtenden Dokumentarfilms und des Enactments ohne Re: die meisten Szenen sind auch ohne die Kamera schon „gestellt“, der Grad der Eingeweihtheit der Figuren ist nicht wirklich klar, aber es scheint so, als hätten sie ihre „Rollen“ konsequent so (weiter)gespielt, wie es das Leben für sie ergab. Interessant auch in vielen Kleinigkeiten, die vom Leben der neuen Mittelklasse in China erzählen.
Sudan Remember Us (Hind Meddeb)
Von der Revolution im Sudan, einem der wichtigsten politische Ereignisse der letzten Jahre, gab es bisher keinen zusammenfassenden Film. Hind Meddeb hat nun zu einem Zeitpunkt einen vorgelegt, da alles schon vorbei und in Verzweiflung gestürzt ist. 2019 wird der islamistische Diktator Umar al-Bashir gestürzt. Danach gibt es drei Machtpole: die Armee, eine Miliz, und das Volk. Das Volk als revolutionäres Subjekt ist in Sudan, remember us in seiner ganzen Vielfalt und Performativität zu sehen. Frauen spielen eine wichtige Rolle, und zwar eine konsequent schwarz gekleidete mit Kopftuch (Shajane Suliman ist in Saudi-Arabien aufgewachsen) genauso wie andere, die sich lockerer anziehen. Wandzeitungen, Murals, Poesie, Rap sind Ausdrucksformen der Revolution. Schon 2019 gibt es den ersten Rückschlag bei einem Massaker gegen die revolutionäre Versammlung, das „sit-in“ vor dem Armeehauptquartier. Die Forderung ist allgemein, aber konkret: ein «citizen’s state», der sich auch von dem Einfluss der Nachbarstaaten emanzipieren soll. 2021 putscht das Militär gegen das Volk. Nun sind auf den Mauern schon zahlreiche Märtyrer zu sehen. In einem Untergrund-Cafe formiert sich eine Frauengruppe. Hind Meddeb war nicht immer im Sudan in diesen Jahren, sie hat mit ihren Korrespondentinnen zusammengearbeitet, zwei Frauen und zwei Männer werden im engeren Sinn zu Protagonistinnen. Alle sind inzwischen im Exil. Im Sudan haben militarisierte Männer eine Herrschaft des Krieges und der Gewalt (und der Extraktion) errichtet. Die Zeugnisse in Hind Meddebs Film können im Gedächtnis halten, wie eine der inspirierendsten Bewegungen für Volksherrschaft ever für einen Moment aussah.
Russians at War (Anastasia Trofimova)
Ungefähr zwei Jahre hat Anastasia Trofimova mit einfachen Soldaten der Russischen Föderation in der Ukraine verbracht. Sie war offensichtlich sehr nahe dran an, zuerst in Krasny Liman, später in Bachmut, wo sie dann schon in Sichtweite der Front kam. Als Ausgangspunkt nennt sie eine Begegung mit Ilya, einem Ukrainer aus dem Donbass, der sich auf die Seite Russlands geschlagen hat und mit Frau und zwei Kindern in Moskau lebt. Ihm folgt sie in den Krieg, dort lernt sie andere Soldaten kennen, auch Sanitäter, und sie findet ihre Rolle: keine Kriegspropagandistin per se, also nicht in diesem Sinn embedded, aber doch auf eine Weise eingebunden. De facto definiert sich ihre Rolle je nach Situation. Sie hört den Männern (und einigen Frauen) zu, stellt auch immer wieder Fragen: Worum geht es in dem Krieg? Warum kämpfen die Leute? Geld ist ein entscheidender Faktor, einer spricht aber auch von nazism (russisches Wort), diese Begründung, die der Propaganda entspricht, bleibt aber eine Ausnahme. Mehrfach wird geäußert, dass im Fernsehen nur Unsinn zu sehen ist. Ilya verwendet zu Beginn einmal den Propagandabegriff von einem «Bürgerkrieg» in der Ukraine, so hat er das wohl auch erlebt und interpretiert, was seit 2014 im Osten des Landes geschehen ist. Interessant die Figur von Anchar, einer jungen Frau mit asiatischer Erscheinung. Sie erzählt davon, dass sowjetische Filme für sie eine Richtschnur sind, sie verweisen auf eine Welt «ohne Zynismus». Sie ist am Ende schwanger, von einem jungen Soldaten. Der Krieg hat einen «strange pull», sagt Ilya schließlich, nachdem er nach Moskau zurückgekehrt ist – mehrfach wird erwähnt, dass nach Ablauf der Verträge, die fast alle unterschrieben haben, eine Rückkehr nach Hause nicht vorgesehen ist, Geld gibt es dann aber auch nicht, die Leute sitzen an der Front fest. Die Regisseurin stellt die Fragen, die der Hausverstand gebietet. Nur an einer Stelle weicht sie ein wenig zurück: «the real reasons of the war are still unclear to me». Dieser Satz hört sich an wie ein Kompromiss, eine Konzession an ihren Heimatbezug.
In Toronto wurde gegen den Film (und die Tatsache, dass das Festival ihm gezeigt hat) demonstriert («shame on TIFF»). Ich verstehe absolut, dass Menschen aus der Ukraine ihn empörend finden. Nur aus der noch relativ luxuriösen Sicherheit Deutschlands heraus würde ich argumentieren, dass Russians at War mit seinem Interesse für die Opfer des Krieges auf russischer Seite (zugänglich ist ja in diesem Fall immer nur eine Seite) im Grunde auf der Seite der Ukraine steht. Denn insgesamt wird mehr als deutlich, dass das ein sinnloser Krieg ist, von dem nur eine schmale Elite in Russland etwas zu haben meint. Letztlich nur Putin selbst, der sich dafür einen ganzen Staat gefügig gemacht hat. Intercepted von Oksana Karpovych geht im Vergleich weiter, weil er auch zeigt, wie sehr im Krieg (und durch die Propaganda) eine Enthemmung stattfindet, die sich in unsagbarer Grausamkeit äußert. Bei Trofimova hingegen spielt Feindkontakt kaum eine Rolle. Am Ende sieht man Drohnenaufnahmen von einem russischen Soldaten auf der Erde im Visier eines ukrainischen Angreifers aus der Luft, der keinen Pardon zeigt. Das ist natürlich auch ein propagandisierbares Bild. Obwohl es in erster Linie Russland ist, das die Ukraine terrorisiert, ist das ein Moment, in dem ein Russe Opfer eines «Luftangriffs» wird. Auch das würde ich als polemische Montage von Seiten Trofimovas lesen, zugleich ist es aber auf der Linie ihres Arguments: dieser Krieg schafft nur Opfer auf beiden Seiten.
Young Werther (José Avelino Gilles Corbet Lourenço)
Goethes Bestseller aus dem 18. Jahrhundert, als Young Adult oder TikTokLit drei Viertel ernst, ein Viertel auf die Schippe genommen für das frühe 21. Jahrhundert: Wörther oder Wörder (so wird er auf Englisch ausgesprochen) lernt Charlotte kennen und ist sofort unsterblich in sie verliebt. Sie ist verlobt mit dem Anwalt Albert, der dauernd arbeitet, in diese Lücke stößt Werther in Ansätzen (zweimal making out, ein pikanter Moment in einer Anprobekabine, einmal «beinahe Sex»), mit seiner Passion ist er eben doch eine Belebung. Inhaltlich viele Übereinstimmungen mit Goethe, nur eben in einer deutlich affluenten heutigen Welt, in der Werther, meist mit Sakko und roter Krawatte sowie Turnschuhen, den Schriftsteller gibt, der er am Ende tatsächlich wird: Die Leiden des jungen Walter, sein Memoir. Selbstmord wird in einen Fauxpas beim Jagen umgedeutet, er überlebt mit einer Schramme, und geht als Konsequenz nach Berlin (!), wo Wilhelmine ihn mit einer Hymne begrüßt: Ich gehör wieder mir.
Crocodile Tears (Tumpal Tampubolon)
Johan lebt mit seiner Mutter in einer engen Symbiose in einer ländlichen Gegend Indonesiens. Sie betreiben gemeinsam einen Krokodilpark. Die Mutter agiert nachts etwas aus, eine traumatische Nähe zu einem „weißen“ Krokodil spielt eine Rolle, das gesondert gehaltene Tier wird mit dem abwesenden (toten) Vater von Johan assoziiert. Als er Arumi kennenlernt, gerät er in einen Konflikt zwischen der Loyalität zur Mutter und den Hoffnungen auf ein eigenständiges Leben. Sie ist ein Karaoke Girl, wird schwanger, lebt bald mit Johan auf dem Hof, die Mutter obstruiert die neue Gemeinschaft. Erzählt wird zwischen Psychodrama und Schauermärchen, mit einer starken Schlusspointe.
Shook (Amar Wala)
Mein sentimentaler Lieblingsfilm beim TIFF in diesem Jahr, auch deswegen, weil mich mit dem Vorort Scarborough, der hier eine wichtige Rolle spielt, etwas sehr Persönliches verbindet. Hauptfigur ist ein «brown guy», der in einem Cafe in Downtown (der commute über die Kennedy Station und die Bloor Line wird genau durchbuchstabiert, der Nachtbus, den man beim Versäumen der letzten Bahn nehmen muss, hat seine eigene schreckliche Folklore) ein «hipster chick» (weiß und aus Montreal) kennenlernt. Das meeting cute spielt virtuos mit den Vorannahmen, die einer beiläufigen Kommunikation wie dem Bestellen eines Americano in einem Cafe innewohnen: Der sehr gutaussehende Kunde soll seinen Namen sagen, er ist befangen und sagt Alex, sie weiß, dass das nicht stimmt und zieht ihn auf, er nennt seinen richtigen Namen, allerdings abgekürzt: Ash (für Ashish, was später noch einmal einen Gag ergeben wird). Sie schreibt aber nicht seinen Namen auf den Kaffebecher, sondern ihre Nummer. Was sich entwickelt, wird zu einem «good thing», allerdings auf Zeit, denn Claire wird nach Montreal zurückgehen. In die Geschichte dieser kleinen Romanze webt Amar Wala viele Aspekte von Differenz in einer so stark globalisierten Gesellschaft wie der von Toronto. Der charismatische Hauptdarsteller Saamer Usmani hält mit seiner lakonischen Präsenz alles zusammen.
Carnival Is Over (Fernando Coimbra)
Ein Haus in den Hügeln über Rio de Janeiro mit spektakulärem Blick auf die Copacabana steht im Mittelpunkt. Valerio und Regina, vor einem Jahr aus Miami zurückgekehrt, lassen es gerade renovieren. Der Reichtum hat eine problematische Herkunft: Valerio sollte eigentlich nicht in dem mafiosen Geschäft mit Spielautomaten und illegalen Lotterien mitarbeiten, so hatte das sein Vater festgesetzt, doch nach dessen Tod übernimmt Valerio doch die Rolle eines Paten, und muss sich nun mit den üblichen Dingen herumschlagen. Godfather auf Brasilianisch erweist sich zunehmend als eine eiskalte Satire oder Groteske, schon die erste Szene, in der ein Gewaltakt sich als Rollenspiel zur Steigerung der sexuellen Intensität erweist, deutet in diese Richtung. Vieles an diesem Film sagt von sich: ich bin eigentlich ein Comic, die Farben, die pittoresken Schauplätze (an einer anscheinend aufgelassenen Werft, mit einem rostenden fast fertigen Riesenschiff im Hintergrund, eine der mythisch aufgeladensten Szenen), das Spiel der anderen Paten. Mit unerbittlicher Logik zieht Fernando Coimbra das alles bis zum Finale durch. Das Haus ist danach erneut sehr renovierungsbedürftig.
From Ground Zero
Ein Kollektivfilm aus Gaza, gedreht mit einfachsten Mittel unter den Bedingungen des Kriegs. Eine Flaschenpost, wie eine der Filmemacherinnen ihren Beitrag deklariert. Frauen sind stark vertreten, vielleicht sogar fiftyfifty oder mehr, ich habe nicht nachgezählt. Viele Beiträge heben einfach einen Aspekt der Katastrophe hervor, zum Beispiel Recycling, in dem zu sehen ist, wofür man das Wasser, das man von eine Lastwagen mit Kanister an den Platz trägt, an dem man Zuflucht gefunden hat, alles machen kann. Immer wieder Geschichten von Trümmern und Menschen, die darin starben oder daraus lebendig befreit werden konnten (einer wurde innerhalb von 24 Stunden dreimal getroffen, das ist seine Story). Ein Esel zieht einen Wagen durch die Gegend, das könnte ein größerer Dokumentarfilm werden, aber nicht jetzt, stattdessen stellt die Regisseurin sich selbst vor die Kamera. Eine junge Frau mit Kopftuch stemmt sich gegen die Verzweiflung und sucht Leute in Gaza, die (noch) singen, sie findet eine Gruppe, die dann tatsächlich ein optimistisches Lied spielt, und redet danach noch ein wenig mit der Sängerin. Man sieht viel von der Zerstörung, von den Quartieren, alles bleibt konkret, politische Einordung spielt keine Rolle. Israel wird nie erwähnt. Für mich stärkster Beitrag der von Neda’a Abu Hasna über die Künstlerin Ranin al Zerie, die ihr zerstörtes Atelier aufsucht, dort Skulpturen findet und erläuert (eine stellt eine allegorische Friedenstaube dar) – plötzlich wird eine Fotografie dazwischengeschnitten von einer Vernissage einer Uni-Ausstellung vor dem Tag des Hamas-Angriffs, aus einer anderen Zeit. Dieser Kontrast war enorm. Am Ende wischt Ranin al Zerie den Staub von einem ihrer Bilder: es gibt noch Hoffnung, Ranin, hatte jemand mit Fingern darauf geschrieben, sie wischt die Schrift weg, legt aber ihr Bild frei, eine ambivalente Geste, die perfekt den «unmöglichen» Gegenwartsmoment trifft, den dieser Anthologie-Film einzufangen versucht.