ausstellung

10. März 2014

Kein Denkabstand Zur Ausstellung Echte Gefühle: Denken im Film

Von Marie-Luise Angerer und Michaela Ott

Nun haben auch die Berliner Kunstwerke – nach den Kultur- und Medienwissenschaften – die Gefühle entdeckt. Man höre und staune: Als etwas, das Filme hervorbringt und für Spielfilme konstitutiv ist. Als gäbe es nicht seit Beginn der Filmgeschichte Melodramen, als hätte nicht der Spielfilm als Melodram eingesetzt, das sich um vorzugsweise weibliche Gefühlsdarbietungen drehte, ja aus diesen erwuchs. Im Sinne der Rahmung von schwarz geschminkten Augen, sprachlosen Mündern und empfindungsreichen Darbietungen erfand es Nahaufnahmen und Schnittfolgen und eine spezifisch musikalisch-rhythmische Dramaturgie.

Aber um historische und kulturalisierte Gefühle geht es in der Ausstellung der Kunstwerke nicht. Sie sprechen von «echten» Gefühlen. Diese sollen, weil authentisch, wohl überzeitlich gültig sein. Von daher begegnen an den verschiedenen Säulen des großen Ausstellungsraumes schriftliche Erläuterungen zu klar definierten und auflistbaren Gefühlen, von etwa einem Dutzend, wie sie bereits von Aristoteles vor mehr als 2000 Jahren klassifiziert worden sind: Liebe, Hass, Verachtung, Einsamkeit, Langeweile und anderen mehr. Aristoteles erstellte eine Liste, die über die Jahrhunderte fortgeschrieben wurde, mehr oder weniger unverändert, gleichsam als anthropologischer Grundbaustein. Erst im 20. Jahrhundert kam die Scham dazu, prominent eingeführt unter anderem von dem US-amerikanischen Psychologen Silvan Tomkins, der die Darwinsche Überzeugung aufgriff, wonach allein Scham und das korrespondierende Erröten menschlich seien.

Die Kunstwerke entnehmen die Definition der «echten» Gefühle nicht Aristoteles, sondern Meyers Lexikon, wo die ausgeklügelte und in den letzten Jahrzehnten erneut heftig diskutierte Begriffsgeschichte des Affektiven unbekannt scheint. Denn die Verhandlung des Affektiven beschränkt sich in der Gegenwart nicht auf die Rubrizierung von geläufigen Emotionen, sondern erörtert Affekte und Affektionen als kulturgeschichtlich je anders verstandene, anders bewertete und in unterschiedlichen Wirklichkeitsfeldern anders verortete Ausdrucksgrößen. Die Ästhetik gesteht dem Affektiven vor allem zu, unbekannte und kunsteigene Artikulationen hervorbringen zu können, die sich gerade nicht auf das menschliche Maß, auf die Emotionen der FilmemacherInnen oder des Publikums beschränken. Und die sich kulturbedingt ändern: Schrecken und Jammer, wie sie von der antiken griechischen Tragödie katarthisch abgeführt werden sollten, weichen ja von den Arten des Mitempfindens im bürgerlichen Trauerspiel und vom Erschrecken angesichts zeitgenössischer Horrorfilme ab. Das Pathische der aristotelischen Anfänge bezog sich auf Wahrnehmung und hatte als passiver Zug noch nichts von der christlichen Passiologie an sich.

Dass sich die Kunstwerke «unbewusst» auf Aristoteles rückbeziehen, hat freilich eine gewisse Plausibilität: Insofern sie die echten Gefühle nämlich vorzugsweise im Hollywoodfilm ausfindig machen, bildet dieser tatsächlich von diesen zur aristotelischen Poetik den Link. Denn auf die antike Poetik beruft sich die Hollywooddramaturgie ja bis heute, im Hinblick auf die empfohlenen emotionalen Peripetien konstruiert sie ihre Narration. Sie schreibt die lexikalisierten Gefühlsstereotypen ausdrücklich fort, auf dass sich ZuschauerInnen im Liebesgefühl wiedererkennen, auf dass bestimmte Subjektivitätsmuster in Umlauf und gesellschaftskonstituierend weltweit in Einsatz kommen. Dass diese Gefühlsbilder wirksam sind, ist nicht zu bestreiten. Nur sind sie nicht wie platonische Essenzen vor- bzw. dem Menschen qua Geburt mitgegeben, sondern werden ihm im Hinblick auf sein gesellschaftliches Durchkommen vermittelt und antrainiert. Ihre Neuaushandlung ist im Sinne einer kritischen Zeitgenossenschaft das tägliche Brot der Kultur; ihre klischeehafte Reproduktion wäre gerade nicht Zweck von Kunst und Film.

Die Kunstwerke aber behaupten noch mehr: dass die Gefühle nicht nur einen Beitrag leisten zur Abbildung von Wirklichkeit, sondern zu deren Erzeugung! Dass daher Denken im Spiel sei! Zum Denken gehört aber, auch nach landläufiger Überzeugung, ein Moment des Ungewissen, das erst denkend zu erschließen ist. Die Kunstwerke aber suchen diesen Prozess des Erforschens und Überprüfens, wie er die Suchbewegung einer Ausstellung abgeben sollte, nicht. Denn sie ordnen den definierten Gefühlen Filmausschnitte zu, die diese bloß bebildern: Filmclips von wenigen Minuten Länge, die etwa Liebe, Verachtung, Einsamkeit, Hass oder Langeweile bildlich konkretisieren. Das eine Klischee doppelt das nächste: Kein Denkabstand tut sich hier auf. Kein Intervall zwischen Filmbild und Emotionsdefinition soll hier von den AusstellungsbesucherInnen befragt oder in seiner medialen Abweichung offen gehalten werden. Man stelle sich vor, wie LehrerInnen nach eben diesem Vorbild nun Unterrichtseinheiten entwerfen: Verachtung ist wie die Szene aus Pasolinis Salò.

Erst ab der dritten Etage beginnt die Ausstellung über Kunstfilme zu sprechen und darüber, dass es künstlerischen Praktiken unter Umständen gelingt, gegen Gefühlsstereotypen anzugehen. Hier werden z.B. Verfahren der Schwärzung des Films gezeigt: So legt Mark Wallinger in Zefirellis Melodram Jesus von Nazareth ein schwarzes Quadrat über das Filmbild, wodurch dieses zu mehr als zwei Drittel bedeckt wird. Die ZuschauerInnen müssen an den verbleibenden Rändern der Via Dolorosa (2002) entlang rätseln, welch schmerzliche Wirklichkeit ihnen hier geboten bzw. vorenthalten wird. Auch Peter Röhrs Experimentalfilme wie etwa Abfluss 11x bieten Anlass zu heiteren und wilden Assoziationen, die auf ihre affektive Qualität hin befragt werden könnten. Hier wäre anzufangen, hier könnte unter Umständen ein «Denken im Film» entstehen...

Echte Gefühle: Denken im Film | KW Berlin, 23.02. – 27.04.2014