iffr 2011

Förderfelder Schwertkampffilme aus China und Hongkong, Westernadaptionen aus den Warschauer-Pakt-Staaten, halbvergessene Avantgarden: Über das Internationale Filmfestival von Rotterdam 2011

Von Lukas Foerster

13 Assassins (Takashi Miike)

© IFFR | Sedic International | Recorded Picture Company

 

Zwischen den Hochhäusern im Zentrum Rotterdams bewegen sich auf vielen Straßen Fußgänger, Fahrräder, Autos und Straßenbahnen frei neben- und durcheinander, ohne dass sie sich dabei allzu sehr gegenseitig in die Quere zu kommen scheinen. Dem deutschen Verkehrsteilnehmer, der eindeutige Demarkationslinien gewohnt ist und sich auch damit abgefunden hat, dass nicht nur die Polizei, sondern auch eine ganze Armada hysterischer Zivilisten nichts Besseres zu tun hat, als auf die strikte Einhaltung der Straßenverkehrsordnung zu pochen, vermittelt sich schon auf dem kurzen Spaziergang zum Festivalzentrum ein Eindruck niederländischer Freiheit. Das Zentrum selbst ist dann kein Luxushotel mit roten Teppichen, sondern ein amorph anmutendes Multifunktionsgebäude, in dem sich das International Film Festival Rotterdam ziemlich provisorisch eingerichtet hat und in dem an jeder zweiten Ecke Fruchtsäfte serviert zu werden scheinen. Stadt wie Festival nehmen bei der ersten Begegnung sofort für sich ein. Gleichzeitig ist allerdings nicht zu übersehen, dass das IFFR zwar ein entspanntes, aber deswegen nicht unbedingt ein gemütliches und ganz sicher kein kleines Festival ist. Als ein solches, als ein prekärer Außenseiter neben den Giganten in Cannes, Berlin und Venedig, war es 1972 gegründet worden. Von Anfang an lag ein Schwerpunkt auf dem, was damals noch das «Dritte Kino» genannt werden durfte und wollte, auf den politisch ambitionierten Kinematografien Lateinamerikas, Afrikas und Asiens. Daneben standen Außenseiterpositionen jeder Couleur. Solange der Gründer des Festivals Huub Bals dem IFFR vorstand, waren einer Expansion über diese Kernkompetenzen hinaus natürliche Grenzen gesetzt. Der cinephile Egomane Bals wachte diktatorisch über seine Schöpfung und bestand darauf, jeden einzelnen Film selbst zu sichten. Erst seine Nachfolger – unter anderem Marco Müller, der Anfang der 90er zwei Jahre lang das IFFR leitete und seit 2004 dabei ist, den traditionsreichen Internationalen Filmfestspielen von Venedig die Rotterdam-Philosophie aufzuprägen – verwandelten das Festival in den Koloss, der es heute ist.

Prototyp des Festivalnetzwerks

Längst ist das IFFR zu einem der größten und wichtigsten Filmfestivals Europas geworden. Gemeinsam mit Sundance und der Berlinale dominiert es die ersten Monate des Festivalkalenders. Die ersten Filme des Jahres werden hier in den Festivalkreislauf eingeschleust, die ersten neuen Namen tauchen auf, die ersten Hypes entstehen. Das IFFR hat sich von einem leicht verbiesterten Spezialistenforum mit starker kuratorischer Handschrift zu einem Selbstbedienungsladen gewandelt, der allen etwas bieten möchte: der Branche einen Treffpunkt, dem lokalen Publikum eine Leistungsschau des aktuellen Autorenfilms, den cinephilen Liebhabern ausgefallene Retrospektiven und Neuentdeckungen aus der Peripherie des Weltkinos. Auch einen Wettbewerb gibt es seit Mitte der 90er Jahre, eine Handvoll Erst- und Zweitwerke junger Regisseure konkurrieren um jährlich drei Tiger Awards. Dass das Festival sich über die Jahrzehnte damit nicht bloß vergrößert, sondern fundamental verändert hat, ist kaum zu übersehen. Rutger Wolfson, der aktuelle Festivalleiter, hat vom cinephilen Furor Bals’ wenig übernommen und erscheint eher als ein sich in inhaltlichen Fragen zurückhaltender Verwalter der ausufernden Vielfalt. Sein Grußwort im Festivalkatalog besteht zu weiten Teilen aus einer Verteidigung der Expansionstendenz des IFFR.

An verschiedenen Stellen wurde in den letzten Jahren darauf hingewiesen, dass Filmfestivals nicht länger ein vom Alltagsgeschäft eher distanzierter Teil des Kinobetriebs sind, sondern in der Tendenz – und vermutlich vorerst hauptsächlich in Europa – denselben mehr oder weniger komplett übernehmen. Das Filmfestival Rotterdam könnte man mit gutem Recht als Prototypen dieser Filmfestivals neuer Art, die sich selbst an die Stelle des Kinos setzen, betrachten. Vielleicht den entscheidenden Schritt in diese Richtung stellte der Einstieg des Festivals in die Filmproduktion beziehungsweise -förderung dar. Der 1988 gegründete Hubert Bals Fond begleitet Projekte von der Skriptphase bis zur Distribution (die allerdings stets das schwächste Glied der Kette bleibt), ist in den Vor- und Abspännen des zeitgenössischen «World Cinema» allgegenwärtig und wurde zum Vorbild für zahlreiche ähnliche Projekte wie den Berliner World Cinema Fund oder den Göteborg International Film Festival Fund. Die Integration dieser neuen Geldquellen in das System der übrigen regionalen, nationalen und übernationalen Förderinstitutionen funktioniert ohne Probleme. Freilich nicht zuletzt deshalb, weil auch ein einstmals widerspenstiges Festival wie Rotterdam sich Integrationsunwilligkeit kaum noch leisten kann. In der Konsequenz entstehen geschlossene Kreisläufe: Neue Filmprojekte formen sich auf der Koproduktions-Börse Cinemart, finanziert werden sie vom Hubert Bals Fond, ein, zwei Jahre später konkurrieren die fertigen Produkte um den Tiger Award und wenn sie Glück haben, tingeln sie danach noch ein, zwei weitere Jahre durch die Peripherie der «Festivalnetzwerke» (Thomas Elsässer). Wenn sie noch mehr Glück haben, erhalten sie irgendwann auf dem Youtube-Kanal des IFFR einen zumindest theoretisch öffentlich einsehbaren Grabstein. Immer größere Teile des Kinos – auch direkt im geografischen Sinne: ganze Kinokontinente – finden aus diesem Kreislauf nicht mehr heraus. Nicht nur die deutschen Programmkinos haben sich aus ihrer Zuständigkeit für alles, was jenseits Europudding/Indiewood liegt, längst zurückgezogen. Einen Spill-over aus den Festivals und den immer stärker festivalzentrierten cinephilen Diskursen ins Arthouse- Tagesgeschäft gibt es weniger denn je.

Long Tail und Genrekino

Anders als beispielsweise die Berlinale, die sich für ein Außen des Förderbetriebs, dessen Teil sie ist, schon seit einigen Jahren nicht mehr interessiert, offenbart das IFFR auch die Potenziale der neuen Bedeutung der Filmfestivals. Keinem anderen Festival Europas gelingt es, einen vergleichbar breiten Begriff von Kino (der allerdings auch weiterhin auf einer vollständigen Ausblendung Hollywoods beruht, Bals’ Diktum vom sterbenden amerikanischen Kino haben auch seine Nachfolger bislang nicht zu überdenken gewagt) zu etablieren. Die klassischen Kinonationen genießen keinerlei Privilegien mehr, die Grenzen zwischen Hoch- und Populärkultur sind niedergerissen, weitaus wagemutiger als die Berlinale mit ihrem Forum Expanded öffnet sich das Festival postkinematografischen Formen. Eine Vielzahl von Untersektionen erschließt vermeintliche Niederungen des Genrekinos – dieses Jahr: Schwertkampffilme aus China und Hongkong sowie Westernadaptionen aus den Warschauer-Pakt- Staaten – und halbvergessene Avantgarden. Theoretisch resultiert eine derartige Programmierung, die keine Schnitte an den Rändern setzt und gewissermaßen den long tail der Bewegtbildproduktion als ihren eigentlichen Gegenstand nimmt, in der totalen Dezentralisierung des Kinos. Tatsächlich kann man in Rotterdam zehn Tage lang nur die Experimentalfilmprogramme rezipieren, ohne das Gefühl zu haben, man habe andernorts irgendetwas Entscheidendes verpasst. Oder mit noch weniger Bedenken zehn Tage lang nur asiatisches Kino. Rotterdam ist das einzige Festival Europas, das den Anspruch hat, insbesondere die Kinematografien Ost- und Südostasiens in ihrer Gesamtheit – also nicht nur die prominenten Auteurs, sondern auch lokale Blockbuster, den Underground, die dokumentarischen Arbeiten – abzubilden.

Kaum zu hoch einschätzen kann man beispielsweise die Bedeutung des IFFR für die neue Welle des philippinischen Kinos, der es seit Jahren eine Plattform und über den Hubert Bals Fond gelegentlich auch Fördermittel bereitstellt. Die mir vielleicht wichtigste Entdeckung des diesjährigen Festivals waren zwei Filme des jungen, sehr produktiven Regisseurs Adolfo Alix Jr., dem es wie einst Lino Brocka zu gelingen scheint, innerhalb oder zumindest am Rande der philippinischen Filmindustrie neorealistische Sozialdramen mit Starbesetzung zu produzieren. Doch obwohl ich mich eine Woche lang fast ausschließlich an den diversen Rändern des Kinos aufgehalten und dort auch sehr wohl gefühlt habe, bleibt ein Unbehagen zurück. Dieses Unbehagen hat zum Beispiel damit zu tun, dass spätestens am Festivalende das Logo des Hubert Bals Fund, das im Katalog neben den geförderten Filmen abgedruckt ist, eher als Warnsignal denn als Gütesiegel wirkt. Oder damit, dass die interessantesten neuen Filme, die ich auf dem IFFR gesehen habe, ausnahmslos ohne die im festivalzentrierten Kino eigentlich unabdingbaren Fördergelder entstanden sind.

Einerseits waren das Produkte kommerziell ausgerichteter asiatischer Filmindustrien: Takashi Miikes 13 Assassins, John Woos und Su Chao Bins Reign of Assassins, Alix’ Chassis. In den beiden Assassinenfilmen werden klassische Genreformate nicht subvertiert, sondern im Sinne zweier sehr unterschiedlicher Autorenpolitiken aktualisiert. Erstgenannter ist nominell das Remake eines eher obskuren Historienfilms Eiichi Kudos, wichtiger dürfte Miike der Bezug zu Kurosawas Die sieben Samuraigewesen sein. Wie Kurosawas Film lebt auch 13 Assassins von der puren Fülle an Details, von der Sorgfalt, die auf Nebenfiguren und Weltkonstruktion verwendet wird und die weder im High-Concept-Blockbuster, noch in modernistischen Genreüberformungen ein Äquivalent hat. Einmal mehr erweist sich Miike hinter der postmodernen, selbstreflexiven Oberfläche als Klassizist. Reign of Assassins wiederum ist einerseits eine an die aktuelle Filmtechnik angepasste Reprise der bonbonbunten, oft komplett durchgeknallten Shaw- Brothers-Fantasy-Prügelfilme der 70er Jahre, andererseits eine schlüssige Fortführung der Körper- und Identitätsdiskurse des John- Woo-Kinos; insbesondere eine Fortführung von Face/Off, Woos bestem amerikanischen Film. Daneben steht dann Chassis, ein kleiner Film in schwarz-weiß, der fast ausschließlich auf dem Parkgelände einer Transportfirma spielt. Die Frauen und Kinder der Fernfahrer wohnen hier ganz buchstäblich unter den LKWs, sie spannen Hängematten zwischen den Achsen der Lastwagen auf, manche prostituieren sich, um über die Runden zu kommen, die Sicherheitsleute tyrannisieren die Frauen und erpressen Sex. Alix erzählt auch eine in sich stringente Rachegeschichte, aber die ist kein melodramatisches Klischee, sondern eine stringente Zuspitzung der (sexuellen) Gewalt, die dem Handlungsraum von Anfang an eingeschrieben ist.

 

The Last Buffalo Hunt (Lee Anne Schmitt)

© IFFR | Lee Anne Schmitt

 

Andererseits stößt man auf Werke alter und neuer Außenseiter, die im System eigentlich keinen Platz haben, für die in der Programmierung aber noch eine Nische frei geblieben ist. Zum Beispiel findet man da einen konsequent lumpenproletarischen No-Budget-Gangsterfilm aus Japan namens Hotas Hell (Regie: Yosuke Okuda), oder die wunderschöne Lissabonballade Imagens de uma cidade perdida des ewigen Außenseiters Jon Jost, die den Beweis erbringt, dass selbst die primitivsten Digitalkameras es in den richtigen Händen mit zelluloidbasierter Technik spielend aufnehmen können. Oder den eindringlichen Dokumentarfilm The Last Buffalo Hunt der James-Benning-und Thom-Andersen-Schülerin Lee Anne Schmitt. Da erklärt eine Hausfrau aus den amerikanischen Heartlands ausführlich, warum sie Großwildjagden super findet, das Zelten in der Einöde Utahs aber doch nicht so. Eine denkwürdige Szene später im Film: Die Frau zielt selbst dann noch daneben, wenn sie einen halb verendeten Büffel direkt vor der Flinte liegen hat und jagt dem Tier Kugel um Kugel unters Fell, ohne die lebensnotwendigen Organe zu treffen. Der Organisator der Jagd steht hilflos daneben und darf nicht eingreifen, die Kundin hat das Recht erkauft, mit eigenen Händen zu töten.

Ein solches Unbehagen, das man natürlich und möglicherweise mit guten Gründen als weinerliche cinephile Befindlichkeit, als Sehnsucht nach einer egalitären Kino- Ganzheit, die nie existiert hat und vermutlich nie existieren wird, abtun kann, macht sich außerdem daran fest, dass ich alle genannten Filme – ausgenommen Miike und Woo – im kleinsten, jeweils kaum halb gefüllten Festivalkino gesehen habe, während andererseits ein politisch ehrenwerter, aber ästhetisch indiskutabler Wettbewerbsbeitrag wie der kolumbianische Todos tus muertos im größten Saal für Radau an der Kasse sorgte. Natürlich ist bei Licht betrachtet nichts anderes zu erwarten: Wenn sich Festivals an die Stelle des Kinos setzen, reproduzieren sie dessen Hierarchien. Und was bleibt, sind Nischen; mehr Nischen als früher, vielleicht, aber weniger einsam fühlt man sich in ihnen deswegen nicht.