spielfilm

La Lisière

Von Simon Rothöhler

© RealFiction

 

Ein Film, dessen Titel eine Ortsangabe enthält: La Lisière, der Waldrand. Das ist hier als Demarkationslinie gedacht, Hoheitsgebiete treffen aufeinander: die Welt der Jugendlichen und die der Erwachsenen, Nachtwelt versus Tagwelt; was ist noch Innen, was gehört schon zum Außen? Der Film handelt dann aber davon, wie sich die Sphären vermischen, wechselseitig unterwandern, wie sich die adoleszenten Spiele in denen der Eltern fortsetzen. Es geht um Rituale der Initiation, die übergriffig werden.

La Lisière ist der Debütfilm von Géraldine Bajard, einer in der Schweiz geborenen Französin, die an der DFFB studiert hat. Ablesen kann man Letzteres unter anderem daran, dass Valeska Grisebach als dramaturgische Beraterin fungierte und der Schnitt von Bettina Böhler stammt. Ob aus der Schulbildung eine Schulbindung resultiert, drängt sich als Frage nicht wirklich produktiv auf, auch wenn einem Christoph Hochhäuslers Falscher Bekenner in den Sinn kommen kann; eine eher atmosphärische Assoziation, they drive by night.

Die Topografie von La Lisière, eine geschichtslose, künstlich hochgezogene Neubausiedlung im waldumzingelten Niemandsland, funktioniert wie ein räumlich gedachtes Libidomodell. Ein Film, der Kreisläufe des Begehrens etabliert und verschaltet. Doktorspiele mit dem feschen Landarzt, die Eltern stehen gebannt im Türrahmen und genießen die, nun ja, «Untersuchungen». Alle und alles, auch die Schulmädchentanzgruppe (ein Glee Club der anderen Art), stehen hier unter einer unverstellt sexuellen Spannung, die sich Bahn bricht, als der junge Arzt aus Paris in dieses Modell eintritt, es als Projektionsfläche und Reflektor aller Phantasien aus der Balance bringt.

Obwohl hier also alle Zeichen auf Versuchsanordnung stehen, ist La Lisière nicht unterkühlt, nicht akademisch, sondern ziemlich gut darin, Uneindeutigkeiten herzustellen, die Spannung zu halten. Das liegt nicht zuletzt an Melvil Poupaud, der als Zehnjähriger bei Raúl Ruiz debütierte (La Ville des Pirates, 1984), dann bei Doillon, Desplechin und – besonders erinnerungswürdig – als lockenköpfiger Gitarrist in Rohmers Conte d’été auftauchte («Je suis une fille de corsaire, on m’appelle la flibustière …»). Das eigentliche Ereignis dieses Films ist aber das Debüt von Phénix Brossard (siehe Bild): An- und Spielführer der Teenager, Knotenpunkt aller Sehnsüchte; ein Rebell ohne Grund mit unfertigen Rockergesten, in Wahrheit aber noch ganz dazed and confused. Seine Provokation besteht in der Nichtanerkennung der Demarkationslinie. Die Erwachsenen irritiert er nachhaltig durch ein (Auf-)Begehren, das bereits vor der Zeit in Melancholie umgeschlagen ist: «Amor Yo Te Perdit».